Bochum (epd). Sigrid Graumann, Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, hält die bestehende Impfreihenfolge für richtig. Jede Veränderung zugunsten bestimmter Berufsgruppen führe unausweichlich dazu, dass Mitglieder vulnerabler Gruppen länger auf die Immunisierung warten müssten: "Das ist die bittere Wahrheit." Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Lehrer, Kita-Kräfte, Hausärzte, sie alle wollen schneller geimpft werden als das bisher in der Impfverordnung vorgesehen ist. Wie ist das zu bewerten?
Sigrid Graumann: Die Kriterien, die der Priorisierung für die Covid-19-Impfungen zugrunde liegen, sind ethisch gut begründet. Dabei geht es aus individualethischer Sicht um den Schutz von Leben und Gesundheit besonders verletzlicher Personen und aus sozialethischer Sicht die möglichst rasche Entlastung des Gesundheitswesens durch die Senkung der Hospitalisierungs- und Sterberaten. Deshalb wurden für die Priorisierungsregeln in erster Linie das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf, das bedingt durch das Alter oder Vorerkrankungen erhöht sein kann, und das Infektionsrisiko, das bedingt durch die Lebenssituation oder die berufliche Tätigkeit erhöht sein kann, berücksichtigt. Wenn nun einzelne Gruppen darauf drängen in der Impfreihenfolge früher berücksichtigt zu werden, müssen zwangsläufig andere, die bislang aus guten ethischen Gründen höher priorisiert sind, länger auf die Impfung warten. Das ist ungerecht und kann Leben kosten.
epd: Aber ist das nicht auch nachvollziehbar, wenn man mögliche Gefährdungslagen betrachtet. Wenn jetzt Kitas und Schulen wieder öffnen sollen und dort eben auch Infektionen drohen?
Graumann: Der Wunsch von Lehrerinnen und Erziehern möglichst früh geimpft zu werden, ist nachvollziehbar. Das Infektionsrisiko, das sie tragen, wurde bei der Impfreihenfolge berücksichtigt. Lehrer und Erzieherinnen sind in der Impfreihenfolge wegen ihres höheren Infektionsrisikos vor anderen Berufsgruppen vorgesehen. Dabei wurde von geöffneten Schulen und Kitas ausgegangen. Aber, wie gesagt, wenn die einen früher dran sind, müssen die anderen länger warten. Das ist die bittere Wahrheit.
epd: Was wären die konkreten Folgen einer solchen Änderung?
Graumann: Stellen Sie sich eine junge Lehrerin ohne Vorerkrankung vor, die bei einer Infektion voraussichtlich einen milden Krankheitsverlauf hat. Soll sie wirklich vor einer älteren Verkäuferin geimpft werden, die ein vergleichbares Infektionsrisiko aber ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf hat?
epd: Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma? Ist das womöglich noch mal ein Thema für den Ethikrat?
Graumann: Das Dilemma entsteht durch die Knappheit des Impfstoffs. Der Ethikrat hat sich eingebracht damit, ethische Kriterien für die Priorisierung mit Blick auf ebendiese Knappheit zu formulieren. Der richtige Umgang mit dem Dilemma ist nun, diese Kriterien konsequent anzuwenden. Das aber ist nicht die Aufgabe des Ethikrats, sondern des Gesundheitsministeriums und der Ständigen Impfkommission. Ich glaube daher nicht, dass wir das Thema im Ethikrat noch einmal aufgreifen.