Berlin (epd). Nach rund zehn Jahren im Amt will sich der unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, von der Aufgabe zurückziehen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht er über die Beweggründe, das bisher Erreichte und darüber, was im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu tun bleibt. Die Fragen stellten Corinna Buschow und Bettina Markmeyer.
epd sozial: Herr Rörig, beim Thema Missbrauch ist die katholische Kirche erneut in den Schlagzeilen. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hält ein Gutachten über den Umgang der Bistumsverantwortlichen mit Missbrauchsfällen zurück. Wie bewerten Sie das?
Johannes-Wilhelm Rörig: Ich hoffe sehr, dass die Stolpersteine, die momentan im Erzbistum Köln auf dem Weg hin zu einer unabhängigen Aufarbeitung liegen, jetzt schnell beiseite geräumt werden. Der Prozess zur Einrichtung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen, der in vielen Diözesen - und auch in Köln - bereits gestartet ist, darf nicht weiter beeinträchtigt werden. Das Erzbistum sollte zügig Transparenz sicherstellen, wie es die "Gemeinsame Erklärung" vorsieht, die Bischof Ackermann und ich im vergangenen Jahr unterzeichnet haben. Wichtig ist, dass die Gutachten, um die sich der Streit in Köln dreht, der künftigen Kommission für ihre wichtige Arbeit uneingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
epd: Glauben Sie persönlich, dass Bischof Woelki zu dieser Aufarbeitung bereit ist?
Rörig: Das kann ich nicht einschätzen. Ich hatte noch nie ein persönliches Gespräch mit ihm, auch nicht, als ich 2018 in Fulda an der Vollversammlung der Bischofskonferenz teilgenommen und mit einigen Bischöfen selbst gesprochen habe. Was ich zu Köln sagen kann: Dort fühlen sich die Betroffenen instrumentalisiert. Für eine transparente Aufarbeitung ist das nicht förderlich. Umso mehr wünsche ich den Betroffenen und allen, die sich für die Aufarbeitung engagieren, bald eine Lösung mit verbindlichen Zusagen und verlässlicher Umsetzung.
epd: Sie haben auf die Erklärung über Kriterien für eine unabhängige Aufarbeitung verwiesen. Wie passen diese Zusagen der Kirche und die Ereignisse in Köln zusammen?
Rörig: Man muss die komplexen Prozesse auseinanderhalten: Das eine sind Aufarbeitungsvorhaben, die die Bistümer bereits vor Unterzeichnung dieser "Gemeinsamen Erklärung" angestoßen haben. Dazu gehört auch das Kölner Gutachten. Das andere ist die Frage, wie die Bistümer ihre Selbstverpflichtung umsetzen, unabhängige Aufarbeitungskommissionen einzusetzen. In diesem Punkt fühle ich mich mit den Ansprechpartnern in Köln auf gutem Weg.
epd: Das heißt, elf Jahre nach Aufdeckung der Missbrauchsskandale bewegt sich immerhin etwas?
Rörig: Es bewegt sich einiges in Richtung unabhängiger Aufarbeitung. Gleichzeitig kann ich Betroffene verstehen, die sagen, es geht viel zu langsam und nicht konsequent genug. Ich empfehle wirklich allen katholischen und evangelischen Kirchenleuten, sich einen starken Ruck für die Aufarbeitung zu geben.
epd: Mit der evangelischen Kirche (EKD) gibt es noch keine Vereinbarung über Kriterien zur Aufarbeitung. Gibt es Fortschritte?
Rörig: Im Sommer haben wir mit dem Beauftragtenrat der EKD aufgetretene Missverständnisse ausgeräumt. Ende dieses Monats gibt es ein weiteres Treffen. Ich hoffe, dass wir die Erklärung dann gemeinsam abschließen können.
epd: Die evangelische Kirche verweist darauf, dass die Landeskirchen bereits Kommissionen haben und eine Studie zu Risikofaktoren angestoßen wurde. Ist das nicht schon etwas?
Rörig: Die Kommissionen der Landeskirchen befassen sich vor allem mit den Anerkennungszahlungen. Unabhängige Aufarbeitungskommissionen, wie wir sie vorsehen, müssen aber den Fragen nachgehen, wo vertuscht wurde, wer Verantwortung hatte, wo Missbrauch nicht unterbunden und wie mit Betroffenen umgegangen wurde. Das ist etwas anderes als das Forschungsvorhaben im Auftrag der EKD, das unter anderem nach den begünstigenden Faktoren für Missbrauch in evangelischen Kontexten fragt.
epd: Sie agieren als Missbrauchsbeauftragter immer diplomatisch. Man könnte verstehen, wenn Ihnen auch einmal der Kragen platzt. Wie schaffen Sie es, so geduldig zu bleiben?
Rörig: Ich nehme eine Mittlerrolle ein als Unabhängiger Beauftragter. Mich treibt der Wunsch an, Leid zu verhindern und Leid zu lindern und ich will, dass diejenigen, die Leid verhindern und lindern können, kontinuierlich das maximal Mögliche tun. Oft schöpfe ich dabei aus meiner früheren Tätigkeit als Arbeitsrichter. Auch wenn der Vergleich inhaltlich hinkt: Systematisch ist es ähnlich, was den Ausgleich zwischen Schwächeren und Stärkeren betrifft.
epd: Warum haben Sie sich entschlossen, Ihr Amt vorzeitig aufzugeben?
Rörig: Ich hatte bereits 2019 überlegt, ob ich in eine dritte Amtszeit gehen soll. Damals gab es aber noch zu viele offene Baustellen, wie die Berufung des Betroffenenrates und die noch ungeklärten Strukturen einer unabhängigen Aufarbeitung in den Kirchen.
epd: Sie fordern, das Amt des Missbrauchsbeauftragten gesetzlich zu verankern. Was bedeutet das?
Rörig: Das Amt braucht eine Aufwertung und ein stärkeres Fundament, gesetzlich zugewiesene Aufgaben und eine durch ein Gesetz gesicherte Unabhängigkeit. Zudem sollte das Parlament vorsehen, dass die oder der Missbrauchsbeauftragte dem Bundestag und der Bundesregierung regelmäßig berichten muss und dass eine dauerhafte, fachliche Kooperation mit den Ländern stattfindet.
epd: Wo sehen Sie nach zehn Jahren Arbeit Ihre Erfolge?
Rörig: Wir haben es mit einem kleinen, aber starken Team geschafft, dass das Thema Missbrauch von der Bundespolitik nicht mehr leicht beiseitegeschoben werden kann. Das war nicht einfach. Die Politik will mit dem Thema möglichst wenig zu tun haben. Sie reagiert zwar auf Skandale wie in Staufen oder Lügde - ein breites, dauerhaftes Engagement gegen Missbrauch ist aber alles andere als selbstverständlich. Wichtig ist mir, dass in den letzten neun Jahren der schwierige Spagat zwischen Betroffenen-Interessen und der Handlungsbereitschaft von Politik und etwa den Kirchen zu Fortschritten geführt hat.
epd: Worin sehen Sie die größte Aufgabe für Ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger?
Rörig: Meine Nachfolge muss ihre Agenda selbst setzen. Ich drücke die Daumen für eine gesetzliche Grundlage und dass es möglichst viele Landesmissbrauchsbeauftragte gibt. Die Länder haben mit ihren Zuständigkeiten für Polizei, Justiz, Jugend, Bildung und Gesundheit im Kampf gegen Missbrauch den goldenen Schlüssel in der Hand.
epd: Sie haben als Beauftragter mehrfach die Probleme mit den Ländern angesprochen. Es gibt kaum Missbrauchsbeauftragte, bei den Schulgesetzen wünschen Sie sich mehr Tempo, in den Hilfsfonds zahlen nur drei Länder ein. Warum können es sich so viele Bundesländer leisten, Missbrauchsopfern die kalte Schulter zu zeigen?
Rörig: Es irritiert mich immer wieder, dass oft nur dann reagiert wird, wenn es Skandalfälle gibt. Die Politik macht sich den Kampf gegen sexuellen Missbrauch als vorrangiges Thema bis heute nicht zu eigen. Die Bekämpfung sexueller Gewalt braucht aber volle politische Rückendeckung. Die Parteien sind programmatisch sehr unterschiedlich aufgestellt: Die Grünen in Baden-Württemberg etwa und Rheinland-Pfalz sind recht weit. Leider sehe ich in aktuellen Entwürfen von Wahlprogrammen zu Landtagswahlen viel zu wenig zum Thema. Wirklich überrascht bin ich, dass im Entwurf der Berliner SPD bisher gar nichts zum Kampf gegen sexuellen Missbrauch steht. Ich hatte gerade hier, wo Franziska Giffey SPD-Spitzenkandidatin ist, eine hohe Erwartung. Aber es kann ja noch nachgebessert werden und ich unterstütze gerne.
epd: Ihre Sorge war groß, dass Kinder während der Corona-Pandemie vermehrt Opfer von sexueller Gewalt werden. Haben Sie inzwischen konkrete Hinweise?
Rörig: Vieles deutet darauf hin. Die Zahlen von Europol zum Beispiel zeigen, dass das sogenannte Cybergrooming, also das Anbahnen von sexuellen Kontakten zu Minderjährigen, zunimmt. Kinder, die Missbrauch in der Familie oder online erleben, haben im Lockdown kaum Möglichkeiten des Austauschs, zum Beispiel mit Lehrkräften oder Freunden. Kitas und Schulen sind die zentralen Orte, an denen das Leid der Kinder gesehen werden kann. Experten sagen mir, dass wir nach dem Lockdown einen riesigen Bedarf an Beratung, Unterstützung und Therapien haben werden. Es wird eine Welle von traumatisierten Kindern und Jugendlichen erwartet. Darauf müssen wir vorbereitet sein.