sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

sie sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt, leisten aber beim Start ins Leben von Frühgeborenen eine wichtige Hilfe: Frauenmilchbanken. Rund 50 dieser Einrichtungen gibt es in Deutschland, eine davon in Frankfurt am Main. Sie sammeln gespendete Muttermilch, die für Neugeborene wegen ihrer Zusammensetzung als beste Nahrung gilt. Unsere Autorin Renate Haller hat sich die Arbeit dort näher angesehen.

Seit 2007 gilt in Deutschland eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht. Aber trotzdem leben im Land noch immer Zehntausende ohne Versicherungsschutz. Das ist für Schwangere besonders heikel, vor allem, wenn es zu Komplikationen kommt. Manche Frauen ohne Versicherungskarte melden sich erst kurz vor der Entbindung - aus Angst vor den Kosten oder vor einer drohenden Abschiebung. „Medinetz“ in Koblenz und andere Hilfsorganisationen versuchen, die Lage der Frauen zu verbessern.

Das Bündnis Zukunftsforum Familie (ZFF) geht nicht davon aus, dass es mit Blick auf die Kindergrundsicherung in den anstehenden Haushaltsberatungen im Parlament noch zu spürbaren Verbesserungen für armutsgefährdete Kinder kommt. „Es besteht keine Hoffnung mehr, dass noch etwas in Richtung einer echten Kindergrundsicherung verhandelt werden kann“, sagt die Vorsitzende Britta Altenkamp im Interview mit epd sozial: „Das hätte das größte Sozialstaatsprojekt aller Zeiten werden können.“ So falle die Bilanz für diese Regierung traurig aus, urteilt die Expertin. Auch für Alleinerziehende habe der Koalitionsvertrag spürbare Verbesserungen versprochen. „Doch wir bezweifeln, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas kommen wird.“

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass vor einer ärztlichen Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka in der Psychiatrie die Ärzte zwingend versuchen müssen, den Patienten „ohne Ausübung von Druck und auch mit dem gebotenen Zeitaufwand“ von der freiwilligen Therapieteilnahme zu überzeugen. Erst wenn das nicht gelingt, kann die erforderliche Behandlung gerichtlich genehmigt werden.

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Ihr Dirk Baas




sozial-Politik

Kinder

Guter Start ins Leben mit der Milch fremder Mütter




Stillberaterin Sofia Bursch (l.) und Ärztin Tina Cambridge kümmern sich in der Neonatologie der Uniklinik Frankfurt neben ihren alltäglichen Aufgaben auch um die Frauenmilchbank.
epd-bild/Peter Jülich
Der Start ins Leben ist für Frühgeborene schwierig. Und oft dauert es auch, bis ihre Mütter Milch für sie haben. Solange bekommen sie die Milch von Spenderinnen. Rund 50 Frauenmilchbanken gibt es in Deutschland, eine davon in Frankfurt.

Frankfurt a.M. (epd). Hedwig schläft. Sie liegt unter einer Decke und trägt eine winzige Mütze, rechts und links über ihrem Bett zeigen Monitore unter anderem Herzschlag und Atmung. Hedwig und ihr Bruder Rufus sind in der 28. Schwangerschaftswoche in der Universitätsklinik in Frankfurt am Main geboren. Hedwig wog 1.400 Gramm, ihr Bruder 1.220 Gramm. Auf beiden Bettdecken liegt eine Spritze, gefüllt mit Muttermilch. Die Nahrung erreicht die Kinder durch eine Sonde, denn schlucken müssen sie erst noch lernen. Die Milch hat Dörte Klein abgepumpt, die Mutter von Hedwig und Rufus - für ihre eigenen Zwillinge und für andere Frühgeborene.

Wie fast alle Frauen, deren Kinder zu früh zur Welt kommen, hatte die 35-Jährige anfangs allerdings keine Milch. Ihr Körper musste sich erst darauf einstellen. Deshalb bekamen ihre Kinder die Milch einer Spenderin, organisiert über die Frauenmilchbank Frankfurt. Durch die für Neugeborene optimale Zusammensetzung gilt die Muttermilch als beste Nahrung für die ganz Kleinen, sagt Ulrich Rochwalsky, Leiter der Neonatologie der Uniklinik, der Abteilung für die Neugeborenen.

Angebot in Frankfurt besteht seit fünf Jahren

Die Frauenmilchbank in Frankfurt gibt es seit fünf Jahren. Angestoßen hat sie der damalige Leiter der Neonatologie, Rolf Schlößer, mit seinem Team. Bei Frühgeborenen ist der Darm noch nicht gut entwickelt, was zu schwerwiegenden Komplikationen führen könne, sagt Schlößer. Die mit Muttermilch ernährten Kinder bekämen aber deutlich seltener eine Darmentzündung als Kinder, die mit kuhmilchbasierter Milch ernährt würden, der sogenannten Formula. Darum sei die Einrichtung einer Frauenmilchbank naheliegend gewesen.

2019 gab es davon in Deutschland knapp 30. Eine gute Sache, aber nach Schlößers Worten „ein Riesenaufwand“. Er hatte schließlich die Idee, den Blutspendedienst Baden-Württemberg - Hessen des Deutschen Roten Kreuzes ins Boot zu holen. Dort gibt es das Wissen und die Infrastruktur, um mit Blut- und auch Milchspenden umzugehen und sie dorthin zu liefern, wo sie gebraucht werden.

Der Blutspendedienst nimmt die eingefrorene Milch der Frauen entgegen, untersucht und pasteurisiert sie und füllt sie in Fläschchen ab. Die Etiketten geben Auskunft über Haltbarkeit, die Spenderin und die Inhaltsstoffe wie Kalorien, Fettgehalt, Eiweiß und Kohlenhydrate, wie Ärztin Ilay Gülek erklärt. Den Spenderinnen werde zuvor zweimal Blut abgenommen, um sicherzugehen, dass sie gesund seien.

Antwort auf Förderantrag steht noch aus

Die Zusammenarbeit mit dem Blutspendedienst hat den Vorteil, andere Kliniken relativ einfach an das System anschließen zu können. Inzwischen arbeiten vier Kliniken in Hessen mit der Frauenmilchbank zusammen; perspektivisch soll diese Zahl steigen. Dazu brauche man allerdings finanzielle Förderung, sagt Tina Cambrigde, Fachärztin auf der Neonatologie der Uniklinik. Ein entsprechender Antrag liegt dem hessischen Sozialministerium vor, die Antwort steht noch aus.

„Unser Ziel ist es, Frühgeborene mit weniger als 1.500 Gramm nur mit Frauenmilch zu versorgen“, sagt Cambridge. 2020 hätten rund 50 Prozent der Frühchen Formula bekommen, heute seien es noch drei Prozent. Bei den mit menschlicher Milch ernährten Kindern sei die Immunabwehr besser, was der gesamten Entwicklung zugutekomme. „Auch den plötzlichen Säuglingstod haben wir seltener“, fügt sie hinzu.

Spenderinnen für die Milch sind Frauen, die ihre Kinder in der Neonatologie in Frankfurt geboren haben. „Die Kinder sind oft monatelang hier, wir kennen die Mütter“, sagt Stillberaterin Sofia Bursch. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sprechen Mütter an, von denen sie wissen, dass sie viel Milch haben. „Die Reaktionen sind meist positiv“, sagt Bursch.

Frauenmilchbanken versorgen jährlich 10.000 Säuglinge

Aktuell versorgen in Deutschland rund 50 Frauenmilchbanken einen Teil der jährlich etwa 10.000 Frühgeborenen, die mit weniger als 1.500 Gramm Gewicht zur Welt kommen, sagt der Neonatologe und Pädiatrische Intensivmediziner Daniel Klotz von der Uniklinik Freiburg. Eigentlich sollte jedem Neugeborenen Muttermilch zur Verfügung stehen, findet das Vorstandsmitglied des 2018 gegründeten Vereins Frauenmilchbank-Initiative. Leider sei die Stillrate in Deutschland niedrig.

Das Problem beim Aufbau von Frauenmilchbanken seien die Kosten: Die Kliniken müssten sie selbst finanzieren, hätten aber alle zu wenig Geld. Jedes Projekt konkurriere deshalb mit einem anderen Projekt, erläutert Klotz.

Dörte Klein ist mit der Idee von Frauenmilchbanken vertraut. Ihre Mutter sei in der DDR Spenderin gewesen, erzählt sie. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo in den 1970er Jahren die Frauenmilchbanken geschlossen wurden, weil man voll auf die Formula setzte, blieben sie im Osten erhalten. „Als ich gefragt wurde, ob meine Zwillinge Milch von einer anderen Frau bekommen dürfen, hatte ich vollstes Vertrauen, dass es die richtige Ernährung für sie ist.“ Und als sie schließlich selbst mehr Milch abpumpen konnte, als ihre Kinder brauchten, sei es ihr „ein Bedürfnis“ gewesen, selbst zu helfen: „Erst habe ich etwas bekommen, jetzt gebe ich.“

Renate Haller


Kinder

Rund 50 Frauenmilchbanken in Deutschland



Freiburg/Mainz (epd). Ammen, die Kinder anderer Frauen stillen, sind seit der Antike bekannt. Frauenmilchbanken arbeiten heute mit gespendeter Muttermilch. Frühe Sammelstellen im Kampf gegen die Kindersterblichkeit wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts weltweit gegründet. Als die erste in Deutschland gilt die 1919 eingerichtete Muttermilch-Sammelstelle im Krankenhaus Magdeburg-Altstadt.

Die Kinderärztin Marie-Elise Kayser warb auch außerhalb von Kliniken und Wöchnerinnenheimen um Spenderinnen. 1921 schrieb Kayser deshalb an die bekannte und sozial sehr engagierte Künstlerin Käthe Kollwitz mit der Bitte um einen Plakatentwurf für eine große Werbekampagne. Doch die Künstlerin lehnte zunächst ab, weil sie mit anderen Arbeiten beansprucht war. Erst 1926 nach nochmaliger Anfrage von Marie-Elise Kayser fertigte sie das Plakat an, das neben der Zeichnung den Appell „Mütter gebt von eurem Überfluss!“ trägt.

Viele Einrichtungen wurden geschlossen

Vor einigen Jahrzehnten gab es in Deutschland etwa 80 Frauenmilchbanken. Doch dann wurde verstärkt die sogenannte Formula, kuhmilchbasierte Fertigmilch, eingesetzt. Außerdem wuchs die Angst vor HIV-Infektionen, die auch über Muttermilch übertragen werden können. In der Folge wurden vor allem in Westdeutschland Frauenmilchbanken geschlossen, wie Daniel Klotz sagt, Intensivmediziner für Neugeborene am Universitätsklinikum Freiburg.

Er ist Vorstandsmitglied des 2018 gegründeten Vereins Frauenmilchbank-Initiative e.V. Dieser hat sich das Ziel gesetzt, dass alle Frühgeborene in Deutschland, die keine Muttermilch bekommen können, einen sicheren Zugang zu Milch aus einer Frauenmilchbank haben. „Humane Milch ist besser als die Alternativen“, begründet Klotz sein Engagement.

Veränderte Regularien zum Betrieb

Aktuell gibt es in Deutschland rund 50 Frauenmilchbanken. Erst im Juli hat die Universitätsmedizin Mainz ihre Spenderinnenmilchbank in Betrieb genommen. Nach eigenen Angaben ist es die einzige Einrichtung dieser Art in Rheinland-Pfalz.

Bislang gab es in Deutschland für die Gründung einer Frauenmilchbank unterschiedliche Regularien. Das ändere sich spätestens mit der ab 2027 verpflichtenden Umsetzung einer Verordnung der Europäischen Union aus diesem Jahr, erklärt Klotz. Unter anderem galt Muttermilch bislang als Lebensmittel und wird nun - analog zu Blut, Zellen und Geweben - als „Substanz menschlichen Ursprungs“ eingeordnet.

Die Regeln für die Frauenmilchbanken würden sich verändern, aktuell wisse allerdings niemand, was genau sie in Zukunft festlegen. Der Prozess birgt nach den Worten des Mediziners Chancen und Risiken: Einerseits seien klare Regeln hilfreich beim Aufbau von neuen Strukturen, andererseits müssten diese Strukturen auch finanzierbar sein. Er sehe die Gefahr, dass kleinere Frauenmilchbanken den Betrieb einstellen müssten, wenn die regulatorischen Auflagen zu hoch und nicht mehr umsetzbar seien.

Renate Haller


Frauen

Faeser eröffnet Anlaufstelle zum Schutz vor Gewalt




Nancy Faeser
epd-bild/Christian Ditsch
Frauen, die Opfer von Gewalt sind, sollen schneller Hilfe bekommen. Am Berliner Ostbahnhof gibt es jetzt eine Anlaufstelle der Bundespolizei. Sie soll helfen, dass mehr Täter angezeigt werden.

Berlin (epd). Auf dem Berliner Ostbahnhof ist am 15. August im Rahmen eines Pilotprojektes eine Anlaufstelle für Frauen eröffnet worden, die Gewalt ausgesetzt sind. „Es ist unerträglich, dass alle vier Minuten eine Frau in Deutschland Opfer von häuslicher Gewalt wird. Niemand sollte sich schämen, Opfer von Gewalt geworden zu sein“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Eröffnung des Büros der Bundespolizei, in dem Frauen Beratung und Unterstützung erhalten können. Die Anlaufstelle soll die Hemmschwelle für Betroffene senken, Hilfe zu suchen.

„Wir wollen, dass mehr Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und mehr Frauen vor Gewalt geschützt werden“, betonte die Ministerin. Die Polizeibeamtinnen, die die Anlaufstelle betreuen, haben für ihre Arbeit demnach eine besondere Fortbildung erhalten. Sie sollen den Frauen helfen und Anzeigen aufnehmen, damit Täter verfolgt werden können. Damit, so die Ministerin, würden „die bereits bestehenden Hilfsangebote für gewaltbetroffene Frauen ergänzt“.

Hilfe rund um die Uhr

Die Anlaufstelle, die rund um die Uhr geöffnet ist, ist ein zusätzliches Angebot der Bundespolizei, die für die Sicherheit auf Bahnhöfen zuständig ist. Die „geschulten, erfahrenen und sensiblen Beamtinnen“ böten Unterstützung für die Opfer an und nähmen Anzeigen auf.

Faeser: „Ich hoffe, dass Frauen, die Opfer einer Gewalttat geworden sind oder bedroht werden, sich hierdurch schneller der Polizei anvertrauen können. Wir wollen, dass mehr Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und mehr Frauen vor Gewalt geschützt werden.“ Im Rahmen einer Pilotphase ist nach Angaben des Innenministeriums eine zweite solche Stelle auf dem Kölner Hauptbahnhof geplant.

Opferzahlen steigen an

In Deutschland wird fast alle zwei Minuten ein Mensch Opfer häuslicher Gewalt. Laut dem im Juni vorgestellten Lagebild des Bundeskriminalamts (BKA) zur häuslichen Gewalt gab es 2023 mehr als 256.000 Opfer. Das waren 6,4 Prozent mehr als im Vorjahr. 70,5 Prozent der Opfer sind weiblich, während drei Viertel (75,6 Prozent) der mutmaßlichen Täter männlich sind.

Die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt steigen nach Angaben des Ministeriums nahezu kontinuierlich an, in den letzten fünf Jahren um 19,5 Prozent. Doch nach wie vor sei davon auszugehen, dass viele Taten der Polizei nicht gemeldet werden, etwa aus Angst oder Scham.

Bettina Markmeyer, Dirk Baas


Frauen

Hintergrund

Welchen Schutz gibt es für Frauen bei häuslicher Gewalt?



Gewalttaten gegen Frauen nehmen weiter zu - die Aufmerksamkeit für das Problem aber auch. Ein kurzer Überblick über vorhandene und geplante Hilfen.

Berlin (epd). In Deutschland gibt es verschiedene Beratungs- und Hilfsangebote für Frauen, die zu Hause oder in ihrem nahen Umfeld Gewalt ausgesetzt sind. Unter der Nummer 116 116 ist rund um die Uhr und bundesweit das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ erreichbar. Mithilfe von Dolmetscherinnen wird auch in 18 Fremdsprachen beraten.

Eine Gewalttat kann bei jeder Polizeidienststelle angezeigt werden. Außerdem plant die Bundespolizei Anlaufstellen für Frauen auf großen Bahnhöfen. Die erste wurde am 15. August auf dem Berliner Ostbahnhof eröffnet. In der Pilotphase soll eine weitere auf dem Kölner Hauptbahnhof folgen.

Gesetz: Täter muss die Wohnung verlassen

Das Gewaltschutzgesetz sichert Gewaltopfern bestimmte Rechte zu. Am wichtigsten zu wissen ist, dass nicht das Opfer einer Tat, sondern zunächst der Täter für eine gewisse Frist (in der Regel sechs Monate, in Ausnahmefällen ein Jahr) die Wohnung verlassen muss. Es ist dabei unerheblich, ob es sich um Ehepartner, Lebenspartner oder Mitbewohner handelt. Die Frau/das Gewaltopfer muss die Überlassung der Wohnung innerhalb von drei Monaten schriftlich verlangen.

Bundesweit gibt es rund 350 Frauenhäuser, 100 Schutzwohnungen und mehr als 600 Beratungsstellen, an die Frauen sich wenden können. Die Frauenhäuser nehmen auch die Kinder auf. Die Zahl der Schutzplätze reicht aber nicht aus. Die Träger der Einrichtungen schätzen, dass 10.000 zusätzliche Plätze benötigt werden.

Gewalthilfegesetz soll einheitliche Regeln für Frauenhäuser schaffen

Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) arbeitet an einem Gewalthilfegesetz mit bundesweit einheitlichen Regeln zur Finanzierung von Frauenhäusern. Der Bund will sich daran beteiligen. Derzeit ist die Finanzierung von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ziel der Bundesregierung ist es, den tatsächlichen Bedarf an Beratung, Hilfen und Schutzplätzen sicherzustellen. Dazu ist sie laut Istanbul Konvention des Europarats auch verpflichtet. Nach diesem völkerrechtlichen Übereinkommen, das in Deutschland seit 2018 gilt, müssen Beratung und Schutz für Frauen, die Opfer von Gewalt sind, flächendeckend, niedrigschwellig und kostenfrei zur Verfügung stehen.

In Deutschland wird laut Bundesinnenministerium alle vier Minuten ein Mensch Opfer häuslicher Gewalt. Laut dem im Juni vorgestellten Lagebild des Bundeskriminalamts (BKA) zur häuslichen Gewalt gab es 2023 mehr als 256.000 Betroffene. Das waren 6,4 Prozent mehr als im Vorjahr. 70,5 Prozent der Opfer sind weiblich, während drei Viertel (75,6 Prozent) der mutmaßlichen Täter männlich sind.

Dem BKA-Lagebild zufolge gab es im vergangenen Jahr insgesamt 903 Fälle versuchten und vollendeten Mordes oder Totschlags gegen Frauen. 509 davon geschahen im nächsten Umfeld. 247 Frauen kamen laut BKA infolge häuslicher Gewalt ums Leben. Das BKA geht von einem erheblichen Dunkelfeld aus. Es erarbeitet deshalb ein Extra-Lagebild zu der ausschließlich gegen Frauen gerichteten Gewalt. Ergebnisse sollen im kommenden Jahr vorliegen.

Bettina Markmeyer


Frauen

Gastbeitrag

Gewalthilfegesetz - Hoffen auf verbindliche Regelungen und mehr Frauenhausplätze




Dorothea Hecht
epd-bild/Dorothea Hecht/privat
Mit dem Gewalthilfegesetz will Familienministerin Lisa Paus einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt schaffen. Erstmals würde es einheitliche Vorgaben für die Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen geben. Die Frauenhauskoordinierung begrüßt die Pläne und hofft, dass den Verlautbarungen auch Taten folgen, so Rechtsreferentin Dorothea Hecht im Gastbeitrag für epd sozial.

Im Jahr 2023 hat das Bundeskriminalamt (BKA) 340 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte gegenüber weiblichen Opfern gezählt, 155 davon haben den Angriff nicht überlebt. Diese traurige Tatsache steht an der Spitze einer langen Liste von strafbaren oder unerträglichen Handlungen im Kontext von Partnerschaftsgewalt. Die Folgen betreffen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit, die Existenz der gewaltbetroffenen Frauen und das Wohlergehen ihrer Kinder. Staat und Gesellschaft sind verpflichtet, diese Menschen zu schützen.

Die von Deutschland bereits 2018 unterzeichnete Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist hierzulande geltendes Recht. Zu ihrer Umsetzung gehört, dass angesichts der hohen und zudem steigenden Fallzahlen von geschlechtsspezifischer Gewalt an Frauen der eklatante Mangel an Schutz- und Unterstützungsmöglichkeiten beseitigt wird.

Derzeit fehlen rund 14.000 Frauenhausplätze

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgelegt, das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder abzusichern. Anzahl, Verteilung und Ausstattung der Unterstützungseinrichtungen sind seit Jahr-zehnten defizitär. Der Ausbau von Frauenhäusern muss mit dem Ziel vorangebracht werden, jeder gewaltbe-troffenen Frau und ihren Kindern jederzeit ein Platzangebot machen zu können. Anhand der Istanbul-Konvention lassen sich mehr als 14.000 fehlende Frauenhausplätze in Deutschland berechnen.

Darüber hinaus muss auch das übrige Hilfesystem entsprechend bedarfsgerecht ausgebaut werden. Erforderlich ist dafür ein bundeseinheitlicher Rechtsrahmen und eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern und Beratung. Der Bund hat eine finanzielle Beteiligung versprochen.

Bemühungen um ein darauf bezogenes Gewalthilfegesetz sind jetzt im Gange. Weil viele Ressorts und die föderale Struktur der Bundesrepublik einzubeziehen sind, handelt es sich um ein komplexes Vorhaben. Die ohnehin strapazierte Haushaltslage erschwert die Entscheidungsfindung. Betrachtet man allerdings die gesamtgesellschaftlichen Kosten in Deutschland, die durch geschlechtsspezifische Gewalt gegenüber Frauen und solche in intimen Partnerschaften ausgelöst werden - nämlich zusammen 82,2 Milliarden Euro jährlich - so fallen die jetzt nach einer jüngst erschienenen Studie aufzubringenden knapp 700 Millionen bis 1,6 Milliarden für das auszubauende Hilfesystem kaum ins Gewicht.

Deutschland steht rechtlich in der Pflicht zum Handeln

Auch kann sich Deutschland angesichts der dringenden Aufforderungen des unabhängigen Expertinnen- und Experten-Ausschusses GRE-VIO zu einem Ausbau des Hilfesystems seinen Verpflichtungen aus der EU-rechtlichen Menschenrechtskon-vention nicht entziehen.

Die hinter verschlossenen Türen diskutierten Entwürfe deuten auf einen Rechtsanspruch, Bestands- und Be-darfsanalysen und qualitätsbasierte Angebote hin. Die niedrigschwellige Versorgung der Betroffenen mit Schutz und Beratung unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer Herkunft, ihrem Wohnort oder eventuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen soll gesichert werden. Das Hilfesystem soll auskömmlich und einheitlich finanziert sein, ein Frauenhausaufenthalt darf für die Betroffenen nichts kosten. Spezifische Beratungsangebote sollen flächendeckend vorgehalten werden. Die Inanspruchnahme soll anonym erfolgen können.

Flickenteppich könnte der Vergangenheit angehören

Ein Gesetz zur Sicherung des Zugangs zu Schutz und Beratung könnte den Flickenteppich des derzeitigen, auf freiwilligen Leistungen der Länder und Kommunen basierenden Systems beseitigen. Der Bund kann sich aus verfassungsrechtlichen Gründen aber nur zum Teil finanziell beteiligen und darf nur begrenzt Vorgaben machen. Das Ziel einer flächendeckenden und vergleichbaren Versorgung hängt also weiterhin von der Umsetzung durch die Bundesländer ab. Hier hoffen wir, dass den bisher von dort vernommenen Signalen zu einer Begrüßung des Gesetzes auch Taten folgen.

Wir als Frauenhauskoordinierung fordern seit Jahren einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung, der sich nun hoffentlich auf der Zielgeraden befindet. Allerdings wird dieser erst noch Bestandsaufnahmen und Ausbauvorhaben vorlassen müssen. Weil sich die Bundesregierung bisher sehr viel Zeit gelassen hat, könnte das Vorhaben wegen des nahenden Endes der Legislatur gefährdet sein. Es bleibt noch offen, inwieweit die vom Bund versprochenen Mittel tatsächlich im unterfinanzierten Hilfesystem ankommen. Mit einem Start und der darauf fußenden verlässlichen Unterstützung gewaltbetroffener Frauen und ihrer Kinder ist erst 2030 zu rechnen, lange also nach Inkrafttreten der Istanbul-Konvention.



Arbeit

Heil-Ministerium widerspricht FDP-Forderung nach Bürgergeld-Kürzung




Agentur für Arbeit in Frankfurt am Main
epd-bild/Tim Wegner
In der immer neu aufflammenden Sommerdebatte um das Bürgergeld hat die FDP nun gefordert, die Leistungen pauschal zu kürzen, weil sie zu stark erhöht worden seien. Das geht aber gar nicht, sagt das zuständige Ministerium.

Berlin (epd). In der Debatte um das Bürgergeld hat das Bundesarbeitsministerium klargestellt, dass Hilfeempfänger und -empfängerinnen vor einer Kürzung des Regelsatzes geschützt sind. Eine Sprecherin erklärte am 12. August in Berlin zu der jüngsten FDP-Forderung, das Bürgergeld zu senken, das sei weder kurzfristig möglich, noch dann, wenn die Regelsätze künftig fortgeschrieben werden.

Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Dürr, hatte in der „Bild“-Zeitung verlangt, das Bürgergeld „schnellstmöglich“ zu kürzen. Es falle derzeit um 14 bis 20 Euro pro Monat zu hoch aus, weil die Inflation inzwischen deutlich gesunken sei. Ein solcher Schritt würde die Steuerzahler um 850 Millionen Euro entlasten, erklärte Dürr.

Hinweis auf gesetzliche Besitzschutzregeln

Eine Sprecherin des SPD-geführten Arbeitsministeriums erklärte, selbst wenn sich bei der nächsten Berechnung der Regelsätze für 2025 Beträge ergäben, die unter den geltenden Sätzen liegen, würden die Regelsätze „durch eine gesetzliche Besitzschutzregelung auf dem aktuellen Niveau fortgeschrieben“. Im Rahmen der jährlichen, per Verordnung geregelten Fortschreibung gebe es keinen politischen Entscheidungsspielraum, sagte die Sprecherin. Angesichts der rückläufigen Preisentwicklung sei zu Beginn des kommenden Jahres mit einer Nullrunde beim Bürgergeld zu rechnen.

Bei der Berechnung der Regelsätze handele es sich um gesetzliche Festlegungen, „die überall einzusehen sind“, ergänzte sie. Dürr hatte darauf verwiesen, dass die Inflation gesunken ist und deshalb auch die Bürgergeld-Sätze angepasst werden und sinken müssten.

Bürgergeld wurde zweimal angehoben

Das Bürgergeld war wegen der starken Preissteigerungen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zweimal deutlich erhöht worden. Zuletzt erhielt ein alleinstehender Erwachsener Anfang 2024 zwölf Prozent oder 61 Euro pro Monat mehr. Der Regelsatz beträgt monatlich 563 Euro plus Miete und Heizung. Eheleute und Kinder erhalten geringere Beträge. Die Kinder-Regelsätze sind nach dem Alter gestaffelt und reichen von 357 bis 471 Euro pro Monat. Für die Berechnung spielt die Preisentwicklung die wichtigste Rolle.

Die CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Gitta Connemann, warf der FDP im Sender Welt TV „Wahlkampfmanöver“ vor. Nicht die Regelsätze seien das Problem, sondern die Zusatzregeln, etwa dass die Wohnkosten unbegrenzt übernommen würden. Die Oppositionspolitikerin hielt der FDP zudem vor, die Regeln mitbeschlossen zu haben.

Aus der SPD-Bundestagsfraktion erinnerte der sozialpolitische Sprecher Martin Rosemann FDP-Fraktionschef Dürr daran, dass die Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP den Anpassungsmechanismus mit der schnelleren Berücksichtigung der Inflation in den Bürgergeld-Sätzen gemeinsam beschlossen haben: „Zu Recht“, wie Rosemann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte: „Ich halte überhaupt nichts davon, ständig mit völlig unausgegorenen Ideen fern jeder Realität für Verunsicherung zu sorgen“, kritisierte der SPD-Sozialexperte den Koalitionspartner.

Paritätischer: „Kein Almosen“

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Joachim Rock, erklärte an die Adresse der FDP: „Das Bürgergeld ist kein Almosen, sondern verwirklicht Grundrechte.“ Bereits die angekündigte Nullrunde sei eine „massive Härte für die Leistungsberechtigten“. Rock kritisierte auch die fortdauernden Angriffe auf das Bürgergeld: „Offenbar wurde der Sommertrend Bürgergeld-Bashing ausgerufen.“

Besonders zynisch sei es, wenn Dürr trotz steigender Lebenshaltungskosten mit der zurückgehenden Inflation argumentierte, so Rock: „Das Bürgergeld wurde in der Vergangenheit durch methodische Tricksereien spürbar zu niedrig angesetzt. Anstatt immer wieder auf Kosten der Ärmsten zu sparen und Geringverdienende zusätzlich zu belasten, müssen die Reichsten entsprechend ihrer ungleich größeren Leistungsfähigkeit viel stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen.“ Die steuerliche Privilegierung großer Einkommen und Vermögen durch den Verzicht auf Vermögens- und angemessene Erbschaftssteuern müsse enden, forderte Rock.

Anlass der Debatten sind die Haushaltsnöte der Ampel-Koalition und die hohen Ausgaben für das Bürgergeld. Sie stiegen im Jahr 2023 gegenüber 2022 um knapp sechs Milliarden Euro auf knapp 54 Milliarden Euro. Jeweils drei Milliarden Euro gehen nach Angaben des Arbeitsministeriums auf die Finanzierung des Bürgergelds für ukrainische Kriegsflüchtlinge und die Erhöhung der Regelsätze zurück. Für dieses Jahr liegen noch keine Zahlen vor.

Bettina Markmeyer


Arbeit

4.000 Betriebe im "Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge"



Berlin, Salzwedel (epd). Das Floristikunternehmen „Christine Floristik“ aus Salzwedel ist das 4.000. Mitglied im „Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge“. Sven Giegold, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, und Achim Dercks, stellvertretender DIHK-Hauptgeschäftsführer, überreichten der Inhaberin der Firma, Christine Heuer, die Mitgliedsurkunde.

„Menschen mit Flucht- und Zuwanderungsgeschichte sind in den vergangenen Jahren für viele Unternehmen eine wichtige Zielgruppe geworden, um den Fachkräftenachwuchs zu sichern. Auch für die Betriebe der IHK-Region Magdeburg wird die Zielgruppe immer wichtiger“, sagte Stefan Korneck, Vizepräsident der IHK Magdeburg und geschäftsführender Gesellschafter scm energy GmbH. Über alle Ausbildungsjahrgänge hinweg hätten inzwischen in seinem Kammerbereich über neun Prozent der Auszubildenden einen Zuwanderungshintergrund.

Akuter Personalmangel zwingt zum Umdenken

Der Fach- und Arbeitskräftemangel motiviert viele Unternehmen auch Geflüchtete und Zugewanderte in Arbeit und Ausbildung zu nehmen. Dies zeigt sich auch in Magdeburg und Region. Giegold zufolge ist die Arbeit mit Geflüchteten „mit viel zusätzlichem Engagement und Einsatz verbunden“. Jedes Unternehmen, das sich für die Integration Geflüchteter einsetze, „profitiert nicht nur selbst, sondern verdient auch den Dank von uns allen“.

Leider dauerten die Verfahren bei der Einstellung von Geflüchteten oft zu lange und seien zu bürokratisch. „Deshalb wird die Bundesregierung, wie in der Wachstumsinitiative beschlossen, die bisherigen Arbeitsmarktregeln für Geflüchtete grundlegend vereinfachen“, so Giegold. Das sei gut für die Betriebe, die oft die passenden Leute hätten, aber bislang viel zu lange auf die Arbeitserlaubnis warten müssten.

Chefin: Mühe hat sich gelohnt

Christine Heuer, die Said Farid Sadat aus Afghanistan ausgebildet hat, sagte, „wer den Mut hat, geflüchtete Personen auszubilden, kann aktiv etwas gegen den Fachkräftemangel tun und gleichzeitig gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Die Mühe hat sich für uns alle definitiv gelohnt.“

Im Bereich der IHK-Region Magdeburg entfallen den Angaben elf Prozent aller neuen Lehrverträge auf 2024 auf Menschen mit Zuwanderungshintergrund. Tendenz steigend. Die drei führenden Herkunftsländer sind Vietnam, Marokko und Syrien.

Das Netzwerk unterstützt Betriebe aller Branchen und Größen deutschlandweit mit individueller Beratung, Informationsmaterialien, Praxis-Tipps, Erfahrungsaustausch und regelmäßigen Updates zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.



Krankenkassen

AOK legt Reformideen zur Pflege vor




Bingo-Spiel in einem Altenpflegeheim in Neu-Isenburg
epd-bild/Tim Wegner
Mit einem Positionspapier zu Reformen in der gesetzlichen Pflegeversicherung schaltet sich die Krankenkasse AOK in die aktuelle Debatte zur Weiterentwicklung der Pflege ein. Immer mehr Pflegebedürftige, ein anhaltender Fachkräfteengpass, strapaziöse Arbeitsbedingungen: die Herausforderungen für die Pflegeversicherung seien groß, heißt es zu den Motiven für die Publikation.

Berlin (epd). Als zentrale Punkte schlägt die AOK in ihrem Papier mit dem Titel „Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Pflege“ eine Flexibilisierung des Leistungsrechts sowie die Aufhebung der Sektorengrenzen vor. Und sie setzt sich für eine stärkere Zusammenarbeit von Kommunen, Kranken- und Pflegekassen ein, vor allem bei der Planung und Steuerung der örtlichen Versorgungsstrukturen.

„Leit- und Grundsatz des Positionspapiers ist es, dass Pflege vor Ort stattfindet. Die Mehrheit der Pflegebedürftigen möchte in der gewohnten Umgebung versorgt werden und diesen Wunsch gilt es, bei Strukturreformen zu priorisieren“, sage AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann. „Damit dies aber vor dem Hintergrund von sich verändernden Familien- und Beziehungsstrukturen und ohne finanzielle Überforderung von Beitragszahlenden und Arbeitgebern, Pflegebedürftigen und Angehörigen möglich wird, müssen die sozialräumlichen Sorgestrukturen vor Ort gestärkt und systematisch Caring Communities etabliert werden.“

Unterstützende Netzwerke aufbauen

Dabei spielen innovative Wohnformen sowie der gezielte und flächendeckende Aufbau von zuverlässig unterstützenden Netzwerken eine besondere Rolle, die aus An- und Zugehörigen, Ehrenamtlichen sowie Akteuren der Gesundheits- und Pflegeversorgung, einschließlich der Pflegeeinrichtungen bestehen. Dadurch könnten pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung versorgt werden, hieß es.

Voraussetzung für die Umsetzung von neuen Lösungen sei eine deutlich engere Kooperation zwischen Kommunen, Kranken- und Pflegekassen. Reimann: "Die Pflege vor Ort leidet unter getrennten Zuständigkeiten. Gebraucht werde eine Zusammenarbeit, die schon bei der Infra- und Sorgestrukturplanung beginne und die das Wissen der Kranken- und Pflegekassen zu den Bedarfslagen der Menschen vor Ort so früh wie möglich berücksichtige.

Örtliche Bedarfe besser berücksichtigen

Auch die Zulassung der Leistungsanbieter soll den AOK-Überlegungen zufolge auf einer gemeinsamen Planungsgrundlage beruhen. Bislang können bei der Zulassung keine örtlichen Bedarfe berücksichtigt werden, hieß es.

Flexibilisierung des Leistungsrechts: Individuelle Budgets: Um die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen zu stärken, schlägt die AOK eine Flexibilisierung des Leistungsrechts in der Form vor, dass die bisherigen Leistungsansprüche in ein Basisbudget (Geldleistung) und ein Sachleistungsbudget zusammengefasst werden. Dieses soll unabhängig vom Ort der Leistungserbringung (aber abhängig vom Pflegegrad) genutzt werden können. Dazu fordert die AOK die Aufhebung der Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Pflege.

Prävention als Ziel einer nachhaltigen Pflegepolitik: Das Positionspapier betont auch die Notwendigkeit von mehr Prävention sowohl vor als auch bei bereits eingetretener Pflegebedürftigkeit. Der AOK-Bundesverband schlägt unter anderem vor, die Kurzzeitpflege in einen Vollleistungsanspruch im Sinne einer ressourcenorientierten pflegerisch-therapeutischen Präventionspflege umzuwandeln, sodass mehr Menschen länger selbstbestimmt leben können. Auch evidenzbasierte digitale Unterstützungsangebote wie beispielsweise Systeme, die Stürze automatisch erkennen, sollen dazu beitragen, dass Menschen länger zu Hause leben können.

Vorschläge zur Finanzierung: Um die Finanzierungslücke zu schließen und das bestehende Leistungsniveau im Teilleistungssystem der SPV zu erhalten, spricht sich die AOK für einen Finanzierungsmix aus. Zur Entlastung der Beitragszahlenden soll ein dauerhaft zweckgebundener, dynamisierter Bundesbeitrag zum Ausgleich versicherungsfremder Leistungen eingeführt werden, insbesondere für die Rentenversicherungsbeiträge von pflegenden Angehörigen und für die Ausbildungskosten von Pflegepersonen. Zur Begrenzung der stationären Eigenanteile sollen die Bundesländer ihrer finanziellen Verantwortung zur Übernahme der Investitionskosten nachkommen.

Zudem spricht sich die AOK für die jährliche Dynamisierung der Teilleistungen der SPV aus. Diese soll, ähnlich wie in der Rentenversicherung, auf einem regelgebundenen Automatismus im Rahmen der steigenden Beitragseinnahmen durch Bruttolohnzuwächse aufsetzen. Eine weitere Forderung besteht darin, den Kapitalstock im bereits etablierten Pflegevorsorgefonds auszubauen. Dafür sollen zusätzlich zu den bereits eingebrachten Beitragszahlungen auch Steuermittel investiert werden.

Dirk Baas


Studie

Junge Geflüchtete nach Jahren noch psychisch stark belastet



München (epd). Jugendliche Geflüchtete sind auch zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland noch massiv von posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Ängsten betroffen. Im Laufe der Zeit erlangten aber situative Bedingungen im Aufnahmeland eine zunehmende Bedeutung für die Verbesserung ihres Gesundheitszustandes, teilte das Deutsche Jugendinstitut in München am 2. August unter Verweis auf eine aktuelle Studie des Forschungsprojektes „Better Care“ mit.

Einflussreichster Faktor sind demnach potenziell traumatische Erfahrungen vor oder während der Flucht wie das Erleben von Gewalt, Tötungen oder Naturkatastrophen. In dem Projekt untersuchen Forschende des Deutschen Jugendinstituts, der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und des Universitätsklinikums Ulm die psychische Gesundheit von mehr als 600 unbegleiteten jungen Geflüchteten, die heute vor allem in stationären Wohngruppen der Jugendhilfe leben.

Gestuften Versorgungsansatz entwickelt

Sie wurden zu ihren Belastungen befragt, 120 von ihnen mehrmals über einen Zeitraum von zwei Jahren - auch zu ihrer sozialen Teilhabe sowie zu Faktoren im Aufnahmeland, die ihren Gesundheitszustand verbessern oder beeinträchtigten. Außerdem entwickelten die Forschenden einen gestuften Versorgungsansatz zur Verbesserung der psychischen Gesundheit von unbegleiteten jungen Geflüchteten und vergleichen aktuell seine Wirksamkeit mit bestehenden Angeboten.

Der Studie zufolge wird das Wohlergehen der jungen Geflüchteten besonders von sozialen Stressauslösern wie Diskriminierungserfahrungen, Einsamkeit oder Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsstatus beeinflusst. Die Sorge um zurückgebliebene Familienmitglieder spiele ebenfalls eine entscheidende Rolle, wobei sich mehr Kontakt zu den Angehörigen positiv auswirke.

Frühzeitig an diesen Bedingungen im Aufnahmeland anzusetzen, könne das Wohlergehen der jungen Menschen deutlich verbessern, schreiben die DJI-Forschenden Fabienne Hornfeck, Selina Kappler und Professor Heinz Kindler.




sozial-Branche

Gesundheit

Mutterglück mit Schuldenberg




Eine Hebamme tastet den Bauch einer Schwangeren ab.
epd-bild/Detlef Heese
Trotz Versicherungspflicht leben in der Bundesrepublik Zehntausende ohne Krankenversicherung. Schwierig ist die Lage schwangerer Frauen: In den Monaten vor der Entbindung werden sie in manchen Fällen überhaupt nicht medizinisch betreut.

Mainz (epd). In Armenien hatte Liana P. eine Ausbildung zur Apothekerin gemacht, danach war sie mit einem Visum zur Arbeitssuche nach Polen gereist. Als die junge Frau einen in Rheinland-Pfalz lebenden Landsmann kennenlernte und schwanger wurde, zog sie zu ihm. Doch die Kosten für die medizinische Betreuung während Schwangerschaft und Geburt waren nicht durch ihre Versicherung gedeckt: In Deutschland konnte sie nicht ohne weiteres zum Arzt gehen und Vorsorgetermine wahrnehmen.

Für Claudia Tamm und ihre Mitstreiter von „Medinetz“ in Koblenz sind Fälle wie die des armenischen Paares nichts Ungewöhnliches. Die Hilfsorganisation setzt sich für Menschen ohne Krankenversicherung ein. Nicht alle, die dort anklopfen, melden sich rechtzeitig: „Vor einiger Zeit kam eine Frau gegen Ende der 36. Schwangerschaftswoche“, berichtet Tamm. „Wir haben Gott sei Dank wenigstens noch die Blutgruppe bestimmen können, aber solche Überraschungen wollen die Kliniken natürlich nicht erleben.“ Manchmal kämen Frauen mit Wehen in den Kreißsaal, bei denen nicht einmal die Lage des ungeborenen Kindes bekannt sei, weil sie vorher nicht bei einem Arzt gewesen seien.

Versicherungspflicht gilt seit 2007

Seit 2007 gilt in Deutschland eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht. Aber trotzdem leben im Land offiziellen Angaben zufolge noch immer Zehntausende ohne Versicherungsschutz. Illegal in Deutschland lebende Ausländer eingeschlossen, geht es wahrscheinlich sogar um eine sechsstellige Zahl Betroffener. Bei einer Schwangerschaft melden sich manche Frauen ohne Versicherungskarte erst kurz vor der Entbindung - aus Angst vor den Kosten oder vor einer drohenden Abschiebung.

„Medinetz“ in Koblenz und andere Hilfsorganisationen in Deutschland versuchen, Pauschalen mit den Geburtskliniken auszuhandeln und die Schwangeren an Arztpraxen zu vermitteln, die ohne Rechnung Untersuchungen vornehmen. Vor allem aber bemühen sie sich, wo immer möglich, rechtzeitig vor der Geburt bei der Aufnahme in eine Krankenkasse zu helfen.

Viele Selbstzahler müssen sich hoch verschulden

Nicht alle Schwangeren ohne Krankenversicherung seien mittellos und viele wollten erst einmal Kosten selbst tragen, sagt Tamm. Doch während Selbstzahlerinnen für eine natürliche Geburt ohne Komplikationen rund 3.500 Euro in Rechnung gestellt werden, können sich bei einer Frühgeburt mit intensivmedizinischer Betreuung die Kosten im Extremfall auf weit über 100.000 Euro belaufen.

Manche junge Eltern starteten ihr Leben mit Kind deshalb auch mit einem riesigen Schuldenberg, sagt Tamm. Meist bleiben die Krankenhäuser letztlich auf den Kosten sitzen. Aber auch Fälle, in denen Kliniken ihre Forderungen an Inkassofirmen weiterverkaufen, sind den Helfern bekannt. Andere Einrichtungen geben sich damit zufrieden, wenn unversicherte Frauen einen Betrag von 400 Euro zahlen.

Legal eingereist, aber dann ohne Job

Die Ursachen dafür, dass Frauen in eine solche Notlage geraten, sind unterschiedlich. Viele Hilfesuchende stammen aus osteuropäischen EU-Staaten, die legal nach Deutschland ziehen, hier aber keine feste Arbeit finden. Eine weitere Gruppe, die Nele Wilk vom Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ Sorgen bereitet, sind ausländische Studentinnen und Schülerinnen von Studienkollegs und Sprachschulen.

Diese Personen kämen oft mit einer Reisekrankenversicherung nach Deutschland, bei der Schwangerschaftskosten von vorneherein nicht abgesichert seien. „In dem Moment, wo sie ordentlich an einer Hochschule immatrikuliert sind, können sie sich für einen Wechsel in eine reguläre Krankenkasse entscheiden“, berichtet Wilk. Doch es gebe keine Pflicht dazu, und aus Unwissen oder um ein wenig Geld zu sparen, würden viele darauf verzichten.

Clearingstelle hilft in Rheinland-Pfalz

Bei „Armut und Gesundheit“ arbeitet Wilk für eine vom Land Rheinland-Pfalz geförderte Clearingstelle, die Menschen ohne Versicherung zurück ins Regelsystem der Gesundheitsvorsorge verhelfen will. Bei Deutschen, etwa Privatversicherten mit hohen Schulden, lasse sich meistens eine Regelung finden. Aber für Ausländerinnen und Ausländer sei das nicht immer möglich.

Bei Schwangeren helfe es nicht einmal, wenn der Vater des Kindes einen gesicherten Aufenthalt und eine Krankenversicherung besitze: Eine Familienversicherung für das Kind über den Vater ist zwar möglich - aber erst nach der Geburt. Die Forderung nach einem staatlichen Notfallfonds verhallte bislang ungehört, denn Bund, Länder und Kommunen verweisen jeweils auf fehlende Zuständigkeit. „Wir sind gerade sehr ermüdet“, sagt Wilk. „Die Menschen, aber auch die Kliniken werden im Stich gelassen.“ Vorbildlich agiere die Landeshauptstadt Mainz, deren Sozialamt mit den Krankenhäusern eine Kostenpauschale für unversicherte Frauen ausgehandelt habe.

Für Liana P. und ihr Kind gab es ein gutes Ende: „Medinetz“ organisierte die Versorgung der Armenierin, mit Hilfe der Familie wurden die Kosten gezahlt. Mittlerweile leben die - inzwischen krankenversicherte - Mutter, der Vater und ihr jetzt acht Monate alter Sohn in der Region Koblenz.

Karsten Packeiser


Armut

Interview

Expertin: Traurige Bilanz bei der Kindergrundsicherung




Britta Altenkamp
epd-bild/ZFF/Michael Schwettmann
Das Zukunftsforum Familie (ZFF) hält die Kindergrundsicherung für gescheitert - zumindest in der Form, die Familienministerin Paus vorschwebt. Dass es in den Haushaltsberatungen im Parlament noch zu spürbaren Verbesserungen für armutsgefährdete Kinder kommt, sei illusorisch, sagt Vorsitzende Britta Altenkamp im Interview mit epd sozial.

Berlin (epd). Dass in dieser Legislatur noch Grundlegendes passiert in Sachen Kindergrundsicherung, schließt das ZFF aus. Aber, so Vorsitzende Britta Altenkamp, das Thema müsse weiter auf der Agenda bleiben - auch für die Zeit nach einem möglichen Regierungswechsel. Mit Kritik an der Ampel spart die Expertin nicht. Auch für Alleinerziehende habe der Koalitionsvertrag Verbesserungen versprochen. „Doch wir bezweifeln, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas kommen wird.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Viele Fachleute und auch Sozialverbände sehen die ursprünglich angekündigte Kindergrundsicherung als gescheitert an. Wie sehen Sie das?

Britta Altenkamp: Seit 2009 treten wir für eine echte Kindergrundsicherung ein. Neben einer ausreichenden Höhe durch ein neu berechnetes kindliches Existenzminimums erhoffen wir uns gemeinsam mit dem Bündnis Kindergrundsicherung, endlich das ungerechte System aus Kindergeld, Kinderfreibeträgen und dem Kinderregelsatz vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ziel ist eine Leistung für alle Kinder, sozial gerecht ausgestaltet, um somit Kinderarmut zu bekämpfen. Davon ist rein gar nichts eingetreten. Eher werden Reparaturen am bestehen System vorgenommen, Ungerechtigkeiten damit weiter zementiert und Kinder im Bürgergeld als kleine Erwerbslose behandelt, die mit ihren Bedarfen im Jobcenter verbleiben.

epd: Das klingt sehr ernüchtert ...

Altenkamp: Ja. Nun werden karge Verbesserungen durch die beschlossenen Eckpunkte zum Haushalt 2025 als große Errungenschaften verkauft. Parallel dazu hat Bundesfinanzminister Christian Lindner der Kindergrundsicherung eine klare Absage erteilt. Es besteht für uns keine Hoffnung mehr, dass noch etwas in Richtung einer #EchtenKindergrundsicherung im parlamentarischen Verfahren verhandelt werden kann.

epd: Jenseits von Fragen der Finanzierung: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass ein so zentrales, seit langem gefordertes und eigentlich unstrittiges Reformprojekt so jämmerlich zu scheitern droht?

Altenkamp: Für uns ist das Zusammenspiel mehrerer Faktoren der Grund: Die Haushaltslage hat sich durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine enorm verschlechtert. Minister Lindner hat sehr früh angefangen, massiv gegen die Kindergrundsicherung zu wettern. SPD und Grüne haben leider nicht gemeinsam dafür gekämpft und schieben sich nun gegenseitig den schwarzen Peter zu. Und: Das System vom Kopf auf die Füße zu stellen und Leistungen aus einer Hand zu gewähren, gleicht einem Paradigmenwechsel. Das hätte das größte Sozialstaatsprojekt aller Zeiten werden können. Wir kritisieren auch, dass weitere im Koalitionsvertrag versprochene Projekte wie die Familienstartzeit, Verbesserungen beim Elterngeld oder Abstammungsrecht steckengeblieben sind. Das ist eine traurige Bilanz für diese Regierung.

epd: Noch ist ja keine Entscheidung im Bundestag über die Kindergrundsicherung und ihre Finanzierung gefallen. Es bleibt also eine vage Hoffnung. Aber worauf eigentlich?

Altenkamp: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hat es in letzter Zeit gebetsmühlenartig wiederholt: das parlamentarische Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Wir hören derzeit, dass weitere Verbesserungen in zwei Schritten kommen sollen. Zunächst sollen die Zugänge zu den Leistungen nochmal angepasst werden. Mit einem Kindergrundsicherungscheck sollen den Familienkassen einen Datenabgleich mit anderen Stellen ermöglicht werden. Das könnte Zeit und mühsame Antragswege für Betroffene ersparen. Ebenfalls soll ein Kinderchancenportal kommen, das Prestigeprojekt der FDP.

epd: Was genau muss man sich darunter vorstellen?

Altenkamp: Es handelt sich dabei um ein bundesweites Portal für Bildungs- und Teilhabeleistungen. Es ist jedoch aus unserer Sicht höchst fraglich, ob die Leistungen von den Familien dann wirklich besser abgerufen werden können. Es haben sich ja auch schon viele Kommunen auf dem Weg gemacht und überlegt, wie sie die Zugänge erleichtern können. Das nun alles zentral regeln zu wollen, sehe ich als nicht zielführend an. Sehr vage ist der zweite Schritt formuliert: Hier sollen die Leistungen dann zusammengeführt werden. Was da aber gerade genau verhandelt wird, entzieht sich unserer Kenntnis. Das Ganze soll dann auch weiterhin den Namen Kindergrundsicherung behalten. Das kann man wirklich niemanden mehr erklären. Ich möchte es nochmal in aller Deutlichkeit sagen: Das ist für uns keine Kindergrundsicherung.

epd: Einige finanzielle Verbesserungen soll es ja trotzdem für Kinder in Armut und ihre Familien geben. Wie sind die Pläne dazu zu bewerten, vor allem, wenn man die noch immer nicht ganz niedrige Inflation bedenkt?

Altenkamp: Im Juli hat das Kabinett das Steuerfortentwicklungsgesetz beschlossen. Neben massiven Erhöhungen der Kinderfreibeträge sind auch Verbesserungen beim Kindergeld und eine minimale Erhöhung des Kindersofortzuschlags geplant. Auch wird die erhöhte Inanspruchnahme des Kinderzuschlags im nächsten Haushalt abgebildet. Es ist zwar begrüßenswert, dass mehr Familien mit dem Kinderzuschlag erreicht werden konnten. Das stellt für uns aber keine Verbesserung dar, sondern ist eine Fortführung des Status Quo. Darüber hinaus kann zwar eine Erhöhung des Kindergeldes in einigen Fällen dazu beitragen, das Familienbudget zu erhöhen. Dennoch kann es nur sehr begrenzt bei der Armutsvermeidung helfen, weil es weiterhin hinter dem sächlichen Existenzminimum von Kindern und noch weiter hinter dem gesamten steuerlichen Existenzminimum zurückbleibt.

epd: Die Höhe des Zuschlags reicht also nicht?

Altenkamp: Fünf Euro mehr Sofortzuschlag ist bei der derzeitigen Inflation ein Tropfen auf den heißen Stein. Mittlerweile kostet eine Kugel Eis schon über zwei Euro. Ebenfalls sind beim Bürgergeld in den nächsten zwei Jahren Nullrunden geplant, sodass von dieser kargen Erhöhung rein gar nichts mehr übrigbleiben wird.

epd: Blickt man auf die Aussagen der Union, die sich ja Chancen ausrechnet, die nächste Bundesregierung anzuführen, dürfte nicht viel Hoffnung aufkeimen, dass die Lage der Kinder in Armut erheblich besser wird. Das Bürgergeld könnte wieder verschwinden und es gibt keine Pläne, die Kindergrundsicherung einzuführen. Im Gegenteil. Was sind Ihre Forderungen an die nächste Regierung?

Altenkamp: Wir können uns Sparpläne auf dem Rücken der Kinder und Familien nicht mehr leisten. Ein Aufwachsen in Armut bringt Kinder um die Chance, die Demokratie als solidarische Gesellschaftsform zu erleben. Wenn wir nicht gegensteuern, wird das langfristig das Vertrauen in den Sozialstaat und unsere demokratischen Institutionen schwächen. Wir werden uns daher weiterhin für einen Systemwechsel und für eine echte Kindergrundsicherung einsetzen.

epd: Das heißt, die Kindergrundsicherung ist für Sie unverzichtbar ...

Altenkamp: Ja, sie muss armutsvermeidend sein. Deshalb wollen wir langfristig das soziokulturelle Existenzminimums neue berechnen. Und wir halten eine Harmonisierung des Existenzminimums im Steuer-, Unterhalts- und Sozialrecht für zwingend. Bis zur Neuermittlung fordern wir eine Maximalhöhe von aktuell 746 Euro, die sich aus dem steuerlichen Existenzminimumbericht ableitet. Die Leistung sollte sozial gerecht sein, das heißt, sie muss mit steigendem Einkommen abgeschmolzen werden. Zudem muss das Steuerrecht von Anfang an systematisch mitbedacht werden, um die verteilungspolitisch verfehlte Wirkung der Kinderfreibeträge zu beseitigen. Der Mindestbetrag der Kindergrundsicherung muss daher der maximalen Entlastungswirkung der Kinderfreibeträge entsprechen. Wir meinen, es sollte eine Leistung für alle Kinder sein, die in Deutschland leben oder deren Eltern hier arbeiten und Steuern zahlen: Kindergeld, Kinderfreibeträge, Regelleistungen für Kinder nach SGB II/XII, pauschalierbare Anteile aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, Leistungen für Kinder nach dem AsylbLG, Kinderzuschlag und Wohnkostenanteile müssen gebündelt und die Leistung perspektivisch vollautomatisiert durch eine Stelle berechnet und ausgezahlt werden.

epd: Das betrifft die Leistungsermittlung. Aber wie sollten die Hilfestrukturen aussehen?

Altenkamp: Wir werben für einen Neustart hin zu einer familienfreundlichen Verwaltung. Aus unserer Sicht sollte ees eine Anlaufstelle für alle Familien zu Fragen der materiellen Existenzsicherung geben, die beratend zur Seite steht. Wir sprechen uns hier weiterhin für die Familienkasse beziehungsweise den Familienservice als zuständige Behörde aus. Um nochmal im Hier und Jetzt zu bleiben: die jetzige Koalition könnte sich natürlich für einen rechtlichen Rahmen einsetzen, der einen Systemwechsel und Verwaltungsvereinfachung festschreibt. Das wäre ein guter und sinnvoller erster Schritt.

epd: Union und FDP wollen keine höheren Leistungen, sondern erreichen, dass alle Anspruchsberechtigten die ihnen zustehenden Hilfen auch bekommen. Das klingt ja nicht völlig falsch, oder?

Altenkamp: Das ist ja eine Forderung, die wir seit langem ebenfalls erheben. Dass die Leistungen endlich dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Es ist aber grundsätzlich falsch zu glauben, dass damit weniger Geld in die Hand genommen werden muss. Wenn die Zugänge einfacher werden, steigen natürlich auch die Ausgaben für die Leistung. Jüngstes Beispiel ist hier der Kinderzuschlag. Hier hat sich die Inanspruchnahme massiv erhöht, dafür mussten nun aber auch 1,1 Milliarden Euro Mehrausgaben im Bundeshaushalt veranschlagt werden. Uns reicht das aber nicht aus. Die Leistungen müssen auch dringend erhöht werden. Seit Jahren mahnen wir auch an, dass das Existenzminimum dringend neu berechnet werden müsste, denn viele Studien weisen darauf hin, dass die Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend sind, um Armut und Ausgrenzung zu verhindern.

epd: Auch für Alleinerziehende sollte sich die Lage zu Zeiten der Ampel-Regierung bessern, so wollte es der Koalitionsvertrag. Doch auch hier geht es nicht voran. Werden da aus Ihrer Sicht in der restlichen Legislatur noch Fortschritte zu erwarten sein?

Altenkamp: Kinder, die bei Alleinerziehenden aufwachsen sind sehr häufig von Armut betroffen, obwohl fastdrei Viertel der alleinerziehenden Mütter erwerbstätig sind - viele davon in Vollzeit. Auch für Alleinerziehende hätte eine echte Kindergrundsicherung dazu beitragen können, ihre Situation zu verbessern. Hier waren auch einige Vorhaben aus dem Kindergrundsicherungsgesetz richtig und wichtig. Dazu zählen zum Beispiel die Anrechnung von Unterhaltsvorschussleistungen und Unterhalt beim Kinderzusatzbetrag von 100 Prozent auf 45 Prozent zu reduzieren und auch den Kindergeldübertrag abzuschaffen. Die stärkere Verknüpfung von Leistungen an die Erwerbstätigkeit der Alleinerziehenden, wie sie der Gesetzentwurf vorsah, haben wir jedoch stark kritisiert. Ebenso kritisieren wir seit Jahren, dass das Sozialrecht egalitäre Betreuungsmodelle nicht abbildet. Möchten Alleinerziehende oder gemeinsam erziehende Trennungseltern die Verantwortung für die Kinder teilen, geht das im Fall von Familien mit keinem oder geringem Einkommen derzeit nur über eine Kürzung der Leistungen.

epd: Wie ließe sich das ändern?

Altenkamp: Wir als ZFF setzen uns mit vielen weiteren Verbänden für die Einführung eines Umgangsmehrbedarfs ein, der die entstandenen Mehrkosten abfedert und Kürzungen im Haushalt des alleinerziehenden Elternteils verhindert. Hier hatten wir uns ebenfalls durch die Umsetzung des Koalitionsvertrags Lösungen erhofft. Zudem setzen wir auf die versprochene Steuergutschrift für Alleinerziehende. Mit einer Steuergutschrift sollten Alleinerziehende mit geringem Einkommen in Form einer negativen Einkommenssteuer unterstützt werden. Der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerziehende sollte damit zu einer Steuergutschrift weiterentwickelt werden und ist als Abzugsbetrag von der Steuerschuld auszugestalten. Da nun auch im zweiten Jahressteuergesetz nichts von diesem Versprechen steht, bezweifeln wir, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas kommen wird.



Flüchtlinge

Interview

"Bezahlkarte entmündigt, grenzt aus, stigmatisiert und diskriminiert"



Die Initiative "Hamburg sagt Nein zur Bezahlkarte" macht mobil gegen die "SocialCard" für Geflüchtete. Warum sie dieses Instrument ablehnt, erklärt Sprecherin Lena Valori im Interview mit dem Evangelischen Pressdienst (epd).

Hamburg (epd). Die Bezahlkarte sei mit Menschen- und Grundrechten nicht vereinbar, sagt Lena Valori zur Begründung für den Einsatz gegen die SocialCard. Die Karte sei „ein weiteres Element der Ausgrenzung, Diskriminierung, Entmündigung und auch Entwürdigung von geflüchteten Menschen“. Die Fragen stellte Marcel Maack.

epd sozial: Frau Valori, Sie fordern die Abschaffung der Bezahlkarte für Geflüchtete. Warum?

Lena Valori: Die Bezahlkarte entmündigt, grenzt aus, stigmatisiert und diskriminiert und ist mit Menschen- und Grundrechten nicht vereinbar. Mit der Bezahlkarte können maximal 50 Euro, für Kinder nur zehn Euro im Monat in bar abgehoben werden. Überweisungen, Lastschriftverfahren oder PayPal sind nicht möglich. Wir sehen, dass gerade die Einschränkung des Bargeldzugangs gravierende Folgen für Betroffene hat. Darum haben wir Mitte März eine Soli-Tauschaktion gestartet, bei der Menschen mit Bezahlkarte vor Ort Gutscheine gegen Bargeld eintauschen können, die sehr gut angenommen wurde.

epd: Sie plädieren stattdessen für ein Basiskonto. Welche Vorteile würde dieses Geflüchteten bringen?

Valori: Wir setzen uns dafür ein, dass jeder Mensch frei über das ihnen rechtlich zustehende Geld verfügen kann. Das wäre mit einem Basiskonto gewährleistet. Außerdem können darüber Leistungen schnell und unkompliziert ausgezahlt werden.

epd: Hamburg begann im Februar mit der Ausgabe der „SocialCard“. Welche Erfahrungen haben Geflüchtete damit bislang gemacht?

Valori: Es gibt viele technische Probleme mit der Karte und keine Ansprechpartner, die sie lösen. Beschwerden darüber sind überdies schwer einzureichen, dabei unterstützen wir Menschen mit Bezahlkarte gerne. Sie kann zudem nicht überall verwendet werden: Viele günstige Läden, wie Second-Hand-Läden und Wochenmärkte, sind damit nicht zugänglich. Es kann nur in Läden, die vergleichsweise teurer sind, eingekauft werden, wie beispielsweise Supermärkten. Hier haben in Hamburg Menschen mit Bezahlkarte auch schon diskriminierende Erfahrungen gemacht.



Familie

Diakonie warnt vor Engpass wegen hoher Nachfrage in Beratungsstellen



Düsseldorf (epd). Das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) warnt vor einem drohenden Versorgungsengpass bei Familien-, Paar- und Lebensberatung. Ein Hauptgrund seien die steigende Nachfrage nach Beratungsgesprächen und immer komplexere Themen, erklärte die Diakonie RWL am 12. August in Düsseldorf. Der evangelische Wohlfahrtsverband fordert demnach „dringend eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Beratungsstellen“ durch die Kommunen und das Land Nordrhein-Westfalen.

Immer mehr Menschen suchten die Beratungsstellen auf und immer längere und häufigere Beratungen seien notwendig, hieß es weiter. Belastend seien beispielsweise der Krieg in der Ukraine, die Nachwirkungen der Pandemie, weltpolitische Krisen und der Klimawandel. Es bestehe die Gefahr, dass nicht mehr alle Menschen erreicht werden oder ausreichend Hilfe bekommen, sagte der Vorstand der Diakonie RWL, Christian Heine-Göttelmann.

Engpässe auch in anderen Hilfesystemen

Neben der steigenden Nachfrage sehen sich die Diakonie-Beratungsstellen nach eigenen Angaben auch mit Engpässen in anderen Hilfesystemen konfrontiert. So warteten etwa viele Kinder und Jugendliche bis zu zwei Jahre auf einen Therapieplatz. Der Versuch der Berater, diese Zeit zu überbrücken, führt laut Heine-Göttelmann „zu einer Überlastung unseres Systems“. Zudem würden Jugendämter aufgrund ihrer begrenzten Kapazitäten ihrerseits auf Familienberatungsstellen verweisen.

Der Diakonie-Landesverband führt zudem knappe finanzielle Ressourcen an. Neue Beratungsstellen würden seit 1993 nicht mehr in die allgemeine Förderung des Landes NRW aufgenommen. Diese sei zudem seit Jahren nicht angepasst worden und decke im Durchschnitt ein Viertel der Personalkosten und 20 Prozent der Betriebskosten der evangelischen Beratungsstellen. Die Förderung der Erziehungsberatungsstellen durch die Kommunen sei oft „nicht an die gestiegenen Personalkosten angepasst“, hieß es weiter.

„Die Lücke zwischen öffentlichem Geld und den tatsächlichen Kosten wird immer größer“, beklagte der Diakonie-Vorstand. Der Eigenanteil der kirchlichen und diakonischen Träger steige immens und parallel gingen die Einnahmen aus der Kirchensteuer zurück, so Heine-Göttelmann. Bei den Beratungsstellen drohten deshalb Schließungen oder Trägerwechsel.



Diakonie

Studie: Kirchliches Arbeitsrecht führt zu starker Tarifbindung



Berlin (epd). Einer neuen Erhebung zufolge ist die Tarifbindung in diakonischen Unternehmen weiter hoch. Während in der Gesamtwirtschaft der Anteil der Beschäftigten mit einem Tarifvertrag seit Jahren rückläufig sei, arbeiteten im Jahr 2023 97 Prozent der Beschäftigten in den Kernarbeitsbereichen der Diakonie in tarifgebundenen Unternehmen, teilte der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) am 14. August mit. Er verwies auf die Ergebnisse einer eigenen Erhebung.

Auch die betriebliche Mitbestimmung sei in den evangelischen Einrichtungen weit verbreitet, hieß es: In deutlich über 90 Prozent aller Unternehmen existierten Mitarbeitervertretungen. Zum Vergleich: Außerhalb des kirchlichen Bereichs haben laut dem Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nur sieben Prozent aller Betriebe Betriebsräte, Tendenz fallend. Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages arbeiten 57 Prozent der Beschäftigten in der Gesundheits- und Sozialbranche, in der Gesamtwirtschaft liegt der Wert bei lediglich 49 Prozent.

„Ergebnisse können sich sehen lassen“

Grundlage für die hohe Tarifbindung in den diakonischen Unternehmen bildet das kirchliche Arbeitsrecht, der sogenannte Dritte Weg. „Der Dritte Weg sichert den Beschäftigten ein hohes Maß an Mitgestaltung zu - gleichzeitig wird auf diese Weise verhindert, dass Tarifkonflikte auf dem Rücken unserer Klienten ausgetragen werden“, sagte VdDD-Vorstandsvorsitzender Ingo Habenicht. Die durch diesen Prozess erzielten Ergebnisse könnten sich sehen lassen. „Im Gehaltsvergleich zwischen den Wohlfahrtsverbänden belegt die Diakonie mit großem Abstand Platz eins.“

Den immer wieder aufflammenden Forderungen nach einer Abschaffung des kirchlichen Arbeitsrechts erteilte Habenicht erneut eine Absage: „Wer das Selbstbestimmungsrecht aufweichen will, gefährdet die hohe Tarifbindung unserer Branche und schafft keinen Mehrwert für die Beschäftigten.“

Der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland e.V. (VdDD) vertritt als diakonischer Bundesverband die Interessen von 200 Mitgliedsunternehmen und Regionalverbänden mit rund 570.000 Beschäftigten.



Landtagswahlen

Diakonie startet "Sozial-O-Mat" für Brandenburg



Bezahlbare Pflege, genügend Ärzte, störungsfreies Internet für alle, Flüchtlinge aufnehmen oder nicht: Sechs Wochen vor der Landtagswahl hat die Diakonie einen Sozialcheck der Parteipositionen in Brandenburg gestartet.

Potsdam (epd). Die Diakonie will vor der Landtagswahl in Brandenburg sozialpolitische Themen stärker in den Blick rücken. Der Wahlkampf sei von hitzigen und populistischen Debatten geprägt und solle mit dem „großangelegten Sozial-Check“ versachlicht werden, sagte die Direktorin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ursula Schoen, am 12. August bei der Präsentation des „Sozial-0-Mat“ in Potsdam. Der neue Landtag wird am 22. September gewählt.

Seit dem 13. August können Interessierte ihre eigene Zustimmung zu 20 Thesen aus fünf Themenbereichen mit den Positionen der Parteien im Wahlkampf vergleichen. Zusätzlich wird mit Fallbeispielen illustriert, wie die sozialen Themen den Alltag bestimmen können. Dort geht es unter anderem um die Belastung pflegender Angehöriger, die Bedeutung wohnortnaher medizinischer Versorgung, die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und die Unterstützung behinderter Kinder.

Positionen der Diakonie werden auch angezeigt

Wenn die eigenen Positionen in dem Online-Tool festgelegt sind, wird die Übereinstimmung mit den Positionen der verschiedenen Parteien angezeigt. Dort können auch ausführlichere Statements der Parteien zu den einzelnen Fragen aufgerufen werden. Außerhalb der Parteiangaben werden auch die Positionen der Diakonie benannt.

Tobias Korenke, Geschäftsführer des Unternehmens, das den Sozial-Check entwickelt hat, sagte, der „Sozial-O-Mat“ sei „kein Wahlempfehlungstool“. Er diene der politischen Bildung und habe zum Ziel, dass Wählerinnen und Wähler über die Inhalte möglichst sachlich ins Gespräch kommen. Alle 14 Parteien, die in Brandenburg zur Wahl antreten, hätten sich beteiligen können. Nur von der DKP, der Tierschutzpartei und der Partei „DLW“ seien bis zum 12. August keine Angaben eingegangen. Die AfD habe sich anders als beim Thüringen-„Sozial-O-Mat“ in Brandenburg beteiligt.

Heranführung an landespolitische Themen

Schoen sagte, der Wahlkampf werde oft von Themen überlagert, die nicht auf Landesebene entschieden würden. Der „Sozial-O-Mat“ solle „auf niedrigschwellige und spielerische Weise“ an landespolitische Themen heranführen. Dabei gehe es um sehr konkrete Fragen und um „keine Luftschlösser“. Einblicke in die Themen seien wichtig für verantwortungsvolle Wahlentscheidungen.

Die Diakoniedirektorin sagte, bei den Kommunalwahlen am 9. Juni habe bereits völkisches Gedankengut die Wahlergebnisse verschoben. Der „Sozial-O-Mat“ biete nun Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit darüber nachzudenken, ob die Abwehr von Zuwanderung oder die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen „tatsächlich die einzige und beste Lösung für ihre vielfältigen sozialen Bedürfnisse ist“, betonte die evangelische Theologin.

Schoen sagte, die Diakonie mit ihren rund 900 verschiedenen Sozialunternehmen mit mehr als 20.000 Beschäftigten in Brandenburg stehe für ein gutes Miteinander, Nächstenliebe und faire Debatten. Dennoch seien Desinformationskampagnen und menschenverachtende Ansichten auch in eigenen Belegschaften eine Herausforderung. Der „Sozial-O-Mat“ mit begleitender Social-Media-Kampagne solle nun den Blick darauf lenken, was für ein sozial gerechtes und vielfältiges Leben in Brandenburg wichtig sei.

Yvonne Jennerjahn


Behinderung

Lebenshilfe-Vorstand: Gesellschaft muss noch inklusiver werden



Hannover, Osterode (epd). Die Lebenshilfe mahnt mehr Anstrengungen für die Inklusion an. Menschen mit Behinderungen seien trotz guter Initiativen in vielen Lebensbereichen noch immer benachteiligt, sagte der Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe in Niedersachsen, Erwin Drefs, dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit Blick auf einen Aktionstag am 24. August in Osterode am Harz.

Für die Betroffenen leisteten viele Fachkräfte enorme Unterstützungsarbeit über sogenannte Eingliederungshilfe - etwa als Assistenzen in Wohngruppen oder Schulbegleiter, so der Experte. „Allerdings sehen wir auch, dass das Bundesteilhabegesetz, das diese Hilfen regelt, den Bedarf der Menschen nicht praktikabel genug abfragt.“

Länder müssten „Bürokratiemonster“ umsetzen

Drefs sprach in diesem Zusammenhang von einem „Bürokratiemonster“, das von den Ländern umgesetzt werden müsse. „Die Verfahren sind enorm verschachtelt“, betonte der Vorstand. So können Betroffene Wünsche äußern, welche Leistungen sie beanspruchen wollten, und zudem wählen, wenn mehrere geeignete Alternativen denkbar sind. Die Menschen hätten aber teils erhebliche Probleme, die in den Verfahren an sie gestellten Fragen überhaupt zu verstehen. „Da muss nachgeschärft werden“, betonte Drefs.

Der Vorstandschef warb auch dafür, Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich mehr Chancen zu geben. „Da steckt unheimlich viel Potenzial.“ Zwar müssten jeweils individuelle Lösungen erarbeitet oder spezielle Arbeitsbedingungen vereinbart werden: „Aber viele Betriebe wissen gar nicht, wie viele Vorteile für sie daraus entstehen können.“

Mehr Selbstbestimmung ist ein „großer Gewinn“

Mit dem Land und mit Gesundheitsminister Andreas Philippi (SPD) seien die Wohlfahrtsverbände im guten Austausch, sagte Drefs. Deswegen sei es ihm auch ein Anliegen, positive Entwicklungen aufzuzeigen. Es sei ein großer Gewinn, „dass Menschen mit Beeinträchtigungen heute viel selbstbestimmter und selbstbewusster sind und zum Glück auch viel sichtbarer in unserer diversen Gesellschaft.“

Um dazu einen weiteren Beitrag zu leisten, feiere die niedersächsische Lebenshilfe alle zwei Jahre einen landesweiten Aktionstag - ein inklusives Stadtfest mit Musik und Aktionen. In diesem Jahr seien am 24. August in Osterode auf drei Bühnen und an Aktionsständen mehr als 200 Künstlerinnen und Künstler sowie Akteure aus den Lebenshilfen in Niedersachsen aktiv.

Dem Verband gehören 116 Mitgliedsorganisationen an. Über drei Viertel aller im Bundesland tätigen teilstationären Eingliederungseinrichtungen für geistig und mehrfach behinderte Menschen haben sich in der Lebenshilfe als ihrem Dachverband zusammengeschlossen.

Björn Schlüter


Pflege

Verband lobt Referentenentwurf zur Pflegeassistenzausbildung



Berlin (epd). Der Bundesverband Pflegemanagement begrüßt das Ziel der Einführung einer bundeseinheitlichen, generalistisch ausgerichteten Pflegeassistenzausbildung. „Der demografische Wandel und der steigende Pflegebedarf erfordern dringende Maßnahmen zur Sicherstellung einer guten und professionellen pflegerischen Versorgung“, sagte Sara Lukuc, die Vorsitzende der Organisation, am 9. August in Berlin. „Wir begrüßen die Zielsetzung des Referentenentwurfs, ein einheitliches Berufsprofil für die Pflegeassistenz zu schaffen und dadurch die Attraktivität des Berufs zu steigern.“

Sie nannte die Pläne der Regierung einen wichtigen Baustein in der Versorgungssicherung. Eingeführt werden soll eine 18- monatige Pflegefachassistenzausbildung, weil das eine umfassendere Qualifikation und eine bessere Vorbereitung auf die vielfältigen Anforderungen in der Pflege gewährleistet.

Der Ansatz werde durch erste Stimmen aus der aktuellen Trendstudie zum Thema „Wandel der Pflege: Welchen Herausforderungen Krankenhäuser ab 2025 aufgrund des Wegfalls der Finanzierung für Pflegehilfskräfte entgegensehen“ des Verbandes bestätigt, sagte Lukuc. Sie forderte, auch Rehabilitationseinrichtungen als praktische Ausbildungsträger zu berücksichtigen. Das würde ein „Mehr an Chancen“ sowohl mit Blick auf die Ausbildung als auch auf eine gute sektorenübergreifende Versorgung ermöglichen.




sozial-Recht

Bundesgerichtshof

Vor Zwangsbehandlung: Patient von Therapie überzeugen




Eingang zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe
epd-bild/Uli Deck
Vor einer ärztlichen Zwangsbehandlung in der Psychiatrie müssen die behandelnden Ärzte zwingend versuchen, den Patienten von der Therapieteilnahme zu überzeugen. Erst wenn das nicht gelingt, kann die erforderliche Behandlung gerichtlich genehmigt werden, entschied der Bundesgerichtshof.

Karlsruhe (epd). Vor der zwangsweisen Gabe von Psychopharmaka müssen Ärztinnen und Ärzte zunächst versuchen, den Patienten zur freiwilligen Einnahme der verordneten Medikamente zu bewegen. Nur wenn der behandelnde Arzt dokumentieren kann, dass es ihm ohne Ausübung von Druck und auch mit dem gebotenen Zeitaufwand nicht gelungen ist, die Zustimmung des Patienten zu der Maßnahme zu erlangen, ist eine gerichtlich genehmigte Zwangsbehandlung möglich, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 9. August veröffentlichten Beschluss.

Im konkreten Fall ging es um einen 43-jährigen, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankten Mann aus dem Raum Stendal in Sachsen-Anhalt. Als er 2008 seinen Vater mit einem Messer angegriffen hatte, wurde er in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Eine medikamentöse Behandlung lehnte er weitgehend ab.

Landgericht stimmte Antrag auf Zwangstherapie zu

Die behandelnden Ärzte hielten die Gabe von Psychopharmaka für erforderlich. Gerichtlich beantragten sie die medikamentöse Zwangsbehandlung. Das Landgericht Stendal stimmte der vom 16. Januar 2024 bis zum 26. Februar 2024 vorgesehenen Zwangsmaßnahme zu.

Der 43-Jährige argumentierte vor dem BGH, dass die Einwilligung des Landgerichts in die Zwangsbehandlung rechtswidrig war. Er sei aktuell gar nicht erkrankt. Die behandelnden Ärzte hätten nicht versucht, ihn vertrauensvoll von der Notwendigkeit der Maßnahme zu überzeugen.

Der BGH hielt die Zwangsbehandlung für rechtmäßig. Diese ist laut Sachverständigen erforderlich. Damit sie gerichtlich genehmigt werden könne, müsse der behandelnde Arzt erfolglos versucht haben, die Einwilligung des Betroffenen in die Behandlung zu erlangen. Das müsse „ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung von Druck“ versucht worden sein. Wie die Überzeugungsversuche konkret aussehen müssen, hänge jedoch stark vom Einzelfall ab, so das Gericht.

Gericht sieht erfolglose Überzeugungsversuche

Hier hätten die behandelnden Ärzte dokumentiert, dass dem Betroffenen die Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung erläutert wurde und sie nicht durch eine andere Therapie ersetzt werden könne. Der 43-Jährige habe darauf wütend reagiert und jegliche Behandlung abgelehnt. Nach Angaben des Chefarztes gelinge eine Kontaktaufnahme zu dem Patienten trotz vielfältiger und regelmäßiger Versuche nicht mehr. Nach diesen erfolglosen Überzeugungsversuchen sei die gerichtlich genehmigte Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka nicht zu beanstanden, so der BGH.

Bereits am 9. Februar 2022 hatten die Karlsruher Richter in einem anderen Fall ähnlich entschieden. Danach müssen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte den Patienten zur freiwilligen Therapieteilnahme möglichst überzeugen und deren Notwendigkeit erläutern. Das zuständige Gericht müsse dabei in jedem Einzelfall feststellen „und in seiner Entscheidung in nachprüfbarer Weise darlegen“, dass solch ein Überzeugungsversuch zur Einwilligung in eine Therapie auch wirklich stattgefunden hat.

Problem: Patientenverfügungen

Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juni 2021 kann eine Patientenverfügung der medizinischen Zwangsbehandlung aber auch entgegenstehen. Patienten könnten in ihrer Patientenverfügung ihr Recht auf „Freiheit zur Krankheit“ geltend machen und medizinische Zwangsbehandlungen verbieten. Voraussetzung sei, dass die Patientenverfügung „unter freiem Willen“ verfasst wurde. Werde dennoch einem psychisch kranken Straftäter im Maßregelvollzug allein zu seinem Schutz die zwangsweise Medikamentengabe entgegen seiner Patientenverfügung veranlasst, könne das das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzen.

Anderes könne gelten, wenn die Zwangsmaßnahme auch zum Schutz anderer Menschen erforderlich sei, etwa um tätliche Angriffe des Patienten auf andere Personen zu verhindern. Hier müsse stets geprüft werden, ob die dann zulässige Zwangsbehandlung verhältnismäßig sei, so die Verfassungsrichter.

Soll eine Patientenverfügung eine Zwangsbehandlung in der geschlossenen Psychiatrie verhindern, darf der psychisch Kranke das darin enthaltene Behandlungsverbot aber nicht zu allgemein fassen. Die in der Verfügung enthaltene Regelung müsse sich auf die konkrete Behandlungssituation der geschlossenen Unterbringung beziehen und die etwaigen Konsequenzen wie etwa Gesundheitsschäden bei ausbleibender Behandlung erfassen, entschied der BGH am 15. März 2023. So müsse etwa ein psychisch kranker Betroffener abgewogen haben, dass er bei einer unterbliebenen Behandlung wegen der Gefährdung anderer Menschen ein Leben lang im Maßregelvollzug untergebracht werden kann.

Az.: XII ZB 572/23 (Bundesgerichtshof, Überzeugungsversuch)

Az.: XII ZB 159/21 (Bundesgerichtshof, freiwillige Therapie-Teilnahme)

Az.: 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/18 (Bundesverfassungsgericht, Recht auf Krankheit)

Az.: XII ZB 232/21 (Bundesgerichtshof, Voraussetzungen, Patientenverfügung)

Frank Leth


Bundesgerichtshof

Keine Zwangsunterbringung für "Übergangsfrist"



Karlsruhe (epd). Die nicht mehr erforderliche zwangsweise Unterbringung eines unter Betreuung stehenden psychisch Kranken darf nicht einfach für eine „Übergangsfrist“ verlängert werden. Auch wenn die Frist dem Betreuer Zeit für die Suche nach einer anderen Wohneinrichtung geben soll, verletze die übergangsweise Verlängerung der Unterbringung das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 14. August veröffentlichten Beschluss.

Im konkreten Fall ging es um einen an einer Schizophrenie und an Diabetes erkrankten Mann aus Berlin. Der unter Betreuung stehende Mann wurde mehrfach zwangsweise in einer beschützenden Abteilung einer Pflegeeinrichtung untergebracht. Damit sollten ein Suizid verhindert und die Medikamenteneinnahme sichergestellt werden. Als der Betreuer eine Verlängerung der Unterbringung beantragte, genehmigte das Amtsgericht diese bis zum März 2025.

Freiheitsrechte wurden verletzt

Dagegen legte der Betroffene Beschwerde ein. Das Landgericht holte daraufhin ein Sachverständigengutachten ein. Danach sei die Beendigung der Unterbringung „grundsätzlich geboten“. Eine Suizidgefahr bestehe nicht mehr. Eine zwangsweise medikamentöse Behandlung zum Schutz der Gesundheit sei nicht geplant. Dennoch genehmigte das Landgericht die Unterbringung für eine „Übergangsfrist“ bis zum 22. November 2023, um dem Betreuer Zeit zu geben, eine andere Wohneinrichtung für den Betroffenen zu suchen. Nach Ablauf der Unterbringungsmaßnahme wollte der Betroffene deren Rechtswidrigkeit feststellen lassen.

Der BGH entschied, dass der Mann in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt worden sei. Lägen die Voraussetzungen für eine Unterbringungsmaßnahme nicht mehr vor, sei „die Freiheitsentziehung unverzüglich zu beenden“. Das Landgericht habe zu Recht festgestellt, dass eine weitere zwangsweise Unterbringung des Mannes nicht erforderlich sei, da er in einer anderen Wohnform leben könne. Für eine „Übergangsfrist“ gebe es keine Rechtsgrundlage, so der BGH.

Az.: XII ZB 463/23



Landesarbeitsgericht

Betriebsratsvorsitzender darf bewilligten Urlaub nicht unterbrechen



Mainz (epd). Der einmal vom Arbeitgeber für einen Betriebsratsvorsitzenden bewilligte Urlaub gilt. Fällt währenddessen Betriebsratsarbeit an, kann der Urlaub nicht unterbrochen werden, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in einem am 5. August veröffentlichten Urteil. Eine Zeitgutschrift für die ausgeübte Betriebsratsarbeit könne dann nicht verlangt werden, befanden die Mainzer Richter.

Der Kläger ist Betriebsratsvorsitzender des fünfköpfigen Betriebsrats eines Unternehmens, das Verpackungen für die Zigarettenindustrie herstellt. Der Arbeitgeber hatte ihm vom 19. bis 23. Dezember 2022 fünf Tage Urlaub bewilligt. Als dann kurzfristig am 21. Dezember 2022 eine Betriebsversammlung angesetzt wurde, unterbrach der Kläger seinen Urlaub, um die Versammlung vorbereiten, leiten und nachbereiten zu können. Er verlangte, dass die aufgewandten 18,5 Stunden seiner Betriebsratstätigkeit seinem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden.

Betriebsrat wollte Zeitgutschrift erstreiten

Der Arbeitgeber erklärte jedoch, dass ein einmal genehmigter Erholungsurlaub nicht einseitig wieder „rückgängig“ gemacht werden könne. Der Betriebsratsvorsitzende meinte jedoch, dass er seinen Urlaub für Betriebsratstätigkeiten ohne Zustimmung des Arbeitgebers unterbrechen dürfe. Außerdem hätten in den letzten Jahren Betriebsratsmitglieder mehrfach Zeitgutschriften für Betriebsratsarbeit während ihres Urlaubs erhalten, so der Arbeitnehmervertreter.

Das LAG urteilte, dass der Kläger für seine Betriebsratsarbeit keine Zeitgutschrift verlangen könne. Er habe in dieser Zeit keinen Anspruch auf zusätzliche Arbeitsbefreiung für sein Ehrenamt, weil er während des Urlaubs gar nicht zur Erbringung der Arbeitsleistung verpflichtet war.

Zeitausgleich nur bei Tätigkeit aus „betriebsbedingten Gründen“

Ein Anspruch auf Zeitausgleich könne allenfalls dann bestehen, wenn Betriebsratsarbeit aus „betriebsbedingten Gründen“ außerhalb der Arbeitszeit stattfinden muss. Als Beispiel nannte das Gericht, wenn die Betriebsratstätigkeit wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten der Betriebsratsmitglieder nicht innerhalb der persönlichen Arbeitszeit erfolgen kann. Urlaub sei aber kein „betriebsbedingter Grund“, so das Gericht.

Eine „betriebliche Übung“ des Arbeitgebers, nach der in der Vergangenheit regelmäßig Zeitgutschriften für Betriebsratstätigkeit bewilligt wurden, liege ebenfalls nicht vor. Zum einen dürfe eine betriebliche Übung nicht ausschließlich Betriebsratsmitglieder begünstigen. Zum anderen habe es sich bei den fünf vorgebrachten Fällen nur um wenige Stunden gehandelt.

Az.: 5 Sa 255/23



Bundesarbeitsgericht

Postbote bringt Kündigung in "postüblicher Zeit"



Erfurt (epd). Eine per Post zugesandte Kündigung wird während der „postüblichen Zeiten“ regelmäßig zugestellt und kann in dieser Zeit auch vom Arbeitnehmer zur Kenntnis genommen werden. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am 2. August veröffentlichten Urteil entschieden und die fristgerechte Kündigung einer Arbeitnehmerin aus dem Raum Nürnberg bestätigt.

Im Streit stand die Frage, wann die Klägerin ihre vom Arbeitgeber versandte Kündigung erhalten hatte und so überhaupt erst zur Kenntnis nehmen konnte. Der Frau konnte laut Arbeitsvertrag mit einer Frist von einem Vierteljahr zum Quartalsende gekündigt werden. Maßgeblich hierfür ist, wann die Kündigung zugestellt und zur Kenntnis genommen wurde.

Klägerin bestritt rechtzeitigen Erhalt des Schreibens

Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Frau zum 31. Dezember 2021. Das Kündigungsschreiben vom 28. September 2021 wurde von einem Postboten am 30. September 2021 in den Briefkasten geworfen.

Die Klägerin bestritt, dass das Kündigungsschreiben zu den „üblichen Postzustellungszeiten“ zugestellt wurde. Sie habe nicht mehr am selben Tag mit Post rechnen können und daher auch nicht in den Briefkasten sehen müssen. Damit müsse von einer Zustellung erst am 1. Oktober 2021 ausgegangen werden. Entsprechend der quartalsweisen Kündigungsfrist müsse dann das Arbeitsverhältnis aber noch bis zum 31. März 2022 bestehen.

Zustellung erfolgte in verkehrsüblicher Weise

Das BAG wies die Frau Klage ab. Eine Kündigung gehe zu, „sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen“.

Postzustellungszeiten könnten zwar etwa wegen der Zustellmenge variieren, so das Gericht. Es müsse aber damit gerechnet werden, dass während der „postüblichen Zeiten“, der Arbeitszeit des Postzustellers, die Briefe zugestellt werden. In dieser Zeit könnten Empfänger auch Kenntnis von den Briefen nehmen.

Dass die Zustellung der Kündigung nicht an den postüblichen Zeiten erfolgt ist, habe die Klägerin nicht widerlegen können. Damit sei davon auszugehen, dass sie die Kündigung noch am 30. September 2021 zur Kenntnis nehmen konnte.

Az.: 2 AZR 213 23



Landessozialgericht

Kasseler Einwohner-Energie-Geld mindert Bürgergeld-Anspruch nicht



Darmstadt, Kassel (epd). Das Einwohner-Energie-Geld der Stadt Kassel darf nicht bei der Berechnung von Bürgergeld-Ansprüchen angerechnet werden. Die einmaligen Zuwendungen der Kommune seien zu gering, um die Lage der Leistungsberechtigten wesentlich zu verbessern, stellte das Hessische Landessozialgericht in Darmstadt in einem am 15. August veröffentlichten Urteil klar. Das Gericht hatte den Fall einer Familie mit vier Kindern verhandelt, denen das Jobcenter die Leistungen gekürzt hatte.

Mit dem Einwohner-Energie-Geld von einmalig 75 Euro pro Person sollten die Bewohner der Stadt Kassel im Jahr 2022 einen Ausgleich für die explodierten Energiepreise erhalten. Das Jobcenter hatte die Leistungskürzung unter anderem damit begründet, dass es die höheren Heizkosten für Bürgergeldbezieher selbst übernommen habe und die Anhebung des Bürgergeldes Anfang 2023 die gestiegenen Stromkosten auffange.

Die Darmstädter Richter urteilten hingegen, die Pauschale sei nicht als Einkommen zu werten, weil der Betrag auf mehrere Monate aufgeteilt die Höhe von zehn Prozent des Regelbedarfs nicht überschreite und die Zuwendung an alle Antragsteller ausgezahlt worden sei, „ohne dass hierfür eine rechtliche oder sittliche Pflicht bestanden hätte“. Gegen die Entscheidung kann noch Revision eingelegt werden.

Az.: L 6 AS 310/23




sozial-Köpfe

Kirchen

Matthias Schröter zurück im Vorstand der Diakonissenanstalt Dresden




Matthias Schröter
epd-bild/Diakonissenanstalt Dresden/Sven Claus
In der Ev.-Luth. Diakonissenanstalt Dresden gab es einen Wechsel in der Leitung: Seit dem 12. August ist Matthias Schröter Vorstand und Verwaltungsdirektor.

Dresden (epd). Der Verwaltungsrat der Diakonissenanstalt Dresden hat Ralf Schönherr abberufen und Matthias Schröter als Vorstand und Verwaltungsdirektor bestellt. In einer Mitteilung heißt es, Schönherr wolle sich beruflich neu orientieren und weiterentwickeln.

Der Verwaltungsrat dankte Schönherr für seine Tätigkeit und sein Engagement in schwierigen Zeiten für die deutschen Krankenhäuser und damit auch für die beiden Krankenhäuser des Vereins. „Wir begrüßen seinen Mut, diese persönliche Entscheidung zu treffen und wünschen ihm und seiner Familie eine sichere Zukunft und Gottes Segen“.

Nun kehrte bei Diakonissenanstalt ein altbekanntes Gesicht in den Vorstand zurück: Matthias Schröter ist wieder Verwaltungsdirektor der zwei Krankenhäuser des Vereins und damit auch Vorstand der Diako Dresden. Er hatte die Position bei dem sächsischen Unternehmen, zu dem unter anderem das Diakonissenkrankenhaus Dresden und das Krankenhaus Emmaus Niesky gehören, zum 1. Januar 2023 nach mehr als 20 Jahren abgegeben und die kaufmännische Verantwortung an seinen Nachfolger Ralf Schönherr übertragen.

Der war 17 Jahre für verschiedene Bereiche im Universitätsklinikum Dresden verantwortlich, zuletzt als Verwaltungsdirektor für das Diagnostisch-Internistische-Neurologische Zentrum.

Matthias Schröter bildet den Vorstand der Diako Dresden jetzt zusammen mit S. Esther Selle und Stephan Siegmund. Für den gesamten Unternehmensverbund arbeiten nach eigenen Angaben rund 1.400 Beschäftigte.



Weitere Personalien



Andreas Schmidt (53) leitet seit dem 1. August die Unternehmenskommunikation der DGD Stiftung Marburg. Die Stiftung ist Träger eines Verbunds diakonischer Gesundheitseinrichtungen mit mehr als 3.900 Mitarbeitenden. Schmidt folgt auf Frank Kaiser, der sich beruflich neu orientiert und den Gesundheitskonzern zum 31. Juli auf eigenen Wunsch verlassen hat. Schmidt arbeitete zweieinhalb Jahrzehnte sowohl freiberuflich als auch angestellt für und bei zahlreichen Tageszeitungen und Online-Medien. Bevor er im Oktober 2022 als Referent für Unternehmenskommunikation zur DGD Stiftung wechselte, war er als Wirtschaftsredakteur der Oberhessischen Presse in Marburg tätig, bei der er auch geraume Zeit Mitglied der Chefredaktion war.

Klara Ullrich, von 1995 bis 2003 Vizepräsidentin im Katholischen Deutschen Frauenbund, ist tot. Sie starb im Alter von 89 Jahren. „Klara Ullrich war eine bedeutende Persönlichkeit der Caritas-Arbeit in der DDR und eine engagierte Frauenbundfrau. Ihr Leben und Wirken sind ein beeindruckendes Zeugnis für Mut, Mitgefühl und unermüdlichen Einsatz für Menschen in Not“, würdigte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa das große Engagement der Verstorbenen. Ullrich ließ sich zur Fürsorgerin ausbilden. Mit viel Einsatz setzte sie sich als Caritas-Mitarbeiterin in Ost-Berlin für die Menschen ein, die unter den Repressionen des DDR-Regimes litten. Besonders in den 1980er-Jahren stand sie hunderten DDR-Bürgen zur Seite, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. In den 1970er-Jahren leitete Ullrich zudem das „Seminar für den kirchlich-caritativen Dienst in Magdeburg“.

Jens Werner wird am 1. September Direktor im Caritasverband Rhein-Hunsrück-Nahe. Der promovierte Theologe führt künftig die Geschäfte des katholischen Sozialverbandes für die Landkreise Bad Kreuznach, Birkenfeld und Rhein-Hunsrück. Zuletzt hatte Werner die Gesamtleitung eines christlichen Trägers der Kinder- und Jugendhilfe im pfälzischen Landau inne. Der Verband hat vier Geschäftsstellen und betreibt zwei Sozialstationen. Werner folgt auf Victoria Müller-Ensel, die im vergangenen April als Caritasdirektorin nach Koblenz gewechselt ist.

Cawa Younosi wird am 1. September neuer Geschäftsführer des Vereins „Charta der Vielfalt“, des größten Arbeitgeberbündnisses zur Förderung von Vielfalt in der Arbeitswelt. Er folgt auf Corina Christen und Franziska von Kempis, die den Verein während der letzten zwei Jahre im Tandem geleitet haben. Während von Franziska von Kempis die Charta auf eigenen Wunsch verlässt, um sich eigenen Projekten zu widmen, bleibt Corina Christen dem Verein mit ihrer Expertise in einer operativen Leitungsfunktion erhalten. Younosi war zuletzt in globaler Position bei SAP tätig, als langjähriger Personalchef und Mitglied der Geschäftsführung für Deutschland.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis September



August

29.8. Münster:

Seminar „Leiten und Führen in der Sozialwirtschaft“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-519

30.8.:

Online-Seminar „Psychische Erkrankungen: Das Drama mit dem Trauma - Einführung in die Grundlagen von Traumatisierung und Traumafolgestörungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

September

2.9.:

Online-Seminar „Kooperations- und Netzwerkarbeit in der Adoptionsvermittlung“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980424

4.9. Stuttgart:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe - Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-375

5.9.

Online-Sommerakademie: „Resilienz-Training für Führungskräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-16

5.-6.9. Berlin:

Fachtagung: „Gemeinsam wachsen: Auf dem Weg zu einer inklusiven und demokratischen Kindertagesbetreuung“

der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe

Tel.: 030/40040-200

11.9.:

Online-Workshop „Mit Wertschätzung und Klarheit - Kommunikation für Führungskräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-23

11.-12.9.:

Online-Grundkurs „Social-Media-Strategie zur Gewinnung der passenden Fachkräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

12.9. Erkner

Aktuelle Herausforderungen im Jobcenter - Kooperationsplan und Gesundheitsförderung - Eine Tagung für Leitungskräfte

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-424

16.-18.9.:

Online-Seminar „Digitalisierung in Organisationen aus Kirche, Diakonie und Sozialwirtschaft - Den digitalen Wandel durch eigene Kompetenz als Chance begreifen und aktiv gestalten“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

17.-19.9. Eisenach:

39. Bundesweite Streetworktagung: „Zeig Dich und sag was!“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/315 49 35

18.9.:

Online-Seminar „Aktuelles zum Datenschutz in Einrichtungen des Gesundheitswesens“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0251/48261-194

19.-20.9. Erkner:

Seminar „Neue Entwicklungen in der Pflege“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Vorsorge

Tel.: Tel.: 030/62980-424

24.-25.9.:

Online-Seminar: „Sicher im Umgang mit dem Zuwendungs- und Vergaberecht Öffentliche Fördermittel korrekt verwalten und verausgaben“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

27.9.:

Digitaler Fachaustausch „Umsetzung von Housing First in deutschen Kommunen“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-424