Karlsruhe (epd). Vor der zwangsweisen Gabe von Psychopharmaka müssen Ärztinnen und Ärzte zunächst versuchen, den Patienten zur freiwilligen Einnahme der verordneten Medikamente zu bewegen. Nur wenn der behandelnde Arzt dokumentieren kann, dass es ihm ohne Ausübung von Druck und auch mit dem gebotenen Zeitaufwand nicht gelungen ist, die Zustimmung des Patienten zu der Maßnahme zu erlangen, ist eine gerichtlich genehmigte Zwangsbehandlung möglich, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 9. August veröffentlichten Beschluss.
Im konkreten Fall ging es um einen 43-jährigen, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankten Mann aus dem Raum Stendal in Sachsen-Anhalt. Als er 2008 seinen Vater mit einem Messer angegriffen hatte, wurde er in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Eine medikamentöse Behandlung lehnte er weitgehend ab.
Die behandelnden Ärzte hielten die Gabe von Psychopharmaka für erforderlich. Gerichtlich beantragten sie die medikamentöse Zwangsbehandlung. Das Landgericht Stendal stimmte der vom 16. Januar 2024 bis zum 26. Februar 2024 vorgesehenen Zwangsmaßnahme zu.
Der 43-Jährige argumentierte vor dem BGH, dass die Einwilligung des Landgerichts in die Zwangsbehandlung rechtswidrig war. Er sei aktuell gar nicht erkrankt. Die behandelnden Ärzte hätten nicht versucht, ihn vertrauensvoll von der Notwendigkeit der Maßnahme zu überzeugen.
Der BGH hielt die Zwangsbehandlung für rechtmäßig. Diese ist laut Sachverständigen erforderlich. Damit sie gerichtlich genehmigt werden könne, müsse der behandelnde Arzt erfolglos versucht haben, die Einwilligung des Betroffenen in die Behandlung zu erlangen. Das müsse „ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung von Druck“ versucht worden sein. Wie die Überzeugungsversuche konkret aussehen müssen, hänge jedoch stark vom Einzelfall ab, so das Gericht.
Hier hätten die behandelnden Ärzte dokumentiert, dass dem Betroffenen die Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung erläutert wurde und sie nicht durch eine andere Therapie ersetzt werden könne. Der 43-Jährige habe darauf wütend reagiert und jegliche Behandlung abgelehnt. Nach Angaben des Chefarztes gelinge eine Kontaktaufnahme zu dem Patienten trotz vielfältiger und regelmäßiger Versuche nicht mehr. Nach diesen erfolglosen Überzeugungsversuchen sei die gerichtlich genehmigte Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka nicht zu beanstanden, so der BGH.
Bereits am 9. Februar 2022 hatten die Karlsruher Richter in einem anderen Fall ähnlich entschieden. Danach müssen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte den Patienten zur freiwilligen Therapieteilnahme möglichst überzeugen und deren Notwendigkeit erläutern. Das zuständige Gericht müsse dabei in jedem Einzelfall feststellen „und in seiner Entscheidung in nachprüfbarer Weise darlegen“, dass solch ein Überzeugungsversuch zur Einwilligung in eine Therapie auch wirklich stattgefunden hat.
Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juni 2021 kann eine Patientenverfügung der medizinischen Zwangsbehandlung aber auch entgegenstehen. Patienten könnten in ihrer Patientenverfügung ihr Recht auf „Freiheit zur Krankheit“ geltend machen und medizinische Zwangsbehandlungen verbieten. Voraussetzung sei, dass die Patientenverfügung „unter freiem Willen“ verfasst wurde. Werde dennoch einem psychisch kranken Straftäter im Maßregelvollzug allein zu seinem Schutz die zwangsweise Medikamentengabe entgegen seiner Patientenverfügung veranlasst, könne das das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzen.
Anderes könne gelten, wenn die Zwangsmaßnahme auch zum Schutz anderer Menschen erforderlich sei, etwa um tätliche Angriffe des Patienten auf andere Personen zu verhindern. Hier müsse stets geprüft werden, ob die dann zulässige Zwangsbehandlung verhältnismäßig sei, so die Verfassungsrichter.
Soll eine Patientenverfügung eine Zwangsbehandlung in der geschlossenen Psychiatrie verhindern, darf der psychisch Kranke das darin enthaltene Behandlungsverbot aber nicht zu allgemein fassen. Die in der Verfügung enthaltene Regelung müsse sich auf die konkrete Behandlungssituation der geschlossenen Unterbringung beziehen und die etwaigen Konsequenzen wie etwa Gesundheitsschäden bei ausbleibender Behandlung erfassen, entschied der BGH am 15. März 2023. So müsse etwa ein psychisch kranker Betroffener abgewogen haben, dass er bei einer unterbliebenen Behandlung wegen der Gefährdung anderer Menschen ein Leben lang im Maßregelvollzug untergebracht werden kann.
Az.: XII ZB 572/23 (Bundesgerichtshof, Überzeugungsversuch)
Az.: XII ZB 159/21 (Bundesgerichtshof, freiwillige Therapie-Teilnahme)
Az.: 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/18 (Bundesverfassungsgericht, Recht auf Krankheit)
Az.: XII ZB 232/21 (Bundesgerichtshof, Voraussetzungen, Patientenverfügung)