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Armut

Interview

Expertin: Traurige Bilanz bei der Kindergrundsicherung




Britta Altenkamp
epd-bild/ZFF/Michael Schwettmann
Das Zukunftsforum Familie (ZFF) hält die Kindergrundsicherung für gescheitert - zumindest in der Form, die Familienministerin Paus vorschwebt. Dass es in den Haushaltsberatungen im Parlament noch zu spürbaren Verbesserungen für armutsgefährdete Kinder kommt, sei illusorisch, sagt Vorsitzende Britta Altenkamp im Interview mit epd sozial.

Berlin (epd). Dass in dieser Legislatur noch Grundlegendes passiert in Sachen Kindergrundsicherung, schließt das ZFF aus. Aber, so Vorsitzende Britta Altenkamp, das Thema müsse weiter auf der Agenda bleiben - auch für die Zeit nach einem möglichen Regierungswechsel. Mit Kritik an der Ampel spart die Expertin nicht. Auch für Alleinerziehende habe der Koalitionsvertrag Verbesserungen versprochen. „Doch wir bezweifeln, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas kommen wird.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Viele Fachleute und auch Sozialverbände sehen die ursprünglich angekündigte Kindergrundsicherung als gescheitert an. Wie sehen Sie das?

Britta Altenkamp: Seit 2009 treten wir für eine echte Kindergrundsicherung ein. Neben einer ausreichenden Höhe durch ein neu berechnetes kindliches Existenzminimums erhoffen wir uns gemeinsam mit dem Bündnis Kindergrundsicherung, endlich das ungerechte System aus Kindergeld, Kinderfreibeträgen und dem Kinderregelsatz vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ziel ist eine Leistung für alle Kinder, sozial gerecht ausgestaltet, um somit Kinderarmut zu bekämpfen. Davon ist rein gar nichts eingetreten. Eher werden Reparaturen am bestehen System vorgenommen, Ungerechtigkeiten damit weiter zementiert und Kinder im Bürgergeld als kleine Erwerbslose behandelt, die mit ihren Bedarfen im Jobcenter verbleiben.

epd: Das klingt sehr ernüchtert ...

Altenkamp: Ja. Nun werden karge Verbesserungen durch die beschlossenen Eckpunkte zum Haushalt 2025 als große Errungenschaften verkauft. Parallel dazu hat Bundesfinanzminister Christian Lindner der Kindergrundsicherung eine klare Absage erteilt. Es besteht für uns keine Hoffnung mehr, dass noch etwas in Richtung einer #EchtenKindergrundsicherung im parlamentarischen Verfahren verhandelt werden kann.

epd: Jenseits von Fragen der Finanzierung: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass ein so zentrales, seit langem gefordertes und eigentlich unstrittiges Reformprojekt so jämmerlich zu scheitern droht?

Altenkamp: Für uns ist das Zusammenspiel mehrerer Faktoren der Grund: Die Haushaltslage hat sich durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine enorm verschlechtert. Minister Lindner hat sehr früh angefangen, massiv gegen die Kindergrundsicherung zu wettern. SPD und Grüne haben leider nicht gemeinsam dafür gekämpft und schieben sich nun gegenseitig den schwarzen Peter zu. Und: Das System vom Kopf auf die Füße zu stellen und Leistungen aus einer Hand zu gewähren, gleicht einem Paradigmenwechsel. Das hätte das größte Sozialstaatsprojekt aller Zeiten werden können. Wir kritisieren auch, dass weitere im Koalitionsvertrag versprochene Projekte wie die Familienstartzeit, Verbesserungen beim Elterngeld oder Abstammungsrecht steckengeblieben sind. Das ist eine traurige Bilanz für diese Regierung.

epd: Noch ist ja keine Entscheidung im Bundestag über die Kindergrundsicherung und ihre Finanzierung gefallen. Es bleibt also eine vage Hoffnung. Aber worauf eigentlich?

Altenkamp: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hat es in letzter Zeit gebetsmühlenartig wiederholt: das parlamentarische Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Wir hören derzeit, dass weitere Verbesserungen in zwei Schritten kommen sollen. Zunächst sollen die Zugänge zu den Leistungen nochmal angepasst werden. Mit einem Kindergrundsicherungscheck sollen den Familienkassen einen Datenabgleich mit anderen Stellen ermöglicht werden. Das könnte Zeit und mühsame Antragswege für Betroffene ersparen. Ebenfalls soll ein Kinderchancenportal kommen, das Prestigeprojekt der FDP.

epd: Was genau muss man sich darunter vorstellen?

Altenkamp: Es handelt sich dabei um ein bundesweites Portal für Bildungs- und Teilhabeleistungen. Es ist jedoch aus unserer Sicht höchst fraglich, ob die Leistungen von den Familien dann wirklich besser abgerufen werden können. Es haben sich ja auch schon viele Kommunen auf dem Weg gemacht und überlegt, wie sie die Zugänge erleichtern können. Das nun alles zentral regeln zu wollen, sehe ich als nicht zielführend an. Sehr vage ist der zweite Schritt formuliert: Hier sollen die Leistungen dann zusammengeführt werden. Was da aber gerade genau verhandelt wird, entzieht sich unserer Kenntnis. Das Ganze soll dann auch weiterhin den Namen Kindergrundsicherung behalten. Das kann man wirklich niemanden mehr erklären. Ich möchte es nochmal in aller Deutlichkeit sagen: Das ist für uns keine Kindergrundsicherung.

epd: Einige finanzielle Verbesserungen soll es ja trotzdem für Kinder in Armut und ihre Familien geben. Wie sind die Pläne dazu zu bewerten, vor allem, wenn man die noch immer nicht ganz niedrige Inflation bedenkt?

Altenkamp: Im Juli hat das Kabinett das Steuerfortentwicklungsgesetz beschlossen. Neben massiven Erhöhungen der Kinderfreibeträge sind auch Verbesserungen beim Kindergeld und eine minimale Erhöhung des Kindersofortzuschlags geplant. Auch wird die erhöhte Inanspruchnahme des Kinderzuschlags im nächsten Haushalt abgebildet. Es ist zwar begrüßenswert, dass mehr Familien mit dem Kinderzuschlag erreicht werden konnten. Das stellt für uns aber keine Verbesserung dar, sondern ist eine Fortführung des Status Quo. Darüber hinaus kann zwar eine Erhöhung des Kindergeldes in einigen Fällen dazu beitragen, das Familienbudget zu erhöhen. Dennoch kann es nur sehr begrenzt bei der Armutsvermeidung helfen, weil es weiterhin hinter dem sächlichen Existenzminimum von Kindern und noch weiter hinter dem gesamten steuerlichen Existenzminimum zurückbleibt.

epd: Die Höhe des Zuschlags reicht also nicht?

Altenkamp: Fünf Euro mehr Sofortzuschlag ist bei der derzeitigen Inflation ein Tropfen auf den heißen Stein. Mittlerweile kostet eine Kugel Eis schon über zwei Euro. Ebenfalls sind beim Bürgergeld in den nächsten zwei Jahren Nullrunden geplant, sodass von dieser kargen Erhöhung rein gar nichts mehr übrigbleiben wird.

epd: Blickt man auf die Aussagen der Union, die sich ja Chancen ausrechnet, die nächste Bundesregierung anzuführen, dürfte nicht viel Hoffnung aufkeimen, dass die Lage der Kinder in Armut erheblich besser wird. Das Bürgergeld könnte wieder verschwinden und es gibt keine Pläne, die Kindergrundsicherung einzuführen. Im Gegenteil. Was sind Ihre Forderungen an die nächste Regierung?

Altenkamp: Wir können uns Sparpläne auf dem Rücken der Kinder und Familien nicht mehr leisten. Ein Aufwachsen in Armut bringt Kinder um die Chance, die Demokratie als solidarische Gesellschaftsform zu erleben. Wenn wir nicht gegensteuern, wird das langfristig das Vertrauen in den Sozialstaat und unsere demokratischen Institutionen schwächen. Wir werden uns daher weiterhin für einen Systemwechsel und für eine echte Kindergrundsicherung einsetzen.

epd: Das heißt, die Kindergrundsicherung ist für Sie unverzichtbar ...

Altenkamp: Ja, sie muss armutsvermeidend sein. Deshalb wollen wir langfristig das soziokulturelle Existenzminimums neue berechnen. Und wir halten eine Harmonisierung des Existenzminimums im Steuer-, Unterhalts- und Sozialrecht für zwingend. Bis zur Neuermittlung fordern wir eine Maximalhöhe von aktuell 746 Euro, die sich aus dem steuerlichen Existenzminimumbericht ableitet. Die Leistung sollte sozial gerecht sein, das heißt, sie muss mit steigendem Einkommen abgeschmolzen werden. Zudem muss das Steuerrecht von Anfang an systematisch mitbedacht werden, um die verteilungspolitisch verfehlte Wirkung der Kinderfreibeträge zu beseitigen. Der Mindestbetrag der Kindergrundsicherung muss daher der maximalen Entlastungswirkung der Kinderfreibeträge entsprechen. Wir meinen, es sollte eine Leistung für alle Kinder sein, die in Deutschland leben oder deren Eltern hier arbeiten und Steuern zahlen: Kindergeld, Kinderfreibeträge, Regelleistungen für Kinder nach SGB II/XII, pauschalierbare Anteile aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, Leistungen für Kinder nach dem AsylbLG, Kinderzuschlag und Wohnkostenanteile müssen gebündelt und die Leistung perspektivisch vollautomatisiert durch eine Stelle berechnet und ausgezahlt werden.

epd: Das betrifft die Leistungsermittlung. Aber wie sollten die Hilfestrukturen aussehen?

Altenkamp: Wir werben für einen Neustart hin zu einer familienfreundlichen Verwaltung. Aus unserer Sicht sollte ees eine Anlaufstelle für alle Familien zu Fragen der materiellen Existenzsicherung geben, die beratend zur Seite steht. Wir sprechen uns hier weiterhin für die Familienkasse beziehungsweise den Familienservice als zuständige Behörde aus. Um nochmal im Hier und Jetzt zu bleiben: die jetzige Koalition könnte sich natürlich für einen rechtlichen Rahmen einsetzen, der einen Systemwechsel und Verwaltungsvereinfachung festschreibt. Das wäre ein guter und sinnvoller erster Schritt.

epd: Union und FDP wollen keine höheren Leistungen, sondern erreichen, dass alle Anspruchsberechtigten die ihnen zustehenden Hilfen auch bekommen. Das klingt ja nicht völlig falsch, oder?

Altenkamp: Das ist ja eine Forderung, die wir seit langem ebenfalls erheben. Dass die Leistungen endlich dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Es ist aber grundsätzlich falsch zu glauben, dass damit weniger Geld in die Hand genommen werden muss. Wenn die Zugänge einfacher werden, steigen natürlich auch die Ausgaben für die Leistung. Jüngstes Beispiel ist hier der Kinderzuschlag. Hier hat sich die Inanspruchnahme massiv erhöht, dafür mussten nun aber auch 1,1 Milliarden Euro Mehrausgaben im Bundeshaushalt veranschlagt werden. Uns reicht das aber nicht aus. Die Leistungen müssen auch dringend erhöht werden. Seit Jahren mahnen wir auch an, dass das Existenzminimum dringend neu berechnet werden müsste, denn viele Studien weisen darauf hin, dass die Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend sind, um Armut und Ausgrenzung zu verhindern.

epd: Auch für Alleinerziehende sollte sich die Lage zu Zeiten der Ampel-Regierung bessern, so wollte es der Koalitionsvertrag. Doch auch hier geht es nicht voran. Werden da aus Ihrer Sicht in der restlichen Legislatur noch Fortschritte zu erwarten sein?

Altenkamp: Kinder, die bei Alleinerziehenden aufwachsen sind sehr häufig von Armut betroffen, obwohl fastdrei Viertel der alleinerziehenden Mütter erwerbstätig sind - viele davon in Vollzeit. Auch für Alleinerziehende hätte eine echte Kindergrundsicherung dazu beitragen können, ihre Situation zu verbessern. Hier waren auch einige Vorhaben aus dem Kindergrundsicherungsgesetz richtig und wichtig. Dazu zählen zum Beispiel die Anrechnung von Unterhaltsvorschussleistungen und Unterhalt beim Kinderzusatzbetrag von 100 Prozent auf 45 Prozent zu reduzieren und auch den Kindergeldübertrag abzuschaffen. Die stärkere Verknüpfung von Leistungen an die Erwerbstätigkeit der Alleinerziehenden, wie sie der Gesetzentwurf vorsah, haben wir jedoch stark kritisiert. Ebenso kritisieren wir seit Jahren, dass das Sozialrecht egalitäre Betreuungsmodelle nicht abbildet. Möchten Alleinerziehende oder gemeinsam erziehende Trennungseltern die Verantwortung für die Kinder teilen, geht das im Fall von Familien mit keinem oder geringem Einkommen derzeit nur über eine Kürzung der Leistungen.

epd: Wie ließe sich das ändern?

Altenkamp: Wir als ZFF setzen uns mit vielen weiteren Verbänden für die Einführung eines Umgangsmehrbedarfs ein, der die entstandenen Mehrkosten abfedert und Kürzungen im Haushalt des alleinerziehenden Elternteils verhindert. Hier hatten wir uns ebenfalls durch die Umsetzung des Koalitionsvertrags Lösungen erhofft. Zudem setzen wir auf die versprochene Steuergutschrift für Alleinerziehende. Mit einer Steuergutschrift sollten Alleinerziehende mit geringem Einkommen in Form einer negativen Einkommenssteuer unterstützt werden. Der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerziehende sollte damit zu einer Steuergutschrift weiterentwickelt werden und ist als Abzugsbetrag von der Steuerschuld auszugestalten. Da nun auch im zweiten Jahressteuergesetz nichts von diesem Versprechen steht, bezweifeln wir, dass in dieser Legislaturperiode noch etwas kommen wird.