sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie haben sich auf einen Fahrplan für die Umsetzung von Empfehlungen aus der Ende Januar veröffentlichten Missbrauchsstudie geeinigt. Das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt habe einen „klaren Zeitplan für die Entwicklung von geeigneten Maßnahmen“ erarbeitet. Sie sollen laut EKD im November der Synode zur Abstimmung vorgelegt werden. Der neue Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch kündigte umfassende Präventionsmaßnahmen an.

Martina Rubbel hat Legasthenie. Diese Störung habe ihr ganzes Berufsleben als Altenpflegerin überschattet, sagte die 63-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Ich musste mich ständig gegen Mobbing und Diskriminierung wehren.“ Beim Projekt „INA-Pflege PLUS“ der Berliner Humboldt-Universität geht es gezielt um die Alphabetisierung in der Altenpflegeausbildung. Laut Regina Ryssel von INA-Pflege PLUS ist Leseschwäche von Pflegehelferinnen ein immenses Problem. Laut Studien haben mehr als sechs Millionen Erwachsene in Deutschland ausgeprägte Lese- und Schreibschwierigkeiten.

Weil die Finanzierungszuschüsse der Länder für Investitionen der Altenheime meistens bescheiden ausfallen, müssen die Heimbewohnerinnen und -bewohner einen großen Teil der Ausgaben tragen. In der Folge steigen seit Jahren die Eigenanteile für den Aufenthalt in einer stationären Pflegeeinrichtung. Dabei können die Belastungen bei mehr als 2.500 Euro im Monat liegen.

Private Einnahmen aus dem Betrieb einer Photovoltaikanlage auf dem Dach eines Eigenheims mindern die Jobcenterleistungen. Das gilt auch dann, wenn die Solaranlage aus dem für die Altersvorsorge angesparten Vermögen finanziert wurde, entschied das Landessozialgericht Chemnitz.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Thema

Missbrauch

Evangelische Kirche beschließt Zeitplan für Empfehlungen




Kruzifix auf dem Wort "Missbrauch" im Duden (Themenfoto)
epd-bild/Heike Lyding
Die evangelische Missbrauchsstudie hat Mängel im Umgang mit sexualisierter Gewalt attestiert. Nun hat die evangelische Kirche über die Empfehlungen aus der Studie beraten. Bis November sollen konkrete Maßnahmen vorliegen.

Hannover (epd). Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie haben sich auf einen Fahrplan für die Umsetzung von Empfehlungen aus der Ende Januar veröffentlichten Missbrauchsstudie geeinigt. Das sogenannte Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt habe einen „klaren Zeitplan für die Entwicklung von geeigneten Maßnahmen“ erarbeitet. Diese sollten im November der Synode der EKD zur Abstimmung vorgelegt werden, heißt es in einer am 20. Februar in Hannover veröffentlichten Mitteilung der EKD.

Verschiedene Maßnahmen sind laut Mitteilung bereits in der Umsetzung: Reformen der Disziplinarverfahren und Anerkennungsverfahren seien bereits auf dem Weg. Zur Vernetzung betroffener Personen werde die digitale Plattform BeNe bald online gehen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung mit der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, ebne zudem den Weg für systematische Aufarbeitung über die Studie hinaus.

Betroffene und Kirchenvertreter beraten gemeinsam

Ende Januar hatte der unabhängige Forschungsverbund ForuM eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der EKD und der Diakonie vorstellt und dabei auf deutliche Mängel im Umgang mit Missbrauch und dessen Aufarbeitung verwiesen. Die Forscher attestierten unter anderem eine „Verantwortungsdiffusion“ und die Ausgrenzung von Betroffenen, die ihre Erfahrungen öffentlich machen wollten.

Das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt hat 17 Mitglieder, darunter acht Betroffenenvertreter. Es ist das zuständige Gremium für das Thema auf Ebene der EKD. Betroffene und Kirchenvertreter beraten darin gleichrangig, Entscheidungen können nur mit doppelter Mehrheit getroffen werden.

Die Sprecherin der Betroffenenvertretung, Nancy Janz, erklärte, man habe die Empfehlungen des Forschungsverbunds zunächst sortiert, priorisiert und verschiedenen Ebenen und Verantwortlichen zugewiesen. „Wir haben erarbeitet, welche Maßnahmen zu welchen Empfehlungen passen, damit Kirche und Diakonie möglichst zügig in die Umsetzung gehen können. Betroffene müssen jetzt eine Verbesserung ihrer Lage feststellen können und nicht erst in fünf Jahren“, forderte sie.

Zander: Das Thema muss in alle Köpfe

Die Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforum, Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst, betonte: „Wir brauchen Bewusstsein dafür, dass das Thema alle betrifft.“ Janz' Kollege als Betroffenensprecher, Detlev Zander, mahnte, es bleibe noch viel zu tun. „Das Thema muss in alle Köpfe“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Beratungen seien intensiv und arbeitsreich gewesen.

Wichtig ist laut Zander nun auch, dass die 20 Gliedkirchen der EKD und die diakonischen Landesverbände Macht abgeben. Zudem müssten sie jetzt genügend Geld und Personal für die Umsetzung der Empfehlungen der Forscher und des Beteiligungsforums einsetzen.

Der nächste Schritt sind laut Mitteilung gemeinsame Beratungen von Kirchenkonferenz und Rat der EKD mit Mitgliedern des Beteiligungsforums im März. Erstmals werden laut Zander Betroffenenvertreter aus dem Beteiligungsforum dann an einer Ratssitzung teilnehmen. Im April und im Mai folgen zudem weitere Sitzungen des Beteiligungsforums.

Franziska Hein


Missbrauch

Diakonie-Präsident Schuch: Es muss allein um die Betroffenen gehen




Einführung ins Amt: Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch mit Kirsten Fehrs
epd-bild/Christian Ditsch
Seit Januar ist Rüdiger Schuch Präsident der Diakonie. Kurz nach Amtsantritt wurde die Studie über das Ausmaß von Missbrauch in evangelischer Kirche und ihren Wohlfahrtseinrichtungen veröffentlicht. Für Schuch wird das ein wichtiges Thema werden.

Berlin (epd). Der neue Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch hat eine weitere Aufarbeitung von Missbrauch in Einrichtungen seines Verbands angekündigt. „Wir werden aufarbeiten, wir werden anerkennen, wir werden unsere Strukturen hinterfragen, und wir werden umfassende Präventionsmaßnahmen ergreifen“, sagte Schuch am 20. Februar im Gottesdienst zu seiner offiziellen Amtseinführung. Seit Januar leitet der 55-jährige Theologe den evangelischen Verband.

„Unaufrichtigkeit und Lüge“

Bei der Bekämpfung von Missbrauch müsse es allein um die Betroffenen gehen, sagte Schuch. Mit dem Ziel, Ansehen und Ruf von Kirche und Diakonie um jeden Preis zu schützen, hätten sich beide Institutionen „in die Tiefe der Unaufrichtigkeit und Lüge“ gestürzt. „Es wurde verheimlicht, vertuscht, infrage gestellt, es wurde verleumdet“, sagte er. Missbrauchstäter seien nicht gestoppt, sexualisierte Gewalt nicht verhindert worden, ergänzte Schuch, der in seiner Predigt von „Verbrechen“ sprach.

Ende Januar wurde die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragte Studie („ForuM“) über Ausmaß und Ursachen von Missbrauch in evangelischer Kirche und Diakonie veröffentlicht. Sie geht von mehr als 2.225 Betroffenen und 1.259 Beschuldigten aus, wobei allerdings nicht alle Akten eingesehen wurden. Für den Bereich der Diakonie wurden nach ihren Angaben überwiegend nur Fälle bis 1979 für die Studie berücksichtigt. Die Studie bescheinigt Kirche und Diakonie Mängel bei der Aufarbeitung und beim Umgang mit Betroffenen.

Paus: „Gut, dass Sie diese Aufgabe sehen“

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) forderte die Diakonie und ihren neuen Präsidenten auf, die Aufarbeitung der Fälle sowie Intervention und Vorbeugung gegen sexuelle Gewalt in diakonischen Einrichtungen schnell und nachdrücklich zu verbessern. „Gut, dass Sie diese Aufgabe sehen“, sagte Paus. Gerade weil die Diakonie mit ihren Einrichtungen unverzichtbar sei für den deutschen Sozialstaat, seien die Ergebnisse der ForuM-Studie so erschreckend, erklärte die Ministerin.

Die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs, sagte, Kirche und Diakonie seien schuldig geworden. Strukturen und „innere Haltung“ der Institutionen müssten sich verändern.

Paus würdigte darüber hinaus die Diakonie als verlässliche Partnerin des Staates unter anderem in der Kinderbetreuung, in der Pflege und Pflegeausbildung sowie im Gesundheitswesen. Als zuständige Ministerin werde sie auch angesichts der aktuellen Krisen und der schwierigen Haushaltslage um die Mittel kämpfen, die die Freie Wohlfahrtspflege für ihre Arbeit brauche, versicherte Paus. Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und AWO-Vorsitzende Michael Groß erklärte, starke Stimmen für die Wohlfahrtspflege wie die der Diakonie seien in der aktuellen Situation besonders gefragt.

33.400 diakonische Einrichtungen

In diakonischen Einrichtungen sind deutschlandweit rund 627.000 Menschen beschäftigt. Der evangelische Verband gehört damit zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Zu den rund 33.400 Einrichtungen zählen Krankenhäuser, Pflegedienste, Kindergärten oder Anlaufstellen für Obdachlose und Geflüchtete. Mehr als zehn Millionen Menschen nehmen jährlich die Dienste in Anspruch, rund 700.000 Ehrenamtliche unterstützen die Arbeit.

Schuch kündigte an, die Diakonie werde sich auch weiter für professionelle Pflege und Betreuung einsetzen, für gesellschaftsoffene Einwanderung werben und sich für das Recht auf Asyl einsetzen. Der Verband werde sich gegen „die Verächter der Demokratie“ und diejenigen stellen, die nach Hautfarbe sortieren, Menschen in Schubladen packen sowie Jüdinnen und Juden verächtlich machen wollen, sagte er.

Corinna Buschow, Bettina Markmeyer:


Missbrauch

Präsidentin: "Machtgefälle in der Diakonie genau anschauen"




Sabine Weingärtner
epd-bild/Diakonisches Werk Bayern

Nürnberg (epd). Die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Bereich der Diakonie hat nach Ansicht der bayerischen Diakonie-Präsidentin Sabine Weingärtner zu viele Jahre nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erhalten. „Da ist unglaublich viel Zeit vertrödelt worden“, sagte Weingärtner dem Evangelischen Pressedienst (epd). Bei ihrem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren habe sie das Thema sexualisierte Gewalt bewusst in ihren Zuständigkeitsbereich geholt. Weingärtner warnte nach Veröffentlichung der ForuM-Studie aber auch davor, „in Hyperaktivität zu verfallen“: „Es geht nicht darum, möglichst viel zu tun, sondern das richtige.“

Was aber das richtige ist, sei schwer zu beantworten, sagte Weingärtner: „Wir müssen die Aufarbeitung mehr in Gang bringen“, denn auch in diakonischen Einrichtungen gab es körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt: „Hier wollen wir mehr Verantwortung als bisher übernehmen.“ Dabei gelte es zuerst die Bedürfnisse der Betroffenen zu berücksichtigen. „Manche möchten öffentlich ihre Geschichte erzählen, andere wollen eine Anerkennung für erfahrenes Unrecht, wieder andere gar keinen Kontakt mit uns - all das gilt es angemessen zu berücksichtigen“, sagte sie.

Kritik an der Datenlage nachvollziehbar

Die Kritik seitens der ForuM-Forscher an der Datenlage des quantitativen Studienteils und auch die Kritik an den Kirchen und der Diakonie seitens der Betroffenen könne sie durchaus verstehen, sagte Weingärtner. „Ob es jetzt allerdings den Betroffenen hilft, in jahrelanger Arbeit weitere Studien anhand von Personalakten zu erstellen, muss hinterfragt werden“, betonte die Präsidentin. Es brauche vielmehr einen „Bewusstseins- und Haltungswandel“. „Die Übergriffe sind für die Betroffenen furchtbar. Oftmals noch schlimmer war für viele aber, dass ihnen nicht geglaubt wurde.“

Richtig sei, dass in den quantitativen Teil der ForuM-Studie noch sehr viel weniger Daten aus der Diakonie als von den Kirchen eingeflossen sind - das sei aber von Anfang an auch nicht Ziel der Studie gewesen. „Das liegt auch an der unterschiedlichen Verfasstheit“, betonte sie. Denn bei der Diakonie gebe es nur wenige Kirchenbeamte - und nur für die gebe es Disziplinarakten, die für die Studie auch gesichtet wurden. Der qualitative Teil allerdings habe gerade für die Diakonischen Werke und Verbände „eine enorme Bedeutung. Gerade die Frage der Hierarchie und des Machtgefälles, besonders innerhalb geschlossener Systeme, ist in der Diakonie noch einmal eine ganz andere, die wir uns noch mal sehr genau anschauen werden.“

Gegen bayerische Alleingänge

Bayerische „Alleingänge“ im Bereich der Diakonie halte sie zum jetzigen Zeitpunkt für falsch. Es müsse auf Bundesebene geklärt werden, wie die Diakonie weiter vorgehen wird. „Und es braucht auch staatliche Vorgaben, die für Kirchen und Sozialverbände ebenso gelten wie für Vereine und andere Institutionen“, sagte sie.

Diese Vorgaben müssten klare Leitplanken für die Aufarbeitung, die finanziellen Anerkennungsleistungen und auch die Prävention beinhalten, damit eine Vergleichbarkeit gegeben ist. „Unabhängig davon sehe ich es als unsere Aufgabe an, in der Diakonie die Aufarbeitung schnell voranzubringen“, sagte sie.

Daniel Staffen-Quandt


Missbrauch

Sprecherin Janz: Aufarbeitung braucht Wut Betroffener




Nancy Janz
epd-bild/Heike Lyding

Hannover, Bremen (epd). Bei der weiteren Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche ist es aus Sicht der Betroffenensprecherin Nancy Janz unabdingbar, dass die Betroffenen selbst von Anfang an daran beteiligt sind. „An dem, was bisher erreicht worden ist, haben Betroffene den größten Anteil“, sagte die 42-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd). Janz ist Sprecherin der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

„Es braucht die Betroffenen, die wütend sind, die in dieser Wut auch eine zerstörerische Kraft haben und sagen: Alles, was ihr tut, ist falsch. Ihr könnt es nicht richtig machen! Eine Institution kann sich selbst nicht aufarbeiten“, sagte Janz. „Diese Kraft hat es gebraucht, um überhaupt wach zu werden als evangelische Kirche.“ Sie werde weiter benötigt, und deshalb sei es wichtig, neben den in ganz Deutschland geplanten regionalen unabhängigen Aufarbeitungskommissionen mit jährlich geplanten Foren weitere Formen des Mitwirkens zu schaffen.

Handlungsempfehlungen umsetzen

Die Ende Januar veröffentlichte ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche geht von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern aus. Die Dunkelziffer wird aber viel höher eingeschätzt. Jetzt gehe es darum, aus der Studie Folgerungen zu ziehen und die 46 Handlungsempfehlungen umzusetzen, sagte Janz. „An vielen Themen arbeiten wir da als Beteiligungsforum schon.“

In der Studie stehe zum Beispiel, dass viele Betroffene mit ihrer erlebten sexualisierten Gewalt vereinzelt seien und der Wunsch nach Vernetzung groß sei, erläuterte sie. „Wir haben in den letzten zwei Jahren in der Betroffenenvertretung sehr intensiv an der digitalen Vernetzungsplattform BeNe (Betroffenen Netzwerk) gearbeitet, mit der wir hoffentlich im April starten können.“

Sexualisierte Gewalt durch Jugendpastor

Innerhalb der nächsten 15 Monate sollten sich die regionalen unabhängigen Aufarbeitungskommissionen der verschiedenen Landeskirchen bilden, an denen jeweils auch mindestens zwei Betroffene mitwirken sollen. Für den Verbund der niedersächsischen Kirchen und der bremischen Kirche sei als erster Schritt die Geschäftsführung ausgeschrieben, die weitere Schritte koordinieren solle, sagte Janz.

Janz lebt in Bremen und ist neben ihrer Arbeit als Heilpraktikerin für Psychotherapie auch für die Bremische Evangelische Kirche tätig. Sie hat als junge Frau selbst in einer diakonischen Einrichtung in Niedersachsen sexualisierte Gewalt durch einen Jugendpastor erfahren. Im Beteiligungsforum gibt sie Betroffenen eine Stimme. „Die Arbeit ist sehr zeitintensiv und herausfordernd, dennoch so notwendig und wirksam und bitter nötig“, sagte sie.

Die neu zu gründenden regionalen Kommissionen benötigten neben der Beteiligung von Betroffenen auch die Mitarbeit der jeweiligen Landesregierungen, erläuterte Janz. Diese sollen unabhängige Expertinnen und Experten als Mitwirkende in den Kommissionen benennen. „Da sind wir sehr angewiesen auf die Politik und darauf, welche Menschen sich für die Kommissionen zur Verfügung stellen.“

Karen Miether



sozial-Politik

Analphabetismus

Immer ist da die Angst vor Spott




Ein Analphabet lernt lesen und schreiben.
epd-bild/Andrea Enderlein
Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Sie lassen sich alle möglichen Tricks einfallen, um nicht aufzufallen. Bundesweit werden Kurse angeboten - selbst in Betrieben -, damit sie Versäumtes nachholen können.

Frankfurt a. M. (epd). Jessica Tepass konnte weder lesen noch schreiben. Dafür schämte sie sich, deshalb sollten es andere nicht merken. „Selbst mein Lebensgefährte ahnte fast zwölf Jahre nichts“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Über das „Alphanetz NRW“ kam die 37-Jährige an einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule (VHS): „Seit eineinhalb Jahren kann ich lesen und schreiben.“ Heute setzt sich Tepass für gering literarisierte Menschen ein, also für Menschen mit ausgeprägten Lese- und Schreibschwierigkeiten.

Sie geht weiterhin zum Alphabetisierungskurs der VHS in Wesel, um Erwachsenen Mut zu machen, die neu ins Lesen und Schreiben lernen einsteigen. Weiß sie doch, wie schwierig es ist, Analphabetismus zu überwinden. Vor fünf Jahren hatte Jessica Tepass erstmals an einem Kurs des 2014 gegründeten „Alphanetz“ teilgenommen. „Das Arbeitsamt schlug mir das vor.“ Sie ging in den Kurs, kam aber mit dem Lehrer nicht klar und brach wieder ab.

Sie musste sich nicht mehr verstellen

Vor drei Jahren nahm sie bei der VHS-Dozentin Sandra Wevers einen neuen Anlauf. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Tepass lernte, Silben zu lesen. Dann kurze Worte, schließlich ganze Sätze, längere Absätze und am Ende des Kurses umfangreiche Texte. Endlich musste sie sich nicht mehr verstellen. Wenn es darum ging, etwas zu lesen, musste sie nicht mehr flunkern: „Sorry, aber ich habe gerade wahnsinnige Kopfschmerzen.“ Mit solchen kleinen Lügen hatte sie versucht, eine Ausbildung als Hauswirtschafterin zu absolvieren. Vergeblich.

Das „Alphanetz NRW“ ist Teil der sogenannten AlphaDekade der Bundesregierung. Sie startete 2016 und endet 2026. Dabei wird in etlichen Projekten bundesweit versucht, gering literarisierte Menschen zu bilden. Das „Alphanetz“ erreichte mit mehr als 150 Veranstaltungen rund 2.600 Menschen.

Nach einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 sind rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene im Alter zwischen 18 und 64 Jahren gering literalisiert, haben also Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Das sind 12,1 Prozent der entsprechenden Gesamtbevölkerung.

In der Nähe von Hamburg engagiert sich die Schleswig-Holsteinerin Martina Rubbel für gering literarisierte Menschen. „Ich selbst habe Legasthenie“, berichtet die 63-Jährige. Diese Störung habe ihr ganzes Berufsleben als Altenpflegerin überschattet: „Ich musste mich ständig gegen Mobbing und Diskriminierung wehren“, sagte sie dem epd. Musste sie etwas in Akten eintragen, habe sie Panikattacken bekommen, erzählt Rubbel.

„Meine Kolleginnen lachten sich kaputt“

„Meine Kolleginnen lachten sich kaputt oder fragten, ob ich mein Examen beim Otto-Versand bekommen hätte“, berichtet die Rentnerin rückblickend. Das habe sie seelisch geschädigt. Erst nach einer Traumatherapie sei es ihr besser gegangen.

Seit Herbst engagiert sich Martina Rubbel als Lernbotschafterin in der Initiative „ALFA-Mobil“. Sie ist Teil des Projekts „INA-Pflege PLUS“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Hier geht es gezielt um die Alphabetisierung in der Altenpflegeausbildung.

Laut Regina Ryssel, Projektleiterin von INA-Pflege PLUS, können bundesweit Hunderttausende Arbeitnehmer selbst kürzeste Arbeitsanweisungen nicht lesen. Gerade in der Pflegehelferausbildung sei das Problem immens.

„Lehrkräfte in der Pflegehilfe wiederum erwarten in der Regel nicht, auf solche Auszubildenden zu stoßen“, sagt die gelernte Krankenschwester und promovierte Sprachwissenschaftlerin. Durch „INA-Pflege PLUS“ erhalten Dozentinnen und Dozenten an Pflegeschulen Unterstützung beim Umgang mit gering literarisierten Azubis. Über 500 Interessierte aus der Pflegebildung nahmen nach den Angaben inzwischen an den Workshops des Projekts teil.

Digitalisierung löst Ängste aus

Ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenz ist der Job in Gefahr, berichtet Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Denn immer mehr Arbeitsplätze würden digitalisiert. Auch das arbeitgebernahe Institut ist an der AlphaDekade der Bundesregierung beteiligt. „AlphaGrund“ nennt sich das 2016 gestartete Projekt zur arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung in Betrieben. Dabei entwickeln Bildungswerke des IW auf unterschiedliche Branchen bezogene Schulungsmaterialien. „In der Lebensmittelindustrie zum Beispiel müssen ganz bestimmte Auflagen und lebensmittelrechtliche Vorschriften verstanden werden“, erläutert Plünnecke dem epd.

Der immer stärkere Einzug digitaler Endgeräte am Arbeitsplatz löse bei gering Literarisierten große Ängste aus: „Selbst in der Reinigungsbranche oder in der Logistik wird über Eingabemasken gearbeitet.“ Mit den Weiterbildungen des IW seien in den vergangenen acht Jahren 2.000 Beschäftigte erreicht worden. „AlphaGrund“ ist in den Arbeitsalltag integriert. Das Projekt findet zum Beispiel nach der Frühschicht oder vor der Spätschicht statt. Umgesetzt wird die Maßnahme derzeit in Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Thüringen und Sachsen.

Kurse zwischen Betriebsschichten

Ein ähnliches Programm wie das IW bietet die „Technische Akademie für berufliche Bildung“ in Schwäbisch Gmünd an. „Wir organisierten inzwischen in über 150 Betrieben Deutschkurse“, berichtet Geschäftsführer Michael Nanz. „Der Anteil zugewanderter Menschen ist bei uns hoch.“ Da gebe es zum Beispiel Türken, die seit über 20 Jahren in Baden-Württemberg arbeiteten: „Deutsch als Schriftsprache zu beherrschen, haben sie aber nie gelernt“, sagt Nanz.

Auch die Technische Akademie organisiert ihre Kurse nach, vor oder zwischen den Schichten. Nanz: „Die Beschäftigten müssen Geld verdienen, die gehen nicht abends um acht in den Volkshochschulkurs.“ Die auf die jeweilige Branche zugeschnittenen Kursinhalte bilden die zunehmend komplexeren Anforderungen am Arbeitsplatz ab. Als Beispiel nennt Nanz Jobs auf dem Autoverwertungshof: „Weil Autos heute mit Airbag ausgestattet sind, brauchen die für das Recycling zuständigen Mitarbeiter einen sogenannten Hochvoltschein.“ Dafür müssen sie an einer Hochvolt-Schulung für Kfz teilnehmen. Das gehe nur mit Lesekompetenz.

Auch das Projekt „Neustart St. Pauli 360°“ der „KOM gemeinnützige Gesellschaft für berufliche Kompetenzentwicklung mbH“ in Hamburg gehört zu den von der Bundesregierung im Rahmen der AlphaDekade geförderten Initiativen. Laut Projektkoordinator Marcel Marius Redder wird das KOM-Beratungsangebot aus ganz unterschiedlichen Gründen wahrgenommen. Neulich sei ein über 80-jähriger Mann in die Beratungsstelle gekommen, damit er mithilfe von „KOM“ seinen Nachlass selbst schreiben kann.

Pat Christ


Asyl

Hintergrund

Darum geht es beim Streit um die Bezahlkarte für Flüchtlinge




Abheben mit einer Bezahlkarte
epd-bild/LHH/Rheinländer
Die einen fordern Rechtssicherheit, die anderen schütteln ratlos den Kopf: Beim Thema Bezahlkarte für Flüchtlinge hat die Ampel-Koalition einen weiteren öffentlichen Streit angefangen.

Berlin (epd). Mit der Bezahlkarte für Flüchtlinge sollen künftig Bargeldauszahlungen an Asylbewerber weiter reduziert werden. Das ist der Wunsch der Bundesländer. Das wollen auch die Grünen, wie sie erklären. „Wir Grünen unterstützen grundsätzlich die Einführung einer diskriminierungsfreien Bezahlkarte für Geflüchtete“, sagte die Abgeordnete Filiz Polat (Grüne) dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Im Adjektiv „diskriminierungsfrei“ verbirgt sich dabei der Streit, der derzeit verhandelt wird. Uneinigkeit gibt es nämlich bei den Details, was mit der Karte alles möglich sein wird - oder vielmehr: was nicht. Während Länder, SPD und FDP mit Rechtssicherheit für eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes argumentieren, fürchten die Grünen, dass es eher um eine weitere Verschärfung der Regeln für Flüchtlinge geht.

Bezahlkarte auch für Bezieher der Grundsicherung

Denn tatsächlich geht es den Ländern um mehr als die klare Erwähnung der Bezahlkarte im Asylbewerberleistungsgesetz, das bislang Geld- und Sachleistungen sowie als abweichende Formen „Wertgutscheine“ oder „vergleichbare unbare Abrechnungen“ ausdrücklich erwähnt. Sie wollen auch, dass der bisherige Vorrang für Geldleistungen bei einer Unterbringung außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften gestrichen wird und die sogenannten Analogleistungen ebenfalls über die Bezahlkarte laufen, wie die Staatskanzlei des Landes Hessen, das derzeit den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz innehat, auf Anfrage mitteilte. Gemeint ist damit, dass Asylbewerber, die bereits sehr mehr als drei Jahren in Deutschland sind und deswegen die normale Grundsicherung beziehen, auch die Bezahlkarte statt Bargeld erhalten.

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl kommt deswegen zu dem Schluss: „Nur, wer die Möglichkeiten zur Diskriminierung per Karte ausweiten will, braucht eine Gesetzesänderung.“ Viele Grünen-Politiker wie Polat verweisen zudem darauf, dass es die Bezahlkarte in einzelnen Regionen bereits gibt oder kurz vor der Einführung steht. Als Beispiel genannt wird vor allem die in Hannover entwickelte „SocialCard“. Sie ist eine Debitkarte, die nicht mit einem Konto verknüpft ist. Monatlich überweist die Stadt dorthin die Leistungen. Die Empfänger können nach Angaben der Stadt „frei über die Verwendung ihres Guthabens entscheiden“, in allen Geschäften, in denen eine Visa-Karte akzeptiert wird.

Eine bundesweit einheitliche Bezahlkarte wird es nicht geben

In Hannover habe niemand infrage gestellt, dass das geht, sagte in dieser Woche die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge. Sie vermisst den Nachweis, warum eine Gesetzesänderung für Rechtssicherheit notwendig ist. Wenn es aber darum gehe, Möglichkeiten einzuschränken, etwa das Kaufen gebrauchter Kindersachen im Internet oder Probleme bei der Bezahlung in der Mensa, seien das „andere Debatten“, sagte Dröge und forderte: „Wenn es jemanden gibt, der das diskutieren möchte, dann muss er es sagen.“

Konkret formuliert hat das bislang kein Land. Klar ist aber jetzt schon, dass es die bundesweit einheitliche Bezahlkarte nicht geben wird. Im Januar einigten sich nur 14 der 16 Bundesländer auf ein gemeinsames Vergabeverfahren für die Karte. Bayern und Mecklenburg-Vorpommern wollen eine eigene Karte entwickeln. Das Gemeinschaftsprojekt der 14 anderen sieht Mindeststandards vor: Eine Karte mit Debit-Funktion und ohne Kontobindung, deren Guthaben die Bargeldauszahlung zum Teil ersetzen soll. „Über die Höhe des Barbetrags sowie über weitere Zusatzfunktionen entscheidet jedes Land selbst“, hieß es Ende Januar in einer Mitteilung der hessischen Staatskanzlei.

Die Bundesregierung will den Ländern den Wunsch nach einer Gesetzesänderung erfüllen. Sie hat eine Formulierungshilfe erarbeitet, die den Forderungen der Länder entspricht. Sie sei jetzt im Bundestag zu besprechen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Der Ausgang ist offen, denn die Grünen finden die Debatte über gesetzliche Änderungen in den Worten Filiz Polats „völlig überflüssig“.

Corinna Buschow


Flüchtlinge

Menschenrechtler: Auslagerung von Asylverfahren "brandgefährlich"



Angesichts hoher Flüchtlingszahlen wird über Möglichkeiten einer Begrenzung des Zustroms diskutiert. Bund und Länder einigten sich bereits auf eine Senkung der Sozialleistungen. Vorschläge für Asylverfahren in Drittländern sorgen für Kritik.

Berlin (epd). Mit Blick auf Vorschläge, Asylverfahren in außereuropäische Drittstaaten zu verlegen, warnen Menschenrechtsorganisationen vor den rechtlichen Folgen. Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Karl Kopp, sagte am 21. Februar in einem Online-Gespräch, „was in Deutschland und in der EU diskutiert wird, sind Teilausstiege aus dem Flüchtlingsschutz oder die Abschaffung des individuellen Asylrechts“. Vorschläge der CDU in diesem Zusammenhang seien „brandgefährlich“. Kopp warf der CDU vor, bestehendes Europarecht schleifen zu wollen.

Viele völkerrechtliche Fragen offen

Die Referentin für Asylrecht und -politik bei Amnesty International, Sophie Scheytt, appellierte an die Bundesregierung, „menschenfeindlichen Scheinlösungen nicht auf den Leim zu gehen“. Amnesty habe alle Modelle untersucht, die im vergangenen Jahrzehnt umgesetzt oder mit Drittstaaten ernsthaft verhandelt wurden. Die Analyse zeige, dass keines dieser Modelle umsetzbar sei.

Bei den Modellen für eine Auslagerung der Verfahren seien viele völkerrechtliche Fragen offen. Das geplante Migrationsabkommen zwischen Italien und Albanien bezeichnete Scheytt als rechtswidrig, weil es zu einer willkürlichen Inhaftierung Schutzsuchender ohne Einzelfallprüfung führe. Offen sei außerdem, warum eine Abschiebung abgelehnter Asylsuchender aus Albanien leichter sein soll als aus Italien oder wie vulnerable Gruppen geschützt werden sollen.

Auch nach der geplanten Reform des EU-Asylsystems werde es nicht möglich sein, Asylverfahren auszulagern, erklärte Scheytt. Das europäische Recht sehe „keine extraterritoriale Anwendung vor“, fügte sie hinzu. Überdies würde weder das Memorandum zwischen Italien und Albanien noch ein entsprechendes Abkommen zwischen Großbritannien und Ruanda den gewünschten Abschreckungseffekt erzielen.

Ein Bruchteil der weltweit Schutzsuchenden

Zudem fänden rund 80 Prozent der Schutzsuchenden weltweit in Nachbarländern Zuflucht. „Die europäische Wahrnehmung, alle Flüchtenden kämen nach Europa, ist ein Trugschluss“, kritisierte Scheytt. Europa nehme lediglich einen Bruchteil der weltweit Schutzsuchenden auf. „Es ist kein Grund ersichtlich, warum Nachbarstaaten im globalen Süden noch mehr Verantwortung beim Flüchtlingsschutz übernehmen sollten“, fügte sie hinzu.

Die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, Wiebke Judith, betonte, nötig sei ein in ganz Europa funktionierendes Schutzsystem. Wenn es sichere Zugangswege gäbe, würden die Menschen diese auch nutzen, sagte sie mit Blick auf gefährliche Fluchtrouten beispielsweise über das Mittelmeer. Sie kritisierte eine „Fiktion der Nicht-Einreise“, die nach der geplanten Reform des Asylsystems künftig an den EU-Außengrenzen gelten solle: „Man kann nicht fingieren, dass die Menschen nicht da sind.“

Sobald ein Staat Hoheitsgewalt ausübe, sei die europäische Menschenrechtskonvention anwendbar. Diese müsse Italien auch in Albanien einhalten, wenn es dort Menschen für europarechtswidrige Asylverfahren festhalte, betonte Judith. Auch könne das EU-Asylrecht nicht in außereuropäischen Drittstaaten angewendet werden. Entsprechend seien die Pläne Italiens rechtswidrig.

Bettina Gabbe


Kriminalität

Zahl der Angriffe auf Flüchtlinge fast verdoppelt



Flüchtlinge in Deutschland wurden im vergangenen Jahr doppelt so häufig Opfer von Angriffen wie im Jahr zuvor. Die Linke macht die ressentimentgeladene Debatte über die Asylpolitik mitverantwortlich für die Übergriffe.

Berlin (epd). Die Polizei hat im vergangenen Jahr deutlich mehr Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte verzeichnet. Die Sicherheitsbehörden registrierten 2.378 entsprechende Taten, wie aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Frage der Linken-Abgeordneten Clara Bünger hervorgeht. Das ist fast eine Verdopplung im Vorjahresvergleich: 2022 gab es 1.248 Übergriffe gegen Flüchtlinge.

Von den 2.378 mutmaßlich politisch motivierten Straftaten 2023 waren 313 Gewalttaten. 219 Menschen wurden verletzt. Nach Angaben der Linken-Abgeordneten wurden zuletzt 2016 mehr Straftaten gegen Flüchtlinge gezählt. Laut Innenministerium verzeichneten die Sicherheitsbehörden außerdem 180 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. 2022 lag die Zahl der Attacken auf solche Einrichtungen bei 70.

Bünger verwies auf härtere Abschieberegeln der Bundesregierung und die Zustimmung zur AfD und sagte: „Es ist kein Wunder, dass Rassisten sich in einer solchen gesellschaftlichen Lage bestärkt fühlen, die allgegenwärtigen Ressentiments in die Tat umzusetzen und Geflüchtete anzugreifen.“ Sie forderte eine konsequente Verfolgung rechter Straftaten, Schutzkonzepte für Flüchtlingsunterkünfte sowie ein klares Bekenntnis zum Recht auf Asyl.

Corinna Buschow


Senioren

Hilfsbedürftigkeit im Alter: Erhobener Zeigefinger ist fehl am Platz




Wenn Eltern nicht mehr alleine zurechtkommen, sind sensible Gespräche nötig.
epd-bild/Jens Schulze
Werden Mutter und Vater alt und brauchen Hilfe, sprechen viele erwachsene Kinder das falsch an. Statt Vorwürfe oder Verbote zu formulieren, sollten sie offen und freundlich ihre Sorge um die Eltern zum Ausdruck bringen, raten Experten.

Hamburg, Bonn (epd). Früher wischte Mutter jedes Staubkorn weg und Vater überholte mit Tempo 190 auf der Autobahn. Heute hängen Spinnweben im Türrahmen und das Auto kriecht wie eine Schnecke über die Straße. Oft kommt irgendwann der Tag, an dem Kinder bei ihren Eltern Veränderungen wie diese bemerken. Sie fragen sich dann: „Wie sage ich Mama und Papa, dass sie Hilfe benötigen?“

Hilfreich sei, die Frage „Was ist eigentlich, wenn …“ bereits dann bei den Eltern anzusprechen, wenn diese noch fit sind, rät Katrin Kell, Fachbereichsleitung Pflege und Senioren bei der Diakonie Hamburg. Eltern falle es dann vielleicht leichter, darüber zu reden, „weil es noch so lange hin ist“. Dabei könnten eine Vorsorgevollmacht und eine Patientenverfügung formuliert werden.

Eltern sehen lange keinen Hilfsbedarf

„Kinder definieren einen Hilfsbedarf fast immer, lange bevor die Eltern das selbst so sehen“, sagt Familientherapeutin und Coachin Birgit Lambers aus Heiligenhaus in Nordrhein-Westfalen. Die Autorin des Buchs „Wenn die Eltern plötzlich alt sind: Wie wir ihnen helfen können, ohne uns selbst zu überfordern“ warnt davor, das Thema mit Worten zu beginnen, „die wie ein erhobener Zeigefinger wirken“. Statt Vorwürfe zu formulieren oder Verbote auszusprechen, sollten Kinder sagen, dass sie sich um ihre Eltern sorgen. „Das ist ein guter Türöffner.“

Andreas Kruse, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso), appelliert an Kinder, sich vom Grundsatz „Ich erkenne nicht nur die Verletzlichkeit, sondern auch die Kräfte meines Gegenübers - beides spreche ich an“ leiten zu lassen. Dabei gelte es, gemeinsam zu überlegen, wie die Verletzlichkeit gelindert oder bewältigt werden kann.

Autofahren von Senioren - ein „heikles Thema“

Ein „heikles Thema“ ist nach der Erfahrung von Carolin Allers von der Hamburger AWO-Sozialstation Mümmelmannsberg das Autofahren. „Denn die damit verbundene Unabhängigkeit ist groß.“ Sollte das Fahren bereits eine Gefahr für die Eltern und andere darstellen, empfiehlt Allers, den Hausarzt einzubeziehen. „Oft ist eine externe fachliche Meinung ein prägnanter Schachzug.“

Familientherapeutin Lambers zufolge meinen viele Menschen, dass Senioren ab einem bestimmten Alter generell nicht mehr Auto fahren sollten. Sie widerspricht: „Ein Mensch Mitte 80 hat laut Statistik das gleiche Risiko, einen Unfall mit Personenschaden zu verursachen wie ein Fahranfänger.“ Senioren das Fahren zu untersagen, sei altersdiskriminierend und in der Regel unbegründet.

Kinder müssen Zurückweisung akzeptieren

Geht es um das Erkennen einer Demenz, sollten Kinder nach Allers' Ansicht eines beherzigen: „Da wir alle keine Ärzte sind, stellen wir keine Diagnosen.“ Stattdessen sollten sie ihre Bedenken aussprechen und eine ärztliche Abklärung vorschlagen.

Auch Lambers rät zum Arztbesuch, weiß aber: „Das ist nicht einfach, weil ein Mensch mit beginnender Demenz sich meist mit Händen und Füßen gegen eine Untersuchung wehrt - weil er selber ahnt, was mit ihm los ist.“ Sie empfiehlt, das Wort Demenz zu vermeiden und lieber Sätze zu sagen wie: „Vielleicht ist es etwas, das man behandeln kann.“

Können oder wollen Kinder sich nicht selbst um ihre Eltern kümmern, müsse das klar gesagt werden, sagt Lambers. Zugleich gelte es, den Eltern Zeit zu lassen. „Sprechen Sie es häppchenweise an. Sagen Sie Ihren Eltern, dass Sie Verständnis für den Wunsch haben, die Kinder mögen sie pflegen. Machen Sie ihnen aber auch deutlich, dass Sie das nicht schaffen, weshalb sie gemeinsam nach anderen Möglichkeiten suchen müssen.“

Lehnen Eltern alle Vorschläge ab, müssten Kinder dies akzeptieren, sagt Allers. Ihrer Erfahrung nach komme das allerdings meistens nur zu Beginn vor. „Nach zwei, drei Wochen sind alle Beteiligten in der Situation angekommen und vieles wird akzeptiert.“

Marcel Maack


Senioren

Familientherapeutin: "Kinder sollten keinen Druck aufbauen"




Birgit Lambers
epd-bild/Susanne Fern
Das Thema sorgt oft für Streit in Familien: Was tun, wenn die Eltern nicht mehr alleine zurechtkommen und etwa ein Umzug ins Heim ansteht. Die Familientherapeutin Birgit Lambers gibt im Interview Tipps, wie man die Probleme sensibel erörtert.

Heiligenhaus (epd). Wer glaubt, die alternden Eltern bekommen ihren Alltag alleine nicht mehr bewältigt, soll seine Sorge um sie zur Sprache bringen, sagt Familientherapeutin und Coachin Birgit Lambers im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Themen wie eine mögliche Heimunterbringung im hohen Alter sollte der Nachwuchs frühzeitig gegenüber den Eltern ansprechen. Die weit verbreitete Meinung, dass alte Menschen kein Auto mehr fahren sollten, teilt die Autorin des Buches „Wenn die Eltern plötzlich alt sind: Wie wir ihnen helfen können, ohne uns selbst zu überfordern“ nicht. Die Fragen stellte Marcel Maack.

epd sozial: Woran merken erwachsene Kinder, dass ihre Eltern Hilfe benötigen?

Birgit Lambers: Sie sehen, dass ihre Eltern den Alltag nicht mehr bewältigt bekommen. Oder dass sie Dinge zu tun beginnen, die den Kindern merkwürdig vorkommen. Kindern fällt das ganz besonders auf - weil es nicht zu dem Bild passt, das sie von ihren Eltern bis dato hatten. Dabei besteht fast immer eine Kluft zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung, das heißt Kinder definieren den Hilfsbedarf meist viele Jahre, bevor die Eltern es selbst so sehen. Diese könnten antworten: „Wir gehören noch lange nicht zum alten Eisen, wir schaffen das alleine.“

epd: Wie sollten Kinder ein solches Gespräch beginnen - und wie lieber nicht?

Lambers: Viele Kinder beginnen das Gespräch mit etwas, das sich wie ein erhobener Zeigefinger anhört, im Sinne von „Du kannst nicht ..., du sollst nicht ..., du musst ...“. Dagegen wehren sich die Eltern. Und das tun sie zu Recht, denn es klingt nach Bevormundung. So sollten Kinder auf keinen Fall vorgehen. Stattdessen sollten sie ihr wahres Motiv thematisieren: Nämlich, dass sie sich um ihre Eltern Sorgen machen. Das ist ein guter Türöffner, auch wenn die Eltern wahrscheinlich antworten werden: „Brauchst du nicht, mein Kind, hier läuft alles super.“ Kinder können auf diese Weise immerhin schon einmal ihr Anliegen platzieren, ohne dass sich ihr Gegenüber sofort verschließt.

epd: Wie geht es dann weiter?

Lambers: Die Kinder sollten keinen Druck aufbauen. Halten Sie beispielsweise eine Putzhilfe für sinnvoll, dann könnten sie sagen: „Tut mir den Gefallen und probiert das einfach mal 14 Tage aus. Wenn es nichts für euch ist, lassen wir es danach wieder.“ Eltern können sich so auf die Sache einlassen, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Die Erfahrung zeigt, dass viele es schnell als schön empfinden, dass da plötzlich jemand zum Quatschen ist, also ein sozialer Kontakt.

epd: Was, wenn die Eltern den Vorschlag ablehnen?

Lambers: Ein Gespräch mit dem Hausarzt könnte helfen. Der ist für die ältere Generation oft noch eine Autoritätsperson, weshalb er bei Seniorinnen und Senioren oft mehr erreicht als deren eigene Kinder.

epd: Wie erklären Kinder ihren Eltern, dass diese nicht mehr Auto fahren sollen?

Lambers: Überhaupt nicht. Erstens, weil sie nicht das Recht dazu haben, und zweitens, weil hierfür in der Regel kein Anlass besteht. Viele Menschen sind der Meinung, dass Senioren ab einem bestimmten Alter das Autofahren per se sein lassen sollten, aber dafür gibt es keinen Grund. Ein Mensch mit Mitte 80 hat laut Statistik das gleiche Risiko, einen Unfall mit Personenschaden zu verursachen wie ein Fahranfänger. Niemand würde auf die Idee kommen, dem jungen Menschen seinen Führerschein wegnehmen zu wollen. Senioren die Fahrerlaubnis zu entziehen, wäre altersdiskriminierend. Manche können auch mit 90 Jahren noch Auto fahren, solange sie im Training sind und medizinisch keine Einwände bestehen.

epd: Was, wenn der Nachwuchs das anders sieht?

Lambers: Frage ich Kinder, woran sie festmachen, dass zum Beispiel ihr Vater nicht mehr Auto fahren kann, dann stelle ich fest, dass 99 Prozent von ihnen es gar nicht wirklich wissen. Am einfachsten wäre es, den Eltern Fragen zu stellen und so das Thema sanft zu platzieren: „Papa, wofür nutzt du das Auto? Wohin fährst du noch? Und welche Idee hast du für den Fall, dass du vielleicht irgendwann nicht mehr fahren kannst?“ Kinder sollten empathisch sein und klarstellen: „Ich will dir da überhaupt nicht hineinreden.“ Im Übrigen ist das Leben insgesamt wild und gefährlich, die Eltern könnten auch von der Leiter fallen. Sie vor ihrem eigenen Leben zu bewahren, ist schlichtweg nicht möglich.

epd: Wie sollten sich Kinder verhalten, wenn sie bei ihren Eltern eine beginnende Demenz vermuten?

Lambers: Ich rate immer zu einer ärztlichen Diagnose. Das ist in diesem Fall nicht einfach, weil ein Mensch mit beginnender Demenz sich meist mit Händen und Füßen gegen eine Untersuchung wehrt - weil er selber ahnt, was mit ihm los ist. Gerade in der ersten Phase gibt es ja noch die sogenannten Lichtblicke, das heißt die betroffene Person sieht sich selbst aus der Vogelperspektive und erkennt die Tragik dessen, was da gerade mit ihr passiert. Ein Weg könnte darin bestehen, im Gespräch nicht das Schreckenswort Demenz in den Mund zu nehmen. Das Kind könnte sagen: „Es gibt viele Krankheiten mit solchen Symptomen, die man behandeln kann.“ Es sollte seinen Elternteil motivieren, das einfach mal abchecken zu lassen, vielleicht sogar in Begleitung. Sollte der Arzt dann tatsächlich eine Demenz diagnostizieren, lässt sich deren Verlauf mit Medikamenten vielleicht verlangsamen.

epd: Wie sollten Kinder ihren Eltern sagen, dass sie eine Heimunterbringung für erforderlich halten?

Lambers: Sie sollten das Thema möglichst früh ansprechen und dabei zunächst einmal klarmachen, dass sie selbst nicht die Pflege der Eltern übernehmen werden. Das zu thematisieren, davor haben Kinder oft Angst, aber es muss klar ausgesprochen werden.

epd: In welcher Form?

Lambers: Die Kinder sollten ihren Eltern Fragen stellen wie: „Habt ihr euch schon mal Gedanken darüber gemacht, was aus euch werden soll, wenn ihr nicht mehr alleine leben könnt?“ Als Antwort werden sie wahrscheinlich zu hören bekommen: „Darum können wir uns kümmern, wenn es so weit ist.“ Das ist verständlich, immerhin fordern sie ihre Eltern auf, sich über den schlimmsten Fall der Fälle Gedanken zu machen. Ein Fall, von dem die Eltern im Übrigen gar nicht wissen, ob er sie überhaupt jemals ereilt - vielleicht legen sie sich abends kerngesund ins Bett und wachen am nächsten Morgen einfach nicht mehr auf.

epd: Braucht es dazu Begründungen?

Lambers: Kinder sollten sagen, dass sie das Thema beschäftigt, sie besorgt sind und es sie beruhigen würde, wenn es einen Plan gäbe. Sie könnten vorschlagen, gemeinsam mit ihren Eltern unverbindlich Altenheime anzuschauen. Und sie könnten ihre Eltern bitten, dass diese sich mit anderen Senioren aus dem Bekanntenkreis zu dem Thema austauschen. Wichtig ist, den Eltern sehr, sehr viel Zeit zu lassen und das Thema immer wieder in kleinen Häppchen anzusprechen.

epd: Und wenn die Eltern erwarten, dass ihre Kinder sie pflegen?

Lambers: Diese Kinder haben es sehr, sehr schwer. Wenn die Eltern sagen: „Das ist deine Pflicht! Guck mal, was wir alles für dich getan haben!“, dann weckt das in den Kindern einen moralischen Teil, der ihnen sagt: „Vielleicht haben meine Eltern gar nicht so unrecht.“ Sie sollten sich aber weiter darüber im Klaren sein, warum sie sich gegen die eigene Pflege der Eltern entschieden haben. Kinder, die womöglich selbst kleine Kinder haben, berufstätig sind und entfernt von den Eltern leben, können Pflege nicht leisten - das ist einfach nicht möglich. Deshalb gilt es, zusammen mit den Eltern zu schauen, welche Alternativen es gibt.



Bevölkerung

Experte: Landbewohner fühlen sich zunehmend abgehängt




Lukas Haffert
epd-bild/Lukas Haffert/privat
Für den Politikwissenschaftler Lukas Haffert gründen sich die anhaltenden Proteste der Bauern und anderer Berufsgruppen auf der wachsenden Diskrepanz zwischen Stadt und Land. Dabei gehe es nicht primär um das Wohlstandsniveau, sondern um Lebensstile.

Genf, Ansbach (epd). Seit Jahresbeginn sorgen bundesweite Bauernproteste für Schlagzeilen. Doch auch viele Mittelständler beteiligen sich an den Demonstrationen. Der Unmut über die Bundesregierung scheint auf dem Land besonders groß zu sein. Lukas Haffert, Politikwissenschaftler an der Universität Genf, erläutert im Interview, woran das liegt. Die Fragen stellte Stefanie Unbehauen.

epd sozial: Herr Haffert, die aktuellen Bauernproteste in Deutschland haben einen großen Rückhalt innerhalb der Bevölkerung. Es scheint, als ob es hier nicht nur um einen einzelnen Berufsstand ginge, sondern sich besonders die ländliche Bevölkerung zur Wehr setzt. Haben Sie den Eindruck, dass die Diskrepanz zwischen Stadt und Land wächst?

Lukas Haffert: Die Diskrepanz wächst tatsächlich. Dabei geht es nicht in erster Linie um das Wohlstandsniveau - vielen ländlichen Regionen, vor allem in Westdeutschland, geht es ökonomisch sehr gut. Vielmehr geht es um die Frage, wie der Wohlstand erwirtschaftet wird. Noch in der Industrie, also oft energieintensiv und durch Exporte? Oder vor allem durch wissensintensive Dienstleistungen, die in Bildungseinrichtungen, Beratungstätigkeiten oder der Kultur erbracht werden? Zudem geht es sehr stark um Anerkennung, etwa bei der Frage von Lebensstilen: Welche Lebensstile sind mit einem gesellschaftlichen Statusgewinn verbunden und welche mit einem Statusverlust?

epd: Wie drücken sich diese unterschiedlichen Lebensstile aktuell in Wahlen aus?

Haffert: Die Gleichung: „Das Land wählt AfD“ ist zu einfach. Das gilt für Ostdeutschland, aber im Westen ist die Lage komplizierter. So ist die AfD beispielsweise 2022 in Schleswig-Holstein, einem sehr ländlichen Bundesland, aus dem Landtag geflogen. Was hingegen stimmt: In Städten, zumal Universitätsstädten, hat die AfD nur wenig Unterstützung. Der eigentliche Repräsentant des Stadt-Land-Gegensatzes sind insofern die Grünen: Sie haben ihre Hochburgen überall in Deutschland in Universitätsstädten und sind auf dem Land sehr schwach.

epd: Welche Rolle spielen hierbei Werte und Prägungen?

Haffert: Eine sehr große. Wenn man Menschen etwa danach fragt, durch welche Eigenschaften sich Menschen wie sie auszeichnen, dann betonen Landbewohnerinnen und Landbewohner häufig Werte wie „Bodenständigkeit“ und „harte Arbeit“. Das kommt auch in den aktuellen Bauernprotesten ganz unmittelbar zum Ausdruck. In den Städten hingegen spielen Werte wie „Weltoffenheit“ und „Selbstverwirklichung“ eine viel größere Rolle.

epd: Viele junge Menschen ziehen für ihr Studium oder ihre Ausbildung in die Stadt. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf Dörfer?

Haffert: Der Wegzug junger Menschen bedeutet natürlich, dass die Bevölkerung überaltert. Da hat auch Corona zu keiner dauerhaften Gegenbewegung geführt. Besonders frustriert davon sind aber nicht die Alten, sondern die Jungen - vor allem die jungen Männer -, die zurückbleiben. In einer Studie konnten wir kürzlich zeigen, dass der Stadt-Land-Unterschied in den politischen Einstellungen bei jungen Menschen viel ausgeprägter ist als bei Älteren.

epd: Welche Lösung sehen Sie, um die Diskrepanz zwischen Stadt- und Landbevölkerung langfristig wieder zu schmälern?

Haffert: Zunächst einmal: Man muss ja gar nicht jeden Unterschied verringern. Eigentlich ist unser politisches System, etwa durch den starken Föderalismus, ganz gut darauf vorbereitet, geografische Unterschiede zu verarbeiten. Will man die politischen Gegensätze abmildern, wäre es wichtig, nicht nur über materielle Fragen wie die Qualität der Infrastruktur, schnelles Internet, oder Krankenhausschließungen zu sprechen. Das sind natürlich wichtige Faktoren, aber mindestens ebenso wichtig sind Repräsentation und symbolische Anerkennung.

epd: Symbolische Anerkennung?

Haffert: Ja, etwa indem eine städtische Biografie weniger als Norm gilt. Das ist eine Aufgabe für die Politik, aber auch für die Medien. In der öffentlichen Debatte wird der ländliche Raum oft viel zu wenig differenziert dargestellt - in gewisser Weise tragen die Bauernproteste selbst auch dazu bei, indem sie die unpassende Gleichsetzung von Land mit Landwirtschaft befördern.

epd: Was könnte hiergegen konkret getan werden?

Haffert: Ein wichtiger Befund in der Forschung ist, dass Landbewohnerinnen und Landbewohner nur wenig Vertrauen darin haben, politisch etwas bewirken zu können. Städter sind da optimistischer. Ein erster Schritt, etwas an dieser wahrgenommenen Repräsentationslücke zu ändern, wäre es, mehr authentische Vertreter des Landes in die Parlamente zu bringen. Auch sollte der Staat vor Ort als wahrnehmbar und beeinflussbar erscheinen, etwa indem man Landkreise nicht zu immer größeren Einheiten zusammenlegt. Und schließlich wäre es wichtig, dass Lokalzeitungen erhalten bleiben, die mit einer explizit regionalen Perspektive über die Bundespolitik berichten.




sozial-Branche

Pflege

Warum die Eigenanteile für Heimbewohner nicht sinken




Vertrag eines Pflegeheims
epd-bild/Werner Krüper
Die Eigenanteile für Pflegebewohner steigen seit Jahren. Dabei können Kosten von mehr als 2.500 Euro im Monat fällig werden. Würden die Länder die Investitionskosten der Heime tragen, sänken die Kosten der Bewohner spürbar. Doch das geschieht nicht.

Frankfurt a. M. (epd). Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) sieht akuten Handlungsbedarf: „Viele Länder kommen ihrer Aufgabe, Pflegeeinrichtungen zu fördern, nur unzureichend nach. Am Ende geht das zulasten der Betroffenen, für die die Eigenanteile immer weiter steigen“, beklagte Präsidentin Gerd Hasselfeldt gegenüber den Evangelischen Pressedienst (epd). Denn die umgelegten Investitionskosten gingen in der Regel vollständig zulasten der Pflegebedürftigen. „Die Länder, die bei den Investitionskosten in der Pflicht stehen, müssen auch faktisch mehr Verantwortung übernehmen“, sagte die frühere CSU-Bundesministerin. Vom Bund erwarte sie derzeit keine Reform zur Entlastung der Pflegebedürftigen.

Edeltraut Hütte-Schmitz, Geschäftsführender Vorstand des Vereins „wir pflegen“ betont: „Sicherlich sinken die Eigenanteile, wenn die Investitionskosten von der öffentlichen Hand getragen würden.“ Allerdings sei ein finanzielles Engagement der Länder noch keine Garantie für niedrigere Eigenanteile. „In NRW werden die Investitionskosten von den Kreisen beziehungsweise kreisfreien Städten getragen, dennoch liegt das Land bei den Eigenanteilen im Ländervergleich im oberen Bereich“, betont die Expertin.

VdK: Hohe Eigenanteile karikieren den Begriff Versicherung

„Wir brauchen dringend ein nachhaltiges Finanzierungskonzept für die Pflegeversicherung, die sich zu einer Vollversicherung für alle pflegebedingten Kosten entwickeln muss“, sagt Verena Bentele, die Präsidentin des Sozialverbandes VdK. „Ein monatlicher Eigenanteil im ersten Jahr von rund 2.500 Euro karikiert den Begriff Versicherung.“ Im Jahr 2023 gab es laut Wissenschaftlichem Institut der AOK (WIdO) bei den pflegebedingten Zuzahlungen der Heimbewohner im Vorjahr einen Anstieg von 19,2 Prozent.

Die Analyse für 2023 belegt, dass die Höhe der finanziellen Belastungen der Heimbewohner in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich ist: Während die Gesamtzuzahlungen Ende 2023 im Saarland bei 2.640 Euro pro Monat lagen, waren es in Sachsen-Anhalt 1.800 Euro. Besonders groß ist die Spanne bei den Kosten für Unterkunft und Verpflegung: Während in Sachsen-Anhalt 720 Euro zu bezahlen sind, sind es in Nordrhein-Westfalen 1.156 Euro.

Finanzielle Förderung der Altenhilfe

Die Bundesländer sind gesetzlich für die ausreichende Versorgungsstruktur für ältere Menschen verantwortlich, ganz gleich, ob es um stationäre oder ambulante Betreuung geht. Das regelt Paragraf 9 SGB XI. Deshalb gibt es flächendeckend landesrechtliche Vorschriften, die die finanzielle Förderung für die Altenhilfe regeln - in jedem Bundesland nach einem anderen Modus. Meist sind das jedoch nur Finanzierungszuschüsse. Deshalb müssen die Pflegeheimträger die nicht übernommenen Kosten für den Betrieb oder auch für Modernisierungen und Neubauten auf alle Bewohnerinnen und Bewohner umlegen - als Teil des Gesamtheimentgelts. Sollten Betroffene hier finanziell überfordert sein, springt das Sozialamt ein.

„In den Investitionskosten sind zum Beispiel auch die 'Mietkosten' der Gemeinschaftsräume und Gemeinschaftsflächen, der Küchen, Büros und Pflegebäder sowie deren Ausstattung enthalten“, erläutert der Pflegeschutzbund BIVA. „Die Aufwendungen dafür werden auf einen monatlichen Betrag umgerechnet und jedem Bewohner in Rechnung gestellt“, so der Bundesverband Vebraucherzentrale.

Engagement der Länder

Doch diese Bestandteile alleine würden die hohen Zahlungen der Bewohner nicht erklären. Die Investitionskosten umfassen nämlich auch sämtliche Ausgaben, die für die Nutzung des Gebäudes und für den Betrieb eines Pflegeheims anfallen: Kosten für Gebäudemieten, Finanzierungskosten, Leasingaufwendungen, Abschreibungen und Instandhaltungskosten.

Aber: „Kosten, die durch eine öffentliche Förderung gedeckt sind, dürfen nicht auf die Bewohner umgelegt werden“, erklärt der Bundesverband Verbraucherschutz. So entsteht ein Automatismus: Je mehr die Länder von den Investitionskosten der Heime tragen, desto mehr sinkt der Eigenanteil der Bewohner.

Um einschätzen zu können, ob und wie sich die Länder finanziell engagieren, ist ein Blick auf die bestehende Förderung der Heime und ambulanten Dienste durch die Länder hilfreich. Wichtig zu wissen ist auch: Die Investitionskosten sind in jeder Pflegeeinrichtung unterschiedlich hoch. Sie hängen beispielsweise vom Alter und dem baulichen Zustand der Gebäude ab sowie von regional unterschiedlichen Grundstückspreisen und Baukosten.

Institut legt neue Daten aus den Ländern vor

Kürzlich wurde für das Jahr 2022 die Studie „Berichtspflicht der Länder zu Förderung und Investitionskosten von Pflegeeinrichtungen“ vom IGES Institut in Berlin veröffentlicht - ein Konvolut an Zahlen und Tabellen. Darin finden sich alle Maßnahmen zur Förderung der Pflegeeinrichtungen, unterschieden zwischen Objekt- und Subjektförderung, also nach finanziellen Hilfen für die Heimträger oder direkt für die Bewohner. Zusammengestellt wurden zudem die Fördersummen in den verschiedenen Versorgungsbereichen der Pflege, aufgelistet nach durchschnittlicher Förderung je Einrichtung sowie je Heimbewohner.

„Insgesamt über alle Versorgungsbereiche, Förderarten und Länder zusammengenommen betrug das Fördervolumen für investive Aufwendungen im Jahr 2022 rund 876 Millionen Euro“, heißt es in dem Bericht. Damit ist die Gesamtfördersumme im Vergleich zum Vorjahreswert um rund sieben Millionen Euro gesunken, während zeitgleich die Zahl der Pflegebedürftigen auf knapp fünf Millionen gestiegen ist.

Von der gesamten Fördersumme entfielen 2022 über alle Länder hinweg die größten Anteile mit rund 543 Millionen Euro auf die Subjektförderung (62 Prozent) und rund 260 Millionen Euro auf die reine Objektförderung (30 Prozent). Im Vergleich zu den drei Vorjahren sind die Investitionskosten der Einrichtungen in allen drei Versorgungsbereichen im Durchschnitt leicht angestiegen. In der vollstationären Dauerpflege haben sie im Schnitt aller Einrichtungen von 15,36 Euro pro Platz und Tag im Jahr 2021 auf 15,65 im Jahr 2022 (plus 1,9 Prozent) zugenommen. Damit fiel der Anstieg etwas stärker aus als im Vorjahr (plus 1,3 Prozent).

Große Unterschiede bei Fördersummen je Heimplatz

Bemerkenswert ist die Spreizung der durchschnittlichen Investitionskosten in der vollstationären Dauerpflege. Sie bewegten sich zwischen 10,31 Euro pro Heimplatz und Tag in Sachsen-Anhalt und 18,91 Euro in Nordrhein-Westfalen. Darüber hinaus zeigen sich merkliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen. In der vollstationären Dauerpflege betrug der Unterschied zwischen den teureren Ballungsräumen und den ländlichen Gebieten im Durchschnitt 23 Prozent.

Was wird die Zukunft mit Blick auf mögliche weitere Steigerungen bei den Eigenanteilen Pflegebedürftiger bringen? Auch dazu enthält der Bericht aufschlussreiche Aussagen, sofern die Länder sich in den standardisierten Interviewbögen dazu überhaupt äußerten oder Prognosen abgaben. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen erwarten in den kommenden Jahren eine weitere Erhöhung der von den Pflegebedürftigen selbst zu tragenden Kosten.

Dazu heißt es beispielsweise aus Rheinland-Pfalz, dass die Verteuerung der Heimplätze schon wegen „betriebsnotwendigen Investitionskosten durch verstärkte Klimaanpassungs- und/oder Klimaschutzmaßnahmen seitens der Pflegeeinrichtungen erwartet wird“. Und: Derzeit plane „das Land nicht, die gestiegenen Kosten für die pflegebedürftigen Personen mit einer erhöhten Investitionskostenförderung aufzufangen“. Fast wortgleich äußerten sich Thüringen, das Saarland und Niedersachsen - schlechte Nachrichten für viele Pflegebedürftige in den Heimen.

Dirk Baas


Pflege

Förderung der Altenhilfe: Berichtspflicht für mehr Transparenz



Berlin (epd). Seit dem 1. Januar 2017 sind die Länder gemäß dem Sozialgesetzbuch XI verpflichtet, dem Bundesgesundheitsministerium jährlich über Art und Umfang der finanziellen Förderung der Pflegeeinrichtungen sowie die mit der Förderung verbundenen durchschnittlichen Investitionskosten je Pflegebedürftigen zu berichten.

Mit dieser Regelung zielte der Gesetzgeber auf mehr Transparenz in der unübersichtlichen Investitionskostenförderung von Pflegeeinrichtungen. Mit den erstmals für das Jahr 2016 vorgelegten Angaben der Länder konnte Experten zufolge das Transparenz-Ziel jedoch nicht erreicht werden. Deshalb beauftragte das Ministerium die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und die KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mit einer Studie, die unter anderem Unterstützung bei der Abfrage zur Investitionskostenförderung für die Berichtsjahre 2017 und 2018 umfasste.

Bei dieser Erhebung wurde auch ein Fragebogen entwickelt, der zur Erfassung und Systematisierung der relevanten Angaben der Ländern diente. Auf dieser Basis hat das Ministerium das IGES Institut beauftragt, die Abfrage für die Berichtsjahre 2019, 2020, 2021 und 2022 vorzunehmen und dabei den bereits vorliegenden Fragebogen zu nutzen. Die Fragebögen wurden den Länderministerien sowie stellvertretend für die Pflegekassen dem Verband der Ersatzkassen (vdek) vorgelegt.



Flüchtlinge

Ukrainerinnen wollen in Deutschland Fuß fassen




Juliia Suhak, Andrei Nebywailov, Oleana Helman und Iana Kalynovska im "Haus der Diakonie" in Germersheim
epd-bild/Alexander Lang
Zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges wollen viele Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland einen Neuanfang wagen. Doch die Hürden für einen Job oder eine Wohnung sind hoch. Drei Geflüchtete, die in Germersheim leben, berichten.

Germersheim (epd). Iana Kalynovska will Busfahrerin werden - und endlich ankommen. „Ich mache einen Quereinstieg über das Jobcenter und bewerbe mich bei der Deutschen Bahn“, sagt die 53-jährige Ukrainerin in gutem Deutsch. Vor zwei Jahren flüchtete die studierte Tierärztin nach Deutschland, als die russischen Angreifer ihre Heimatstadt Kiew beschossen. „Ich hatte Angst“, sagt sie. Ihr Mann kämpft an der Front, ihr Sohn ist Militärarzt. Kalynovska lebt in Germersheim, besucht Sprachkurse und will nicht länger Bürgergeld beziehen. „Ich möchte Geld verdienen für mein Leben.“

Suche nach Wohnung, Kita und Sprachkurs

Doch viele bürokratische Hürden machen es ukrainischen Kriegsflüchtlingen noch immer nicht leicht, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen, kritisiert Olga Prigorko. Die russische Sozialarbeiterin kümmert sich im „Haus der Diakonie“ in der pfälzischen Kleinstadt am Rhein um Iana Kalynovska und andere Geflüchtete aus der Ukraine. Unter ihnen sind viele Frauen mit Kindern. Rund 1,1 Millionen Ukraine-Flüchtlinge leben derzeit in Deutschland.

Diakonie-Mitarbeiterin Prigorko hilft bei der Suche nach einer Wohnung, Kita oder einem Sprachkurs. Sie dolmetscht und berät bei der Jobsuche. „Es kommen mindestens fünf Anfragen pro Tag.“ Am meisten fehle den Neuangekommenen die Anerkennung, wie die Sozialarbeiterin sagt - dass ihre Zeugnisse und Ausbildungsabschlüsse auch in Deutschland gelten. Viele Ukrainer seien seit dem Kriegsbeginn in ihre Heimat zurückgekehrt, sagt Prigorko. Aber viele wollten auch im Land bleiben.

Die Lehrerin und Sozialarbeiterin Olena Helman hat bereits einen Minijob bei der Lebenshilfe. Gerne würde sie als Erzieherin arbeiten. Doch „langsam, langsam“ drehten sich die Mühlen der Behörden, erzählt die Frau aus Cherson. Die erforderlichen Genehmigungen stünden noch aus.

Das Leben auf den Kopf gestellt

Der Krieg hat auch das Leben von Juliia Suhak auf den Kopf gestellt. Die alleinerziehende Mutter will Sozialarbeit studieren, doch die Anerkennung ihrer Dokumente hängt seit zwei Jahren in der Warteschleife. Suhak hilft anderen ukrainischen Flüchtlingen in einem Netzwerk. Sie begleitet sie zu Behörden, hat eine Telegram-Gruppe zum Informationsaustausch eingerichtet, dolmetscht für die kirchliche Flüchtlingshilfe. „Man ist nicht allein. Wenn man Hilfe braucht, kann man sie bekommen“, sagt Suhak.

Sozialarbeiterin Prigorko ärgert sich über „eine Stimmungsmache in Politik und Bevölkerung gegen 'faule' ukrainische Flüchtlinge“, die den Staat ausnutzten. Vieles müsse schneller gehen, damit die häufig gut ausgebildeten Fachkräfte eine Arbeit aufnehmen könnten, appelliert sie. Dabei sollten deren Kenntnisse genutzt werden - nicht alle Ukrainer könnten oder wollten etwa in der Pflege arbeiten.

Nur ungern sprechen die drei ukrainischen Flüchtlinge aus Germersheim über den Krieg, es schmerzt zu sehr. Der Krieg wird noch lange dauern, glaubt Juliia Suhak. Friedensverhandlungen mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin, der die Ukraine auslöschen wolle, seien derzeit sinnlos. „Ich möchte hier bleiben, für meine Tochter und mich ein neues Leben aufbauen“, sagt Suhak. Iana Kalynovska nickt traurig. „Ich hätte gerne, dass mein Mann und mein Sohn hierherkommen, aber das ist momentan nicht möglich.“

Alexander Lang


Flüchtlinge

Bauorden: Brauchen mehr Wohnungen und Kitaplätze für Ukrainer



Ludwigshafen (epd). Zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges sind nach den Worten des Geschäftsführers des Internationalen Bauordens, Peter Runck, viele ukrainische Flüchtlinge in Deutschland weiter auf Hilfe angewiesen. Für die Geflüchteten, mehrheitlich Frauen und Kinder, seien Wohnungen, Kitaplätze und Räume für Selbsthilfegruppen dringend nötig, sagte Runck dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Ludwigshafen.

Auch müssten in den Kommunen mehr Sprachkurse für die Geflüchteten angeboten werden, sagte der Geschäftsführer des Bauordens. Der Verein mit Sitz in Ludwigshafen unterstützt in ganz Europa gemeinnützige und soziale Einrichtungen bei Bau- und Renovierungsarbeiten, auch in der Ukraine.

Hilfsbereitschaft noch immer sehr hoch

Zu Beginn des Krieges hätten sich viele Bürgerinnen und Bürger etwa in Willkommenstreffen um die neu ankommenden Menschen gekümmert. „Doch jetzt fehlen sie“, monierte der Sozialpädagoge. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sei aber noch immer sehr groß.

Ungerechtfertigt sei in vielen Fälle die Kritik, dass ukrainische Flüchtlinge keine Arbeit aufnähmen und staatliche Leistungen bezögen, sagte Runck. Mütter mit kleinen Kindern könnten oftmals nicht arbeiten. Der Bauorden hilft in der Ukraine derzeit mit Geldern beim Wiederaufbau in den Kriegsregionen.



Flüchtlinge

Caritas fordert Solidarität mit behinderten Ukrainern



Berlin (epd). Zwei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine lenkt der Deutsche Caritasverband die Aufmerksamkeit auf die Hilfen für Menschen mit Behinderung. „Hinter der Frage nach der militärischen Allianz darf die Frage nach der menschlichen Solidarität nicht in den Hintergrund treten“, forderte Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa am 20. Februar in Berlin. „Jeder Tag, an dem die russische Invasion die Ukraine mit Angst und Schrecken überzieht, ist ein Tag der Ängste und der Schrecken besonders für Menschen mit Handicaps.“ Alte Menschen und Menschen mit Behinderung bräuchten besonderem Maße Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Die Caritas und ihre Fachverbände haben nach ihren Worten in den vergangengen Jahren tausende Ukrainerinnen und Ukrainer sowohl in ihrem Heimatland als auch in Deutschland unterstützt. „Das unermessliche Leid der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu lindern, bleibt eines unserer besonderen Anliegen“, sagte die Präsidentin.

Viele Betroffene in Deutschland aufgenommen

Unter den Geflüchteten, die in den letzten zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind, befinden sich hunderte ukrainische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen, die mit ihren Betreuerinnen und deren Angehörigen aus der Ukraine in Caritas-Einrichtungen in Deutschland aufgenommen wurden.

Im März 2022 hatte die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) als zuständiger Fachverband Fahrten für geflüchtete Menschen aus einem Waisenhaus in Kyiv durchgeführt. Im April 2022 wurde eine weitere Einrichtung von Kryvij Rih nach Bayern in eine Mitglieds-Einrichtung des CBP evakuiert. Insgesamt 300 Menschen mit Behinderung sowie mehr als 100 Betreuerinnen und deren Angehörige aus der Ukraine wurden in Mitgliedseinrichtungen des CBP in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern aufgenommen. Dort werden sie seitdem begleitet und betreut. Nach Unterbringung und Versorgung steht jetzt eine Normalisierung des Alltags mit Tagesstruktur, aber auch therapeutischen Maßnahmen an, um die erlebten Schrecken zu verarbeiten.

„Schutz für Behinderte ist nicht verhandelbar“

Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima werde vermehrt die Forderung nach einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen laut. „Die UN-Behindertenrechtskonvention regelt ganz klar, dass wir in Gefahrensituationen, einschließlich bewaffneter Konflikte, alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten“, sagte Wolfgang Tyrychter, Vorstandsvorsitzender des CBP. Die Unterstützung der geflüchteten Menschen mit Behinderung sei nicht verhandelbar: „Wir dürfen nicht nachlassen in unserem Bemühen, ihnen die dringend benötigte Hilfe zukommen zu lassen.“

Er bekräftigte: „Die Einrichtungen der Caritas stehen weiterhin den bedürftigen Menschen aus der Ukraine, insbesondere jenen mit Beeinträchtigungen, zur Seite. Sie benötigen besonderen Schutz und Unterstützung.“ Er dankte den beteiligten Einrichtungen, die die ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen haben, für ihr Engagement: „Das ist gelebte Caritas.“



Behinderung

"Please touch!": Kunstpalast bietet Cragg-Skulpturen zum Anfassen




Künstler Tony Cragg neben seinem Werk "Lost in Thought"
epd-bild/Hans-Jürgen Bauer
Der Ausstellungstitel "Please touch!" ist Motto und Aufforderung: Kunst darf und soll angefasst und mit den Händen erkundet werden. Der Düsseldorfer Kunstpalast und Bildhauer Tony Cragg wenden sich damit an sehbehinderte und sehende Besuche.

Düsseldorf (epd). Die geschwungenen Linien einer Holzplastik, die Umrisse eines Kopfes aus Stein, die Kraken-ähnliche Form einer Skulptur mit Tausenden Würfeln beklebt: Werke des englischen Bildhauers Tony Cragg verführen seit jeher dazu, sie zu ertasten, ihre Schwingung mit der Hand nachzuzeichnen. Das ist in einer neuen Ausstellung des Düsseldorfer Kunstpalastes möglich, sogar ausdrücklich erwünscht. „Please touch!“ ist von 21. Februar bis 26. Mai geöffnet. Für sehbehinderte und blinde Besucher wurde ein eigener Audioguide entwickelt. Spezielle Führungen werden angeboten.

Besonders intensive Verbindung

„Mit Skulpturen, die man sehen und anfassen darf, geht man eine besonders intensive Verbindung ein“, sagt Kurator und Museums-Chef Felix Krämer. Der in Wuppertal lebende Bildhauer Tony Cragg selbst ist da schon skeptischer: „Der optische Eindruck ist natürlich der wichtigste“, sagt er, während er seinem Team beim Aufbau noch letzte Instruktionen gibt. Er hat für die Schau Werke ausgewählt, die normalerweise in seinem Atelier in Wuppertal stehen und die er nach Ende der Ausstellung wieder ausbessern kann. Nur deshalb sei dieses Projekt möglich gewesen, das sich über die sonst eherne Regel „berühren verboten“ hinwegsetze, sagt Krämer.

Wie akribisch Tony Cragg arbeitet, zeigt das für sein Werk untypische, zum Teil in der Corona-Zeit entstandene Werk „The Wave“, „Die Welle“. Hunderte Menschenfiguren scheinen in dieser Welle in einen Abgrund zu stürzen. „Dreieinhalb Jahre habe ich daran gearbeitet“, erzählt Cragg. Die Figuren seien lebenden Menschen nachgebildet. Noch steht er in Jeans und Arbeitshemd davor. Am Scheitelpunkt der Welle ragt eine Metallschlaufe aus dem Werk, das noch einmal gedreht wird, um seinen endgültigen Platz in der Ausstellung zu finden. Dann aber wird das Metall entfernt und ein Bein im Stil der übrigen Figuren wird, kaum als besonderer Teil des Werks erkennbar, den höchsten Punkt der Welle bilden.

Viele Themen, die der englische Künstler Cragg (74), sein Arbeitsleben lang immer wieder neu gestaltet hat, bringt die Ausstellung zusammen. Das Profil von Gesichtern ist oft Ausgangspunkt seiner Arbeiten. „Es ist besonders reizvoll, die Linien, die er von einem Gesicht ausgehend schafft, mit den Händen nachzuzeichnen“, sagt Krämer. Die eher technisch anmutenden Werke zeigten bei näherer Betrachtung, dass sie manchmal Formen von Alltagsgegenständen, etwa Schraubgläsern, verzerrten und neu gestalten.

Sinnliche Erfahrungen

Mit Flaschen, besonders Plastikflaschen etwa von Putzmitteln, beschäftigte sich Cragg schon am Anfang seiner Laufbahn und schuf aus Einzelteilen eine ironische Form des Wandgemäldes. Eine dieser Arbeiten ist in der neu gestalteten Sammlung des Kunstpalastes zu sehen, nur wenige Räume von der Sonderausstellung entfernt.

Dem Künstler kommt man in dem nachgebauten Teil seines Ateliers im letzten Raum der Ausstellung besonders nahe. Köpfe aus Gips und Pappmaschee, Plastiktüten voller Würfel, Pinsel, Spachtel, Modelle, etwa von „The Wave“ oder den vielen organisch geformten Cragg-Säulen: Das alles gibt Einblick in seinen Schaffensprozess. In diesem Raum allerdings ist Berühren nicht mehr erlaubt. Das Material soll, sobald es wieder im Atelier ist, weiterverarbeitet werden.

Kurator Krämer erwartet, dass Besucherinnen und Besucher von „Please touch!“ mit ihren sinnlichen Erfahrungen im Umgang mit den Werken künftig auch andere Skulpturen umfassender wahrnehmen werden. „Das kühle Metall, der glatte Marmor, das weichere Fiberglas oder die fein geschnittenen Gesichter, alles wird als sinnlicher Eindruck in Erinnerung bleiben und das Verständnis von Bildhauerei erweitern“, sagt Krämer. In diesem Sinne gibt es auch keinen Katalog, sondern eine Maske von Tony Cragg aus Hanf. „Biologisch abbaubar“, kommentiert Krämer.

Von Irene Dänzer-Vanotti


Ehrenamt

Verbände in Sorge um Finanzierung der Freiwilligendienste




Freiwillige bei Johannitern
Fachleute haben bei einer Anhörung des Familienausschusses die geplante Erweiterung der Teilzeitmöglichkeit in Freiwilligendiensten begrüßt. Doch sind die Sachverständigen in Sorge über mögliche Kürzungen für die Freiwilligendienste im Bundeshaushalt für 2025.

Berlin. (epd). Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf „zur Erweiterung der Teilzeitmöglichkeit in den Jugendfreiwilligendiensten sowie im Bundesfreiwilligendienst für Personen vor Vollendung des 27. Lebensjahres und zur Umsetzung weiterer Änderungen“ (Freiwilligen-Gesetz) Teilzeitangebote und ein höheres Taschengeld vorgesehen. Voraussetzung für den Teilzeitdienst soll sein, dass die Dienstzeit wöchentlich noch mehr als 20 Stunden beträgt. Bislang müssen für einen Teilzeitdienst familiäre, erzieherische oder pflegerische Verpflichtungen, physische oder psychische Beeinträchtigungen oder andere schwerwiegende Gründe vorliegen.

Reicht das Taschengeld als Anreiz aus? Kann es künftig einen sogenannten Mobilitätszuschuss geben? Unter anderem diese Fragen wurden bei der Anhörung im Familienausschuss am 19. Februar angesprochen. Fertige Antworten oder gar Problemlösungen gab es nicht. Aber immerhin viele Einsichten, welcher Zukunft die Freiwilligendienste entgegengehen.

Kein höheres Taschengeld ohne Refinanzierung

Aus Sicht von Marie Beimen, Sprecherin der Kampagne „Freiwilligendienst stärken!“, bleibt die Erhöhung der Taschengeldobergrenze „ohne die ausreichende Refinanzierung durch Bundesmittel eine Erhöhung auf dem Papier“. Für sehr viele Träger und Einsatzstellen werde es in der angespannten Haushaltslage kaum möglich sein, das Taschengeld auf eigene Kosten zu erhöhen. Statt Mobilitätszuschlägen sollte es nach Beimens Ansicht „Deutschlandtickets“ geben.

Kira Bisping vom Internationalen Bund (IB) verwies darauf, dass Freiwilligendienste in der Breite der Bevölkerung nicht ausreichend bekannt und ihr Potenzial nicht ausgeschöpft sei. Daher müssten die Kosten, die Trägern für Akquise und Öffentlichkeitsarbeit enststünden, vom Staat übernommen werden.

Obergrenze bei Taschengeld wird schon heute selten erreicht

Für Barbara Caron vom Malteser Hilfsdienst ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf keine finanzielle Besserstellung der Freiwilligen erreichbar. Die Einsatzstellen könnten sich ein höheres Taschengeld genausowenig leisten wie den Mobilitätszuschuss. „Schon heute wird die Obergrenze beim Taschengeld so gut wie nie ausgeschöpft“, sagte sie. Das werde sich nur ändern, wenn der Bund dafür Gelder bereitstellt.

Susanne Rindt von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrüßte besonders die gesetzliche Klarstellung, dass bei einem Freiwilligendienst in Teilzeit die Seminartage in vollem Umfang wie im Vollzeit-Freiwilligendienst zu leisten sind. Die pädagogische Begleitung sei das entscheidende Merkmal eines Dienstes als Bildungs- und Orientierungszeit und sichere unter anderem, dass Freiwillige nicht zu „günstigen Arbeitskräften“ in den Einsatzstellen degradiert werden können, sagte sie.

Kritik an fehlendem Rechtsanspruch auf Förderung

Martin Schulze vom Bundesarbeitskreis Freiwilliges Soziales Jahr kritisierte, dass mit dem Gesetz die Einführung eines Rechtsanspruches auf Förderung für einen Freiwilligendienst versäumt worden sei. Auch wenn die mit dem Gesetzentwurf geplanten Änderungen grundsätzlich zu begrüßen seien, würden diese in der Praxis erst dann in der Breite zum Tragen kommen, „wenn die Träger, Einsatzstellen und die Freiwilligen selbst durch den Gesetzgeber eine bessere finanzielle Refinanzierung erhalten“, sagte er.

Dirk Baas


Behinderung

Gastbeitrag

Werkstattreform: Mehr Inklusion, berufliche Bildung und bessere Bezahlung




Christian Germing
epd-bild/CBP
Vieles bei den Werkstätten für Menschen mit Behinderung erscheint nicht mehr zeitgemäß. Das gilt für die Bezahlung der Beschäftigten wie für die Durchlässigkeit zum regulären Arbeitsmarkt. In seinem Gastbeitrag für epd sozial skizziert Caritasexperte Christian Germing die Ziele und Forderungen seines Verbandes bei der Umgestaltung der Werkstätten.

Die Reform der Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) steht zurzeit im Fokus vieler Akteure, die sich mit der Teilhabe am Arbeitsleben beschäftigen. Hintergrund sind die Veröffentlichung der Entgeltstudie und der Dialogprozess beim Bundesarbeitsministerium, an dem auch der Caritasverband Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) beteiligt war. Vom Ministerium wurden vier Themenfelder identifiziert, die für die Weiterentwicklung der Werkstätten in den Blick genommen werden: Zugänge, Übergänge, Entlohnung und Teilhabe von Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung.

Inklusiver Zugang zur beruflichen Bildung und Arbeitsmarktintegration: In einem künftigen System der Teilhabe am Arbeitsleben muss es einen Zugang zur inklusiven beruflichen Bildung und zu einem Arbeitsmarkt für alle Menschen mit Behinderung geben. Dazu bedarf es differenzierter und personenzentrierter Angebote.

Fachliche Weiterentwicklung der beruflichen Bildung: Aus der Sicht unseres Verbandes bedarf es einer fachlichen Weiterentwicklung der beruflichen Bildung für Menschen mit Behinderungen, um dieses Ziel zu erreichen. Der Abschlussbericht der Entgeltstudie des Bundesarbeitsministeriums liefert dabei empfehlenswerte Maßnahmen, die wir ausdrücklich unterstützen. Dazu gehören die Anerkennung von im Berufsbildungsbereich erworbenen Qualifikationen mit einer Verankerung im Berufsbildungsgesetz sowie die Verlängerung des Zeitraums der beruflichen Bildung.

Klarheit bei Zugängen zur WfbM, individueller Leistungsanspruch auf berufliche Bildung: In der aktuellen Diskussion über die Zugänge zu den Werkstätten deutet die geringe Übergangsquote vom Berufsbildungsbereich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zwangsläufig darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen von der Förderschule in die Werkstatt gelenkt werden. Die Zuweisung zum Berufsbildungsbereich erfolgt durch den jeweiligen Kostenträger.

Bei einer möglichen Ausgliederung dieses Bereichs aus den Werkstätten und künftiger Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist es notwendig, die erforderliche Expertise für diesen Personenkreis sicherzustellen und sicherzugehen, dass der individuelle Leistungsanspruch auf berufliche Bildung nicht verkürzt wird. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass berufliche Bildung auch für Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung zugänglich bleibt.

Ausschreibung des Berufsbildungsbereichs: Kritisch bewerten wir eine mögliche Ausschreibung der zukünftigen Leistungen der Bundesagentur für Arbeit, wie sie das Arbeitsministerium beim Dialogprozess ins Spiel gebracht hat. Leistungen der beruflichen Bildung sollen weiterhin im sozialen Dreiecksverhältnis erbracht werden, um die Trägervielfalt und das Wunsch- und Wahlrecht zu gewährleisten.

Klare Ausrichtung auf berufliche Rehabilitation: Aus unserer Sicht bedarf es einer klaren Ausrichtung der Werkstätten auf berufliche Rehabilitation. Sie findet ihre Legitimation in Artikel 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und ist als solche erforderlich im Kontext des heutigen Arbeitsmarktes.

Effektives Übergangsmanagement: Um die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern, kommt einem effektiven Übergangsmanagements in der Werkstatt eine hohe Bedeutung zu. Betriebsintegrierte Außenarbeitsplätze und Übergangsgruppen sollten verstärkt genutzt werden. Die Beratung sowie Begleitung am Arbeitsplatz müssen ausgebaut und intensiviert werden. In Bezug auf ausgelagerte Arbeitsplätze unterstützen wir die Überführung in ein Budget für Arbeit, lehnen jedoch eine teilweise diskutierte generelle Befristung ab. Die geplante Höherversicherung in der Rente befürworten wir als CBP.

Entgeltgestaltung und Höherversicherung: Mit Blick auf das Entgelt schlagen wir ein staatlich finanziertes „Teilhabegeld“ auf Basis von 15 Wochenstunden Mindestlohn bei einer Vollzeitbeschäftigung in der Werkstatt vor, um Beschäftigten ein Einkommen oberhalb der Grundsicherung zu ermöglichen. Der bisherige Grundbetrag in Werkstätten sollte entfallen. Das „Teilhabegeld“ ersetzt das Arbeitsförderungsgeld. Weiterhin bliebe die Werkstatt verpflichtet, ein leistungsangemessenes Werkstattentgelt (Steigerungsbetrag) zu zahlen. Das rehabilitationsrechtlich begründete arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis im Sinne des § 221 SGB IX sollte unserer Meinung nach bestehen bleiben.

Forderung nach Streichung des „Mindestmaßes wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“: Schließlich fordern wir die Streichung des „Mindestmaßes wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ aus dem Gesetz, um sicherzustellen, dass Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen den Anspruch auf Teilhabe am Arbeitsleben uneingeschränkt wahrnehmen können.

Im Ergebnis plädiert unser Verband nachdrücklich für eine umfassende Werkstattreform, die die Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen gewährleistet und die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt inklusiver gestaltet. Durch unsere konkreten Forderungen und Lösungsvorschläge zeigen wir die Stellschrauben für eine Neugestaltung des Werkstattsystems im Sinne der Inklusion und individuellen Teilhabe auf. In unseren Positionen skizzieren wir die notwendigen Schritte hin zu einer integrativen Gesellschaft, in der jeder Mensch die Möglichkeit hat, sein volles Potenzial zu entfalten, und Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, unabhängig von ergänzenden Sozialleistungen zu werden.

Christian Germing ist Vorstand des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld und Vorsitzender des Fachausschusses Teilhabe am Arbeitsleben im Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie



sozial-Recht

Landessozialgericht

Einnahmen aus Photovoltaikanlage werden auf Bürgergeld angerechnet




Photovoltaikanlagen auf Dächern
epd-bild/Heike Lyding
Grundsicherungsempfänger können mit dem Betrieb einer Photovoltaikanlage und den daraus fließenden Einnahmen keine private Altersvorsorge aufbauen. Denn die Erträge aus der Stromeinspeisevergütung mindern als Einkommen laut einem Urteil die Jobcenterleistungen.

Chemnitz, Stuttgart (epd). Bürgergeld- und frühere Hartz-IV-Bezieher können mit der Investition in eine Photovoltaikanlage auf dem Dach ihres selbst bewohnten Hauses keine Rücklagen für das Alter bilden. Nur wenn Vermögen in eine echte Altersvorsorge angelegt und deren Erträge erst im Rentenalter ausgeschüttet werden, werden sie vom Jobcenter nicht mindernd angerechnet, stellte das Sächsische Landessozialgericht (LSG) in Chemnitz in einem am 14. Februar veröffentlichten Urteil klar. Das Gericht ließ die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.

Die Erträge aus der Stromeinspeisung in das allgemeine Stromnetz müssten als anzurechnendes Einkommen mindernd auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet werden, befand das LSG. Das gilt auch dann, wenn die Solaranlage aus dem für die Altersvorsorge angesparten Vermögen finanziert wurde. Der gesetzliche Erwerbstätigenfreibetrag könne nicht für die Einnahmen aus dem Sonnenstrom herangezogen werden.

85.000 Euro aus Schonvermögen investiert

Im Streitfall ging es um ein Ehepaar, das vom 1. August 2011 bis zum 31. Dezember 2011 auf Hartz-IV-Leistungen, dem heutigen Bürgergeld, angewiesen waren. Das Paar lebte in einem Eigenheim. Der Ehemann wollte das für seine Altersvorsorge angesparte Vermögen gewinnbringend anlegen und ließ für über 85.000 Euro auf dem Dach eine Photovoltaikanlage mit 86 Modulen und vier Wechselrichtern installieren.

Für die Stromeinspeisung in das allgemeine Stromnetz erzielte er in den Monaten August und September 2011 umsatzsteuerpflichtige Erträge in Höhe von jeweils 519 Euro (brutto), in den Monaten Oktober bis Dezember 2011 waren es jeweils 235 Euro (brutto). Das Jobcenter wertete die Einnahmen als anzurechnendes Einkommen und minderte das auszuzahlende Arbeitslosengeld II.

Das Paar zog vor Gericht. Der Kläger argumentierte, dass die Photovoltaikanlage aus dem angesparten Schonvermögen finanziert wurde. Dieses Geld sei quasi auf das Dach gepackt worden und diene auch der Altersvorsorge. Bei den Erträgen aus der Anlage handele es sich um einen Rückfluss des eingesetzten Schonvermögens. Sie dürften daher nicht mindernd auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet werden, war seine Argumentation.

Stromeinspeisevergütung zählt als Einkommen

Das LSG urteilte jedoch, dass die Photovoltaikanlage zwar Vermögen darstelle. Weil aber die Einnahmen aus der Stromeinspeisevergütung während des laufenden Bezugs von Arbeitslosengeld II zugeflossen seien, seien die gesamten Bruttobeträge als Einkommen mindernd anzurechnen. Die Einnahmen aus der Solarstromerzeugung seien in etwa mit Zinserträgen aus Kapitalvermögen vergleichbar, die ebenfalls die Hartz-IV-Leistungen minderten, erklärte das Gericht.

Die Chemnitzer Richter beriefen sich auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. September 2008. Danach müssen Zinsgutschriften aus Sparguthaben auch dann als Einkommen berücksichtigt werden, wenn es sich beim verzinsten Kapital um Schonvermögen handelt.

Einkünfte stammen nicht aus Erwerbstätigkeit

Auch lägen hier keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit vor, so das LSG. Denn der Kläger habe dafür nicht seine Arbeitskraft eingesetzt. Allein der Umstand, dass er durch den Betrieb der Photovoltaikanlage steuerrechtlich zum Unternehmer werde, führe nicht dazu, dass er als „Erwerbstätiger“ anzusehen sei. Daher stehe ihm nicht der monatliche Erwerbstätigenfreibetrag in Höhe von 100 Euro zu. Ziel des Erwerbstätigenfreibetrages sei es, Arbeitslose zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zu ermutigen. Dieses Ziel werde durch den Betrieb der Photovoltaikanlage nicht erreicht, befand das LSG.

Auch hier berief sich das Gericht auf die BSG-Rechtsprechung. So hatten die obersten Sozialrichter am 27. September 2011 entschieden, dass Hartz-IV-Aufstocker bei langer Krankheit keinen Erwerbstätigenfreibetrag auf das erhaltene Krankengeld geltend machen können. Denn um den pauschalen Freibetrag beanspruchen zu können, müsse der Hilfebedürftige „aktiv erwerbstätig“ sein, was bei Krankengeldbeziehern nicht der Fall sei.

Bereits am 23. Februar 2018 hatte das LSG Baden-Württemberg in Stuttgart ebenfalls entschieden, dass Gewinne aus dem Betrieb einer Photovoltaikanlage grundsätzlich als Einkommen berücksichtigt werden müssen. Es handele sich hier nicht um eine Erwerbstätigkeit, für die der Erwerbstätigenfreibetrag geltend gemacht werden könne.

Az.: L 4 AS 834/17 (LSG Chemnitz)

Az.: B 4 AS 57/07 R (BSG, Zinserträge)

Az.: B 4 AS 180/10 R (BSG, Erwerbstätigenfreibetrag)

Az.: L 1 AS 3710/16 (LSG Stuttgart)

Frank Leth


Bundesarbeitsgericht

Kurzarbeit "Null" führt bei Krankheit zu gekürztem Urlaub



Erfurt (epd). Bei einer Kurzarbeit „Null“ müssen auch arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit gekürzten Urlaubsansprüchen rechnen. Denn für die Berechnung des Urlaubsumfangs sind nur Zeiten maßgeblich, für die grundsätzlich eine Arbeitspflicht besteht, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 13. Februar veröffentlichten Urteil. Während einer Kurzarbeit „Null“, also für volle Tage von Kurzarbeit, bestehe jedoch keine vertragliche Arbeitspflicht, erklärten die Erfurter Richter.

Von der Arbeitspflicht befreit

Geklagt hatte ein Mitarbeiter einer Betriebsschlosserei in Schleswig-Holstein, der dort vom 1. Mai 2018 bis zum 31. Januar 2021 in Vollzeit tätig war. Vom 20. März bis 31. Dezember 2020 war er arbeitsunfähig erkrankt. Kurz nach seiner Arbeitsunfähigkeit hatte die Arbeitgeberin mit ihm und anderen Mitarbeitern wegen der Corona-Pandemie Kurzarbeit „Null“ vereinbart. Damit war er bis Ende 2020 gänzlich von der Arbeitspflicht befreit.

Bei der Berechnung seines Urlaubsanspruchs für das Jahr 2020 verlangte der Kläger, dass die Zeiten seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit mit berücksichtigt werden. Danach hätten ihm noch 15 Urlaubstage zugestanden. Da das Arbeitsverhältnis beendet wurde, verlangte er eine Urlaubsabgeltung in Höhe von insgesamt 1.409 Euro.

Nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung

Das BAG urteilte, dass der Urlaubsanspruch nur für Zeiten gelte, in denen eine Arbeitspflicht bestanden hat. Diese bestehe jedoch nicht für ausgefallene Arbeitstage während einer Kurzarbeit.

Könne ein Arbeitnehmer wegen einer Erkrankung seiner Arbeitspflicht nicht nachkommen, bleibe der Urlaubsanspruch zwar erhalten. Während einer Kurzarbeit „Null“ schulde der Kläger aber vertraglich keine Tätigkeit, so das BAG.

Zwar sei hier die Erkrankung vor der Kurzarbeit eingetreten. Es wäre aber eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, wenn dem Kläger der volle Urlaubsanspruch in der Kurzarbeit gewährt werde, seinen nicht erkrankten Kolleginnen und Kollegen aber nicht.

Az.: 9 AZR 364/22



Bundesgerichtshof

Urteil wegen Mordes gegen falsche Ärztin aufgehoben



Karlsruhe (epd). Die unter anderem wegen dreifachen Mordes sowie versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte falsche Anästhesistin Meike S. kann auf eine geringere Haftstrafe hoffen. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hob am 20. Februar das Urteil gegen die heute 53-jährige Frau wegen „sachlich-rechtlicher Fehler“ teilweise auf und verwies das Verfahren an eine andere Strafkammer des Landgerichtes Kassel zurück.

Nie Medizin studiert

Nach den Feststellungen des Landgerichts war Meike S. ab Ende 2015 bis 2018 im Hospital zum Heiligen Geist im nordhessischen Fritzlar als Anästhesistin tätig. Was zunächst nicht auffiel: Sie hatte nie Medizin, sondern Biochemie studiert. Ihre Approbationsurkunde hatte sie gefälscht. Als Assistenzärztin in der Anästhesie legte sie vor Operationen eigenverantwortlich bei Patienten Betäubungen. Doch bei ihrer Arbeit passierten zahlreiche Fehler, so dass Patienten starben, etwa infolge einer falschen Dosierung von Medikamenten.

Das Landgericht Kassel verurteilte Meike S. deshalb unter anderem wegen Mordes in drei Fällen sowie wegen versuchten Mordes in zehn Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Verabreichen von Betäubungsmitteln zu einer lebenslangen Haftstrafe. Zudem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt, so dass nach 15 Jahren eine vorzeitige Entlassung erschwert ist. Die Kasseler Richter gingen bei der Verurteilung von einem bedingten Tötungsvorsatz aus.

Persönlichkeitsstruktur der Angeklagten

Doch das Urteil wegen Mordes und versuchten Mordes weist „sachlich-rechtliche Fehler“ auf, entschied nun der BGH. Das Landgericht habe nicht in jedem Einzelfall geprüft, ob Meike S. tatsächlich den Tod der Patienten vorsätzlich in Kauf genommen hat, hieß es zur Begründung. Auch sei die Persönlichkeitsstruktur der Angeklagten nicht ausreichend berücksichtigt worden. Inwieweit etwa Eigensucht oder Narzissmus die Taten bestimmten, müsse ebenfalls geprüft werden, so der BGH.

Eine andere Strafkammer des Landgerichts müsse daher nun umfassende und widerspruchsfreie Feststellungen treffen. Wird dann auch nur in einem Fall ein Mord an einem Patienten belegt, kommt eine lebenslange Haftstrafe in Betracht. Andernfalls lediglich eine Verurteilung wegen Totschlags oder gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge.

Az.: 2 StR 468/22



Landessozialgericht

8.000 Euro teure Taxifahrten zum Psychiater sind zu viel



Stuttgart (epd). Erheblich gehbehinderte psychisch kranke Patienten können die Fahrkosten zur Behandlung bei ihrem Psychiater nicht immer von ihrer Krankenkasse erstattet bekommen. Hat der Psychiater seinen Praxissitz mehrere Hundert Kilometer entfernt, muss die Krankenkasse angefallene Taxifahrkosten in Höhe von 8.000 Euro nicht bezahlen, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 9. Februar veröffentlichten Urteil. Eine Kostenübernahme komme nur „aus zwingenden medizinischen Gründen“ in Betracht.

Mehr als 50 Kilometer zur Arztpraxis

Dem schwerbehinderten Kläger wurden die Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „H“ (hilflos) zuerkannt. Wegen einer bipolaren affektiven Psychose mit latenter Suizidgefahr befindet er sich seit 20 Jahren in ambulanter Behandlung bei einem Psychiater.

Als er in den Raum Freiburg umzog, war der Praxissitz seines bisherigen Psychiaters nun mehrere Hundert Kilometer entfernt. Die angefallenen Taxikosten übernahm zunächst die Krankenkasse.

Als dann der Kläger für vier ambulante Behandlungen in den Monaten Mai und Juni 2021 Taxikosten in Höhe von 8.000 Euro erstattet haben wollte, lehnte dies die Krankenkasse ab. Es könnten nur Fahrten innerhalb eines Umkreises von 50 Kilometer übernommen werden. Hier wollte die Krankenkasse lediglich 485,60 Euro erstatten.

Besonderes Vertrauensverhältnis zum Arzt

Der Kläger verwies darauf, dass er ein besonderes Vertrauensverhältnis zu seinem bisherigen Psychiater aufgebaut habe. Bei einem Arztwechsel drohe eine „psychische Grenzsituation“ mit Suizidgefahr.

Das LSG wies die Klage auf Kostenerstattung ab. Die Krankenkasse übernehme in besonderen Ausnahmefällen auch Fahrten zu ambulanten Behandlungen. Wähle der Versicherte statt eines wohnortnahen Arztes einen mehrere Hundert Kilometer entfernten Arzt, ohne dass dafür ein zwingender medizinischer Grund vorliege, müsse er aber die Mehrkosten selbst tragen. Allein ein besonderes Vertrauensverhältnis zum Arzt reiche für die Übernahme der Fahrkosten nicht aus. Im Raum Freiburg gebe es auch keinen Mangel an Psychiatern. Sollte es wegen des Arztwechsels zu einer „psychischen Dekompensation mit Suizidgefahr“ kommen, könne sich der Kläger immer noch stationär behandeln lassen.

Az.: L 11 KR 1481/23



Landessozialgericht

Im Ausland kein Recht auf Grundsicherung



Celle (epd). Bezieher einer staatlichen Grundsicherung müssen im Zweifel den Behörden ihren Aufenthaltsort nachweisen können. Die Beweislast liege bei ihnen und nicht beim Jobcenter, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen im Falle eines nigerianischen Paares, das in Bremen gemeldet war, wie ein Sprecher des Gerichts am 19. Februar in Celle mitteilte.

Das Paar hatte den Angaben zufolge seit 2014 vom Jobcenter Grundsicherungsleistungen bezogen. Die Bundespolizei habe es dann 2018 bei der Einreise am Flughafen Bremen kontrolliert, wobei die Stempel in den Pässen auf einen mehrjährigen Auslandsaufenthalt schließen ließen. Das Jobcenter habe daraufhin die Leistungen eingestellt und eine Erstattung gefordert. Der Mann und die Frau hätten sich ohne Zustimmung außerhalb des Bereichs aufgehalten, von dem aus sie für eine Eingliederung in Arbeit zur Verfügung gestanden hätten.

Gegenbeweis vom Jobcenter verlangt

Das Paar klagte laut Gericht dagegen. Es benannte Zeugen für einen Aufenthalt in Deutschland und verlangte einen Gegenbeweis vom Jobcenter - ohne Erfolg. Insgesamt müsse das Paar rund 33.000 Euro zurückzahlen, teilte das Gericht mit. Laut Beweisaufnahme gebe es für einen Aufenthalt in Deutschland keine belastbaren Nachweise. Die vom Jobcenter finanzierte Wohnung in Bremen sei nicht bewohnt worden und es sei zu zahlreichen Meldeversäumnissen gekommen.

Der Mann besitze einen Mitarbeiterausweis einer nigerianischen Transportfirma sowie eine Steuerkarte; seinen Reisepass habe er nachträglich manipuliert, hieß es weiter. Die Frau habe eine Zulassung als Rechtsanwältin in Nigeria. Ein Aufenthalt in Deutschland sei auch insoweit nicht glaubhaft, weil alle Kinder in Nigeria zur Schule gingen.

Az.: L 13 AS 395/21



Arbeitsgericht

Kündigung von Schwerbehinderten in der Wartezeit erschwert



Köln (epd). Arbeitgeber dürfen Menschen mit Schwerbehinderung während der Wartezeit nicht so einfach kündigen. Dazu muss das Unternehmen frühzeitig etwa die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt einschalten. Ohne dieses sogenannte Präventionsverfahren kann die Kündigung in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses diskriminierend und unwirksam sein, wie das Arbeitsgericht Köln am 20. Februar erklärte. Die sogenannte Wartezeit ist gesetzlich festgelegt und beträgt sechs Monate.

Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis

Im entschiedenen Fall geht es um einen Kläger mit einem Grad der Behinderung von 80. Bei der beklagten Kommune war er seit dem 1. Januar 2023 als Beschäftigter im Bauhof an unterschiedlichen Stationen tätig gewesen. Nachdem er Ende Mai arbeitsunfähig gewesen sei, habe die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis am 22. Juni zum 31. Juli 2023 gekündigt.

Arbeitgeber müssen dem Arbeitsgericht Köln zufolge jedoch möglichst frühzeitig als Präventionsmaßnahme die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt einschalten, „wenn Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, eintreten“. Das habe die Kommune nicht getan.

Arbeitnehmer unkonzentriert

Die Arbeitsgerichts erklärte, dass der Kläger etwa in den vorherigen Beschäftigungsstationen weiter hätte eingewöhnt werden können, bei denen es nicht zu „erheblichen Problemen in der Einarbeitungsphase“ gekommen sei, etwa in der Sportplatzpflege, die er weitestgehend zur Zufriedenheit ausgeführt habe.

Weiter hieß es, auch die über alle Stationen angeführte Unkonzentriertheit des Klägers hätte möglicherweise durch eine engere Anleitung oder eine Arbeitsassistenz ausgeglichen werden können. Dass der Kläger einen Führerschein und einen Motorsägenschein habe, zeige, dass er zu Konzentrationsleistungen fähig sei.

Az.: 18 Ca 3954/23



Arbeitsgericht

Stellensuche nach "Digital Native" ist altersdiskriminierend



Heilbronn (epd). Bei einer Stellensuche nach einem „Digital Native“ können abgelehnte ältere Bewerber vom Arbeitgeber eine Diskriminierungsentschädigung verlangen. Denn mit dem Begriff liege ein Indiz für eine Altersdiskriminierung vor, da damit nur jüngere Bewerberinnen und Bewerber, nicht aber ältere Stellensuchende angesprochen werden, entschied das Arbeitsgericht Heilbronn in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 18. Januar.

Konkret ging es um die Stellenanzeige eines Sportartikelhandelsunternehmens. Dieses hatte in einer Stellenanzeige einen „Manager Corporate Communication (m/w/d) Unternehmensstrategie in Vollzeit“ gesucht. Weiter hieß es, dass die Bewerber sich als „Digital Natives“ unter anderem in der Welt der Social Media und den digitalen Medien zu Hause fühlen sollen.

Ausschluss von Bewerbern

Als der 1972 geborene Kläger, ein ausgebildeter Diplomwirtschaftsjurist, nach seiner Bewerbung eine Absage erhielt, fühlte er sich wegen seines Alters diskriminiert. Mit der Suche nach einem „Digital Native“ sei die Generation der 80er Jahre gemeint, meinte er. Ältere Bewerber, die mit digitalen Medien vertraut sind - sogenannte Digital Immigrants - würden ausgeschlossen. Der Kläger verlangte wegen erlittener Altersdiskriminierung eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 37.500 Euro.

Das Arbeitsgericht sprach dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von angemessenen 1,5 Monatsgehältern, insgesamt 7.500 Euro zu. Ob Formulierungen in einer Stellenanzeige ein Indiz für eine Altersdiskriminierung darstellen, hänge davon ab, was verständige und redliche potenzielle Bewerberinnen und Bewerber darunter verstehen. Hier ziele der Begriff „Digital Natives“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auf eine bestimmte jüngere Generation ab, während andere Generationen als „Digital Immigrants“ bezeichnet würden. Der ältere Kläger sei in der Stellenanzeige damit nicht angesprochen worden, sodass von einer Altersdiskriminierung auszugehen sei.

Az.: 8 Ca 191/23




sozial-Köpfe

Kirchen

Christine Meyer wird Vorstandsmitglied der Rummelsberger Diakonie




Christine Meyer
epd-bild/Andreas Riedel
Bei der Rummelsberger Diakonie gibt es einen Wechsel im Vorstand: Auf Diakonin Elisabeth Peterhoff folgt Diakonin Christine Meyer. Sie tritt Ihr Amt am 1. Juni an.

Schwarzenbruck (epd). Diakonin Christine Meyer wird Älteste der Diakoninnengemeinschaft Rummelsberg und Mitglied des Vorstandes der Rummelsberger Diakonie. Sie folgt auf die Ende Januar verabschiedete Diakonin Elisabeth Peterhoff als Älteste der Diakoninnengemeinschaft. Dieses Leitungsamt ist satzungsgemäß mit der Mitgliedschaft im Vorstand der Rummelsberger Diakonie verbunden.

Gewählt wurde sie von den Mitgliedern der Diakoninnengemeinschaft. Meyer sagte: „Ich freue mich und habe Respekt davor, die Diakoninnengemeinschaft zu leiten und gleichzeitig als Vorständin für ein diakonisches Unternehmen mit über 6.000 Mitarbeitenden Verantwortung zu übernehmen.“

Zurzeit verantwortet die 54-jährige Pflegefachfrau, Sozialwirtin und ausgebildete Pflegedienstleitung innerhalb der Rummelsberger Dienste für Menschen im Alter als Leiterin alle ambulanten Angebote in Bayern.

Die Rummelsberger Diakonie ist einer der großen diakonischen Träger in Deutschland. Sie betreibt mehr als 300 Dienste und Einrichtungen für Kinder, Jugendliche, Familien, Menschen mit Behinderung und Senioren und beschäftigt mehr als 6.200 Personen in Voll- und Teilzeit. Darüber hinaus bietet sie mehr als 1.200 Ausbildungsplätze in sozialen, pflegerischen und diakonischen Berufen. Mehr als 12.000 Menschen nehmen täglich Dienstleistungen in Anspruch. Der Jahresumsatz beträgt rund 330 Millionen Euro.



Weitere Personalien



Michael H. F. Brock (62), Prälat, verlässt aus gesundheitlichen Gründen den Vorstand der Stiftung Liebenau in Meckenbeuren-Liebenau. Brock, der seit 2011 dem Vorstand angehört, wird zum 30. April das Amt niederlegen. Brock habe die die erfolgreiche Entwicklung der Stiftung Liebenau maßgeblich mitgeprägt, hieß es. Nach einem Theologiestudium und der Priesterweihe hatte der gebürtige Biberacher unter anderem als Stuttgarter Stadtdekan (2001-2011) gewirkt, bevor er in den Vorstand der Stiftung Liebenau berufen wurde. Bis auf Weiteres werden Bertold Broll und Markus Nachbaur die Stiftung Liebenau führen.

Gregor Heidbrink (44) wird neuer theologischer Vorstand des Diakonischen Werks Innere Mission Leipzig. Der Apoldaer Superintendent folgt auf den bisherigen Missionsdirektor Christian Kreusel, der nach 23 Jahren Ende April in den Ruhestand geht. Heidbrink bringe umfangreiche Leitungserfahrung im kirchlichen Dienst mit. Heidbrink studierte Pädagogik, Soziologie und Psychologie in Magdeburg und wechselte dann zu Theologie unter anderem in Greifswald und Halle. Nach einem intensiven Findungsprozess habe die Diakonie Leipzig nicht nur einen fachlich ausgewiesenen, sondern auch einen in Sachen Diakonie erfahrenen theologischen Vorstand gewonnen, erklärte der Verwaltungsrat. Bei der Diakonie Leipzig sind 1.800 Menschen beschäftigt. Der Verein wird gemeinsam vom Missionsdirektor als theologischem Vorstand und dem Kaufmännischen Vorstand Sebastian Steeck geleitet.

Martina Frohmader hat die Leitung der Fachstelle für Umgang mit sexualisierter Gewalt in der bayerischen evangelischen Landeskirche (ELKB) übernommen. Mit einem 14-köpfigen Team in der Fachstelle soll die Sozialpädagogin Standards für Prävention, Intervention und Aufarbeitung entwickeln und umsetzen. Zur Fachstelle gehören die Ansprechstelle für Betroffene, in der vertrauliche Gespräche geführt werden und die Meldestelle für alle Anfragen bei einem Verdacht und Mitteilungen von sexuellen Übergriffen aus dem Bereich der Landeskirche. Bei der zugehörigen Anerkennungskommission können Betroffene eine finanzielle Leistung beantragen. Das Team unterstützt Kirchengemeinden, Dekanate und kirchliche Einrichtungen bei der Schulung von Mitarbeitenden und der Erstellung von Schutzkonzepten.

Steven Warmann hat die Professur für Kinderchirurgie der Charité - Universitätsmedizin Berlin übernommen. Damit verbunden ist die Direktion der gleichnamigen Klinik am Campus Virchow-Klinikum. Zudem leitet der Professor seit dem 15. Februar die Klinik für Kinderchirurgie, Neugeborenenchirurgie und Kinderurologie der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH. Diese gemeinsame Klinikleitung sei die erste ihrer Art zwischen den beiden landeseigenen Krankenhausunternehmen, hieß es. Damit werde die bewährte Kooperation vertieft und eine umfassende kinderchirurgische Versorgung in den beiden Einrichtungen sichergestellt. Warmann war zuletzt Oberarzt der Abteilung für Kinderchirurgie und Kinderurologie am Universitätsklinikum Tübingen. Er folgt auf Professorin Karin Rothe, die an der Charité die Professur für Kinderchirurgie sowie die Klinikdirektion seit 2009 innehatte und in den Ruhestand ging. Bei Vivantes folgt Warmann auf Professor Bernd Tillig, der im vergangenen Jahr in den Ruhestand ging.

Mirjam Kottmann ist die erste Moderatorin im deutschen Fernsehen, die im Rollstuhl regelmäßig eine Nachrichtensendung präsentiert. Aufgrund einer Multiple Sklerose-Erkrankung ist sie seit zwölf Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Die 49-Jährige erweitert seit 12. Februar das BR24-Nachrichten-Team für die Ausgaben um 16 Uhr und um 18.30 Uhr. Ihre Karriere im Bayerischen Rundfunk begann die gebürtige Münchnerin im Jahr 1997 bei der Rundschau, dem Vorläufer-Format von BR24. Kottmann ist Autorin zahlreicher Magazinbeiträge und TV-Reportagen und hat ein Jahr lang die Radio-Sendung „Leben mit Behinderung“ geplant und moderiert.

Andreas Braselmann, Vorstandsmitglied im DBfK Nordwest, ist tot. Er starb am 16. Februar im Alter von 52 Jahren. Er war 30 Jahre lang als Krankenpfleger tätig. Im DBfK Nordwest war Braselmann seit 13 Jahren aktiv, davon viele Jahre mit Delegierten-Mandat und die letzten fünf Jahre als Mitglied des Vorstands. Darüber hinaus war er an der Gründung und Etablierung der Pflegekammer NRW beteiligt und war Mitglied der DBfK-Fraktion in der Kammerversammlung. Ein weiteres ehrenamtliches Mandat füllte er als stellvertretender Vorsitzender der Fachgesellschaft Profession Pflege aus.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Februar

29.2.:

Online-Seminar „Immobilienwirtschaft - Grundlagen für Akteure in Kirche und Diakonie“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 03361/710943

März

1.3.:

Online-Seminar „Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für soziale Organisationen - Praxistipps klassische und digitale Kommunikation“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828211

5.-6.3.:

Online-Seminar „Haftungsrecht und Gemeinnützigkeit“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

5.-6.3. Berlin:

Kongress „Armut und Gesundheit“

des Vereins Gesundheit Berlin-Brandenburg e. V.

Tel.: 030/44319073

6.-7.3.:

Online-Fortbildung „Der Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (SGB XII)“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980 606

6.-20.3.:

Online-Kurs „Bildung für alle?! Die Betroffenen-Perspektive und das Netzwerk im Sozialraum stärken“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

11.-13.3. Freiburg:

Seminar „Menschenwürde und Scham - Die Bedeutung von Würde, Scham und Scham-Abwehr für die psychosoziale Beratung“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

12.-14.3. Berlin:

Fortbildung „Beteiligungsorientierte und diskriminierungssensible Arbeit im Quartier“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

14.3. Köln:

Seminar „Steuern und Energieerzeugung (Blockheizkraftwerk, Photovoltaikanlagen)“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-375

14.-15.3.:

Online-Veranstaltung „Wohnraum für alle - Ansätze und Möglichkeiten Wohnraum für am Wohnungsmarkt benachteiligte Zielgruppen“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

14.-15.3. Berlin:

Tagung „Ohne Papiere, aber nicht ohne Rechte! - Aufenthaltsrechtliche Illegalität in Zeiten restriktiver Migrationspolitiken“

der Katholischen Akademie Berlin

Tel.: 030/283095-148

19.3. Freiburg:

Seminar „Neues vom Bundesarbeitsgericht“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-411

19.3.:

Online-Fortbildung „Ihre Pflichten im Rahmen des § 2b Umsatzsteuergesetz - Vertiefungsmodul Spendenwesen“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/2883106

21.-22.3.:

Online-Seminar „Einwanderung und Flucht: Wege in die Berufsausbildung“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980325