sozial-Politik

Analphabetismus

Immer ist da die Angst vor Spott




Ein Analphabet lernt lesen und schreiben.
epd-bild/Andrea Enderlein
Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Sie lassen sich alle möglichen Tricks einfallen, um nicht aufzufallen. Bundesweit werden Kurse angeboten - selbst in Betrieben -, damit sie Versäumtes nachholen können.

Frankfurt a. M. (epd). Jessica Tepass konnte weder lesen noch schreiben. Dafür schämte sie sich, deshalb sollten es andere nicht merken. „Selbst mein Lebensgefährte ahnte fast zwölf Jahre nichts“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Über das „Alphanetz NRW“ kam die 37-Jährige an einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule (VHS): „Seit eineinhalb Jahren kann ich lesen und schreiben.“ Heute setzt sich Tepass für gering literarisierte Menschen ein, also für Menschen mit ausgeprägten Lese- und Schreibschwierigkeiten.

Sie geht weiterhin zum Alphabetisierungskurs der VHS in Wesel, um Erwachsenen Mut zu machen, die neu ins Lesen und Schreiben lernen einsteigen. Weiß sie doch, wie schwierig es ist, Analphabetismus zu überwinden. Vor fünf Jahren hatte Jessica Tepass erstmals an einem Kurs des 2014 gegründeten „Alphanetz“ teilgenommen. „Das Arbeitsamt schlug mir das vor.“ Sie ging in den Kurs, kam aber mit dem Lehrer nicht klar und brach wieder ab.

Sie musste sich nicht mehr verstellen

Vor drei Jahren nahm sie bei der VHS-Dozentin Sandra Wevers einen neuen Anlauf. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Tepass lernte, Silben zu lesen. Dann kurze Worte, schließlich ganze Sätze, längere Absätze und am Ende des Kurses umfangreiche Texte. Endlich musste sie sich nicht mehr verstellen. Wenn es darum ging, etwas zu lesen, musste sie nicht mehr flunkern: „Sorry, aber ich habe gerade wahnsinnige Kopfschmerzen.“ Mit solchen kleinen Lügen hatte sie versucht, eine Ausbildung als Hauswirtschafterin zu absolvieren. Vergeblich.

Das „Alphanetz NRW“ ist Teil der sogenannten AlphaDekade der Bundesregierung. Sie startete 2016 und endet 2026. Dabei wird in etlichen Projekten bundesweit versucht, gering literarisierte Menschen zu bilden. Das „Alphanetz“ erreichte mit mehr als 150 Veranstaltungen rund 2.600 Menschen.

Nach einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 sind rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene im Alter zwischen 18 und 64 Jahren gering literalisiert, haben also Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Das sind 12,1 Prozent der entsprechenden Gesamtbevölkerung.

In der Nähe von Hamburg engagiert sich die Schleswig-Holsteinerin Martina Rubbel für gering literarisierte Menschen. „Ich selbst habe Legasthenie“, berichtet die 63-Jährige. Diese Störung habe ihr ganzes Berufsleben als Altenpflegerin überschattet: „Ich musste mich ständig gegen Mobbing und Diskriminierung wehren“, sagte sie dem epd. Musste sie etwas in Akten eintragen, habe sie Panikattacken bekommen, erzählt Rubbel.

„Meine Kolleginnen lachten sich kaputt“

„Meine Kolleginnen lachten sich kaputt oder fragten, ob ich mein Examen beim Otto-Versand bekommen hätte“, berichtet die Rentnerin rückblickend. Das habe sie seelisch geschädigt. Erst nach einer Traumatherapie sei es ihr besser gegangen.

Seit Herbst engagiert sich Martina Rubbel als Lernbotschafterin in der Initiative „ALFA-Mobil“. Sie ist Teil des Projekts „INA-Pflege PLUS“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Hier geht es gezielt um die Alphabetisierung in der Altenpflegeausbildung.

Laut Regina Ryssel, Projektleiterin von INA-Pflege PLUS, können bundesweit Hunderttausende Arbeitnehmer selbst kürzeste Arbeitsanweisungen nicht lesen. Gerade in der Pflegehelferausbildung sei das Problem immens.

„Lehrkräfte in der Pflegehilfe wiederum erwarten in der Regel nicht, auf solche Auszubildenden zu stoßen“, sagt die gelernte Krankenschwester und promovierte Sprachwissenschaftlerin. Durch „INA-Pflege PLUS“ erhalten Dozentinnen und Dozenten an Pflegeschulen Unterstützung beim Umgang mit gering literarisierten Azubis. Über 500 Interessierte aus der Pflegebildung nahmen nach den Angaben inzwischen an den Workshops des Projekts teil.

Digitalisierung löst Ängste aus

Ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenz ist der Job in Gefahr, berichtet Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Denn immer mehr Arbeitsplätze würden digitalisiert. Auch das arbeitgebernahe Institut ist an der AlphaDekade der Bundesregierung beteiligt. „AlphaGrund“ nennt sich das 2016 gestartete Projekt zur arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung in Betrieben. Dabei entwickeln Bildungswerke des IW auf unterschiedliche Branchen bezogene Schulungsmaterialien. „In der Lebensmittelindustrie zum Beispiel müssen ganz bestimmte Auflagen und lebensmittelrechtliche Vorschriften verstanden werden“, erläutert Plünnecke dem epd.

Der immer stärkere Einzug digitaler Endgeräte am Arbeitsplatz löse bei gering Literarisierten große Ängste aus: „Selbst in der Reinigungsbranche oder in der Logistik wird über Eingabemasken gearbeitet.“ Mit den Weiterbildungen des IW seien in den vergangenen acht Jahren 2.000 Beschäftigte erreicht worden. „AlphaGrund“ ist in den Arbeitsalltag integriert. Das Projekt findet zum Beispiel nach der Frühschicht oder vor der Spätschicht statt. Umgesetzt wird die Maßnahme derzeit in Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Thüringen und Sachsen.

Kurse zwischen Betriebsschichten

Ein ähnliches Programm wie das IW bietet die „Technische Akademie für berufliche Bildung“ in Schwäbisch Gmünd an. „Wir organisierten inzwischen in über 150 Betrieben Deutschkurse“, berichtet Geschäftsführer Michael Nanz. „Der Anteil zugewanderter Menschen ist bei uns hoch.“ Da gebe es zum Beispiel Türken, die seit über 20 Jahren in Baden-Württemberg arbeiteten: „Deutsch als Schriftsprache zu beherrschen, haben sie aber nie gelernt“, sagt Nanz.

Auch die Technische Akademie organisiert ihre Kurse nach, vor oder zwischen den Schichten. Nanz: „Die Beschäftigten müssen Geld verdienen, die gehen nicht abends um acht in den Volkshochschulkurs.“ Die auf die jeweilige Branche zugeschnittenen Kursinhalte bilden die zunehmend komplexeren Anforderungen am Arbeitsplatz ab. Als Beispiel nennt Nanz Jobs auf dem Autoverwertungshof: „Weil Autos heute mit Airbag ausgestattet sind, brauchen die für das Recycling zuständigen Mitarbeiter einen sogenannten Hochvoltschein.“ Dafür müssen sie an einer Hochvolt-Schulung für Kfz teilnehmen. Das gehe nur mit Lesekompetenz.

Auch das Projekt „Neustart St. Pauli 360°“ der „KOM gemeinnützige Gesellschaft für berufliche Kompetenzentwicklung mbH“ in Hamburg gehört zu den von der Bundesregierung im Rahmen der AlphaDekade geförderten Initiativen. Laut Projektkoordinator Marcel Marius Redder wird das KOM-Beratungsangebot aus ganz unterschiedlichen Gründen wahrgenommen. Neulich sei ein über 80-jähriger Mann in die Beratungsstelle gekommen, damit er mithilfe von „KOM“ seinen Nachlass selbst schreiben kann.

Pat Christ