sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Zahl der Totgeburten in Deutschland ist erschreckend hoch. Sie steigt seit vielen Jahren - im Corona-Jahr 2021 ging sie sogar sprunghaft in die Höhe. Der frühere Hamburger Chefarzt Wolf Lütje sieht die zunehmende Zahl an künstlichen Befruchtungen wie auch an Kaiserschnitten als Risikofaktoren. Die Forscher Christof Kuhbandner und Matthias Reitzner halten es nach ihren Untersuchungen für geboten, mögliche Zusammenhänge zwischen Totgeburten sowie Corona-Impfungen und -Infektionen näher zu untersuchen. Dies zu unterlassen, wäre für Reitzner ein „politischer Skandal“.

Mit Ende 50 die Diagnose „Demenz“ zu erhalten, ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein Schock. Andrea aus Berlin sagt, die Demenz ihres 57-jährigen Mannes bedeute, einen geliebten Menschen zu verlieren, obwohl er leiblich noch da sei. Die Herausforderungen sind riesig. Nach Schätzungen sind in Deutschland mehr als 100.000 Menschen unter 65 Jahren dement.

Krankenhäuser werben mit neuen Angeboten um Pflegekräfte. So gibt die Uniklinik Würzburg Krankenpflegerinnen die verbindliche Zusage, sie bei akuten Personalengpässen nicht aus der Freizeit zu holen. Im Gegenzug müssen diese an anderer Stelle zu mehr Flexibilität bereit sein. Erste Häuser offerieren Vollzeit-Pflegekräften die Vier-Tage-Woche. Im Landkreis Sangerhausen können die Beschäftigten des Deutschen Roten Kreuzes ihre Wochenarbeitszeit um vier Stunden reduzieren - ihr Gehalt bleibt dabei das Gleiche.

Rettungssanitäter können sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach traumatischen Erlebnissen bei Rettungseinsätzen als „Wie-Berufskrankheit“ anerkennen lassen. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel urteilte, ist nach Studien mittlerweile gesichert, dass erlittene Traumata zu der psychischen Störung einer PTBS führen können. Für die Anerkennung als Wie-Berufskrankheit müsse allerdings klar sein, dass die PTBS tatsächlich auf beruflichen Einwirkungen und nicht etwa auf privaten Erlebnissen beruht.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Gesundheit

Forscher rätseln über Ursachen für mehr Totgeburten




Urnen für Totgeburten
epd-bild/Julia Riese
Es sind erschreckende Zahlen, hinter denen viel Leid steckt: Seit 2007 steigt die Zahl der Totgeburten in Deutschland stetig an. Im Jahr 2021, dem zweiten Corona-Jahr, war der Anstieg besonders stark. Experten sind um Erklärungen bemüht.

Frankfurt a. M. (epd). Im Jahr 2007 wurden in Deutschland 3,5 Kinder je 1.000 Geburten tot geboren. 2021 waren es 4,3 Totgeburten je 1.000. Bis ins Jahr 2020 zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamts einen leichten Anstieg. 2021 kam es hingegen zu einem Sprung im Vergleich zu den beiden Vorjahren. Als „Totgeburt“ gilt ein Kind, wenn es bei der Entbindung mindestens 500 Gramm wog oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht war.

Im Jahr 2021 wurden in Deutschland pro Woche im Schnitt vier Kinder mehr als im Jahr 2019 tot geboren. 3.420 Kinder kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2021 tot zur Welt. Das war im Vergleich zu 2019, als 3.180 Kinder tot zur Welt kamen, eine Zunahme von 7,5 Prozent.

Mehr künstliche Befruchtungen

Welche Ursachen hat der besorgniserregende Anstieg der Todeszahlen? Antworten sind schwer zu finden. Nicht einmal der Berufsverband der Frauenärzte kann Erklärungsansätze beisteuern: „Uns stehen keine anderen Daten zur Verfügung als die Erhebungen durch das Statistische Bundesamt“, sagte die Pressereferentin Anna Eichner dem Evangelischen Pressedienst (epd). Erhellender ist eine Nachfrage bei der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG). DGPFG-Präsident Wolf Lütje nennt „mögliche Ursachen“.

Ein Grund könne die zunehmende Anzahl an künstlichen Befruchtungen sein, sagt der ehemalige Chefarzt der Frauenklinik am Evangelischen Amalie Sieveking Krankenhaus in Hamburg. Außerdem habe es während der Corona-Krise, die in Deutschland im März 2020 begann, mehr Kaiserschnitte gegeben. Diese vergrößern laut dem Gynäkologen das Risiko einer Totgeburt. Lütje verweist zudem auf die 2022 von der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin veröffentlichte Cronos-Registerstudie zu Covid-19 in der Schwangerschaft: Danach war die Rate an Totgeburten von Frauen, die mit dem Coronavirus infiziert waren, erhöht.

Kritisch sieht es der Frauenarzt und Psychotherapeut, dass es viele Schwangere verlernt hätten, in sich hineinzuhören und die Bewegungen ihres Kindes wahrzunehmen. Wer kein Gespür für das Kind im Leib habe, bekomme Auffälligkeiten oft zu spät mit und suche dann spät Hilfe auf. Das könne für das ungeborene Kind im schlimmsten Fall tödlich enden.

Beunruhigende Risikosignale

Beunruhigende Risikosignale entdeckten Christof Kuhbandner, Psychologie-Professor in Regensburg, und Matthias Reitzner, Mathematik-Professor in Osnabrück. Sie setzen bei ihren Analysen - anders als das Statistische Bundesamt - die Zahl der Totgeburten eines Quartals ins Verhältnis zu den Geburten des nächsten Quartals. Mit dieser Methode entdeckten sie einen extremen Anstieg der Totgeburten im vierten Quartal 2021 um 19,4 Prozent. Auch 2022, heißt es in ihrer Studie, bleibe die Totgeburtenrate „ungewöhnlich hoch“. Veröffentlicht wurde die Studie der beiden Forscher im Mai in der medizinischen Fachzeitschrift „Cureus“.

Kuhbandner und Reitzner halten es für geboten, mögliche Zusammenhänge zwischen Totgeburten sowie Corona-Impfungen und -Infektionen näher zu untersuchen. Dies zu unterlassen, wäre für Reitzner ein „politischer Skandal“.

Bemerkenswert findet Lütje, dass es Anfang 2022 zu einem deutlichen Geburtenrückgang gekommen ist - ziemlich genau neun Monate nach Start der Corona-Impfkampagne. Auch das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung spricht von einem „Absturz“ der Geburtenziffer. Frauen hätten beim Start der Impfkampagne im Frühjahr 2021 ihren Kinderwunsch zunächst zurückgestellt, erklärt das Institut. Forschungsdirektor Martin Bujard findet es „plausibel, dass sich manche Frauen erst impfen lassen wollten, bevor sie schwanger werden“. Auch im ersten Quartal 2023 blieb die Geburtenzahl im Vergleich zum Vorjahresquartal auf niedrigem Niveau, allerdings schwächte sich der Rückgang ab.

Nach Angaben des Heidelberger Allgemeinmediziners Gunter Frank brach die Geburtenrate in der ersten Hälfte des Jahres 2022 in vielen europäischen Staaten ein. In 13 von 18 Ländern lasse sich ein deutlicher Bezug zur Impfhäufigkeit feststellen, „ein Bezug zu Covid-19-Infektionen dagegen in keinem Land“.

Pat Christ


Gesundheit

Dement mit Ende 50




Bewohnerin einer Demenzstation mit einer Puppe im Arm
epd-bild/Werner Krüper
Mitten im Leben und schon an Demenz erkrankt: In Deutschland sind mehr als 100.000 Menschen unter 65 dement. Partnerschaft, Kinder, Finanzen: Für sie und ihre Angehörigen sind die Herausforderungen riesig.

Berlin (epd). 57 Jahre alt ist Mario, als seine Desorientierung einer Demenz zugeschrieben wird. Begonnen hatte der Ausnahmezustand Monate vorher, erinnert sich seine Lebensgefährtin Andrea: „Er war plötzlich komisch. Hat sich über vieles schnell aufgeregt.“ Andrea und Mario wollen nicht in der breiten Öffentlichkeit mit ihrem vollen Namen bekannt sein, haben Sorge vor Stigmatisierung und falscher Anteilnahme.

„Jungbetroffene“ nennt die Medizin Demenzkranke, die noch einige Jahre bis zur Rente haben. „Tatsächlich kommen diese Fälle im Vergleich selten vor“, erklärt Oliver Peters, Professor an der Berliner Charité. Im Durchschnitt seien die Besucher seiner Gedächtnissprechstunde am Zentrum für Demenzprävention deutlich älter.

Gendefekt als Ursache für frühe Demenzerkrankung

„Symptome, die auf eine Demenz hindeuten, werden bei Menschen, die mitten im Leben stehen, zunächst als Anzeichen eines Burnouts oder einer Depression gewertet“, sagt er. So geht bis zur korrekten Diagnose manchmal wertvolle Zeit verloren.

Nicht nur Vergesslichkeit, auch Persönlichkeitsveränderungen gehören zum Krankheitsbild mancher Demenz-Erkrankungen. Sind Stresssituationen ein Grund für schlechte Laune, münden sie im Frühstadium immer öfter in Aggressionen. Psychologisch lässt sich gegen die neurologisch verursachten Probleme wenig tun.

Bei dem gelernten Gas-Wasserinstallateur Mario aus Berlin ist ein Gendefekt schuld an seiner frühen Demenzerkrankung. Mütterlicherseits kam Demenz mehrfach vor, sein Vater trägt den Gentyp in sich. Marios erwachsener Sohn hat noch nicht entschieden, ob und wann er testen lassen soll, ob auch er betroffen ist.

Mehr als 100.000 Menschen unter 65 Jahren sind nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft an Demenz erkrankt. „Für sie und ihre Familien gibt es viel zu wenig spezialisierte Unterstützungsangebote“, sagt Sprecherin Susanna Saxl-Reisen, „fast alle Versorgungsstrukturen sind auf Ältere ausgerichtet.“ Kinder beispielsweise trifft die Diagnose eines jung an Demenz erkrankten Elternteils oft in einer besonders sensiblen Phase ihrer Entwicklung.

Wertvoll sind Selbsthilfegruppen

Die Care-Arbeit bleibt überwiegend an der Familie hängen. Partnerinnen und Partner kümmern sich, zum Teil jahrelang und meist zu Hause. Privates und Beruf werden an die Anforderungen der Pflege angepasst, die Grenzen der eigenen Belastbarkeit verschoben. Auch Bürokratie und Rechtliches gilt es zu klären: Welche Versicherungsleistung steht uns zu? Was für Anträge müssen wir stellen? Wann ist eine Patientenverfügung sinnvoll? Hilfreich sind Selbsthilfegruppen für Frühbetroffene und deren Angehörige.

„Eigentlich bin ich ein empathischer Mensch“, sagt Andrea. „Und er ist mehrheitlich einsichtig. Aber innerlich bin ich schon manchmal explodiert.“ Eines Nachts fährt sie Mario im Auto zu einer Polizeistation, weil er dort einen hinterlegten Schlüssel vermutet. „Er hatte sich nicht abbringen lassen, also sind wir los.“ Vor Ort gewähren die Polizisten ihnen einen „Kontrollgang“ entlang des Geländezauns. Schließlich lässt Mario den Einwand gelten, der unauffindbare Schlüssel sei wohl mit dem Laub weggebracht worden. Sie fahren heim. „Heute kann ich darüber lachen“, sagt die 56-Jährige.

Partnerin erlebt Gefühlschaos

Und manchmal muss man erfinderisch sein: Im Urlaub hat sie im Bad für die Nacht eine Weihnachtslichterkette angebracht, damit es nicht so dunkel ist und Mario den Weg findet. Am Strand hat sie den Sonnenschirm auffällig geschmückt, damit er ihn erkennt. „Die Restaurantleiter haben wir gefragt, ob wir immer den gleichen Tisch für die Mahlzeiten bekommen könnten“, erzählt Andrea, „und sie haben jeden Tag ein Reserviert-Schild aufgestellt.“

Kredite abbezahlen, für das Alter sparen und die Kinder unterstützen - auch die finanziellen Verhältnisse müssen Erkrankte schnell klären. Statt immer wieder Krankengeld zu beziehen, hat Mario nicht lange gezögert und Erwerbsminderungsrente beantragt. Nur wer genau hinsieht und -hört, bemerkt die Wortfindungsschwierigkeiten, weiß, dass Mario kein Auto mehr fährt. „Für die korrekte Pflegestufe musste ich ein zweites Gutachten durchsetzen“, erzählt seine Frau.

Einen geliebten Menschen zu verlieren, obwohl er leiblich noch da ist - das Paradox verursacht ein Gefühlschaos. „Ich liebe ihn noch immer sehr“, sagt Andrea. Den krankheitsbedingten Verlust von Intimität habe sie akzeptiert. Mario sei aber immer noch Partner, nicht Patient. „Wir kuscheln umso mehr.“ Und, sagt, Andrea: „Solange es geht, wollen wir die Dinge gemeinsam erleben.“

Christa Roth


Arbeit

Mindestlohn soll zwei Mal um 41 Cent steigen




Der Mindestlohn soll zum 1. Januar 2024 auf 12,41 Euro steigen.
epd-bild/Heike Lyding
Der Mindestlohn von derzeit 12 Euro soll in zwei Stufen um je 41 Cent erhöht werden, auf 12,82 Euro ab 1. Januar 2025. Dieser Beschluss wurde in der zuständigen Kommission gegen die Stimmen der Arbeitnehmer gefasst. Minister Heil will ihn umsetzen.

Berlin (epd). Der Mindestlohn soll in den kommenden eineinhalb Jahren in zwei Schritten auf 12,82 Euro steigen. Das beschloss die Mindestlohnkommission mehrheitlich am 26. Juni in Berlin. Vorgesehen ist eine Anhebung von derzeit 12 Euro auf 12,41 Euro zum 1. Januar 2024. Ein Jahr später, zum 1. Januar 2025, ist noch einmal eine Anhebung um 41 Cent geplant.

Die Entscheidung wurde nach kontroversen Verhandlungen getroffen. Der Arbeitnehmerseite geht die Anhebung nicht weit genug, sie stimmte dagegen. Derweil kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an, die Empfehlung per Rechtsverordnung umsetzen zu wollen.

Positionen „sehr weit auseinander“

Die Vorsitzende der Kommission, Christiane Schönefeld, sagte, der Beschluss sei auf ihren Vermittlungsvorschlag zustande gekommen. Die Positionen hätten „sehr weit auseinander“ gelegen. In der Begründung des Beschlusses heißt es, die Tarifvertragsparteien hätten nun die Möglichkeit, die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns bei den Tarifverhandlungen zu berücksichtigen.

Im vergangenen Jahr hatte die Bundesregierung einmalig den Mindestlohn politisch festgelegt und damit ein Wahlversprechen umgesetzt. Die 12-Euro-Lohnuntergrenze gilt seit dem 1. Oktober, zuvor lag sie bei 10,45 Euro pro Stunde. Die Arbeitgeber hatten den Eingriff des Staates in die Lohngestaltung scharf kritisiert.

Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, äußerte nun sein Bedauern, dass zum ersten Mal in der Kommission ein Beschluss nicht im Konsens gefallen sei. „Wir waren kompromissbereit“, betonte er.

Für die Arbeitnehmerseite sagte Stefan Körzell, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), dieser „Anpassung lediglich im Cent-Bereich“ habe man auf keinen Fall zustimmen können. Damit würden die fast sechs Millionen Mindestlohnbeschäftigten einen enormen Reallohnverlust erleiden. „Das betrifft vor allem Frauen, und das betrifft vor allem Ostdeutschland.“ Nach Ansicht der Gewerkschaften hätte die Lohnuntergrenze mindestens auf 13,50 Euro angehoben werden müssen.

Für Unternehmen „tragfähig“

Die ständige Mindestlohnkommission war zuletzt 2020 am Zuge. Sie orientiert sich bei der Anpassung des Mindestlohns an der Tarifentwicklung und berücksichtigt die wirtschaftliche Lage. Ziel ist ein Mindestschutz der Arbeitnehmer, ohne Jobs zu gefährden. Laut Begründung soll die nun beschlossene zweistufige Erhöhung dazu dienen, die Lohnkostensteigerungen für die betroffenen Betriebe angesichts der in diesem Jahr erwarteten stagnierenden Wirtschaftswachstums „tragfähig zu halten und die Verdienste der Beschäftigten zu stabilisieren“.

Bundesarbeitsminister Heil äußerte sein Bedauern, dass die Entscheidung nicht im Konsens gefallen sei. Es sei dennoch richtig, den Beschluss des Gremiums umzusetzen, weil die Alternative dazu nur sei, dass es keine Anhebung des Mindestlohns gebe. Dies wäre angesichts der Inflationsentwicklung aber nicht verantwortbar.

Nach Heils Worten steht man damit zudem nicht am Ende des Kampfes um bessere Löhne. Er kündigte an, im Sommer einen Gesetzentwurf zur Tarifstärkung vorzulegen. So sollten künftig öffentliche Aufträge des Bundes nur an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlten, sagte er. Aktuell seien lediglich 52 Prozent der Beschäftigten in Deutschland unter dem Dach eines Tarifvertrags. Das sei zu wenig.

Einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es seit 2015. Bei seiner Einführung betrug er 8,50 Euro.

Mey Dudin


Arbeit

Interview

Katholische Arbeitnehmer: "12,41 Euro ermöglichen kein würdiges Leben"




Andreas Luttmer-Bensmann
epd-bild/KAB
Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB) hält den Beschluss, den gesetzlichen Mindestlohn zum Jahreswechsel von derzeit 12 Euro auf 12,41 Euro pro Stunde zu erhöhen, für völlig unzureichend. "Damit ist gesellschaftliche Teilhabe fast unmöglich", sagt der Bundesvorsitzende Andreas Luttmer-Bensmann im Interview.

Köln (epd). „Man muss deutlich sagen: Es ist einfach zu wenig, was jetzt entschieden wurde.“ Mit diesen Worten kommentiert der Vorsitzende der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), Andreas Luttmer-Bensmann, den Mehrheitsbeschluss der Mindestlohnkommission, die gesetzliche Lohnuntergrenze von derzeit 12 Euro in zwei Stufen zum 1.1.2024 und 1.1.2025 um je 41 Cent zu erhöhen. „Damit ist ein notwendiger Inflationsausgleich nicht erfolgt.“ Er kritisiert das Verfahren der Lohnfindung und fordert, soziale Kriterien zu entwickeln, die über die jetzige Orientierung an der allgemeinen Lohnentwicklung hinausgehen. Die KAB fordert 14,62 Euro zum Jahreswechsel. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die Katholische Arbeitnehmerbewegung fordert, um im Kampf gegen Armut erfolgreich zu sein, sollte der Mindestlohn bei 60 Prozent des durchschnittlichen Bruttoverdienstes liegen. Das klingt zunächst schlüssig, aber ist diese Bezugsgröße nicht ein willkürlicher Wert? Schließlich wird Armut oder Armutsgefährdung unterschiedlich definiert.

Andreas Luttmer-Bensmann: Diese Messlatte ist nicht aus der Luft gegriffen. Denn eine Person gilt nach der EU-Definition als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. So soll jedes Land einen Mindestlohn festlegen, der einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Mit 60 Prozent des durchschnittlichen Bruttoverdienstes würde dies für Deutschland erreicht und zumindest die definierte Schwelle für Einkommensarmut überschritten.

epd: Wir reden aber dennoch über die unterste Einkommensschicht ...

Luttmer-Bensmann: Ja. Teilhabe wird mit einer solchen Mindestlohnperspektive natürlich nicht für alle ermöglicht. Für einen Menschen mit einer Vollzeitbeschäftigung und ohne besondere Problemlagen würde dieser Mindestlohn aber immerhin die Chance bieten, nicht noch weiter abgehängt zu werden.

epd: Nach ihren Berechnungen hätte es einen Mindestlohn von 14,62 Euro geben müssen. Also noch einmal deutlich mehr als die von vielen Sozialverbänden bereits jetzt erhofften 14 Euro. Wie groß ist die Enttäuschung über die 12,82 Euro ab 1.1.2025? Und was ist zu tun?

Luttmer-Bensmann: Die Mindestlohnforderungen der KAB lagen in den vergangenen Jahren immer deutlich über allen anderen Forderungen. Unsere Höhe hat sich eben nicht an einer politischen Zahl, sondern an einer Berechnung orientiert. Enttäuscht sind wir nicht darüber, dass die 14,62 Euro nicht erreicht wurden, sondern dass eine angemessene Orientierung an den Lohnsteigerungen und ein notwendiger Inflationsausgleich nicht erfolgt ist. Man muss deutlich sagen, es ist einfach zu wenig, was jetzt entschieden wurde.

epd: War es nicht erwartbar, dass der Lohn nicht deutlicher ansteigt?

Luttmer-Bensmann: Leider war ein solcher Streit nach der politischen Entscheidung für die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro erwartbar. Die Frauen und Männer, die für Niedriglöhne arbeiten, sind aktuell kaum in der Lage, die Kosten des Alltags zu stemmen. Nun ist der Mindestlohn sogar für die kommenden Jahre zementiert. Menschen werden damit weiter ausgegrenzt, gesellschaftliche Teilhabe fast unmöglich.

epd: Ist es denn richtig, den Mindestlohn zum zentralen Instrument gegen Armut zu machen? Wer den Beschäftigten mehr Geld in der Tasche lassen will, könnte etwa auf die Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln verzichten? Oder die Mineralölsteuer senken, damit das Tanken billiger wird? Dazu ist aber in den politischen Debatten nichts zu hören?

Luttmer-Bensmann: Der Mindestlohn ist sicher nur ein Instrument der Armutsbekämpfung. Weiterhin sollte aber der Grundsatz gelten, dass mit der eigenen Arbeit ein angemessenes und würdevolles Leben in Deutschland möglich sein muss. Eine stärkere und flächendeckende Tarifbindung der Unternehmen muss von der Politik eingefordert werden. Es kann nicht sein, dass sich Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschaffen auf Kosten der Löhne von Arbeitnehmern. Auch die anderen Instrumente zur Abmilderung der Inflation und einer weiteren Armutsbekämpfung müssen von einer reichen Gesellschaft weiterentwickelt werden. Große Anstrengungen im politischen Raum kann ich aber nicht entdecken. Selbst eine Kindergrundsicherung wird weiter infrage gestellt.

epd: Erstmals wurde in der Mindestlohnkommission kein einstimmiger Beschluss gefasst. Wie ist das zu bewerten und was folgt daraus für die Zukunft? Muss der Staat also wieder das Heft des Handelns an sich ziehen?

Luttmer-Bensmann: Einen nochmaligen Eingriff der Politik in die Arbeit der Mindestlohnkommission wird es wohl nur in größter Not geben. Mit dieser Entscheidung sind aber große Problemfelder verbunden. So werden sich zukünftige Steigerungen des Mindestlohns an den vorherigen Werten orientieren. Die Schere der Lohnentwicklung wird damit weiter aufgehen. Gleichzeitig ist die bisher große Zustimmung zur Arbeit der Kommission infrage gestellt. Die schon bisher geführte Debatte um die Richtigkeit dieses Instruments Mindestlohnkommission wird sich weiter verschärfen.

epd: Sie fordern, bei der Mindestlohnfindung weitere soziale Kriterien zu definieren und festzuschreiben? An welche Parameter denken Sie da?

Luttmer-Bensmann: In der Ausgestaltung eines Mindestlohnes reicht die vorwiegende Orientierung an der Lohnentwicklung der vorhergehenden Jahre nicht aus. Die Menschen müssen jetzt Brot, Miete und Energie bezahlen. Insbesondere die aktuellen Entwicklungen bei Tarifverhandlungen, die Inflationsentwicklung und zu erwartende Veränderungen aus der sozial-ökologischen Transformation, wie die Energiekostenentwicklung, sollten mit in die Entscheidung einfließen. Die Höhe des Mindestlohns muss den aktuellen Lebenslagen der Menschen gerecht werden.



Energie

Ampel-Fraktionen: Bis zu 70 Prozent Förderung bei Heizungswechsel




Wärmepumpe
epd-bild/Heike Lyding
Nach der Einigung auf noch offene Details im Heizungsgesetz haben die Ampel-Fraktionen erste Einzelheiten zur staatlichen Förderung und zum Zeitplan für den Heizungswechsel bekanntgegeben. Vor 2026 sollen die neuen Regeln nicht wirksam werden.

Berlin (epd). Die drei Regierungsfraktionen im Bundestag stellen Menschen mit wenig Einkommen in Deutschland bis zu 70 Prozent Förderung für einen Heizungstausch in Aussicht. Die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und FDP teilten am 27. Juni in Berlin mit, man habe sich darauf verständigt, die im Regierungsentwurf vorgesehene Förderung des Bundes für Haushalte bei den notwendigen Neuinvestitionen in klimafreundliche Heizungssysteme zu erhöhen. Damit sollten soziale Härten bis in die Mitte der Gesellschaft berücksichtigt werden. Das Gebäudeenergiegesetz solle Anfang Juli auf die Tagesordnung des Bundestags gesetzt und beschlossen werden, teilten die Fraktionen mit.

Für die SPD erklärten Matthias Miersch und Verena Hubertz, mit den Fördermöglichkeiten von bis zu 70 Prozent der Investitionskosten sollten besondere Bedürfnislagen und Härtefälle berücksichtigt werden. Die Grünen-Abgeordneten Julia Verlinden und Andreas Audretsch betonten, die Kosten für Mieterinnen und Mieter sollten zudem durch eine Kappungsgrenze von 50 Cent bei der Umlage gedeckelt werden, sodass der Einbau einer neuen Heizung nicht zu einer Überlastung führe.

Anschluss an Fernwärmenetz

Lukas Köhler und Carina Conrad von der FDP-Fraktion hoben hervor, dass niemand zu etwas verpflichtet werde, bevor eine kommunale Wärmeplanung vorliege. Den Angaben zufolge soll eine verpflichtende und flächendeckende kommunale Wärmeplanung spätestens 2026 für große und 2028 für kleinere Kommunen vorliegen. Das bedeutet, dass Einwohner einer Stadt oder eines Ortes wissen, welche Angebote es bei ihnen geben wird. Sie können sich dann beispielsweise an ein Fernwärmenetz anschließen lassen und damit die Anforderungen des Gebäudeenergiegesetzes erfüllen.

Nach Angaben aus der FDP-Fraktion soll es drei Förderwege geben. Für den Einbau einer klimagerechten Heizung bekommt jeder Haushalt 30 Prozent der Ausgaben vom Staat zurück, unabhängig vom Einkommen. Weitere 30 Prozent sollen Haushalte bekommen, deren Jahreseinkommen unter 40.000 Euro liegt. Wer schnell eine neue Heizung einbauen lässt, kann mit der Sockelförderung und weiteren 20 Prozent auf 50 Prozent der Investitionskosten kommen, egal wie hoch das Einkommen ist. Nach 2028 sinkt dieser Bonus stufenweise.

SPD und Grünen war besonders an der Förderung von Geringverdienern und bis in die Mittelschicht gelegen, wenn besondere individuelle Härten dies erfordern. Die FDP wollte, unabhängig vom Einkommen, vor allem den schnellen Austausch alter Heizungen fördern.

Mieterhöhung auf 50 Cent pro Quadratmeter begrenzt

Vermieter können die Investitionskosten an die Mieter entweder nach der geltenden Modernisierungsumlage weitergeben und zusätzlich für die neue Heizung bis zu 50 Cent pro Quadratmeter abrechnen. Oder sie nehmen die staatliche Förderung in Anspruch, dann ändert sich die Modernisierungsumlage - die Mieterhöhung allein für die neue Heizung wird aber ebenfalls auf 50 Cent pro Quadratmeter beschränkt.

Die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes - geläufig als „Heizungsgesetz“ - wurde im Parlament bereits in erster Lesung beraten. Künftig sollen nur noch Heizungen eingebaut werden, die zu mindestens 65 Prozent mit erneuerbaren Energien laufen, damit Deutschland im Gebäudesektor seine Klimaziele erreicht.

Noch fehlen aber die konkreten Formulierungen des geplanten Gesetzes, dessen vom Kabinett verabschiedeter Entwurf nach langem Streit in der Koalition nochmals deutlich geändert werden soll. Der Bundestag kommt Anfang Juli zum letzten Mal vor der Parlamentspause zusammen. Als Startjahr für das reformierte Heizungsgesetz war ursprünglich 2024 vorgesehen. Nun erhalten Hausbesitzer mehr Zeit, und Städte und Kommunen werden verpflichtet, über die Angebote zum Heizen auf ihrem Gebiet zu informieren, beispielsweise, ob Fernwärmeleitungen verlegt werden.

Mey Dudin, Bettina Markmeyer


Arbeit

Hintergrund

Was ist neu bei der Einwanderung von Fachkräften?



Berlin (epd). Der Bundestag hat am 23. Juni in Berlin das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Ampel-Koalition beschlossen. Es soll mehr Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern nach Deutschland locken, um den Fachkräftemangel zu mildern. Auch die Einreise nach Punkten wird möglich.

Wer kann über das neue Punktesystem kommen?

Künftig können Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern zur Arbeitssuche für zunächst ein Jahr nach Deutschland kommen. Grundvoraussetzungen sind ein ausländischer Berufs- oder Hochschulabschluss und Deutschkenntnisse auf A1-Niveau. Bessere Deutsch- und Englischkenntnisse bringen Punkte, ebenso ein Deutschlandbezug, etwa ein früherer Aufenthalt, geringes Alter, Qualifikation in einem Engpassberuf sowie Berufserfahrung.

Bei ausreichender Punktzahl (mindestens sechs) können die Interessenten ein Visum beantragen und erhalten die „Chancenkarte“, die ihnen den Aufenthalt zur Arbeitssuche erlaubt. Für ihren Unterhalt müssen sie selbst aufkommen. Parallel zur Jobsuche ist Arbeit von bis zu 20 Wochenstunden erlaubt. Finden die Interessentinnen eine Stelle, können sie zwei weitere Jahre bleiben und danach einen dauerhaften Aufenthalt beantragen.

Welche neuen Möglichkeiten haben Fachkräfte mit einem ausländischen Abschluss?

Sie können auch dann in Deutschland arbeiten, wenn ihr Berufsabschluss hier nicht anerkannt ist. Voraussetzung sind ausreichende Berufserfahrung und ein angemessenes Gehalt in Deutschland. Das soll Lohndumping verhindern. Wer nicht genug verdient, muss die Anerkennung seines Berufsabschlusses hier nachholen. Die Arbeitgeber verpflichten sich dann, im Rahmen einer „Anerkennungspartnerschaft“ ihre ausländischen Beschäftigten dabei zu unterstützen, sie etwa für Qualifizierungen freizustellen. Bisher muss die Anerkennung vom Ausland aus betrieben werden, was für beide Seiten, ausländische Arbeitnehmer und künftige Arbeitgeber, zu lange dauert.

Fachkräfte mit einem von Deutschland anerkanntem Hochschul- oder Berufsabschluss können künftig auch außerhalb ihrer Branche jede qualifizierte Tätigkeit annehmen. Das macht ihre Beschäftigung in Deutschland flexibler.

Was ändert sich für Einwanderer mit der Blauen Karte EU?

Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die einen in Deutschland anerkannten Abschluss und einen Arbeitsvertrag haben, erhalten wie bisher die Blaue Karte EU, die ihnen einen bis zu vierjährigen Aufenthalt ermöglicht. Es werden aber die hohen Gehaltsschwellen gesenkt. In diesem Jahr würden sie bei einem Jahreseinkommen von 43.800 Euro brutto liegen statt der jetzt noch gültigen Mindesteinkommensschwelle von 58.400 Euro. Das entspricht 3.650 Euro brutto im Monat und ist auch für Berufsanfänger realistisch.

Außerdem werden der Familiennachzug und der Weg zu einem dauerhaften Aufenthalt erleichtert. Fachkräfte mit Bleiberecht können ab März 2024 auch ihre Eltern oder Schwiegereltern nachholen. IT-Spezialistinnen und -Spezialisten erhalten auch ohne Hochschulabschluss eine Blaue Karte EU, wenn sie über Berufserfahrung auf akademischem Niveau verfügen.

Was bedeutet der „Spurwechsel“ für Asylbewerberinnen und -bewerber?

Wer zum Stichtag 29. März 2023 in einem laufenden Asylverfahren war und eine Arbeitsstelle gefunden hat, kann das Asylverfahren abbrechen und hier einen der möglichen Aufenthaltstitel als Fachkraft beantragen, sofern er oder sie die Voraussetzungen dafür erfüllt. Es ist aber nicht möglich, auf die Einwanderungsmöglichkeit nach dem Punktesystem zu wechseln. Wer einen Aufenthaltstitel als Fachkraft erhält, kann die Familie zu sich holen. Die neue Möglichkeit des Elternnachzugs bleibt für Spurwechsler aber ausgeschlossen. Für künftige Asylbewerber gilt das alles nicht.

Der Spurwechsel soll auch Menschen ermöglicht werden, die mit einem Touristenvisum eingereist sind. Finden sie während ihres Aufenthaltes eine Arbeit, können sie von Deutschland aus ihre Einwanderung beantragen. Bisher müssen sie wieder ausreisen und dies vom Heimatland aus tun.

Bettina Markmeyer


Flüchtlinge

Organisationen enttäuscht über deutsche Rückendeckung für Asylreform




Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
epd-bild/Ralf Maro/version-foto.de
Die geplante Reform des EU-Asylrechts bleibt heftig umstritten. Die Bundesregierung verteidigt sie auch mit dem Argument, dass ohne eine Änderung für Schutzsuchende die Situation schlecht bleibt. Nichtregierungsorganisationen sehen das anders.

Berlin (epd). Die Pläne für ein neues Asylsystem in der Europäischen Union sorgen weiter für heftige Debatten. Beim Flüchtlingsschutzsymposium von evangelischer Kirche, Sozialverbänden und Menschenrechtsorganisationen am 26. Juni wurde deutlich, wie unterschiedlich die Konsequenzen für Schutzsuchende beurteilt werden. Wären die Verhandlungen gescheitert, wäre es für die Schutzsuchenden an den europäischen Außengrenzen nicht besser geworden, verteidigte der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Bernd Krösser, die deutsche Zustimmung zu den Plänen für das gemeinsame europäische Asylsystem. Pro Asyl widersprach: „Besser keine Reform, als so eine Reform“, sagte Karl Kopp, Europa-Experte der Organisation.

Grundzüge eines gemeinsamen Asylsystems

Die Innenministerinnen und Innenminister der EU-Staaten hatten sich Anfang Juni auf Grundzüge eines gemeinsamen Asylsystems geeinigt. Die Bundesregierung stellt heraus, dass damit erstmals ein verbindlicher Solidaritätsmechanismus zur Verteilung von Flüchtlingen in Sicht ist. Der Kompromiss sieht aber auch sogenannte EU-Grenzverfahren vor, die nach Auffassung von Flüchtlingsorganisationen dazu führen könnten, dass Tausende Schutzsuchende in Lagern unter haftähnlichen Bedingungen ausharren müssen, bis ihr Anliegen geprüft ist.

Besonders trifft auf Kritik, dass nur unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, nicht aber Familien mit Kindern von den Grenzverfahren ausgenommen werden sollen. Deutschland habe sich sehr für eine Ausnahme für Familien mit Kindern sowie Behinderte eingesetzt, sagte Krösser. Am Ende sei dies mit Unterstützung nur aus Portugal, Luxemburg und Irland aber eine Minderheitenposition gewesen, sagte er.

Krösser ergänzte, die Bundesregierung habe für weitergehende Ausnahmen Unterstützung zumindest auch aus den EU-Grenzstaaten erwartet, die die Einrichtungen für die Grenzverfahren zur Verfügung stellen müssen. Sie müssten jetzt sicherstellen, dass die Unterbringungen für Familien mit Kindern und Behinderte geeignet sind. Dies werde „nicht gerade einfach“, räumte Krösser ein.

Protest vor der Französischen Friedrichstadtkirche

Die Asylrechtsreferentin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Franziska Vilmar, sagte, die fehlende Durchsetzbarkeit von Ausnahmen für Familien mit Kindern sei für sie der Moment gewesen, in der sie von der Bundesregierung erwartet hätte, sich bei der Abstimmung über die Asylpläne zumindest zu enthalten. Auch Kopp von Pro Asyl machte deutlich, er hätte von Deutschland ein Nein oder eine Enthaltung erwartet.

Vor der Französischen Friedrichstadtkirche, wo das Symposium stattfand, formierte sich eine kleine Gruppe des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins zu einer Protestaktion, die während der Rede Krössers auch in der Kirche zu hören war. Organisiert wurde die Veranstaltung unter anderem von der Evangelischen Akademie zu Berlin.

Auch deren Leiterin Friederike Krippner kritisierte die geplante EU-Asylreform zu Beginn scharf. Sie verwies darauf, was in der Einigung der Innenministerinnen und -minister in ihren Augen fehle. Das System sehe nicht vor, dass mehr Menschen als bisher auf sicherem Weg um Asyl bitten können, sagte sie. Auch werde die Reform nicht helfen, Bootsunglücke wie kürzlich vor der griechischen Küste mit hunderten Toten zu vermeiden.

Corinna Buschow


Wohnen

Kommission: Vergesellschaftung von Immobilienunternehmen möglich




Demo in Berlin gegen "Mietenwahnsinn"
epd-bild/Chistian Ditsch
Knapp zwei Jahre nach dem Berliner Volksentscheid über Enteignungen von großen Wohnungsunternehmen haben Experten grünes Licht für deren Vergesellschaftung gegeben. Der Bericht der Kommission stößt auf geteiltes Echo.

Berlin (epd). Das Land Berlin kann einer Expertenkommission zufolge große Wohnungsunternehmen vergesellschaften. Das geht aus dem am 28. Juni veröffentlichten Bericht der Kommission zur „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ hervor. Darin heißt es, das Land habe nach dem Grundgesetz die Kompetenz für eine Gesetzgebung zur Vergesellschaftung von Immobilienbeständen großer Wohnungsunternehmen.

Das Gebot der Verhältnismäßigkeit steht demnach der Vergesellschaftung nicht entgegen. Einem Sondervotum zufolge kommt bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dem Eigentumsgrundrecht der Unternehmen ein größeres Gewicht als dem Anliegen einer Vergesellschaftung zu.

Vergesellschaftung muss verhältnismäßig sein

Die Höhe der anfallenden Entschädigung kann sich an den Erträgen aus der gemeinnützigen Bewirtschaftung orientieren. Einem Sondervotum zufolge muss dagegen vom Verkehrswert der Immobilie ausgegangen werden. Laut einem anderen Sondervotum sind neben genossenschaftlichen auch kirchlich getragene Wohnungsunternehmen von der Vergesellschaftung auszunehmen.

Die Vorsitzende der Kommission, die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), sagte bei der Übergabe des Berichts an Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU): „Vergesellschaftung ist keine Enteignung“. Es sei nicht Aufgabe der Kommission gewesen, eine politische Bewertung vorzunehmen. Eine Vergesellschaftung dürfe nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nur erfolgen, wenn sie ein legitimes Ziel verfolge, erforderlich sei und es kein milderes Mittel gebe.

Wegner sagte, es sei kein Geheimnis, dass er beim Thema Vergesellschaftung „stets skeptisch“ gewesen sei. Berlin wolle bezahlbare Mieten, Rechtssicherheit sowie Neubauten nicht abwürgen.

Bürgerinitiative: Historischer Tag

Der Berliner Mieterverein forderte das Land Berlin auf, umgehend ein Gesetz zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen zu erlassen. Die Geschäftsführerin des Vereins, Ulrike Hamann, sagte, beim Mietendeckel sei vor allem das Problem gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Land Berlin nicht die Gesetzgebungskompetenz zugestanden habe.

Die Kommission bestand aus 13 vom Senat benannten Mitgliedern. Bei dem im September 2021 abgehaltenen Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ hatten 56,4 Prozent der Berliner für eine Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen gestimmt. Die gleichnamige Initiative sprach im Zusammenhang mit dem Bericht der Expertenkommission von einem historischen Tag. Sprecherin Constanze Kehler sagte: „Die Enteignung von Immobilienkonzernen ist rechtssicher, finanzierbar und das beste Mittel, um den Mietenwahnsinn zu stoppen.“

Der Präsident der Berliner Industrie- und Handelskammer, Sebastian Stietzel, betonte, das „Ergebnis der Expertenkommission ändert nichts daran, dass Enteignungen dem Wirtschaftsstandort Berlin massiv schaden“. Im Koalitionsvertrag zur Bildung des Berliner Senats verständigten sich CDU und SPD darauf, im Fall einer „verfassungskonformen Vergesellschaftungsempfehlung“ durch die Experten ein entsprechendes Rahmengesetz zu verabschieden.

Bettina Gabbe


Arbeit

Zweite Stufe der Bürgergeld-Reform soll bessere Betreuung bringen



Nürnberg (epd). Mit etlichen Änderungen bei der Betreuung und Weiterbildung von langzeitarbeitslosen Menschen tritt am 1. Juli die zweite Stufe der Bürgergeld-Reform in Kraft. Wie die Bundesagentur für Arbeit am 29. Juni in Nürnberg mitteilte, richten sich die Förderungen stärker an der individuellen Lebenslage aus. BA-Vorstand Daniel Terzenbach erklärte, die Menschen würden mit einer ganzheitlichen Betreuung unterstützt, dauerhaft wieder ins Arbeitsleben zurückzufinden. Dieses Ziel rücke „damit vor der schnellen Vermittlung in den Vordergrund“, sagte Terzenbach.

Unter anderem wird das Nachholen eines Berufsabschlusses mit bis zu 150 Euro Weiterbildungsprämie gefördert, weil mehr als die Hälfte der Langzeitarbeitslosen keinen Berufsabschluss haben. Umschulungen können drei Jahre lang gefördert werden, bisher nur zwei.

Einvernehmen zwischen Arbeitslosen und Jobcenter

Um den Kontakt zwischen den Vermittlerinnen und Vermittlern in den Jobcentern und den Arbeitslosen zu verbessern, erarbeiten sie gemeinsam einen Kooperationsplan, in dem die Schritte zu einer Arbeit oder Ausbildung im Einvernehmen und in verständlicher Sprache festgelegt werden. Wer mit besonders vielen Problemen zu tun hat wie Schulden oder eine Drogensucht, kann ein individuelles Coaching in Anspruch nehmen.

Für Bürgergeld-Beziehende, die einen Job haben, werden die Freibeträge erhöht, sie können also mehr von ihrem Lohn behalten. Nach Angaben der Bundesagentur bezogen im Mai dieses Jahres rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld, davon rund 3,9 Millionen Erwerbsfähige.

Das Bürgergeld hat zu Beginn dieses Jahres die Hartz-IV-Leitungen abgelöst. Im ersten Schritt wurden die Regelsätze für Erwachsene und Kinder erhöht, für einen alleinstehenden Erwachsenen um 53 Euro auf 502 Euro im Monat. Außerdem werden seitdem Erspartes und Wohnung von Bürgergeld-Beziehenden im ersten Jahr großzügiger geschont als früher.



Familie

Fachstelle für Kinder inhaftierter Eltern nimmt Arbeit auf



Hamburg (epd). Mit einer Landesfachstelle will die Stadt Hamburg die Versorgungsstruktur von Kindern inhaftierter Eltern verbessern. Ziel sei etwa die Weiterentwicklung der Vernetzung zwischen Justizvollzug und Jugendhilfe sowie die Familienorientierung im Justizvollzug, teilten Sozial- und Justizbehörde am 26. Juni gemeinsam mit. Von der Inhaftierung eines Elternteils seien in Deutschland Schätzungen zufolge etwa 100.000 minderjährige Kinder betroffen, hieß es.

Häufig drohen ihnen Ausgrenzung und Traumatisierung, psychische Probleme, die Verschlechterung der Lebensumstände und das Risiko, selbst straffällig zu werden. Der Leiter der Landesfachstelle „Kinder von Inhaftierten“ (KvI), Sven Zibell, betonte: „Der nicht inhaftierte Elternteil bekommt nur selten Informationen darüber, an wen er sich in dieser Situation wenden kann oder findet im Internet nur wenig Angebote zur Unterstützung.“

Wenn ein Elternteil inhaftiert ist, könne dies Kinder sehr stark belasten, sagte Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne). Für den Justizvollzug gehe es darum, „die ganze Familie stärker in den Blick zu nehmen und gezielter auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen, um so gleichzeitig die Resozialisierung des inhaftierten Elternteils zu fördern“, sagte Gallina. Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) fügte hinzu, dass es auch darum gehe, durch das Projekt „frühestmöglich über die Angebote der Kinder- und Familienhilfe zu informieren“.




sozial-Branche

Pflege

Kampf dem Personalmangel durch innovative Arbeitszeitmodelle




PR-Aktion der Uniklinik Würzburg auf dem Marktplatz für das Modell FLEX4UKW
epd-bild/Pat Christ
Krankenhäuser und Pflegeheime suchen händeringend nach Pflegefachkräften. Einige Häuser kommen nun Bewerberinnen und Bewerbern weit entgegen. Mit flexiblen Arbeitszeitmodellen sind sie erfolgreich, wie Beispiele aus der Praxis zeigen.

Frankfurt a. M. (epd). Für angestellte Pflegekräfte klingt das traumhaft: Sie können ihre Arbeitszeiten weitgehend selbst bestimmen. Sie werden in ihrer Freizeit garantiert nicht angerufen, um spontan für einen kurzfristig ausgefallenen Kollegen einzuspringen. Auch auf den Dienstplan ist Verlass. All das verspricht das Uniklinikum Würzburg künftigen Pflegekräften mit seinem Arbeitsmodell FLEX4UKW. Es startete im November 2022 - und erlebte prompt einen Run: Mehr als 450 Menschen haben sich nach Angaben der Uniklinik bisher darauf beworben. 160 von ihnen wurden in das „Flexteam“ aufgenommen.

Persönliche Wünsche an die Arbeitszeiten

Wie FLEX4UKW-Recruiter Patrick Hetzer erklärt, gab es in den verschiedenen medizinischen Abteilungen des Würzburger Uniklinikums immer vereinzelt Pflegekräfte, die persönliche Ansprüche an ihre Arbeitszeiten auch durchsetzen konnten. Nur unter dieser Bedingung seien sie bereit gewesen, für die Uniklinik zu arbeiten. Das neue Projekt versucht nun, Pflegekräfte mit besonderen Wünschen an ihre Arbeitszeiten in einem Pool zu bündeln.

Dabei kann sich jede Pflegekraft, die zeitlich selbstbestimmt arbeiten möchte, aussuchen, in welchem von elf medizinischen Fachbereichen sie eingesetzt werden will. In dem gewählten Bereich muss sie allerdings bereit sein, jeweils auf den Stationen tätig zu sein, bei denen gerade das Personal knapp ist.

Die große Resonanz auf das Modell FLEX4UKW zeigt laut Lena Ossiander, Pflegeentwicklerin am Uniklinikum, wie groß der Wunsch von Pflegerinnen und Pflegern ist, Job und Privatleben besser miteinander zu vereinbaren. Allerdings war nicht jeder, der sich für den Pool bewarb, geeignet: „Einige Bewerberinnen und Bewerber waren zum Beispiel noch in der Ausbildung.“ Sie kamen nicht infrage.

Auch Köche und Reinigungskräfte sind knapp

Die Ausschreibung sprach außerdem Menschen an, die bisher nicht in der Pflege gearbeitet hatten. Beispielsweise bewarben sich Köche, Erzieherinnen oder Reinigungskräfte. Bei diesen Kandidaten, sagt Patrick Hetzer, werde versucht, sie an anderen Stellen im Unternehmen unterzubringen. Schließlich seien auch Köche und Reinigungskräfte rar.

Durch das neue Projekt wurde bereits das Äquivalent von 110 Vollzeitstellen rekrutiert. Das hilft, klaffende Lücken zu schließen. Vollständig behoben sei der Pflegemangel im Uniklinikum Würzburg jedoch noch nicht. „Unser Ziel ist es, 170 Vollzeitstellen durch FLEX4UKW zu besetzen“, erklärt Patrick Hetzer.

Was das Uniklinikum Würzburg aktuell massiv bewirbt, ist so neu gar nicht, sagt Henrik van Gellekom, Pflegedienstleiter im Klinikum Bielefeld. Viele große Krankenhäuser verfügten über einen Flex-Pool. Auch in Bielefeld gebe es ein ähnliches Modell wie an der Uniklinik Würzburg. Der Pool könne jedoch den Pflegenotstand nicht vollständig beseitigen. Weshalb das Klinikum Bielefeld ab Juli ein neues Arbeitszeitmodell ausprobiert: Pflegekräfte sollen ihr Arbeitspensum an vier Tagen abarbeiten.

Vier-Tage-Woche für Vollzeitkräfte

Das würde den Vorteil von viel mehr freien Tagen bringen. Allerdings gibt es auf dieses Angebot keinen Ansturm, räumt van Gellekom ein. „Viele fragen sich, ob sie einen Arbeitstag von neun Stunden aushalten.“ Van Gellekom will dennoch weiter innerhalb der tariflichen Rahmenbedingungen neue Wege ausprobieren: „Das Schlimmste wäre, dass alles so bleibt, wie es ist.“

Das Bielefelder Pilotprojekt mit der Vier-Tage-Woche könnte nach Henrik van Gellekoms Überzeugung die Patientenversorgung deutlich verbessern. Und zwar dadurch, dass in den Übergangsphasen zwischen den Schichten für etwa 2,5 Stunden deutlich mehr Personal als sonst zur Verfügung steht. In dieser Zeit könnten mehrere Kolleginnen und Kollegen gemeinsam einen sehr aufwendigen Patienten versorgen. Der Pflegedienstleiter macht dies am Beispiel eines beatmeten Intensivpatienten fest: „Um den in die Bauchlage zu bringen, sind viele Hände notwendig.“ Einer muss den Beatmungsschlauch führen. Einer den Kopf. Einer den Körper vorsichtig wenden.

Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich

Wie es gelingen kann, den Pflegeberuf attraktiver zu machen, zeigt auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK) im Landkreis Sangerhausen in Sachsen-Anhalt. Laut Landesgeschäftsführer Carlhans Uhle hat das DRK in dieser Kommune derzeit keine Probleme, freie Stellen in seinen Pflegeeinrichtungen zu besetzen. Gleich mehrere neue Modelle hätten zu dieser positiven Entwicklung geführt. Eines betrifft das von vielen Pflegekräften gehasste Aus-der-Freizeit-Holen. Fällt eine Pflegerin aus, werden alle Kollegen seit etwa einem Jahr per Push-Meldung über ihr Handy darüber in Kenntnis gesetzt, dass es akut einen Ersatz braucht: „Bei wem es reinpasst, der springt ein.“

Ab Januar 2024 greift ein mit ver.di ausgehandelter Modelltarifvertrag für eine Vier-Tage-Woche, berichtet Uhle. Demnach arbeiten Vollzeit-Pflegekräfte, die sich an dem Modell beteiligen, beim DRK in Sangerhausen 36 auf vier Tage verteilte Stunden. Wer bisher 40 Stunden tätig war, reduziert um vier Stunden bei gleichem Gehalt. Hiervon profitieren laut Uhle rund fünf Prozent der Pflegekräfte des DRK im Landkreis. Das Projekt wird 2024 und 2025 gutachterlich begleitet.

Pat Christ


Pflege

Bündnis fordert Vollversicherung bei der Pflege




Eine Tochter hält im Altenheim die Hand ihrer Mutter.
epd-bild/Nancy Heusel
Sozialverbände und Gewerkschaften dringen auf eine grundlegende Pflegereform. Die derzeitige Regelung mit Eigenanteilen sei eine Armutsfalle, eine Vollversicherung sei geboten.

Berlin (epd). Weil die Eigenanteile bei der Pflege steigen, will ein Bündnis aus Sozialverbänden und Gewerkschaften eine Pflegevollversicherung einführen. „Immer weniger Menschen können sich die eigene Pflege leisten“, heißt es in einem am 29. Juni in Berlin veröffentlichten Aufruf. Dem Bündnis gehören unter anderen der Paritätische Gesamtverband, der Sozialverband Deutschland, die Arbeiterwohlfahrt, die Volkssolidarität, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di an. Unterstützung für den Vorstoß kommt von der Deutschen Stiftung Patientenschutz und der Diakonie.

Finanzielle Überforderung

Alle pflegebedingten Kosten sollten künftig von der Pflegeversicherung übernommen werden, fordert das Bündnis. Dadurch würden sich die von Heimbewohnerinnen und -bewohnern selbst aufzubringenden Kosten um die Hälfte reduzieren. Derzeit liege der durchschnittliche Eigenanteil für Pflegebedürftige im ersten Jahr im Heim bei 2.700 Euro. Im ambulanten Bereich würden Pflegebedürftige häufig notwendige Pflege nicht in Anspruch nehmen, um eine finanzielle Überforderung zu vermeiden, hieß es.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, sprach von der Pflegebedürftigkeit als Armutsfalle. Daran ändere auch die aktuelle Pflegereform nichts. „Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung die Pflegeversicherung aus der Sackgasse holt und den Menschen mit einer Pflegevollversicherung Sicherheit gibt“, sagte Schneider.

Planbarkeit und Generationengerechtigkeit

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz erhebt ähnliche Forderungen. Deren Vorstand Eugen Brysch sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), Planbarkeit und Generationengerechtigkeit gingen nur, wenn die reinen Pflegekosten komplett solidarisch übernommen würden. Das sei keine Vollfinanzierung, erklärte Brysch: „Denn Unterbringung, Verpflegung und überdurchschnittlichen Komfort haben Pflegebedürftige weiterhin aus der eigenen Tasche zu zahlen.“

Die Diakonie Deutschland setzt sich nach den Worten ihrer Sozialvorständin Maria Loheide für eine Pflegevollversicherung mit begrenzter Eigenbeteiligung ein. Sie lehnte eine prozentuale Beteiligung der Heimbewohner und ambulant Betreuten an den Kosten ihrer Pflege ab und forderte stattdessen, den Eigenanteil auf einen absoluten Betrag zu deckeln. Der gemeinsame Aufruf der Sozialverbände und Gewerkschaften sieht gar keine Eigenbeteiligung an den Pflegekosten vor. Loheide forderte außerdem eine schnelle und grundlegende Pflegereform. Dem epd sagte die Diakonie-Sozialvorständin: „Bereits jetzt ist die Versorgungssituation defizitär.“

Nils Sandrisser


Pflege

Hintergrund

Eltern mehrerer Kinder zahlen ab 1. Juli geringere Pflegebeiträge



Berlin (epd). Am 1. Juli steigen für alle Versicherten die Beiträge zur Pflegeversicherung. Neu für Eltern ist aber auch, dass sie umso niedrigere Pflegebeiträge zahlen, je mehr Kinder sie haben. Damit wird ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April 2022 umgesetzt, wonach auch in der Pflegeversicherung die Erziehungsleistungen anerkannt werden müssen. In der Kranken- und Rentenversicherung ist das schon so.

Die Eltern werden in der Familienphase finanziell entlastet. Ihr Pflegebeitrag wird für jedes Kind unter 25 Jahren um 0,25 Prozentpunkte ermäßigt. Das gilt vom zweiten bis zum fünften Kind. Mehr Kinder mindern den Beitrag nicht weiter.

Beiträge für Familien zwischen 2,4 und 3,4 Prozent

In Zahlen: Eltern mit einem Kind zahlen 3,4 Prozent ihres Bruttoeinkommens in die Pflegeversicherung ein. Eltern mit zwei Kindern zahlen 3,15 Prozent, mit drei Kindern 2,9 Prozent des Bruttoeinkommens, mit vier Kindern zahlen sie 2,65 Prozent und mit fünf und mehr Kindern 2,4 Prozent.

Bei einem Bruttoeinkommen von 2.500 Euro beträgt der Beitragsunterschied zwischen Eltern mit einem Kind zu Eltern mit fünf Kindern 25 Euro im Monat. Die Ermäßigung nach Kinderzahl gilt jeweils für beide Eltern.

Um die Beitragsminderung zu erhalten, müssen die Eltern selbst zunächst nichts tun, erklärt der Spitzenverband der Kranken- und Pflegekassen (GKV-Spitzenverband). Sie werden aber vom Arbeitgeber oder der Stelle, die für sie die Pflegebeiträge abführt, aufgefordert, die Anzahl und das Alter ihrer Kinder mitzuteilen. Auf Nachweise könne während einer zweijährigen Übergangszeit verzichtet werden, erklärt der GKV-Spitzenverband. Ab April 2025 soll es „ein digitales Verfahren zur Erhebung und zum Nachweis der Anzahl der berücksichtigungsfähigen Kinder“ geben. Bis dahin werde der Verwaltungsaufwand gering gehalten.

Die Arbeitgeber begrüßen das vereinfachte Nachweisverfahren. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat ausgerechnet, dass andernfalls die Personalabteilungen für zehn Millionen Beschäftigte 2,5 Millionen Stunden gebraucht hätten, um die Eltern abzufragen und die Nachweise über Kinderzahl und -alter weiterzuleiten. Die BDA stellt ihren Mitgliedern ein Muster für einen Auskunftsbogen für Eltern zur Verfügung - also für die einfachste Variante. Arbeitgeber können aber auch Nachweise verlangen, etwa Geburtsurkunden.

Zu viel gezahlte Beiträge werden zurückerstattet

Vonseiten der BDA heißt es, es wäre wünschenswert, wenn es von Anfang an eine zentrale Stelle gegeben hätte, die die Eltern-Daten zur Verfügung stellt: „Das wäre effizient und datensparsam gewesen.“ Auf jeden Fall sollen die Beschäftigten von sich aus nichts tun, teilt die BDA mit. Die Unternehmen und Betriebe würden auf sie zukommen und sagen, welche Nachweise sie brauchen.

Niemand hat einen Nachteil, wenn die Abschläge wegen der aufwendigen Verfahren nicht sofort berücksichtigt werden. Der Gesetzgeber hat klargestellt, dass den Eltern zu viel gezahlte Beiträge plus Zinsen bis spätestens Ende Juni 2025 zurückerstattet werden.

Am 1. Juli treten die jüngsten Änderungen in der Pflegeversicherung in Kraft, wozu auch die Beitragserhöhung zählt. Der allgemeine Pflegebeitrag steigt von 3,05 Prozent auf 3,4 Prozent des Bruttoeinkommens. Kinderlose Menschen zahlen künftig vier Prozent Pflegebeitrag, bisher sind es 3,4 Prozent. Der Kinderlosen-Zuschlag auf den allgemeinen Pflegebeitrag wird damit von 0,35 auf 0,6 Prozentpunkte erhöht.

Bettina Markmeyer


Schifffahrt

Seemannsmission: "Seeleute sind seelisch erschöpft"




Matthias Ristau
epd-bild/DSM/Joseph Heicks
Die Arbeitsbedingungen der Seeleute haben sich etwas verbessert, viele haben wieder mehr Landgänge und Internet an Bord. Warum das noch nicht reicht, weiß Matthias Ristau, Leiter der Deutschen Seemannsmission (DSM).

Hamburg (epd). Über Seeleute gibt es viele Klischees: Nichts kann sie erschüttern, sie sind Weltenbummler und in jedem Hafen zu Hause. „Mit der harten Realität der Seeleute hat das nichts zu tun“, sagt Matthias Ristau, der seit 2022 die Deutsche Seemannsmission (DSM) leitet. „Seeleute fühlen sich unsichtbar“, sagt Ristau. Verstehen kann er das nicht: Ohne die weltweit etwa 1,7 Millionen Seeleute würde die globale Wirtschaft zusammenbrechen. Seit 1886 kümmert sich die DSM weltweit um Seeleute, unterstützt mit Gesprächen an Bord und Landangeboten.

Kein Internet an Bord

Zwar hätten sich die Arbeitsbedingungen auf modernen Schiffen durchaus verbessert. Viele Reedereien bieten Internetzugänge für die Crews an, damit diese Kontakt zu ihren Familien und Freunden halten können. Aber: „Es gibt noch welche, die kein Internet an Bord für Seeleute haben. Das muss sich ändern, sonst finden sie keine maritimen Nachwuchskräfte mehr“, sagt Ristau. Der Job bleibt hart: Stressfaktoren an Bord sind Einsamkeit, lange Abwesenheiten von Zuhause, ständig Lärm und hohe Arbeitsbelastungen.

Bei den jährlich rund 25.000 Bordbesuchen der DMS-Mitarbeitenden sind psychische Probleme immer wieder ein Thema. „Seeleute sind seelisch erschöpft“, sagt Ristau. Zumal für manche von ihnen die Corona-Einschränkungen noch nicht vorbei sind: Einzelne Länder und Reedereien würden den Landgang immer noch untersagen, weil sie Infektionen befürchten. „Es gibt keine Gründe, Landgang prinzipiell zu verbieten“, sagt Ristau. „Meiner Ansicht nach ist es ein Verstoß gegen die Menschenrechte, Seeleute an ihrem Arbeitsplatz monatelang einzusperren.“

Dabei sei gerade die Pause an Land so wichtig für die mentale Gesundheit, betont auch Sören Wichmann. „Wer das Schiff verlässt, will nicht nur einkaufen und entspannen“, sagt der Leiter des Hamburger Seemannsclubs „Duckdalben“. Beim Landgang tanken Seeleute mental auf und erhöhen ihre Stressresistenz. Mindestens einmal im Monat sollte Landgang auf dem Dienstplan stehen.

Seemannsmission will weiter wachsen

Weltweit setzen sich an 33 DSM-Stationen rund 600 Mitarbeitende für Seeleute ein. Nach Extremsituationen an Bord hilft die Psychosoziale Notfallversorgung. 45 ausgebildete DSM-Experten seien rund um die Uhr erreichbar und unterstützen bei der psychischen Bewältigung von schweren Arbeitsunfällen, Todesfällen, Piratenangriffen, lebensbedrohlichen Stürmen oder Schiffskollisionen. „Solche Situationen steckt keiner einfach so weg“, sagt Ristau. Das Angebot wurde in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut.

Die DSM will weiter wachsen, in Panama wurde eine neue Station eröffnet. „Es gibt noch so viele Häfen, wo wir gebraucht werden“, sagt der DSM-Chef, der dabei nicht nur Arbeiter auf dem Frachtschiff, sondern auch Kreuzfahrt-Crews im Blick hat. Ihre mentale Belastung sei oft noch höher.

Vor allem günstige Reedereien sparen am Personal, für sie gebe es nur laute Mini-Gemeinschaftskabinen, der Stresspegel sei hoch, die Müdigkeit auch. Noch dazu herrsche in Crews mit 1.500 Menschen „eine ganz andere Dynamik“ als auf Containerschiffen mit 20 Mann. Obendrein gelte für Service-Personal sowohl die „Immer-schön-lächeln-Regel“ als auch das „Gäste-haben-immer-Recht-Gesetz“. Belastungen, die Frachtschiff-Seeleute nicht haben. „Container diskutieren ja nicht“, sagt Ristau und lacht.

Evelyn Sander


Armut

Interview

Diakonie-Geschäftsführerin: Bildungs- und Teilhabepaket hinter uns lassen




Anne Fennel
epd-bild/Diakonie Saar
Sozialverbände sind überzeugt, dass die Kindergrundsicherung Familien besserstellen wird. Doch noch sind keine Details bekannt. Ist da nicht zu viel Euphorie im Spiel? Nein, sagt die Geschäftsführerin der Diakonie Saar, Anne Fennel, und erklärt warum.

Neunkirchen (epd). Für die Diakonie Saar ist die geplante Kindergrundsicherung alternativlos. Denn damit könnten mehr Kinder aus der Armut geholt werden, sagt die Geschäftsführerin der Diakonie Saar, Anne Fennel, im Interview. Mit ihr sprach Dirk Baas.

epd sozial: Frau Fennel, viele Sozialverbände, darunter auch die Diakonie, verbinden große Hoffnungen mit der angekündigten Einführung der Kindergrundsicherung. Noch weiß aber niemand, wie die neue Hilfe aussehen soll. Sind diese Erwartungen nicht gefährlich überzogen?

Anne Fennel: Noch bin ich optimistisch, dass mit der Einführung der Kindergrundsicherung für ein sicheres Existenzminimum für Kinder gesorgt wird. Wir können als freiheitlich-demokratische Gesellschaft nicht zulassen, dass Kinder schlechtere Bildungsabschlüsse erwerben, weil sie in Armut aufwachsen. Als Christinnen und Christen können wir das erst recht nicht akzeptieren. Richtig ist aber auch, dass noch völlig offen ist, wie die Kindergrundsicherung konkret aussehen soll. Immerhin geht es um einen Systemwechsel, bei dem alle kindbezogenen Leistungen zusammengefasst werden müssen. Und auch noch offen ist leider, wie viel Geld im Bundesetat dafür bereitstehen wird.

epd: Eine Einigung bei der Kindergrundsicherung stehe kurz bevor, heißt es aus Regierungskreisen. Für den Staat wird es teurer werden. Denn wenn mehr Familien als heute Unterstützungen beantragen, wird das zusätzliche Milliarden Euro kosten.

Fennel: Ja, derzeit beantragen nur etwa 35 Prozent aller anspruchsberechtigten Familien den Kinderzuschlag oder Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. Das bedeutet, dass die Unterstützung viele Kinder heute gar nicht erreicht. Und ja, es kostet zusätzlich Geld - schon deshalb, weil mit dem Systemwechsel in der Existenzsicherung für Kinder tatsächlich alle Leistungsberechtigten erreicht werden. Umgekehrt lässt sich aber durch die notwendige Vereinfachung auch Geld einsparen. Das Bildungs- und Teilhabepaket zum Beispiel war von Anfang an ein Bürokratiemonster, das bis heute einen enormen Verwaltungsaufwand auch bei den Kommunen verursacht.

epd: Was müsste das neue System außerdem leisten?

Fennel: Die Leistung muss vor allem einfach und unbürokratisch zu beantragen sein. Nur so können auch Kinder in Armutslagen profitieren. Echte Teilhabe muss möglich sein.

epd: An welchen Stellschrauben müsste gedreht werden, damit künftig Besserungen erreicht werden?

Fennel: Das Modell der Kindergrundsicherung sieht vor, dass das komplizierte Nebeneinander von Kinderregelsätzen, Kinderzuschlag, Sockel-Elterngeld, Kindergeld und Kinderfreibeträgen beendet wird. Die Leistungen sollen zusammengefasst werden.

epd: Das seit seiner Einführung umstrittene Bildungs- und Teilhabepaket wäre damit vom Tisch?

Fennel: Das ist zu hoffen. Insgesamt muss aber die Höhe der zukünftig gebündelten Leistung auch wirklich Teilhabe möglich machen. Zusätzlich halte ich auch eine echte Lernmittelfreiheit in allen Bundesländern für wichtig. Und es braucht die nötige Infrastruktur in den Kommunen und Stadtteilen, damit Kinder in Armutslagen umfassend teilhaben können.

epd: Wie würde die Absicherung konkret aussehen, die sich die Diakonie vorstellt?

Fennel: Wir gehen davon aus, dass die Kindergrundsicherung durch eine Kombination eines Sockel-Grundeinkommens für das Kind mit einem bedarfsgerechten Wohnkostenzuschuss für die Familie gewährleistet werden kann. Alle Kinder würden von diesem Sockelbetrag profitieren, ganz egal, in welchen finanziellen Verhältnissen sie leben. Und der muss immer direkt ab der Anmeldung nach der Geburt des Kindes ausbezahlt werden, ohne eine komplizierte Anspruchsprüfung. Das bedeutet aber auch, dass der zusätzliche Nettoeffekt durch die heute bestehenden Freibeträge bei Familien mit höherem Einkommen wegfällt.

epd: Viele Fachleute sagen, die Reform an sich werde Armut nicht beseitigen, wenn nicht die Regelsätze im heutigen Bürgergeld steigen. Was meinen Sie?

Fennel: Nach Prüfung der Berechnungsgrundlagen für das Existenzminimum und einer eigenen Berechnung konnte die Diakonie Deutschland nachweisen, dass die heutigen Beträge zu niedrig bemessen sind. Damals, wie gesagt vor den aktuellen Preissteigerungen, kam man auf einen monatlichen Betrag von etwa 620 Euro als existenzsichernde Leistung für eine alleinstehende erwachsene Person, plus realistische Kosten der Unterkunft.

epd: An der Berechnung des Existenzminimums scheiden sich die Geister ..."

Fennel: Ja. Wir kritisieren, dass in der Berechnung des Existenzminimums Vergleichsgruppen herangezogen werden, die selbst Anspruch auf Transferleistungen hätten, diese aber nicht berücksichtigt werden. Und da komme ich natürlich auf deutlich niedrigere Beträge, weil ich ja Menschen als Vergleichsgruppe heranziehe, die unter dem Existenzminimum leben, und dann noch Beträge reduziere. Das sind unzulässige Zirkelschlüsse, die das Existenzminimum nach unten rechnen. Hier sehen wir Fehler, die beim Berechnen einer Kindergrundsicherung nicht wiederholt werden dürfen.

epd: Bundesfamilienministerin Lisa Paus fordert 12 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung. Finanzminister Lindner hat das Geld nicht. Droht nun die Gefahr, dass die Reform scheitert oder zu einem „Reförmchen“ verkommt?

Fennel: Diese Befürchtung teile ich. Das sage ich ganz offen. Man wird sich, weil die Positionen in der Ampel derzeit doch weit auseinander liegen, auf einen Kompromiss einigen. Ein Kompromiss darf keinesfalls das Anliegen einer einfachen, existenzsichernden Leistung für Kinder konterkarieren. Damit würde eine große Chance vertan, beim Kampf gegen Kinderarmut und armutsbedingte Benachteiligung, gerade auch im Bildungsbereich, wirklich voranzukommen. Kleine Verbesserungen wird es wohl geben, doch die würden die Menschen im Alltag kaum spüren.



Armut

Dokumentation

Kindergrundsicherung: Unterstützung muss auch wirklich ankommen



Die Kindergrundsicherung kommt, betont die Ampel-Regierung. Doch wie sie ausgestaltet wird, welche Leistungen zusammengefasst werden und wie viel Geld dann fließen soll, ist noch offen. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat dazu umfassende Empfehlungen veröffentlicht.

Berlin (epd). „Die Kindergrundsicherung muss zu tatsächlichen Verbesserungen führen“, fordert der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Dabei sei es „wichtig, die Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder und Jugendliche, also der Grundlage der Leistung, anzugehen und umzusetzen“. epd sozial dokumentiert aus dem 25-seitigen „Empfehlungen zur Ausgestaltung einer Kindergrundsicherung“ des Deutschen Vereins das Kapitel „Ausgestaltung der Leistung“.

"Um sowohl dem verfassungsrechtlich gebotenen Familienlasten- und -leistungsausgleich als auch sozialpolitischen Verteilungserfordernissen gerecht zu werden, müssen die wirtschaftliche Situation des Kindes und der Familienkontext berücksichtigt werden. Bei der Ausgestaltung der Leistung muss nach Ansicht des Deutschen Vereins unter Berücksichtigung der favorisierten Anspruchsberechtigung des Kindes in jedem Fall sichergestellt werden, dass

  • die größte Unterstützung dort ankommen soll, wo die geringsten Einkommen erzielt werden,
  • ein höheres vorrangiges Nettoeinkommen auch zu einem höheren verfügbaren

Gesamteinkommen führt,

  • in Fällen eines verbleibenden parallelen Leistungsbezugs Schnittstellen so gestaltet werden, dass das Existenzminimum für das Kind gewährleistet bleibt und Abbruchkanten vermieden werden, die wiederum negative Erwerbsanreize für die Eltern nach sich ziehen könnten,
  • Anrechnungsvorschriften und Transferströme transparent und möglichst einfach gestaltet werden.

Aufgrund der existenzsichernden Funktion der Kindergrundsicherung sollte einerseits auf das aktuelle, sozialrechtliche Einkommen abgestellt werden. Andererseits sollten vorläufige Entscheidungen mit nachträglichen Spitzabrechnungen und ggf. Rückforderungen möglichst vermieden werden. Da beide Anforderungen bei schwankenden Einkommen in einem Spannungsverhältnis stehen, spricht sich der Deutsche Verein dafür aus, dass im Regelfall auf das zuletzt abgerechnete/ beschiedene Einkommen als aktuelles, gegenwärtiges Einkommen abgestellt wird. So kann für viele Personengruppen, bei denen Daten zum Einkommen (in einem festzulegenden Turnus) automatisiert abgerufen werden können, z.B. abhängig Beschäftigte oder Bezieher/innen von Arbeitslosengeld, auf Einkommensprognosen und vorläufige Bescheide verzichtet werden.

Schlechterstellung zum Status Quo vermeiden

Unbenommen bleibt die Option, dass Leistungsberechtigte bereits eingetretene, aber noch nicht per Abrechnung oder Bescheid dokumentierte oder aber konkret vorhersehbare Einkommenseinbußen geltend machen können.

Bei der Wahl des Abschmelztarifs sollte eine Schlechterstellung zum Status Quo vermieden werden. Insbesondere auch Familien, die bislang Wohngeld und Kinderzuschlag parallel bezogen haben, dürfen nicht schlechter gestellt werden. Die Schnittstelle zum Wohngeld wird auch weiterhin bei der Berücksichtigung der Gesamttransferentzugsrate bei parallelem Leistungsbezug zu beachten sein.

Bei der Frage der Anrechnung von Kindeseinkommen (Unterhalt, Unterhaltsvorschuss) muss berücksichtigt werden, dass dieses ja auch im Wohngeldgesetz als Einkommen berücksichtigt wird. Um eine doppelte Anrechnung zu verhindern, hatte das „StarkeFamilien-Gesetz“ 2019 die Anrechnung beim Kinderzuschlag von 100 auf 45 Prozent reduziert. Um die Kindergrundsicherung auch für die Kinder Alleinerziehender zugänglich zu machen, muss eine doppelte Anrechnung verhindert werden.

Das Abschmelzen der Kindergrundsicherung muss mit anderen Sozialleistungen gut abgestimmt werden. Die Transferentzugsrate sollte zum einen so ausgestaltet sein, dass sich Erwerbsarbeit für die Eltern auch weiterhin möglichst lohnt. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass eine (geringfügige) Einschränkung der Erwerbstätigkeit durch die Eltern nicht zwingend negativ zu konnotieren ist. Vielmehr könnte Eltern hierdurch ermöglicht werden, mehr Zeit für Kinder und Familie aufzubringen, was bis dahin aufgrund des finanziellen Drucks nicht möglich war. Auch diese Zeit für Kinder beziehungsweise Care-Arbeit ist wertvolle Zeit und gesellschaftlich sinnvoll, da sie der Überlastung von Eltern (derzeit insbesondere Müttern) und den damit verbundenen gesellschaftlichen Folgekosten (Arbeitsunfähigkeit, Kosten im Gesundheitssystem und so weiter) entgegenwirkt.

Zum anderen sollte gleichzeitig vermieden werden, dass im Sinne der gleichberechtigten Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit nicht vorrangig bei Müttern der Eindruck entsteht, dass sich Erwerbsarbeit für sie nicht lohnt, da dies zu Armutsrisiken insbesondere im Alter beziehungsweise im Falle einer Trennung/Scheidung führen kann. Dies kann nicht durch die Kindergrundsicherung allein sichergestellt werden. Die Ausgestaltung der Kindergrundsicherung sollte jedoch entsprechenden flankierenden Maßnahmen nicht im Weg stehen.

Hinsichtlich der Situation Alleinerziehender ist bei der Ausgestaltung der Kindergrundsicherung der Mehrbedarf für Alleinerziehende nach § 21 Abs. 3 SGB II mit zu berücksichtigen, da hierdurch für Alleinerziehende die Schwelle zur Überwindung des Grundsicherungsbezugs höher liegt. Hier sind Abbruchkanten zu vermeiden und sicherzustellen, dass sich auch für Alleinerziehende Arbeit in jedem Fall lohnt.

Ausländerrechtliche Unschädlichkeit der Leistungen

Festzuhalten bleibt schließlich, dass eine langsame Transferentzugsrate Erwerbsarbeit lohnenswert erscheinen lässt, gleichzeitig jedoch vermeintlich zu höheren Kosten führt. Aktuelle Studien weisen jedoch darauf hin, dass ein stärkerer Transferentzug zwar die direkten Kosten senkt, gleichzeitig jedoch durch die damit verbundene hohe Grenzbelastung Erwerbsarbeit weniger beziehungsweise nicht mehr lohnenswert erscheint. Insoweit ist in einem stärkeren Transferentzug nicht per se ein bedeutsames Einsparpotenzial zu sehen.

Die Inanspruchnahme der Kindergrundsicherung muss insgesamt aufenthaltsrechtlich unschädlich sein. Die in der Kindergrundsicherung einzubeziehenden Leistungen des Kindergeldes und des Kinderzuschlags sind nach geltender Rechtslage im Unterschied zu existenzsichernden Leistungen gemäß § 2 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aufenthaltsrechtlich unschädlich, sodass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung für einen gültigen Aufenthaltstitel gemäß § 5 Abs. 1 AufenthG, die die Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln (Sozialleistungen) vorsieht, auch bei der Inanspruchnahme dieser Leistungen erfüllt ist. Diese grundsätzliche ausländerrechtliche Unschädlichkeit der kinderbezogenen Leistungen muss auch bei einer Neukonzeption dieser Leistungen erhalten bleiben.

Die Ausgestaltung der Kindergrundsicherung hat schließlich gegebenenfalls auch Auswirkungen auf die Exportpflicht für Familienleistungen nach EU-Recht. Familienleistungen in diesem Sinne erfassen nach aktueller Rechtlage einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringern soll, während Leistungen der Sozialhilfe sich durch eine individuelle Prüfung des persönlichen Bedarfs auszeichnen.

Nach europarechtlichen Maßstäben richtet sich die Abgrenzung der Leistungen und damit die Exportierpflicht dabei im Wesentlichen nach den grundlegenden Merkmalen der Leistung, insbesondere ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht aber nach ihrer Rechtsnatur nach nationalem Recht. Eine Exportpflicht besteht dann nicht, wenn es sich um eine Leistung der sozialen Fürsorge handelt oder die Leistung als sog. besondere beitragsunabhängige Geldleistung sowohl Merkmale der Sozialhilfe als auch Merkmale einer Familienleistung aufweist."



Gesundheit

Wenig Fortschritte bei Hilfen für Menschen ohne Krankenversicherung



Mainz (epd). Knapp 15 Jahre nach Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht in Deutschland beklagen Verbände und Sozialinitiativen weiter eine hohe Anzahl unversicherter Menschen. Nirgendwo in Europa seien die gesetzlichen Regelungen so kompliziert wie in der Bundesrepublik, klagte Nele Wilk von der „Clearingstelle Krankenversicherung Rheinland-Pfalz“ am 23. Juni bei einer Fachtagung der Nationalen Armutskonferenz in Mainz.

Rückkehr in die GKV verbaut

Krankenkassen würden Betroffene oft bewusst falsch beraten, um sie abzuwimmeln, kritisierte sie. So würden Antragsformulare mitunter erst nach wochenlangen Verzögerungen verschickt.

Nach Einschätzung von Hilfsvereinen verhindern beispielsweise hohe Beitragsrückstände und die Angst vor einem nicht zu bewältigenden Schuldenberg die Rückkehr von Menschen in das reguläre Krankenversicherungssystem. Besonders drückend sei die Lage älterer, vormals privat Versicherter, denen ab einem Alter von 55 Jahren die Rückkehr in eine gesetzliche Krankenkasse verbaut sei. Ähnlich schwierig sei die Lage für viele EU-Bürger sowie Straftäter nach Verbüßung einer Haftstrafe. Die Clearingstelle wird vom privaten Mainzer Hilfsverein „Armut und Gesundheit“ getragen.

Flickenteppich regionaler Angebote

Anstelle von bundesweit einheitlichen Standards für die Behandlung von Patienten ohne Versicherungsschutz gebe es bislang nur einen Flickenteppich regionaler Angebote, sagte Sophie Pauligk von der „Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsscheine und Clearingstellen“. In zahlreichen Kommunen hätten sich mittlerweile parallele Versorgungsstrukturen auf Spendenbasis etabliert, in denen Ärzte oder Medizinstudenten sich um Menschen ohne Versicherungsschutz kümmerten.

Clearingstellen mit Regelungen zur Kostenübernahme für Behandlungen in regulären medizinischen Einrichtungen gebe es bislang in Berlin, München, Hamburg und Bremen. In anderen Regionen, etwa in Großstädten wie Mannheim und Heidelberg, fehle bislang noch jegliches Angebot für Nichtversicherte.




sozial-Recht

Bundessozialgericht

Belastungsstörung im Rettungsdienst kann Berufskrankheit sein




Sanitäter mit Einsatzwagen
epd-bild/Steffen Schellhorn
Bei Unfällen sind Rettungssanitäter als Ersthelfer schnell vor Ort und erleben dabei selbst traumatische Ereignisse. Erstmals hat das Bundessozialgericht nun geurteilt, dass eine dabei erlittene psychische Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt werden kann.

Kassel (epd). Rettungssanitäterinnen und -sanitäter können durch traumatische Erlebnisse bei Rettungseinsätzen selbst krank werden. Erkranken sie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), kann diese daher von der gesetzlichen Unfallversicherung als Berufskrankheit anerkannt werden, urteilte das Bundessozialgericht (BSG) am 22. Juni in Kassel. Die Richter haben damit erstmals eine psychische Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt, den konkreten Streitfall zur erneuten Überprüfung jedoch an das Landessozialgericht (LSG) Stuttgart zurückverwiesen.

Zusammenbruch nach Einsätzen

Welche Berufskrankheiten es für welche Berufsgruppen gibt, ist in einer Liste der Berufskrankheitenverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales festgelegt. Psychische Erkrankungen sind darin bislang noch nicht erfasst. Allerdings kann eine noch nicht erfasste Erkrankung eine sogenannte Wie-Berufskrankheit sein, wenn die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Berufskrankheit erfüllt sind. Der Unfallversicherungsträger muss dann die Erkrankung „wie“ eine Berufskrankheit anerkennen.

Der Kläger, ein ehemaliger Rettungssanitäter des Deutschen Roten Kreuzes im Landkreis Esslingen, war 2016 wegen zahlreicher extremer Erlebnisse bei Rettungseinsätzen zusammengebrochen. In einer Reha-Klinik wurde bei ihm eine PTBS diagnostiziert. Diese wollte er von der Unfallversicherung Bund und Bahn als Berufskrankheit anerkennen lassen.

Er verwies auf belastende Rettungseinsätze wie den Amoklauf 2009 in Winnenden und Wendlingen mit 16 Toten und den Suizid zweier Mädchen. Das erste Mädchen nahm sich 2014 durch Selbstenthauptung das Leben, das zweite folgte ihr am „Jahrestag“ 2015 auf ähnlich grausame Weise in den Tod. Der Kläger war jedes Mal als Erster vor Ort.

Die Vielzahl der traumatischen Erlebnisse habe dazu geführt, dass er unter Alpträumen und zitternden Händen leide. Die erlebten Bilder, Eindrücke und Gefühle würden immer wieder unkontrolliert in sein Bewusstsein drängen. Der Rettungssanitäter kann seinen Beruf nicht mehr ausüben und bezieht inzwischen eine volle Erwerbsminderungsrente.

Deutlich erhöhtes Risiko

Die Unfallversicherung Bund und Bahn stellte fest, dass die PTBS in der einschlägigen Verordnung nicht als Berufskrankheit aufgeführt sei. Es liege auch keine Wie-Berufskrankheit vor. Es gebe keine gesicherten Erkenntnisse, dass die wiederholte Konfrontation mit solchen Ereignissen bei Rettungssanitätern geeignet sei, eine PTBS auszulösen.

Das BSG hatte bereits im Jahr 2021 über die Klage des Rettungssanitäters verhandelt und selbst ein Gutachten zur Klärung einer Wie-Berufskrankheit veranlasst. Grund: Der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatte erklärt, dass er auch in Zukunft nicht prüfen wolle, ob eine PTBS eine Berufskrankheit sein könne. In dem vom BSG veranlassten Gutachten wurde festgestellt, dass das Risiko, an einer PTBS zu erkranken, bei Rettungssanitätern im Vergleich zur übrigen Bevölkerung fast siebenfach erhöht ist.

Nachdem der Fall erneut vor dem BSG verhandelt wurde, zweifelte die Unfallversicherung nun die Studie an. Diese habe internationale Untersuchungen mit berücksichtigt, deren Ergebnisse nicht auf Rettungssanitäter in Deutschland übertragbar seien.

Das BSG urteilte, dass es auf die Studie gar nicht mehr ankomme. Es verwies auf eine frühere Entscheidung vom 28. Juni 2022, in der es um die Frage ging, ob eine PTBS bei einem Schlosser als Arbeitsunfall anzuerkennen sei. Hier hatten die obersten Sozialrichter die internationalen medizinischen Diagnosesysteme und die medizinisch-wissenschaftlichen Leitlinien der Fachgesellschaften zurate gezogen. Danach sei geklärt, dass erlittene Traumata ursächlich für eine PTBS seien.

Urteil mit Folgen auch für Notärzte

Diese Grundsätze seien auf Streitigkeiten über das Vorliegen einer Berufskrankheit übertragbar. Auch hier sei davon auszugehen, dass die Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen ursächlich für eine PTBS sei. Für Rettungsassistenten bestehe daher ein „abstrakt-generell“ erhöhtes Risiko, an einer PTBS zu erkranken.

Das Urteil kann damit auch als Argumentationshilfe für andere Berufsgruppen dienen, bei denen ebenfalls eine PTBS infolge traumatischer Erlebnisse auftreten kann. Dazu gehören beispielsweise Feuerwehrleute, Polizisten oder auch Notärzte.

Das konkrete Verfahren hat das BSG dennoch an das LSG Stuttgart zurückverwiesen. Zwar war in dem Verfahren nie bestritten worden, dass der Rettungssanitäter an einer PTBS leidet. Das LSG hatte dies aber nicht bindend festgestellt. Ebenso fehlten Feststellungen dazu, ob es gegebenenfalls auch „konkurrierende“ private Ereignisse gab, die die PTBS ebenfalls hätten auslösen können. Denn für private traumatische Erlebnisse hat die Unfallversicherung nicht einzustehen.

Az.: B 2 U 11/20 R (BSG, Berufskrankheit)

Az.: B 2 U 9/20 R (BSG, Arbeitsunfall)

Frank Leth


Bundesverwaltungsgericht

Mahnwachen gegen Abtreibung dürfen nicht pauschal verboten werden



Pforzheim/Leipzig (epd). Mahn- und Gebetswachen in der Nähe von Schwangerschaftsberatungsstellen bleiben rechtmäßig. Die Stadt Pforzheim sei mit ihrem Verbot solcher Veranstaltungen beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig gescheitert, teilte die Klägerseite am 22. Juni mit. Die Gruppe „40 Tage für das Leben“ veranstaltet zweimal im Jahr stille Gebete gegenüber von „Pro Familia“ in Pforzheim.

In dem Gerichtsbeschluss, der dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, verweist der 6. Senat auf die grundgesetzlich verbürgte Versammlungsfreiheit. Der Veranstalter habe das Recht, „selbst über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Versammlung zu bestimmen“. Auch gebe es „in einer pluralistischen Gesellschaft kein Recht darauf, von der Konfrontation mit abweichenden religiösen Vorstellungen oder Meinungen gänzlich verschont zu bleiben“.

„Spießrutenlauf“ für Schwangere

Die Stadt hatte argumentiert, die betroffenen Schwangeren befänden sich in einer psychischen Ausnahmesituation und müssten einen „Spießrutenlauf“ über sich ergehen lassen. Dafür habe es aber keine Belege gegeben, stellten die Bundesverwaltungsrichter fest. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit sei zulässig, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bestehe.

Die Stadt Pforzheim hatte 2019 ein Verbot der Gebetswachen in Sichtweite von „Pro Familia“ verfügt. Die Veranstalter klagten dagegen und bekamen im vergangenen Jahr vor dem baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim Recht. Gegen dieses Urteil wiederum zog die Stadt vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Dort folgte man jedoch der Argumentation der Mannheimer Richter und ließ eine Revision nicht zu.

Az.: 1 S 3575/2



Landesarbeitsgericht

Zu viel erhaltener Lohn muss auch bei Schulden zurückgezahlt werden



Mainz (epd). In Rente gegangene Arbeitnehmer müssen den monatelang fehlerhaft überwiesenen Lohn wieder an ihren früheren Arbeitgeber zurückzahlen. Sie können sich nicht darauf berufen, dass ihre Bank die Vergütung zwischenzeitlich zur Schuldentilgung benutzt habe und sie daher „entreichert“ worden seien, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in einem am 21. Juni veröffentlichten Urteil.

Im konkreten Fall ging es um einen Arbeitnehmer eines Konzerns, dessen Arbeitsverhältnis zum 29. Februar 2020 endete. Danach ging er in Rente. Dennoch überwies die konzerninterne Personaldienstleister-Gesellschaft vier weitere Monate Lohn.

Gericht nennt Rentner „bösgläubig“

Als der frühere Arbeitgeber die Überzahlung des Nettolohns von insgesamt 10.612 Euro sowie weitere 1.596 Euro für gezahlte Lohnsteuer zurückforderte, winkte der Rentner ab. Der ausgezahlte Betrag sei für den Lebensunterhalt und der Schuldentilgung verwendet worden. Seine Bank habe das Geld sofort mit seinen erheblichen Verbindlichkeiten verrechnet.

Er berief sich auf eine „Entreicherung“. Dass das Geld zu Unrecht ihm ausgezahlt wurde, habe er nicht gewusst. Der Rentner vermutete in der Zahlung „Nachwirkungen seiner immerhin 49 Jahre andauernden Tätigkeit“.

Das LAG urteilte, dass der Rentner den Nettolohn und die Lohnsteuer zurückzahlen muss. Anderes könne gelten, wenn der Arbeitgeber gewusst habe, dass er den Lohn nicht zahlen musste. Hier habe die konzerninterne Personaldienstleister-Gesellschaft, die die Abrechnungen machte, aber nicht erkennen können, dass kein Anspruch auf eine Vergütung mehr bestand. Die Entgeltabrechnungen enthielten keinen Hinweis über das Ende des Arbeitsverhältnisses.

Der Rentner selbst habe zudem unschwer erkennen können, dass ihm die Vergütung nicht zustehe. Damit sei er „bösgläubig“ gewesen. Dass es sich um „Nachwirkungen“ aus seinem Arbeitsverhältnis gehandelt habe, sei nicht plausibel.

Az.: 7 Sa 238/22



Landessozialgericht

Kursleiter sind rentenversicherungspflichtig



Darmstadt (epd). Selbstständig tätige Kursleiter sind nach einer Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts rentenversicherungspflichtig. Ein gesetzlich geregeltes Berufsbild einer selbstständigen Lehrkraft sei dafür nicht maßgeblich, teilte das Gericht in Darmstadt am 28. Juni mit. Lehrer im Sinne des Rentenversicherungsrechts seien Personen, die durch Erteilung von theoretischem oder praktischem Wissen anderen Personen Allgemeinbildung oder spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelten. Besondere Kenntnisse und Fähigkeiten des Lehrers seien nicht erforderlich. Die Revision wurde nicht zugelassen.

In dem Fall forderte die Deutsche Rentenversicherung die Zahlung von Pflichtbeiträgen von einer Frau aus Südhessen, die Yogakurse an Volkshochschulen gibt. Diese klagte dagegen mit der Begründung, Yogakurse seien keine Lehrtätigkeit, sondern eine therapeutische Maßnahme.

Die Richter wiesen die Klage zurück. Eine Yoga-Kursleiterin vermittele Kenntnisse und Fähigkeiten und sei daher als Lehrerin tätig und rentenversicherungspflichtig. Volkshochschulkurse dienten dem Zweck der Weiterbildung und nicht der individuellen Heilbehandlung der Teilnehmer. Eine situationsbezogene Beratertätigkeit wie bei einer Unternehmens-, Berufs- oder Lebensberatung liege nicht vor.

Az.: L 2 R 214/22




sozial-Köpfe

Kirchen

Christian von Klitzing und Sascha John an der Spitze der Alexianer




Christian von Klitzing (li.) und Sascha John
epd-bild/Alexianer
Die Alexianer GmbH hat eine Nachfolge für Karsten Honsel gefunden, der die Hauptgeschäftsführung des Gesundheits- und Sozialwirtschaftskonzerns Ende Juni verlassen hat. Christian von Klitzing und Sascha John wurden in das Leistungsgremium berufen.

Münster (epd). Der Gesundheits- und Sozialwirtschaftskonzern Alexianer GmbH mit Sitz in Münster stellt seine Hauptgeschäftsführung neu auf. Nach dem Weggang von Karsten Honsel (59) wurden Christian von Klitzing (44) und Sascha John (54) in die Hauptgeschäftsführung berufen. Dort bilden sie zum 1. November 2023 zusammen mit Sprecher Andreas Barthold und Erika Tertilt das dann vierköpfige, auf operativer Ebene höchste Leitungsgremium der Alexianer. Von Klitzing und John sind derzeit in leitender Position bei der Sana Kliniken AG beschäftigt.

„Wir freuen uns, mit Dr. Christian von Klitzing und Sascha John erfahrene Fachleute aus dem Gesundheitswesen gefunden zu haben und damit die geplante personelle Stärkung der Hauptgeschäftsführung hochwertig realisieren zu können“, sagte Hartmut Beiker, Vorsitzender der Gesellschafterversammlung der Alexianer GmbH.

Sascha John war in den vergangenen Jahren in verschiedenen Führungspositionen im Sana-Konzern tätig, zunächst als Geschäftsführer des Sana-Klinikums Offenbach, dann als Regionalgeschäftsführer der Sana Kliniken AG. Christian von Klitzing ist seit 2005 in diversen Management-Funktionen bei Sana aktiv. Zuletzt war er als Regionalgeschäftsführer der Sana Kliniken Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern tätig, zuvor war er Geschäftsführer der Sana Kliniken Berlin Brandenburg.

Karsten Honsel war bis 30. Juni Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Alexianer Gruppe. Die Trennung erfolge in beiderseitigem Einvernehmen, teilte das Kuratorium der katholischen Stiftung mit. Der Diplom-Kaufmann war innerhalb der dreiköpfigen Hauptgeschäftsführung unter anderem für die Themen Personal, Digitalisierung, Unternehmenskommunikation zuständig und trug die Verantwortung für sechs der zwölf Alexianer-Regionen.

Die Alexianer Gruppe ist eins der größten katholischen Gesundheits- und Sozialwirtschafts-Unternehmen und als Verbund bundesweit in zwölf Regionen, acht Bistümern und sechs Bundesländern tätig. Die Alexianer beschäftigen 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und betreiben somatische und psychiatrische Krankenhäuser, medizinische Versorgungszentren sowie Einrichtungen der Senioren-, Eingliederungs- und Jugendhilfe. Als gemeinsames Dach der Unternehmensgruppe arbeitet die Alexianer GmbH im Auftrag der Stiftung der Alexianerbrüder, die als Träger und Gesellschafter das Erbe des 800 Jahre alten Alexianerordens bewahrt. 2022 erwirtschaftete die Gruppe einen Umsatz von 1,83 Milliarden Euro.



Weitere Personalien



Karl Lauterbach soll den Schmähpreis „Goldene Abrissbirne“ erhalten. Anlässlich der Gesundheitsministerkonferenz am 5. und 6. Juli in Friedrichshafen verleiht das Bündnis Klinikrettung den Negativpreis an den Bundesgesundheitsminister. Der Preis gehe an den SPD-Politiker, da er sich mit seiner Krankenhausreform als besonders vehementer Klinikschließer hervortue. Die „festliche Preisverleihung mit rotem Teppich wird von einer satirischen Laudatio gekrönt“, teilte das Protestbündnis mit.

Christine Spanninger (48) und Gabriele Westermann (56) sind als Geschäftsführerinnen des Diakonischen Werks Breisgau-Hochschwarzwald eingeführt worden. Die beiden haben im Januar die Verantwortung für das Werk mit rund 150 Mitarbeitenden übernommen. Spanninger kehrte nach sieben Jahren zurück. Zuletzt war die in Berlin als Programmleitung im bundesweiten Netzwerk „Engagierte Stadt“ tätig. Westermann verantwortet als kaufmännische Geschäftsführung die Bereiche Finanzen, Personal und interne Organisation. Sie ist seit 1995 beim Diakonischen Werk Breisgau-Hochschwarzwald. Seit 2002 war sie als Verwaltungsleitung der Diakonie Breisgau-Hochschwarzwald tätig und zuletzt stellvertretende Geschäftsführerin.

Indira Schmude-Basic ist in den Vorstand des Bundesverbandes der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB) gewählt worden. Der BKSB vertritt die Interessen kommunaler Senioren und Behinderteneinrichtungen. Schmude-Basic ist seit 2022 Fachlich-Kaufmännische Werkleiterin im NürnbergStift. Sie ist ausgebildete Krankenschwester und studierte Diplom-Betriebswirtin und hat außerdem einen Bachelorabschluss im Studiengang Pflege- und Gesundheitsmanagement.

Dirk Albrecht (58) ist zum stellvertretenden Vorsitzenden des Katholischen Krankenhausverbandes Deutschlands (kkvd) berufen worden. Er bildet gemeinsam mit dem Vorsitzenden Ingo Morell und dem ersten stellvertretenden Vorsitzenden Ansgar Veer die nunmehr dreiköpfige Verbandsspitze. Albrecht ist seit 2006 Teil der Geschäftsführung der Contilia GmbH in Essen, mittlerweile in der Funktion des Vorsitzenden der Geschäftsführung. Das Gesundheitsnetzwerk in katholischer Trägerschaft hat rund 7.200 Mitarbeitende. Dem kkvd-Vorstand gehört Albrecht seit 2017 an.

Martin Behrendt (36) ist neuer Einrichtungsleiter des Deutschen Taubblindenwerks Fischbeck. Er tritt die Nachfolge von Markus Meier an. Behrendt ist examinierter Altenpfleger und war seit 2006 in verschiedenen Funktionen im Altenhilfebereich tätig. Nach mehrjährigen Tätigkeiten als Qualitätsmanager und Pflegedienstleiter leitete Behrendt ein Pflegewohnstift. Er ist nun nach fast 17-jähriger Tätigkeit im Altenhilfebereich in den Arbeitsbereich der Eingliederungshilfe gewechselt. In den drei Wohnheimen und einer Werkstatt in Fischbeck bietet das Taubblindenwerk Wohn- und Arbeitsplätze für mehrfachbehinderte, hörsehbehinderte und taubblinde erwachsene Menschen.

Steffen Mau ist in Darmstadt mit dem Schader-Preis 2023 ausgezeichnet worden. Der Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität sei einer der originellsten Vertreter seines Fachs, sagte die Sprecherin des Senats der Schader-Stiftung, Nicole Deitelhoff. Die Erkenntnisse des 54-Jährigen setzten immer wieder wichtige Impulse für drängende gesellschaftspolitische Debatten, wie jüngst zur Frage nach der möglichen Spaltung der Gesellschaft. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert und wird seit 1993 vergeben. Der jährlich verliehene Schader-Preis würdigt Gesellschaftswissenschaftler, die durch ihre Forschung und ihr öffentliches Wirken einen Beitrag zur Lösung sozialer Probleme leisten.

Andreas Zick (60), Extremismusforscher aus Bielefeld, ist in den Expertenrat Antirassismus der Bundesregierung berufen worden. Das Gremium mit zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern soll Empfehlungen zum Umgang mit Rassismus in zentralen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen entwickeln. Sozialpsychologe Zick leitet seit rund zehn Jahren das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Zudem ist er Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft.

Nina-Annette Reit-Born ist zur Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster berufen worden. Dort wird sie ab dem Sommersemester das Lehr- und Forschungsgebiet Rechtsgrundlagen der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt öffentliches Recht vertreten. Ihr Studium hat sie an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) absolviert, wo sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin und später als Justitiarin gearbeitet hat. In ihrer Dissertation hat sie verschiedene Möglichkeiten der Krankenhausfinanzierung untersucht und sich mit Privatisierung und Public-Private-Partnership-Modellen auseinandergesetzt.

Silke Banning und Klausjürgen Mauch leiten ab 1. Juli gemeinsam die „Dienste für junge Menschen“ der Evangelischen Gesellschaft (eva) in Stuttgart. Zu der Abteilung gehören die Bereiche Ganztagesschulen, Jugendsozialarbeit, Arbeit - Beschäftigung - Ausbildung, Johannes-Falk-Haus und Ambulante Hilfen für junge Erwachsene. Deren insgesamt 300 Mitarbeitende setzen sich für Kinder und Jugendliche ein, von denen viele aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammen. Die neue Abteilungsleitung löst Sabine Henniger ab, die Vorständin bei der eva wird. Sie hat die Abteilung seit 2013 geleitet.

Gabriela Hund (57) wird neue Leiterin der Blinden- und Sehbehindertenseelsorge sowie der Schwerhörigenseelsorge der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Zum 1. Juli tritt sie die Nachfolge von Gerhard Christ an, der in den Ruhestand geht. Die Gemeindepädagogin ist bereits seit Februar im Zentrum Seelsorge und Beratung in Darmstadt tätig. Zuvor war sie in der schulbezogenen Jugendarbeit in Reichelsheim im Odenwald tätig. Auf ihrer neuen Stelle wird Hund neben der Blinden- und Sehbehindertenseelsorge auch für die Schwerhörigenseelsorge zuständig sein.

Vanessa Kerry ist zur ersten Sondergesandten für Klimawandel und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ernannt worden. Die Ärztin und bisherige Chefin der Hilfsorganisation Seed Global Health in Boston soll in ihrem neuen Amt auf die Gefahren des Klimawandels für die globale Gesundheit aufmerksam machen. Der Klimawandel entwickle sich zur größten gesundheitlichen Herausforderung des 21. Jahrhunderts, erklärte die WHO.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis August



Juli

5.7.:

Online-Schulung „Kompetent online beraten per Video“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

6.7.:

Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Kinder- und Jugendhilfe“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

11.7.:

Webinar „Wie berichte ich nachhaltig?“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0761/79186-35

August

15.8. Köln:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-519

24.8.:

Online-Kurs „Kita-Recht für Leitungskräfte“

der Paritätischen Akademie Hamburg

Tel.: 040/415201-66

28.-31.8. Berlin:

Fortbildung „Bundesrahmenhandbuch Schutzkonzepte vor sexualisierter Gewalt“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

30.8. Berlin:

Seminar „Grundlagen des Arbeitsrechtes in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - Gestaltungsspielräume nutzen“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/98817-159

31.8. Berlin:

Seminar „Einfach empfehlenswert! MitarbeiterInnen als MarkenbotschafterInnen“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel. 030/275828221

31.8. Berlin:

Seminar „Datenschutz in sozialen Einrichtungen“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0251/48261-173

31.8. Berlin:

Seminar „Betriebsverfassungsrecht aus Arbeitgebersicht“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/98817159