Hamburg (epd). Über Seeleute gibt es viele Klischees: Nichts kann sie erschüttern, sie sind Weltenbummler und in jedem Hafen zu Hause. „Mit der harten Realität der Seeleute hat das nichts zu tun“, sagt Matthias Ristau, der seit 2022 die Deutsche Seemannsmission (DSM) leitet. „Seeleute fühlen sich unsichtbar“, sagt Ristau. Verstehen kann er das nicht: Ohne die weltweit etwa 1,7 Millionen Seeleute würde die globale Wirtschaft zusammenbrechen. Seit 1886 kümmert sich die DSM weltweit um Seeleute, unterstützt mit Gesprächen an Bord und Landangeboten.
Zwar hätten sich die Arbeitsbedingungen auf modernen Schiffen durchaus verbessert. Viele Reedereien bieten Internetzugänge für die Crews an, damit diese Kontakt zu ihren Familien und Freunden halten können. Aber: „Es gibt noch welche, die kein Internet an Bord für Seeleute haben. Das muss sich ändern, sonst finden sie keine maritimen Nachwuchskräfte mehr“, sagt Ristau. Der Job bleibt hart: Stressfaktoren an Bord sind Einsamkeit, lange Abwesenheiten von Zuhause, ständig Lärm und hohe Arbeitsbelastungen.
Bei den jährlich rund 25.000 Bordbesuchen der DMS-Mitarbeitenden sind psychische Probleme immer wieder ein Thema. „Seeleute sind seelisch erschöpft“, sagt Ristau. Zumal für manche von ihnen die Corona-Einschränkungen noch nicht vorbei sind: Einzelne Länder und Reedereien würden den Landgang immer noch untersagen, weil sie Infektionen befürchten. „Es gibt keine Gründe, Landgang prinzipiell zu verbieten“, sagt Ristau. „Meiner Ansicht nach ist es ein Verstoß gegen die Menschenrechte, Seeleute an ihrem Arbeitsplatz monatelang einzusperren.“
Dabei sei gerade die Pause an Land so wichtig für die mentale Gesundheit, betont auch Sören Wichmann. „Wer das Schiff verlässt, will nicht nur einkaufen und entspannen“, sagt der Leiter des Hamburger Seemannsclubs „Duckdalben“. Beim Landgang tanken Seeleute mental auf und erhöhen ihre Stressresistenz. Mindestens einmal im Monat sollte Landgang auf dem Dienstplan stehen.
Weltweit setzen sich an 33 DSM-Stationen rund 600 Mitarbeitende für Seeleute ein. Nach Extremsituationen an Bord hilft die Psychosoziale Notfallversorgung. 45 ausgebildete DSM-Experten seien rund um die Uhr erreichbar und unterstützen bei der psychischen Bewältigung von schweren Arbeitsunfällen, Todesfällen, Piratenangriffen, lebensbedrohlichen Stürmen oder Schiffskollisionen. „Solche Situationen steckt keiner einfach so weg“, sagt Ristau. Das Angebot wurde in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut.
Die DSM will weiter wachsen, in Panama wurde eine neue Station eröffnet. „Es gibt noch so viele Häfen, wo wir gebraucht werden“, sagt der DSM-Chef, der dabei nicht nur Arbeiter auf dem Frachtschiff, sondern auch Kreuzfahrt-Crews im Blick hat. Ihre mentale Belastung sei oft noch höher.
Vor allem günstige Reedereien sparen am Personal, für sie gebe es nur laute Mini-Gemeinschaftskabinen, der Stresspegel sei hoch, die Müdigkeit auch. Noch dazu herrsche in Crews mit 1.500 Menschen „eine ganz andere Dynamik“ als auf Containerschiffen mit 20 Mann. Obendrein gelte für Service-Personal sowohl die „Immer-schön-lächeln-Regel“ als auch das „Gäste-haben-immer-Recht-Gesetz“. Belastungen, die Frachtschiff-Seeleute nicht haben. „Container diskutieren ja nicht“, sagt Ristau und lacht.