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Armut

Interview

Diakonie-Geschäftsführerin: Bildungs- und Teilhabepaket hinter uns lassen




Anne Fennel
epd-bild/Diakonie Saar
Sozialverbände sind überzeugt, dass die Kindergrundsicherung Familien besserstellen wird. Doch noch sind keine Details bekannt. Ist da nicht zu viel Euphorie im Spiel? Nein, sagt die Geschäftsführerin der Diakonie Saar, Anne Fennel, und erklärt warum.

Neunkirchen (epd). Für die Diakonie Saar ist die geplante Kindergrundsicherung alternativlos. Denn damit könnten mehr Kinder aus der Armut geholt werden, sagt die Geschäftsführerin der Diakonie Saar, Anne Fennel, im Interview. Mit ihr sprach Dirk Baas.

epd sozial: Frau Fennel, viele Sozialverbände, darunter auch die Diakonie, verbinden große Hoffnungen mit der angekündigten Einführung der Kindergrundsicherung. Noch weiß aber niemand, wie die neue Hilfe aussehen soll. Sind diese Erwartungen nicht gefährlich überzogen?

Anne Fennel: Noch bin ich optimistisch, dass mit der Einführung der Kindergrundsicherung für ein sicheres Existenzminimum für Kinder gesorgt wird. Wir können als freiheitlich-demokratische Gesellschaft nicht zulassen, dass Kinder schlechtere Bildungsabschlüsse erwerben, weil sie in Armut aufwachsen. Als Christinnen und Christen können wir das erst recht nicht akzeptieren. Richtig ist aber auch, dass noch völlig offen ist, wie die Kindergrundsicherung konkret aussehen soll. Immerhin geht es um einen Systemwechsel, bei dem alle kindbezogenen Leistungen zusammengefasst werden müssen. Und auch noch offen ist leider, wie viel Geld im Bundesetat dafür bereitstehen wird.

epd: Eine Einigung bei der Kindergrundsicherung stehe kurz bevor, heißt es aus Regierungskreisen. Für den Staat wird es teurer werden. Denn wenn mehr Familien als heute Unterstützungen beantragen, wird das zusätzliche Milliarden Euro kosten.

Fennel: Ja, derzeit beantragen nur etwa 35 Prozent aller anspruchsberechtigten Familien den Kinderzuschlag oder Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. Das bedeutet, dass die Unterstützung viele Kinder heute gar nicht erreicht. Und ja, es kostet zusätzlich Geld - schon deshalb, weil mit dem Systemwechsel in der Existenzsicherung für Kinder tatsächlich alle Leistungsberechtigten erreicht werden. Umgekehrt lässt sich aber durch die notwendige Vereinfachung auch Geld einsparen. Das Bildungs- und Teilhabepaket zum Beispiel war von Anfang an ein Bürokratiemonster, das bis heute einen enormen Verwaltungsaufwand auch bei den Kommunen verursacht.

epd: Was müsste das neue System außerdem leisten?

Fennel: Die Leistung muss vor allem einfach und unbürokratisch zu beantragen sein. Nur so können auch Kinder in Armutslagen profitieren. Echte Teilhabe muss möglich sein.

epd: An welchen Stellschrauben müsste gedreht werden, damit künftig Besserungen erreicht werden?

Fennel: Das Modell der Kindergrundsicherung sieht vor, dass das komplizierte Nebeneinander von Kinderregelsätzen, Kinderzuschlag, Sockel-Elterngeld, Kindergeld und Kinderfreibeträgen beendet wird. Die Leistungen sollen zusammengefasst werden.

epd: Das seit seiner Einführung umstrittene Bildungs- und Teilhabepaket wäre damit vom Tisch?

Fennel: Das ist zu hoffen. Insgesamt muss aber die Höhe der zukünftig gebündelten Leistung auch wirklich Teilhabe möglich machen. Zusätzlich halte ich auch eine echte Lernmittelfreiheit in allen Bundesländern für wichtig. Und es braucht die nötige Infrastruktur in den Kommunen und Stadtteilen, damit Kinder in Armutslagen umfassend teilhaben können.

epd: Wie würde die Absicherung konkret aussehen, die sich die Diakonie vorstellt?

Fennel: Wir gehen davon aus, dass die Kindergrundsicherung durch eine Kombination eines Sockel-Grundeinkommens für das Kind mit einem bedarfsgerechten Wohnkostenzuschuss für die Familie gewährleistet werden kann. Alle Kinder würden von diesem Sockelbetrag profitieren, ganz egal, in welchen finanziellen Verhältnissen sie leben. Und der muss immer direkt ab der Anmeldung nach der Geburt des Kindes ausbezahlt werden, ohne eine komplizierte Anspruchsprüfung. Das bedeutet aber auch, dass der zusätzliche Nettoeffekt durch die heute bestehenden Freibeträge bei Familien mit höherem Einkommen wegfällt.

epd: Viele Fachleute sagen, die Reform an sich werde Armut nicht beseitigen, wenn nicht die Regelsätze im heutigen Bürgergeld steigen. Was meinen Sie?

Fennel: Nach Prüfung der Berechnungsgrundlagen für das Existenzminimum und einer eigenen Berechnung konnte die Diakonie Deutschland nachweisen, dass die heutigen Beträge zu niedrig bemessen sind. Damals, wie gesagt vor den aktuellen Preissteigerungen, kam man auf einen monatlichen Betrag von etwa 620 Euro als existenzsichernde Leistung für eine alleinstehende erwachsene Person, plus realistische Kosten der Unterkunft.

epd: An der Berechnung des Existenzminimums scheiden sich die Geister ..."

Fennel: Ja. Wir kritisieren, dass in der Berechnung des Existenzminimums Vergleichsgruppen herangezogen werden, die selbst Anspruch auf Transferleistungen hätten, diese aber nicht berücksichtigt werden. Und da komme ich natürlich auf deutlich niedrigere Beträge, weil ich ja Menschen als Vergleichsgruppe heranziehe, die unter dem Existenzminimum leben, und dann noch Beträge reduziere. Das sind unzulässige Zirkelschlüsse, die das Existenzminimum nach unten rechnen. Hier sehen wir Fehler, die beim Berechnen einer Kindergrundsicherung nicht wiederholt werden dürfen.

epd: Bundesfamilienministerin Lisa Paus fordert 12 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung. Finanzminister Lindner hat das Geld nicht. Droht nun die Gefahr, dass die Reform scheitert oder zu einem „Reförmchen“ verkommt?

Fennel: Diese Befürchtung teile ich. Das sage ich ganz offen. Man wird sich, weil die Positionen in der Ampel derzeit doch weit auseinander liegen, auf einen Kompromiss einigen. Ein Kompromiss darf keinesfalls das Anliegen einer einfachen, existenzsichernden Leistung für Kinder konterkarieren. Damit würde eine große Chance vertan, beim Kampf gegen Kinderarmut und armutsbedingte Benachteiligung, gerade auch im Bildungsbereich, wirklich voranzukommen. Kleine Verbesserungen wird es wohl geben, doch die würden die Menschen im Alltag kaum spüren.



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