Berlin (epd). 57 Jahre alt ist Mario, als seine Desorientierung einer Demenz zugeschrieben wird. Begonnen hatte der Ausnahmezustand Monate vorher, erinnert sich seine Lebensgefährtin Andrea: „Er war plötzlich komisch. Hat sich über vieles schnell aufgeregt.“ Andrea und Mario wollen nicht in der breiten Öffentlichkeit mit ihrem vollen Namen bekannt sein, haben Sorge vor Stigmatisierung und falscher Anteilnahme.
„Jungbetroffene“ nennt die Medizin Demenzkranke, die noch einige Jahre bis zur Rente haben. „Tatsächlich kommen diese Fälle im Vergleich selten vor“, erklärt Oliver Peters, Professor an der Berliner Charité. Im Durchschnitt seien die Besucher seiner Gedächtnissprechstunde am Zentrum für Demenzprävention deutlich älter.
„Symptome, die auf eine Demenz hindeuten, werden bei Menschen, die mitten im Leben stehen, zunächst als Anzeichen eines Burnouts oder einer Depression gewertet“, sagt er. So geht bis zur korrekten Diagnose manchmal wertvolle Zeit verloren.
Nicht nur Vergesslichkeit, auch Persönlichkeitsveränderungen gehören zum Krankheitsbild mancher Demenz-Erkrankungen. Sind Stresssituationen ein Grund für schlechte Laune, münden sie im Frühstadium immer öfter in Aggressionen. Psychologisch lässt sich gegen die neurologisch verursachten Probleme wenig tun.
Bei dem gelernten Gas-Wasserinstallateur Mario aus Berlin ist ein Gendefekt schuld an seiner frühen Demenzerkrankung. Mütterlicherseits kam Demenz mehrfach vor, sein Vater trägt den Gentyp in sich. Marios erwachsener Sohn hat noch nicht entschieden, ob und wann er testen lassen soll, ob auch er betroffen ist.
Mehr als 100.000 Menschen unter 65 Jahren sind nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft an Demenz erkrankt. „Für sie und ihre Familien gibt es viel zu wenig spezialisierte Unterstützungsangebote“, sagt Sprecherin Susanna Saxl-Reisen, „fast alle Versorgungsstrukturen sind auf Ältere ausgerichtet.“ Kinder beispielsweise trifft die Diagnose eines jung an Demenz erkrankten Elternteils oft in einer besonders sensiblen Phase ihrer Entwicklung.
Die Care-Arbeit bleibt überwiegend an der Familie hängen. Partnerinnen und Partner kümmern sich, zum Teil jahrelang und meist zu Hause. Privates und Beruf werden an die Anforderungen der Pflege angepasst, die Grenzen der eigenen Belastbarkeit verschoben. Auch Bürokratie und Rechtliches gilt es zu klären: Welche Versicherungsleistung steht uns zu? Was für Anträge müssen wir stellen? Wann ist eine Patientenverfügung sinnvoll? Hilfreich sind Selbsthilfegruppen für Frühbetroffene und deren Angehörige.
„Eigentlich bin ich ein empathischer Mensch“, sagt Andrea. „Und er ist mehrheitlich einsichtig. Aber innerlich bin ich schon manchmal explodiert.“ Eines Nachts fährt sie Mario im Auto zu einer Polizeistation, weil er dort einen hinterlegten Schlüssel vermutet. „Er hatte sich nicht abbringen lassen, also sind wir los.“ Vor Ort gewähren die Polizisten ihnen einen „Kontrollgang“ entlang des Geländezauns. Schließlich lässt Mario den Einwand gelten, der unauffindbare Schlüssel sei wohl mit dem Laub weggebracht worden. Sie fahren heim. „Heute kann ich darüber lachen“, sagt die 56-Jährige.
Und manchmal muss man erfinderisch sein: Im Urlaub hat sie im Bad für die Nacht eine Weihnachtslichterkette angebracht, damit es nicht so dunkel ist und Mario den Weg findet. Am Strand hat sie den Sonnenschirm auffällig geschmückt, damit er ihn erkennt. „Die Restaurantleiter haben wir gefragt, ob wir immer den gleichen Tisch für die Mahlzeiten bekommen könnten“, erzählt Andrea, „und sie haben jeden Tag ein Reserviert-Schild aufgestellt.“
Kredite abbezahlen, für das Alter sparen und die Kinder unterstützen - auch die finanziellen Verhältnisse müssen Erkrankte schnell klären. Statt immer wieder Krankengeld zu beziehen, hat Mario nicht lange gezögert und Erwerbsminderungsrente beantragt. Nur wer genau hinsieht und -hört, bemerkt die Wortfindungsschwierigkeiten, weiß, dass Mario kein Auto mehr fährt. „Für die korrekte Pflegestufe musste ich ein zweites Gutachten durchsetzen“, erzählt seine Frau.
Einen geliebten Menschen zu verlieren, obwohl er leiblich noch da ist - das Paradox verursacht ein Gefühlschaos. „Ich liebe ihn noch immer sehr“, sagt Andrea. Den krankheitsbedingten Verlust von Intimität habe sie akzeptiert. Mario sei aber immer noch Partner, nicht Patient. „Wir kuscheln umso mehr.“ Und, sagt, Andrea: „Solange es geht, wollen wir die Dinge gemeinsam erleben.“