sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Ausbeutung von Osteuropäerinnen, die jeden Tag in Hunderttausenden Haushalten pflegebedürftiger Menschen in Deutschland stattfindet, wollte das Bundesarbeitsgericht nicht länger hinnehmen. Sein Urteil hat Sprengkraft und wird die ambulante Pflege durcheinanderwirbeln. Die nächste Bundesregierung ist gefordert, denn natürlich kann nahezu keine Familie den vom BAG geforderten Mindestlohn bezahlen. Das Spahn-Ministerium hat zwar Lösungsansätze erarbeitet, sie wurden aber nicht umgesetzt.

Fünf Jahre wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis - für sein vierjähriges Kind ist das eine halbe Ewigkeit. Der inhaftierte Vater kämpft darum, die Beziehung zu seiner Tochter lebendig zu halten. Dem alleinstehenden Vater hilft der christliche Verein „Schwarzes Kreuz“, er kommt mit Bewährungsauflagen raus. Die Chancen stehen tatsächlich gut, dass seine Tochter bald zu ihm ziehen darf. Sehen Sie dazu auch das Video in epd sozial an.

Eltern, die für ihr behindertes Kind Hilfsmittel beantragen müssen, machen oft frustrierende Erfahrungen: Die Kassen lehnen die Kostenübernahme ab, ein monatelanger Papierkrieg beginnt. Betroffene Eltern wehren sich nun mit einer Petition an den Bundestag. Es kamen rund 55.000 Unterschriften zusammen.

Ein sogenanntes offenes Kirchenasyl für Flüchtlinge darf nicht zu geringeren Asylleistungen führen. Es stellt ein „widersprüchliches Verhalten“ des Staates dar, wenn dieser dem Asylsuchenden vorwirft, mit dem Kirchenasyl rechtsmissbräuchlich seinen Aufenthalt zu verlängern, er aber den Aufenthalt in einer Kirchengemeinde duldet, urteilte das Bundessozialgericht.

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Markus Jantzer





sozial-Politik

Pflege

Debatte über Konsequenzen aus Pflege-Urteil




Eine Pflegekraft wechselt den Verband.
epd-bild/Werner Krüper
Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur 24-Stunden-Pflege werden Forderungen nach Konsequenzen laut. Das Gericht hat ausländischen Pflege- und Betreuungskräften in Deutschland Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn zugesprochen.

Berlin (epd). Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Entlohnung ausländischer Pflegekräfte hat eine Diskussion über politische Konsequenzen aus dem Richterspruch in Gang gesetzt. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, sieht großen Handlungsdruck. Er begrüßte das Urteil, demzufolge nach Deutschland entsandte ausländische Pflege- und Betreuungskräfte Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben. Die 24-Stunden-Betreuung müsse zu einem Megathema der Politik werden.

Monatelang rund um die Uhr im Dienst

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt hatte in einem am 24. Juni verkündeten Grundsatzurteil entschieden, die Betreuungstätigkeit müsse zum in Deutschland geltenden gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden (Az.: 5 AZR 505/20). Der Mindestlohnanspruch bestehe auch für die Bereitschaftsarbeit der Arbeitskräfte, die 24 Stunden am Tag sieben Tage in der Woche Menschen in ihren Privatwohnungen pflegen. Konkret ging es um den Fall einer bulgarischen Pflege- und Haushaltskraft, die nach ihren Angaben monatelang rund um die Uhr eine über 90-jährige Frau betreut hatte.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte am 25. Juni in Berlin, er habe schon vor Jahren als Abgeordneter Vorschläge gemacht, wie ein besserer regulatorischer Rahmen für die 24-Stunden-Betreuung gefunden werden könne. Er schlug vor, sich das Beispiel aus Österreich anzuschauen. Dort habe man eine gesetzliche Regelung zu Arbeitsschutz und Arbeitszeit in diesem Bereich geschaffen. In der Bundesregierung sei eine ähnliche Regelung bislang aber nicht konsensfähig gewesen, sagte der Gesundheitsminister. Aus dem Bundesarbeitsministerium habe es geheißen, es gebe keinen Regelungsbedarf, sagte Spahn.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnete das BAG-Urteil als „wegweisend und richtig“. „Arbeit hat eine Würde. Egal ob Sie aus Bukarest oder aus Bottrop kommen: Wenn Sie arbeiten, dann haben sie einen anständigen Lohn verdient“, sagte Heil bei RTL/ntv.

Bulgarin verlangt Nachzahlung von rund 36.000 Euro

Den konkreten Fall einer bulgarischen Pflege- und Haushaltskraft, die nach ihren Angaben monatelang rund um die Uhr eine über 90-jährige Frau betreut hatte, verwiesen die obersten Arbeitsrichter an das Landesarbeitsgericht in Berlin zurück. Die bei einer bulgarischen Firma angestellte und über eine deutsche Agentur vermittelte Pflegekraft hatte eine Nachzahlung in Höhe von 42.636 Euro abzüglich bereits gezahlter 6.680 Euro verlangt.

Wenige Tage vor dem Urteil hatte das Bundesgesundheitsministerium erklärt, es sehe keine Notwendigkeit, die prekären Zustände in der 24-Stunden-Pflege anzugehen. Das geht aus einer Antwort des Ministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion vom Montag hervor, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

Linke: Pflege völlig unzureichend finanziert

Auf die Frage der Linksfraktion, ob die Regierung die im Mai vom Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung erhobene Forderung aufgreifen wolle, wonach die 24-Stunden-Betreuung zum „Megathema der Politik“ werden müsse, schrieb das Gesundheitsministerium lediglich, der Pflegebevollmächtigte habe „seine Vorstellungen zur Weiterentwicklung der Pflege“ dargelegt. Und weiter: Es gebe keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutz-Vorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern.

Die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege.

Die Linken-Pflegeexpertin Pia Zimmermann erklärte: „Dass der eigene Pflegebevollmächtigte öffentlich abgewatscht wird, ist das eine. Viel schlimmer ist, dass darin die perfide Pflege-Strategie der CDU zum Ausdruck kommt: Die Pflege völlig unzureichend finanzieren, aber im Ausland abwerben, um die Reichen zu schonen“, so die Linken-Politikerin.

Lösungsvorschlag im Bundesgesundheitsministerium

Caritas-Präsident Peter Neher erwartet nach dem Urteil eine Zunahme der Schwarzarbeit in diesem Bereich. „Ambulante Dienste können die Lücke nicht auffüllen“, sagte Neher dem epd. Sie könnten Pflegebedürftige nicht rund um die Uhr betreuen, wie dies die ausländischen Frauen tun, die gemeinsam mit den Pflegebedürftigen Seniorinnen und Senioren in Deutschland unter einem Dach leben (sogenannte Live-ins).

Laut Neher wurde im Zusammenhang mit der aktuellen Pflegereform im Bundesgesundheitsministerium ein Lösungsvorschlag formuliert, der „den Pflegebedürftigen und ihren Familien mehr Geld in die Kasse gespült hätte, um die Betreuungskräfte aus Osteuropa zu bezahlen“. Nach dieser Regelung hätten Pflegebedürftige ihren Anspruch auf die Pflegesachleistung umwandeln können und für die Bezahlung der osteuropäischen Helferinnen einsetzen können, sofern sie die Pflegesachleistung nicht für einen ambulanten Pflegedienst aufgebraucht haben. Bei Pflegegrad 2 wären dies monatlich 275,60 Euro gewesen. Daneben hätten die Betroffenen noch Pflegegeld in Anspruch nehmen können.

„Finanziell auf Kante genäht“

„Insgesamt“, so Neher, „hätte die Regelung dazu geführt, dass die Betroffenen eine bessere Finanzierungsgrundlage für die Live-ins gehabt hätten.“ Die Regelung wäre nach Auffassung des Caritas-Präsidenten „ein guter Anfang“ gewesen. Sie sei aber „wohl einfach aus Kostengründen“ nicht zustande gekommen. Neher: „Die Pflegereform ist ja finanziell auf Kante genäht.“

Neher wies auf Angebote der Caritas hin, die faire Arbeitsbedingungen für die meist osteuropäischen Betreuungskräfte vorsähen. So habe der katholische Wohlfahrtsverband mit „CariFair“ in Paderborn ein legales Beschäftigungsmodell mit ordentlichen Arbeitsverhältnissen. Neher: „Die Live-ins werden dabei sowohl bei der Integration in Deutschland als auch bezüglich der Versorgung der pflegebedürftigen Menschen im Haushalt von den ambulanten Pflegediensten begleitet.“

300.000 illegale Beschäftigungsverhältnisse

Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sieht mit der BAG-Entscheidung einen „Tsunami“ auf die ambulante Pflege und die Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen zurollen. Viele könnten es sich nicht leisten, Lohnkosten in der vom Gericht festgestellten Höhe aufzubringen. Derzeit seien mindestens 100.000 ausländische Helfer offiziell in deutschen Haushalten beschäftigt, hinzu kämen schätzungsweise weitere 200.000 Ausländerinnen, die ohne schriftliche Vereinbarung hier arbeiten.

Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, sagte: „Rund-um-die-Uhr-Pflege ist nur noch mit Mindestlohn legal. Für die allermeisten wird sie damit unbezahlbar.“ Mit dem BAG-Urteil zum Mindestlohn für ausländische Pflegekräfte drohe das „Armageddon“ der häuslichen Pflege. Bentele rügte, dass die Politik das drängende Problem der häuslichen Pflege jahrelang ausgeblendet habe.

Markus Jantzer, Frank Leth


Pflege

Interview

"Eine unerträgliche Situation für die Betreuungskräfte"




Maria Loheide
epd-bild/Thomas Meyer/Ostkreuz

Berlin (epd). Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Juni, wonach ausländische Betreuungskräfte in deutschen Seniorenhaushalten Anspruch auf Mindestlohn haben, stellt das System der flächendeckenden illegalen Beschäftigung in diesem Bereich grundsätzlich in Frage. Maria Loheide, Vorstandsmitglied des diakonischen Bundesverbandes, begrüßt im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd), „dass hier Licht ins Dunkel kommt“. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: Welche Folgen hat das BAG-Urteil auf die häusliche Pflege in Deutschland: für die 24-Stunden-Betreuung, bei der die ausländische Betreuungskraft gemeinsam mit dem Pflegebedürftigen unter einem Dach lebt (sogenannte Live-in-Betreuung), und für die professionellen ambulanten Pflegedienste?

Maria Loheide: Das System der Live-in-Betreuung muss endlich auf den Prüfstand und auf die politische Tagesordnung. Das ist für alle Beteiligten wichtig und gut. Es ist für die betroffenen Betreuungskräfte eine unzulässige und unerträgliche Situation. Die meisten pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen entscheiden sich aus einer akuten Not für ein solches Arbeitsverhältnis und sehen keine bessere Alternative. Viele unserer ambulanten Pflegedienste klagen seit Jahren über diese intransparenten Pflege- und Betreuungsverhältnisse. Es gibt keine Kontrolle der Versorgungsqualität, und aufgrund der Illegalität ist eine konkrete Zusammenarbeit mit ambulanten Pflegediensten enorm erschwert. Es ist gut, dass hier Licht ins Dunkel kommt.

epd: Wie muss die Politik auf das Urteil reagieren?

Loheide: Die Politik ist in zweierlei Richtungen gefordert. Illegale Arbeitsverhältnisse sind in Deutschland unzulässig und dürfen nicht geduldet werden. Ganz wichtig ist zudem, dass endlich ein nachhaltiges Konzept für eine Pflegereform auf den Tisch kommt. Die osteuropäischen Betreuungskräfte in illegalen Arbeitsverhältnissen sind mittlerweile eine wichtige Säule des deutschen Pflegesystems. Das muss sich ändern. Pflege muss auch im häuslichen Umfeld professionell möglich und bezahlbar sein. Dafür braucht es eine echte Pflegereform.

epd: Wen sehen Sie außerdem in der Pflicht?

Loheide: Es ist eine politische Aufgabe, die Pflegeversicherung so zu gestalten, dass pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen die Möglichkeit haben, die Pflege legal und trotzdem selbstbestimmt zu organisieren. Gemeinsam mit anderen Akteuren können sich auch diakonische Träger von Pflegeeinrichtungen für alternative, flexible Betreuungskonzepte einsetzen, in denen osteuropäische Betreuungskräfte in legalen Arbeitsverhältnissen integriert sind. Das Modell „FairCare“ zum Beispiel in Stuttgart ist dafür ein gutes Beispiel.



Pflege

"Viele Pflegekräfte haben Angst, ihren Arbeitgeber zu verklagen"



Kassel (epd). Osteuropäischen Betreuungskräften in deutschen Seniorenhaushalten steht laut DGB-Jurist Thomas Heller schon seit Jahren der gesetzliche Mindestlohn zu. Wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 24. Juni verkündeten Urteil im Fall einer nach Deutschland vermittelten bulgarischen Pflegekraft klarstellte, müssen die Betroffenen unbezahlte Arbeitsstunden nicht hinnehmen. „Viele haben aber Angst, ihren Arbeitgeber daraufhin zu verklagen“, sagte Heller von der DGB Rechtsschutz GmbH in Kassel dem Evangelischen Pressedienst (epd). Heller hatte die bulgarische Klägerin vor Gericht vertreten.

Wer den Mund aufmacht, müsse damit rechnen, dass sich dies in der Branche herumspricht und eine Pflegekraft dann keinen Job mehr erhält. „Hier hat die Klägerin den Mut gefasst, gegen ihre bulgarischen Arbeitgeber vorzugehen und die volle Vergütung für ihre Leistung gefordert“, sagte Heller.

Finger in die Wunde gelegt

„Dass Pflegekräfte nach ihrer Entsendung nach Deutschland für ihre Arbeit Anspruch auf den Mindestlohn haben, ist eigentlich nichts Neues“, sagte der Jurist. Das bundesweit beachtete Verfahren lege aber den Finger in die Wunde, dass bei ausländischen Arbeitgebern angestellte und in deutsche Familien vermittelte Pflegekräfte nicht ausreichend bezahlt geschweige denn bei ihnen die gesetzlichen Arbeitszeiten eingehalten werden.

Zwar ist laut Heller der Arbeitgeber nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, die Arbeitszeiten zu dokumentieren. „Kommt der Arbeitgeber dem nicht nach, ist die Arbeitszeit bei einem Pflege- und Betreuungseinsatz in einem Privathaushalt schwer zu beweisen“, sagte Heller. Konsequenzen habe die unterbliebene Arbeitszeitdokumentation für den Arbeitgeber nicht wirklich. Er werde belohnt, indem Pflegekräfte letztlich unbezahlte Arbeit leisteten. Im Streitfall hatte die bulgarische Pflegekraft angeführt, über Monate 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche eine über 90-jährige Frau betreut zu haben.

Tatsächliche Arbeitszeit noch zu klären

Das BAG sah das als nicht belegt an, auch wenn das Gericht davon ausging, dass die vereinbarten 30 Wochenstunden wohl überschritten worden seien und damit ein Lohnnachschlag bestehe. „Nun muss wohl das Landesarbeitsgericht Berlin im Wege der Schätzung die tatsächliche Arbeitszeit neu bestimmen“, sagte Heller.

Dazu könnten die eigentlichen Arbeitsaufgaben aber auch der Schriftwechsel zwischen Arbeitgeber und der betreuten Frau herangezogen werden. So habe hier der Arbeitgeber der betreuten Frau mitgeteilt, dass die Pflegekraft nur einen freien Tag pro Woche habe. Dieser könne auch auf einzelne freie Stunden verteilt werden. „Das weist schon auf eine dauernde Bereitschaft der Klägerin hin“, sagte Heller.

Frank Leth


Pflege

Generalistische Pflegeausbildung: Gut gestartet, noch viel zu tun




Spanierinnen lassen sich zu Pflegerinnen umschulen (Archivbild).
epd-bild/Jürgen Schulzki
Im vergangenen Jahr sind die ersten Auszubildenden bundesweit in eine ganz neue Pflegeausbildung gestartet, die mehr Zukunftschancen eröffnen soll. Einige sind begeistert, andere üben Kritik.

Bremen (epd). Ein guter Start, aber es bleibt noch viel zu tun: So lautet eine erste Zwischenbilanz zur generalistischen Ausbildung in der Pflege, die im vergangenen Jahr bundesweit eingeführt wurde. Das sei „ein neuer Beruf mit Herausforderungen, die wir meistern müssen“, sagte am 29. Juni im Verlauf eines Fachtages Renate Stellfeld-Ostendorf, die beim Klinikverbund Bremen den Ausbildungsbereich leitet. Dabei werde deutlich, wie wichtig eine enge Zusammenarbeit zwischen den Akteuren in der beruflichen Ausbildung sei.

Pflegeschüler wünschen weniger Zeitdruck

In Deutschland haben sich vielerorts Verbünde gegründet, um die Ausbildung besser koordinieren zu können. So ist in der Region Bremen der „Weser Bildungsverbund Gesundheit und Pflege“ mit mittlerweile mehr als 50 Mitgliedern entstanden: Altenhilfeträger, Krankenhäuser, ambulante Pflegedienste, Pflegeschulen und die Hochschule Bremen. Sie seien dabei, gemeinsam „eine neue Lernkultur“ zu entwickeln, sagte Stellfeld-Ostendorf.

Mehrere Auszubildende wie Marcel Giesenberg äußerten sich begeistert über die neue Ausbildung: „Die Generalistik führt die Pflege zusammen.“ Andere übten Kritik. So gibt es nach einer Befragung der Bremer Heimstiftung den Wunsch nach weniger Zeitdruck und mehr Wiederholungen des Lernstoffes. Mancherorts ist offensichtlich an den Praxis-Einsatzorten noch nicht durchgedrungen, dass die Auszubildenden umfassender als früher geschult werden müssen. Und grundsätzlich fehlten aufgrund des Fachkräftemangels Praxisanleiterinnen und -anleiter", ergänzte Stellfeld-Ostendorf.

Kostenfreie Ausbildung

Anfang 2020 wurden die Ausbildungen in der Kranken-, Alten- und Kinderpflege zu der neuen generalistischen Pflegeausbildung zusammengeführt. Das bedeutet: Alle Auszubildenden erhalten zunächst zwei Jahre lang eine gemeinsame Ausbildung. Auszubildende, die im dritten Jahr die generalistische Ausbildung fortsetzen, erwerben den Berufsabschluss „Pflegefachfrau“ beziehungsweise „Pflegefachmann“.

Möglich ist auch ein gesonderter Abschluss in der Altenpflege- oder der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, wenn Auszubildende für das dritte Ausbildungsjahr eine entsprechende Spezialisierung wählen. Dabei wird eine kostenfreie Ausbildung gewährleistet, Schulgeld darf nicht erhoben werden. Auszubildende haben Anspruch auf eine Ausbildungsvergütung. Lehr- und Lernmittel werden finanziert.

Zu Beginn des Fachtages forderte der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ zwischen Pflegekräften und ärztlichem Personal. Das sei neben einer angemessenen Bezahlung und mehr Personal eine der grundlegenden Bedingungen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, sagte er in einer Videobotschaft. Dafür müsse der Berufsstand auch selbst kämpfen, hier gebe es noch zu wenig Einsatz. „Bringt Euch ein - ohne eigenes Engagement wird es nicht gehen“, rief Westerfellhaus den Pflegekräften zu.

Dieter Sell


Missbrauch

Steinmeier fordert "Hinschauen" und Handeln gegen sexuelle Gewalt




Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
epd-bild/Rolf Zöllner
Ein starkes Signal von ganz oben: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stellt sich an die Seite der Opfer von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ruft die Gesellschaft auf, mehr gegen Missbrauch, Leid und das Wegsehe zu tun.

Berlin (epd). In einer eindringlichen Rede hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Solidarität mit den Opfern sexueller Gewalt und eine „Haltung des Hinschauens“ im Kampf gegen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen gefordert. Das Staatsoberhaupt empfing am 30. Juni in Berlin Vertreterinnen und Vertreter des Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Der Rat, dem Experten aus Politik und Zivilgesellschaft, sowie Betroffenen- und Kirchenvertreter angehören, hatte zuvor einen gemeinsamen Maßnahmen- und Forderungskatalog präsentiert.

Moralische und politische Pflicht

Der Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei eine moralische und politische Pflicht, sagte Steinmeier. Staat und Gesellschaft, jede und jeder Einzelne stünden in der Verantwortung. Eine Haltung des Hinschauens bedeute „nachfragen, offen sprechen, wenn nötig einschreiten“. Tausende Kinder und Jugendliche würden jedes Jahr Opfer sexuellen Missbrauchs, „nicht irgendwo fernab, sondern in nächster Nähe, mitten unter uns“, betonte Steinmeier. Es reiche nicht, nur zu reagieren, wenn besonders drastische Fälle wie in Staufen, Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach öffentlich würden.

Der Bundespräsident stellte sich klar auf die Seite der Betroffenen und derer, die den Kampf gegen sexuelle Gewalt aufgenommen haben. Allen Anstrengungen zum Trotz sei es aber noch nicht gelungen, das unvorstellbare Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Kindern zu verringern. Im Gegenteil: Die Zahl der Missbrauchsdarstellungen im Internet explodiere, warnte Steinmeier, „die digitalen Medien wirken wie ein Brandbeschleuniger“. Im Corona-Jahr hätten Verbreitung und Konsum dieser Bilder noch zugenommen. Ebenso habe die Pandemie vor Augen geführt, wie viele Mädchen und Jungen in ihrem eigenen Zuhause Gefährdungen ausgesetzt seien.

Der Bundespräsident unterstützte die Forderungen des Nationalen Rats, der sich unter anderem für Schutzkonzepte in allen Schulen und Einrichtungen einsetzt, die Kinder und Jugendliche betreuen, für kindgerechte gerichtliche Verfahren, und mehr Schutz im Internet, eine enge Zusammenarbeit aller beteiligten Behörden in den Ländern und den Ausbau von Hilfen für Betroffene. Er forderte außerdem die Kirchen auf, die Aufarbeitung zu beschleunigen, die Täter namhaft zu machen und die Vertuschung zu ächten.

Nationaler Pakt gegen sexuelle Gewalt

Bundesjustiz- und -familienministerin Christine Lambrecht (SPD) und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, riefen zum entschiedenen Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf. „Wir brauchen einen nationalen Pakt gegen sexuelle Gewalt“, forderte Rörig bei der Vorstellung der „Gemeinsamen Verständigung“ des Nationalen Rats. Deutschland müsse mehr unternehmen gegen „die Masse an Sexualstraftaten gegen Kinder und Jugendliche“. Lambrecht unterstützte Rörigs Forderung nach einer Enquetekommission im neuen Bundestag, die die Bekämpfung der Gewalt im Internet voranbringen soll. Sonja Howard vom Betroffenenrat sagte, den Tätern müsse „angst und bange werden“. Aber die politischen Prozesse seien „zäh“, viele Forderungen immer noch nicht erfüllt.

Der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurde von Rörig und Lambrechts Vorgängerin Franziska Giffey (SPD) ins Leben gerufen und arbeitet seit Ende 2019. In dem Gremium sitzen Institutionen-Vertreter, Fachleute und Betroffene zusammen. Dazu zählen auch der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, Bischof Stephan Ackermann, die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission Sabine Andresen, der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche, Prälat Martin Dutzmann, und der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers.

Die Zahl der registrierten Opfer sexueller Gewalt ist im vergangenen Jahr laut Bundeskriminalamt erneut gestiegen auf knapp 17.000 Kinder. Die Dunkelziffer ist weit höher. Besonders besorgniserregend ist das weiter zunehmende Ausmaß der Taten, die weltweit über das Internet verbreitet werden. Europol zufolge ist im ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 der Konsum von Missbrauchsdarstellungen in Europa um 30 Prozent gestiegen.

Bettina Markmeyer


Missbrauch

Der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen



Berlin (epd). Mit dem Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen wollten die damalige Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, dem Kampf gegen Missbrauch mehr Gewicht verleihen.

Dem Gremium, das sich am 2. Dezember 2019 konstituierte, gehören Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Kirchen, Betroffene sowie Verantwortliche aus der Zivilgesellschaft und der Fachpraxis an. Dazu zählen etwa Kerstin Claus und Sonja Howard vom Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, Bischof Stephan Ackermann, die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission Sabine Andresen, der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche, Prälat Martin Dutzmann, und der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers.

In fünf Arbeitsgruppen erarbeiteten 300 Mitwirkende einen Maßnahmen- und Forderungskatalog zu den Themen Prävention, Schutzkonzepte, Hilfen für Betroffene, kindgerechte Justiz, Schutz vor Ausbeutung und internationale Kooperation sowie Forschung und Wissenschaft. Gemeinsames Ziel ist, sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und deren Folgen dauerhaft entgegenzuwirken und die Aktivitäten der Beteiligten besser zu koordinieren.



Bundestag

Schärfere Gesetze gegen Stalking und Missbrauch



Berlin (epd). Kurz vor der Sommerpause hat der Bundestag eine Reihe von Strafrechtsverschärfungen für Stalking und Missbrauch beschlossen. In der Nacht zum 25. Juni verabschiedete das Parlament eine Regelung, nach der die Justiz künftig bei persönlichen Nachstellungen, dem sogenannten Stalking, und der Verbreitung von Missbrauchsanleitungen im Netz schärfer vorgehen kann.

Außerdem werden der Besitz und die Verbreitung von Missbrauchsanleitungen strafbar. Die Verbreitung kann künftig mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren geahndet werden. Täter informieren sich über solche vorwiegend im Darknet kursierenden Anleitungen darüber, wie sie die Taten begehen und verdecken können.

Bis zu zehn Jahre Haft

Die Gesetzesänderung soll eine Lücke schließen, weil die Missbrauchsanleitungen durch die Strafen auf Missbrauchsdarstellungen, sogenannte Kinderpornografie, nicht erfasst werden. Bestraft werden künftig auch die Betreiber von kriminellen Handelsplattformen, die Missbrauchsdarstellungen verbreiten. Die gewerbsmäßige Verbreitung der Bilder und Filme kann mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden.

Beim Stalking werden die Hürden für die Strafverfolgung gesenkt und auch Nachstellungen im Netz unter Strafe gestellt. Täter können künftig schneller in Untersuchungshaft genommen werden. Außerdem sollen besonders schwere Fälle mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden können. Der normale Strafrahmen sieht bis zu drei Jahre Haft oder Geldstrafen vor.

Stalking richtet sich meist gegen Frauen. Dabei geht es um Telefonterror, Auflauern beispielsweise am Arbeitsplatz, Warenbestellungen auf den Namen des Opfers, Drohungen, Beleidigungen sowie Nötigungen. Stalker belästigen und bedrohen Menschen häufig über lange Zeit und zunehmend digital.



Kinder

Stiftung: Algorithmen können Kitaplatz-Vergabe gerechter machen



Gütersloh (epd). Der Einsatz von Software kann laut einer Analyse der Bertelsmann Stiftung die Kitaplatz-Vergabe verbessern. Erste Praxiserfahrungen in einzelnen deutschen Städten und Gemeinden zeigten, dass die Verwendung von Algorithmen die Vergabe effizienter und unter bestimmten Voraussetzungen auch gerechter machen könne, erklärte Julia Gundlach, Digitalexpertin der Stiftung und Autorin des Impulspapiers, am 30. Juni in Gütersloh. Die Kommunen nutzten dabei die frei verfügbare Software „KitaMatch“ des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Vor allem jüngere Eltern mit Hochschulabschluss stünden dem Technologieeinsatz aufgeschlossen gegenüber.

Die Suche nach einem Betreuungsplatz sei für viele Familien bisher frustrierend, hieß es. Zu wenige Plätze, komplizierte Anmeldeverfahren, intransparente Vergabekriterien: 54 Prozent der Eltern mit Kindern unter sechs Jahren berichten von Problemen bei der Kitaplatz-Vergabe, wie eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ergab. Knapp 1.300 Menschen wurden befragt. Auch für die Kita-Leitungen sei die Situation unbefriedigend, denn sie müssten viel Zeit investieren, um die Anmeldungen zu verwalten, hieß es.

Mehr Chancengerechtigkeit

Bei einer algorithmen-basierten Kitaplatz-Vergabe werden demnach vorab Vergabekriterien und elterliche Angaben zu Wunsch-Kindertagestätten definiert. Auf dieser Basis unterstütze die Software bei der Abstimmung, welche Kita welchen Eltern einen Platz anbieten sollte, hieß es. Mehr Chancengerechtigkeit entstehe, wenn ein Kind, das laut Vergabekriterien vorrangig einen Platz bekommen sollte, diesen auch erhalte. Vor allem Kinder aus benachteiligten Familien könnten davon profitieren, da die Anmeldeverfahren für die Eltern oft eine große Hürde seien.

Die Stiftung wies darauf hin, dass es wichtig sei, den Kriterienkatalog unter Beteiligung der Kitas, ihrer Träger sowie von Jugendämtern und Eltern auszuhandeln und offen zu kommunizieren. Das erhöhe die Transparenz, Überprüfbarkeit und letztlich auch die Akzeptanz von Zu- oder Absagen, sagte Gundlach. „Algorithmen sorgen nicht automatisch für mehr Fairness“, betonte die Expertin. „Die Empfehlungen einer Software sind nur so gerecht, wie die Kriterien, nach denen diese programmiert ist.“




sozial-Branche

Strafvollzug

Das Projekt "Brückenbau" hilft inhaftierten Vätern




Der Häftling Milan (Name geändert) mit Holger Reiss (re.) von der Straffälligenhilfe "Schwarzes Kreuz"
epd-bild/Carsten Kalaschnikow
Wegen schwerer Körperverletzung wird Milan verurteilt. Von jetzt auf gleich ändert sich für ihn alles, zurück bleibt seine vierjährige Tochter. Die christliche Straffälligenhilfe "Schwarzes Kreuz" hilft dem Vater im Gefängnis, den Kontakt zu ihr zu halten.

Celle (epd). Dass er nicht ungestraft davonkommen würde, wusste er. Vielleicht würde er einen Brief bekommen und müsste sich bei der Polizei melden, so dachte Milan, der eigentlich anders heißt. Doch dann fuhren mehrere Beamte mit Streifenwagen am Arbeitsplatz des damaligen Lagerhelfers vor und führten ihn in Handschellen ab. Der heute 32-Jährige kam in U-Haft, zu Hause Bescheid zu sagen war nicht möglich. Was hätte er seiner vierjährigen Tochter auch erzählen sollen?

„Ich habe mich sehr geschämt“

Schwere Körperverletzung lautete der Vorwurf, fünf Jahre Freiheitsstrafe das Urteil des Richters. Für Erwachsene ist das schon eine lange Zeit, für Milans Tochter länger als ihr bisheriges Leben. „Ich bin dankbar für das Urteil“, sagt Milan heute. Wer weiß, wie es mit ihm weitergegangen wäre?

Nach der Schulzeit ist er acht Jahre Zeitsoldat, im Einsatz unter anderem in Afghanistan. Später schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. „Wenn man dann zurückkommt in sein Problemviertel und für den Größten gehalten wird, fühlt man sich auch selbst so.“ Das meiste werde dann halt körperlich geregelt.

Als seine Eltern ihn im Gefängnis besuchen, „hätte ich im Erdboden versinken können. Ich habe mich sehr geschämt.“ Die Kindsmutter trennt sich bald nach der Inhaftierung von ihm, das vierjährige Mädchen kommt in eine stationären Einrichtung. Aus der Haft schickt der Vater ihr einen Brief. Zuvor ringt er lange um die richtigen Worte, die ersten Versuche schickt er nicht ab.

Dafür steckt Milan einen Zettel mit einem Gesprächswunsch in den Gefängnisbriefkasten des Projekts „Brückenbau“ der christlichen Straffälligenhilfe „Schwarzes Kreuz“. Der gläubige Muslim lernt den evangelischen Diakon und Sozialarbeiter Holger Reiss kennen. Dass da einer kommt, der ihn nicht kennt und ihm trotzdem hilft, beeindruckt Milan. Der 54-jährige Diakon hilft ihm im Umgang mit der weltlichen Justiz. „Holger ist gerade und direkt, das habe ich gebraucht“, sagt der junge Mann. Milans dringlichster Wunsch: seine Tochter zu sehen.

Er will sein altes Umfeld hinter sich lassen

Nach anderthalb Jahren geht dieser Wunsch in Erfüllung: eine halbe Stunde in einem Raum mit sechs besetzten Vierertischen, die Tochter in Begleitung des Jugendamtes. Danach sieht er sein Kind wieder ein halbes Jahr nicht.

Milan macht in Haft eine Therapie, treibt viel Sport, arbeitet die Tat auf. Er liest den Koran und die Bibel komplett durch. Mit Holger Reiss’ Hilfe lernt er „gute Menschen“ kennen, wie er es formuliert. Und ihm ist klar, dass er nach der Haft in eine andere Stadt ziehen und sein altes Umfeld hinter sich lassen muss. Aus der JVA Celle heraus beginnt er eine Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau und schließt sie erfolgreich ab.

Im Hintergrund zieht Reiss die Fäden, damit der Vater in Begleitung zur Einschulung seiner Tochter fahren darf. „Vorher habe ich bei einem Freigang die Schultüte gebastelt“, sagt Milan. Er hat Angst vor dieser Begegnung. „Aber dann hat mich meine Tochter schon aus der Distanz gesehen und ‚Papa‘ gerufen. Als wäre ich nie weggewesen.“

Seit November 2019 ist Milan auf Bewährung draußen, zwei Wochen vorher ist die entscheidende Gerichtsverhandlung. Auch hier begleitet ihn der Diakon vom „Projekt Brückenbau“. „Da war kein Anwalt, niemand. Aber Holger“, sagt Milan. Unter mehreren Auflagen stimmt der Richter der Bewährung zu. Und das Beste: Die Chancen stehen gut, dass die Tochter nach dem Ende dieser Zeit zu ihrem Vater ziehen darf. Mit dem Wechsel in die fünfte Klasse stünde ohnehin ein Umbruch an.

Lothar Veith


Behinderung

Wenn der Treppenlift nicht genehmigt wird




Alexandra Becker und ihr mehrfach behinderter Sohn Sandro
epd-bild/Friedrich Stark
Beantragen, warten, streiten: Eltern behinderter Kinder müssen mit Krankenkassen oft um Hilfsmittel oder Medikamente kämpfen, die schon längst verordnet wurden. Es geht um Spezialstühle oder Gehhilfen - Dinge, die im Alltag dringend benötigt werden.

Pfaffenhofen/Dülmen (epd). „Es war ein Albtraum“, erinnert sich Alexandra Becker aus dem nordrhein-westfälischen Dülmen. Monatelang spielte sich ihr gesamtes Leben im Wohnzimmer ab: Sie übernachtete auf dem Sofa neben dem Pflegebett ihres schwer mehrfachbehinderten Sohns Sandro. Um ihn zu baden, befüllte sie ein Schlauchboot mit aufgewärmtem Wasser aus Gießkannen.

Spätestens nach der zweiten Hüftoperation war Becker klar, dass es dem 75 Kilo schweren, schon zuvor gehbehinderten Jugendlichen niemals mehr möglich sein würde, über die Treppe ins Obergeschoss zu gelangen. Dort hat er sein Zimmer und ein behindertengerechtes Bad. Selbst Hochziehen am Treppengeländer und Runterrutschen auf dem Schoß der Mutter ging nicht mehr.

Es verging kostbare Zeit

Der rund 38.000 Euro teure Rollstuhltreppendeckenlift war schon längst vom Facharzt verordnet - doch die Krankenkasse genehmigte ihn nicht. Becker ließ eine Pflegeberatung kommen, schrieb an die Krankenkasse. Ein aufgrund der Akten erstelltes Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) behauptete, die Familie hätte einen Aufzug und bräuchte deshalb keinen Lift, obwohl kein Aufzug existierte. Wieder verging kostbare Zeit.

Erst als Becker sich an die Medien wandte, wurde ihr der Lift nach fast einem Jahr Auseinandersetzung mit der Kasse im August 2019 bewilligt. „Jeden Tag freue ich mich jetzt, wenn Sandro im Rollstuhl sitzend in sein Kinderzimmer, seine Rückzugsoase, hochfährt und ich ihn mit fließendem Wasser abduschen kann. Dafür bin ich unglaublich dankbar.“

Viele Eltern von behinderten Kindern könnten ähnliche Geschichten erzählen, sagt Carmen Lechleuthner aus dem bayerischen Pfaffenhofen. „Es gibt Familien, die gar keine Hilfsmittel mehr beantragen, weil sie resigniert haben“, erzählt die Ärztin und Mutter des vierjährigen Korbinian, der mit schwersten Hirnschäden auf die Welt gekommen ist. Die Pflege schwer kranker oder behinderter Kinder verlangt den Eltern viel Kraft ab. Da bleibt oft keine Energie mehr, um für Fußorthesen oder einen zweiten Therapiestuhl für den Kindergarten zu kämpfen.

Petition mit 55.000 Unterschriften

Lechleuthner hat darum eine Petition initiiert, die 55.000 Unterschriften erhielt und Mitte Mai dem Petitionsausschuss im Bundestag überreicht wurde. Darin verlangen die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen, dass Krankenkassen ärztliche eingeleitete Therapien oder Verordnungen nicht systematisch infrage stellen, sondern übernehmen. Weitere Forderung: Der Medizinische Dienst soll nicht durch fachfremde Gutachter und nur nach Aktenlage über die Gewährung eines Hilfsmittels entscheiden dürfen.

Der sozialmedizinische Beratungs- und Begutachtungsdienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung soll sicherstellen, dass die Leistungen der Kranken- und der Pflegeversicherung nach objektiven medizinischen Kriterien allen Versicherten zu gleichen Bedingungen zugutekommen.

In einer Stellungnahme teilte der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit: „Für Leistungsbereiche, die nicht ausschließlich einer bestimmten Fachrichtung zuzurechnen sind - hierzu zählt die Hilfsmittelversorgung - werden die Gutachterinnen und Gutachter kontinuierlich geschult und weitergebildet.“

Zermürbende Kämpfe

Die Krankenkassen seien nicht verpflichtet, den Medizinischen Dienst bei der Hilfsmittelversorgung mit einer Stellungnahme zu beauftragen, weshalb nur ein sehr geringer Teil der jährlich bundesweit rund 19 Millionen verordneten Hilfsmittel zum Medizinischen Dienst kämen. Im vergangenen Jahr hätten in 276.000 Fällen die Kassen eine Stellungnahme eingefordert. In einem knappen Drittel der Fälle hätten sich die Gutachter gegen eine Gewährung der Hilfsmittel ausgesprochen - also in rund 90.000 Fällen.

Die Vorsitzende des Vereins „Hölder-Initiative für Kultur und Inklusion“ in Lauffen bei Heilbronn, Verena Niethammer, spricht sich für eine „Umkehr der Beweislast“ aus: Sie möchte, dass Eltern die verordneten Hilfsmittel grundsätzlich von der Krankenkasse erhalten, es sei denn, die Kassen können belegen, dass diese überflüssigerweise verordnet wurden. Außerdem sei wichtig, dass bei schwerbehinderten Kindern oder Kindern mit unheilbaren Erkrankungen die Pflegegrade entfristet würden und nicht immer wieder neu belegt werden müsse, warum das Kind beispielsweise weiterhin Physiotherapie benötigt, so die Autorin des Blogs „Sophiesanderswelt“.

Tina Kouemo aus Kirchheim am Neckar ist mit zur Übergabe der Petition nach Berlin gefahren. Alles, was zum Standardprogramm der Kassenleistung gehöre, erhalte sie ohne Probleme, erklärt Kouemo. Doch oft gebe es wichtige Hilfsmittel, die sie nicht oder erst nach langen Diskussionen bewilligt bekäme.

Ihrem Sohn Kyle, der das sehr seltene FoxG1-Syndrom hat, hatte ein Experte in einer Spezialklinik eine Geh- und Stehhilfe für knapp 1.000 Euro verordnet. Die Krankenkasse bewilligte sie nicht. Kouemo legte Widerspruch ein - und erfuhr erst nach einem Jahr, dass sie auch beim Widerspruchsausschuss der Kasse nicht erfolgreich war. Dabei hätte ihr Rücken dringend Entlastung gebraucht, sagt sie, sie habe bereits zwei Bandscheibenvorfälle hinter sich: „Es ist wahnsinnig zermürbend, wenn man so oft um Hilfsmittel kämpfen muss.“

Judith Kubitscheck


Behinderung

"Hilfsmittel sind die Grundlage für jede Form der Inklusion"



Pfaffenhofen (epd). Sie ist Fachärztin und Mutter eines behinderten Sohnes: Carmen Lechleuthner aus dem oberbayerischen Pfaffenhofen kämpft darum, dass Menschen mit Behinderung einfacher zu Hilfsmitteln kommen, die ihnen verordnet wurden. Im Interview des Evangelischen Pressedienstes (epd) erklärt sie, was sie dazu motiviert und warum das Gesundheitssystem aus ihrer Sicht nur Geld verliert, wenn es Hilfsmittel blockiert. Mit Lechleuthner sprach Judith Kubitscheck.

epd sozial: Frau Lechleuthner, vor einigen Wochen haben Sie eine Petition mit über 55.000 Unterschriften in Berlin dem Petitionsausschuss übergeben. Darin fordern Sie unter anderem eine direkte Kostenübernahme verordneter Hilfsmittel und Medikamente durch die Krankenkassen. Warum haben Sie diese Petition ins Leben gerufen?

Lechleuthner: Ich bin selbst Fachärztin. Für mich war es eine völlig neue Erfahrung, dass Medikamente oder Hilfsmittel, die vom Facharzt für meinen Sohn verordnet werden, von einem Allgemeinmediziner oder einer anderen fachfremden Person des Medizinischen Dienstes meist nur nach Aktenlage geprüft und allzu oft einfach abgelehnt werden. Die Begründungen hierfür sind medizinisch sehr oft nicht nachvollziehbar.

Unser vierjähriger Sohn hat bereits 40 Gutachten des Medizinischen Dienstes. Beispielsweise braucht er Epilepsiemedikamente, die die Krankenkasse aber nur in Kapselform übernimmt. Da er keine Kapseln schlucken kann, muss er diese über die Magensonde in Pulverform einnehmen. Doch das Pulver, das aus Österreich kommt, wird nur nach langer Diskussion und Streiterei übernommen.

Außerdem kann Korbinian seinen Kopf nicht halten, weshalb ich für ihn einen speziellen Autositz beantragt habe - der abgelehnt wurde. Ich solle einen handelsüblichen Kindersitz nehmen, wurde mir zuerst gesagt. Doch das wäre absolut fahrlässig. Erst nachdem ich Widerspruch eingelegt hatte, erhielt ich den Sitz. Wir müssen um sehr viele Leistungen monatelang streiten und sie teilweise mit anwaltlicher Hilfe erkämpfen.

epd: Geht das auch anderen so?

Lechleuthner: Ja, wie mir geht es vielen: 14.000 Unterzeichner der Petition haben angegeben, selbst betroffen zu sein. Eine Mutter hat mich angerufen und erzählt, dass sogar der Blindenstock ihres blinden Kindes nicht von der Kasse genehmigt wurde.

Ein ambulantes Kinderhospiz in München berichtete, dass in manchen Fällen Hilfsmittel erst genehmigt werden, wenn das Kind bereits gestorben ist. Es gibt einzelne Kassen, wo es besser funktioniert, aber das liegt meist an einzelnen Mitarbeitenden in der Kasse, die sich des Falls annehmen.

epd: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass es oft so schwer ist, zu Hilfsmitteln zu kommen?

Lechleuthner: Ein Grund könnte sein, dass die Krankenkassen miteinander in Konkurrenz stehen. Im stationären Bereich kann wenig Geld eingespart werden - im ambulanten dagegen schon. Wenn ein Kind aus einer Orthese rauswächst und die Kasse dann sechs Monate bis zur nächsten Bewilligung wartet, kann man eine Versorgung sparen, was aber langfristige Folgen für die Gesundheit des Kindes haben kann. Nur die Hälfte der Antragsteller legt Widerspruch ein, wenn ein Hilfsmittel abgelehnt wird - ebenfalls eine Möglichkeit, Geld einzusparen.

Doch insgesamt gesehen ist es nicht wirtschaftlich, wenn Ärzte des Medizinischen Dienstes und Sozialpädiatrische Zentren viel Zeit damit verbringen, Stellungnahmen zu formulieren oder abgelehnte Anträge zu begründen - und wenn einerseits Hilfsmittel abgelehnt werden, aber dann wieder Teilhabeberatungen bezahlt werden, um sie durchzusetzen. Dieses Geld sollte man besser direkt in Hilfsmittel investieren. Denn sie sind für mich die Grundlage für jede Form von Inklusion.



Ehrenamt

Zwölf Monate für sich und die Gesellschaft




Aika Causing (re.) leistet in Alzey einen Bundesfreiwilligendienst.
epd-bild/Kristina Schäfer
Vor zehn Jahren startete als Ersatz für den weggefallenen Zivildienst der Bundesfreiwilligendienst. Soziale Einrichtungen sind glücklich über das Angebot, aber auch Kritiker melden sich weiter zu Wort.

Mainz (epd). Meistens übernimmt Aika Causing die Frühschicht, denn dann kann sie direkt nach Dienstende noch beim Sprachunterricht deutsche Vokabeln und Grammatik pauken. Die 29-Jährige, die von den Philippinen stammt, leistet seit April einen Bundesfreiwilligendienst im DRK-Krankenhaus in der rheinland-pfälzischen Kreisstadt Alzey. Hier bringt sie Patienten Frühstück und Mittagessen, legt Infusionen, misst Blutzucker- und Pulswerte. Seit mittlerweile zehn Jahren gibt es in der Bundesrepublik als Ergänzung zu anderen Freiwilligendiensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) und dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) den Bundesfreiwilligendienst.

Lücke wurde nie ganz geschlossen

Vor zehn Jahren, zum 1. Juli 2011, hatten die ersten Freiwilligen die Arbeit aufgenommen. Seither wuchs ihre Zahl mit der Zeit auf insgesamt über 400.000 an. Für das Bundesfamilienministerium ist die Entwicklung eine „Erfolgsgeschichte, die bis heute andauert“. In einer Publikation zum Jubiläum heißt es: „Vom Einsatz profitieren alle: Viele Freiwillige kommen in ihren Einsatzstellen mit Lebensbereichen in Kontakt, die sie sonst vielleicht nie kennengelernt hätten.“

Beim Start des Angebots stand der Gedanke im Mittelpunkt, die Zivildienstleistenden zu ersetzen, die den Einrichtungen nach der Aussetzung der Wehrpflicht fehlten. „Die Lücke ist nie gänzlich geschlossen worden“, sagt Jacob Bremicker, Abteilungsleiter Freiwilligendienste beim DRK-Landesverband Rheinland-Pfalz und aktuell zuständig für rund 200 Freiwillige im Bundesland. Weil der Bundesfreiwilligendienst (BFD) freiwillig sei, habe das aber auch zur Folge, dass alle tatsächlich mit hohem Engagement bei der Sache seien.

Sowohl BFD als auch Freiwilliges Soziales Jahr dauern in der Regel zwölf Monate. Größter Unterschied ist die Öffnung des Bundesfreiwilligendienstes auch für über 27-Jährige. „Das sind Menschen, die sich noch einmal umorientieren möchten“, berichtet Annegret Höhmann von der Diakonie Hessen. Auch gebe es Fälle, in denen Frauen nach längerer Elternzeit in einem Freiwilligendienst einen „sanften Wiedereinstieg ins Berufsleben“ sehen. In Einzelfällen hätten sich sogar schon über 60-Jährige für eine Stelle beworben.

Mehr freie Stellen als Bewerber

Auch zehn Jahre nach dem Start gibt es weiter grundsätzliche Kritik am BFD. Immer wieder werde aus Einrichtungen berichtet, dass mit Freiwilligen reguläre Arbeitsplätze ersetzt würden, klagt die Linken-Bundestagsabgeordnete Katrin Werner. „Wir hätten gern einmal eine Auswertung zur Arbeitsmarktneutralität des BFD.“ Auch bei der Vergütung des Dienstes sieht sie weiter Nachbesserungsbedarf: Während etwa Wehrdienstleistende umsonst mit der Bahn fahren könnten, gebe es keine vergleichbare Regelung für den Bundesfreiwilligendienst. Bei Hartz-IV-Beziehern werde auch das während des Dienstes gezahlte Taschengeld auf die Sozialleistungen angerechnet. „Auch nach zehn Jahren ist da noch viel zu tun“, sagt die Politikerin.

Um einen Bundesfreiwilligendienst anzutreten, müssen Interessierte nur wenige Voraussetzungen erfüllen. Prinzipiell gilt: Wer einen Wohnsitz in Deutschland hat, kann sich bewerben. Aktuell gibt es meist wesentlich mehr freie Stellen zur Auswahl als Bewerber, daher stehen die Chancen nicht schlecht, im gewünschten Arbeitsbereich unterzukommen.

Für Aika Causing steht schon fest, dass sie nach dem BFD-Jahr Krankenschwester werden möchte, nachdem sie vorher lange als Kellnerin in einem Hotel gearbeitet hatte. Für sie ist der Bundesfreiwilligendienst die ideale Möglichkeit, sich mit den Abläufen in einem Krankenhaus vertraut zu machen, denn für den Beginn einer Ausbildung benötigt sie noch ein Deutsch-Zertifikat. Grundsätzlich stehe ihre Entscheidung aber fest: „Der Beruf ist sicher, man wird immer gebraucht.“

Karsten Packeiser


Ehrenamt

Hintergrund

Warum der Bundesfreiwilligendienst entstand und wie er funktioniert



Frankfurt a.M. (epd). Mehr als 400.000 Menschen haben in den zehn Jahren, in denen der Bundesfreiwilligendienst besteht, den ehrenamtlichen Dienst absolviert. Das Angebot der Einsatzmöglichkeiten ist vielfältig. Der Evangelische Pressedienst (epd) beantwortet die wichtigsten Fragen zur Zielgruppe, Dauer und Vergütung des Engagements.

Warum wurde 2011 der Bundesfreiwilligendienst ins Leben gerufen?

Nach dem politisch beschlossenen Aus von Wehr- und Zivildienst entschied sich die Bundesregierung, ab Juli 2011 einen neuen Dienst für Freiwillige einzuführen. Der BFD „soll eine neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland schaffen und möglichst vielen Menschen ein Engagement für die Allgemeinheit möglich machen“, erklärte die Regierung damals. Die Sozial- und Umweltorganisationen gingen auf Distanz, denn sie fürchteten Konkurrenz für ihre etablierten Angebote im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) und Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ).

Welche Gründe gab es dafür, nicht stattdessen FSJ und andere Ehrenamtsangebote auszubauen?

Das Ende des Zivildienstes war eine große gesellschaftliche Herausforderung. Der Bundesfreiwilligendienst sollte helfen, die Folgen der Aussetzung des Zivildienstes zumindest teilweise zu kompensieren, denn es fehlten ja Tausende Zivis in den sozialen Einrichtungen. Alle nach dem Zivildienstgesetz anerkannten Dienststellen und -plätze wurden daher automatisch als Einsatzstellen und Plätze des Bundesfreiwilligendienstes anerkannt.

Wo liegen die Unterschiede in den Dienstformen?

Da viele Träger sowohl FSJ als auch BFD anbieten, merken die Teilnehmer meist gar keinen Unterschied. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist jedoch, dass der BFD keine Altersgrenze kennt, also etwa auch für Rentnerinnen und Rentner grundsätzlich offensteht.

Wer kann aktiv werden?

Für den BFD kann sich jeder bewerben, der die Vollzeitschulpflicht erfüllt hat, also in der Regel 16 Jahre alt ist.

Wie lange muss man sich verpflichten?

In der Regel dauert der Bundesfreiwilligendienst zwölf Monate, mindestens jedoch sechs und höchstens 18 Monate. In Ausnahmefällen kann er auch bis zu 24 Monate geleistet werden, wenn man verschiedene Dienste hintereinander absolviert. Beim BFD handelt es sich grundsätzlich um einen ganztägigen Dienst. Für Freiwillige über 27 Jahren (die Altersgrenze beim FSJ) ist auch ein Teilzeitdienst von mehr als 20 Stunden wöchentlich möglich.

Wie wird der Einsatz honoriert?

Im Bundesfreiwilligendienst gibt es ein Taschengeld. Derzeit liegt die Höchstgrenze bei 426 Euro monatlich. Manche Anbieter stellen auch noch kostenlose Unterkunft und Verpflegung bereit oder übernehmen ganz oder teilweise die Kosten für ein ÖPNV-Ticket.

Welche verschiedenen Einsatzmöglichkeiten gibt es?

Die Tätigkeitsfelder sind breit gestreut. Grundsätzlich handelt es sich stets um praktische Hilfstätigkeiten in gemeinwohlorientierten Einrichtungen: in der Jugend- und Behindertenhilfehilfe, im Gesundheitswesen, in Pflegeheimen, in Schulen sowie in Sport, Kultur, Denkmalpflege oder im Umweltschutz.

Dirk Baas


Ehrenamt

Merkel: Bufdis sind ein Geschenk für die Gesellschaft



2011 startete nach dem Aus von Wehr- und Zivildienst ein neues Angebot für Ehrenamtler: der Bundesfreiwilligendienst. Rund 400.000 Frauen und Männer haben ihn bisher durchlaufen - die Politik dankt bei einer digitalen Feier dafür.

Berlin (epd). Ist der Bundesfreiwilligendienst (BFD) nun eine „beispiellose Erfolgsgeschichte“ oder nur eine „Erfolgsgeschichte“? Die Präsidentin des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, Edith Kürten, ist sich bei der digitalen Geburtstagsfeier am 1. Juli in Berlin selbst nicht ganz sicher - sie möchte ja auch nicht übertreiben. Aber wie dem auch sei: Der 2011 ins Leben gerufene BFD wird von seinen versammelten und zugeschalteten Protagonisten durchweg als Erfolg betrachtet.

Spezielles BFD-Programm für Flüchtlinge

Und so würdigt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) per Video den Einsatz von bisher mehr als 400.000 Ehrenamtlern und zollt ihnen Respekt und Anerkennung. Der BFD sei „für viele Menschen eine wichtige Hilfe und ein Lichtblick im Alltag“, sagte sie. Die Kanzlerin dankte allen Freiwilligen und auch den Einsatzstellen „aus ganzem Herzen“.

Der Bundesfreiwilligendienst war am 1. Juli 2011 nach dem Aussetzen der Wehrpflicht und des Zivildienstes gestartet. Inzwischen engagieren sich jährlich etwa 40.000 überwiegend junge Menschen im BFD, der außer im Sozialen etwa auch in der Kultur, im Umwelt- oder Denkmalschutz, in der Bildung oder im Sport möglich ist.

Merkel erinnerte zugleich an zurückliegende Ergänzungen und Reformen, um die Einsätze möglichst attraktiv zu machen. So habe man ein spezielles BFD-Programm für Flüchtlinge aufgelegt, Einsätze auch in Teilzeit ermöglicht und die Finanzierung seitens des Bundes verbessert. „Der BFD ist ein wunderbares Angebot für alle, die sich engagieren wollen“, sagte die Kanzlerin: „Und er ist ein Geschenk für unsere Gesellschaft.“

78.000 Einsatzstellen

Familienministerin Christine Lambrecht (SPD) verwies darauf, dass 25 bis 30 Prozent der Freiwilligen der Altersgruppe der über 27-Jährigen angehören: „Das zeigt, dass das Angebot eines Freiwilligendienstes für Bürgerinnen und Bürger jeden Alters ein großer Erfolg ist.“ Auch viele Berufstätige nutzten die Chance zur Neuorientierung, die ihnen ein Freiwilligendienstjahr eröffnen könne.

Der BFD bringe Menschen über Grenzen und Generationen zusammen und sei gleichzeitig auch ein persönlicher Gewinn: „Es ist immer 'Zeit, das Richtige zu tun'“, zitierte Lambrecht das BFD-Motto. Eine lebendige Demokratie lebe vom Mitmachen. Die Möglichkeit des freiwilligen Engagements in rund 78.000 Einsatzstellen sei „ein wichtiges Element einer starken Zivilgesellschaft“. Der Dienst werde von vielen Absolventen als Bereicherung des eigenen Lebens empfunden, „und das macht auch ein bisschen stolz auf unsere Gesellschaft insgesamt“, sagte die Ministerin.

Kürten, deren Amt den BFD organisatorisch am Laufen hält, blickte auf den Einsatz aller Akteure auf diesem Feld zurück, so auch auf den der Verantwortlichen in den Einsatzstellen und in den Verbänden und Organisationen. Es sei in der vergangenen Dekade gelungen, gemeinsam den Dienst immer weiterzuentwickeln und so auszugestalten, dass die Freiwilligen „ihre vielfältige Arbeit auch unter guten Bedingungen machen können“.

Sie verwies außerdem auf die zu ihrem Amt gehörenden 43 Beraterinnen und Berater, die bundesweit im Außendienst tätig seien. Sie verfügten über exzellente Kenntnisse vom BFD und seien Ansprechpartner vor Ort für die Einsatzstellen, aber in erster Linie auch für alle am Dienst Interessierten.

Dirk Baas


Pflege

Studien: Corona-Maßnahmen haben Heimbewohner nicht geschützt




Corona-Schnelltest in einem Pflegeheim
epd-bild/Peter Sierigk
Deutlich mehr Tote, Einsamkeit und zusätzliches Leid: Im Pflege-Report 2021 kommen Forscherinnen und Forscher zu einer verheerenden Bilanz der Wirkungen der Corona-Schutzmaßnahmen auf pflegebedürftige Menschen in Heimen.

Berlin (epd). Die Corona-Schutzmaßnahmen haben Heimbewohnerinnen und -bewohner nicht geschützt, sondern ihnen sogar vielfach geschadet. Zu diesem Ergebnis kommt der Pflege-Report 2021, den das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) am 29. Juni in Berlin veröffentlicht hat. Dem Bericht zufolge stieg die Sterblichkeit von Heimbewohnern in den ersten beiden Corona-Wellen stark an. Die Isolationsmaßnahmen hätten außerdem bei einer Mehrheit der pflegebedürftigen Menschen zu zusätzlichen gesundheitlichen Problemen geführt.

Heime pauschal abgeriegelt

„Das ist eine Katastrophe“, bilanzierte die Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft an der Berliner Charité, Adelheid Kuhlmey, bei der Vorstellung des Berichts. Kuhlmey leitet auch das „Covid-Heim“-Forschungsprojekt, aus dem viele der im Pflege-Report 2021 dokumentierten Ergebnisse stammen. Es seien Schutzmaßnahmen ergriffen worden, die Heimbewohner nicht davor bewahrt hätten, sich mit dem Virus zu infizieren oder zu sterben. Es sei außerdem falsch gewesen, die Heime pauschal abzuriegeln. Dafür machte Kuhlmey, die früher als Gesundheits-Sachverständige die Bundesregierung beraten hat und dem Deutschen Ethikrat angehört, den Gesetzgeber verantwortlich: Die Heimleitungen hätten keine Wahl gehabt und den gesetzlichen Regeln folgen müssen.

Dem Pflege-Report zufolge sind in den ersten beiden Wellen der Corona-Pandemie deutlich mehr Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner gestorben als sonst. Danach lag die Sterblichkeit in Pflegeheimen drei Wochen nach dem Beginn des ersten Lockdowns Anfang April 2020 um 20 Prozent über dem Mittel der Vorjahre. In den ersten drei Monaten der zweiten Welle von Oktober bis Dezember 2020 starben 30 Prozent mehr Heimbewohner als sonst. Am schlimmsten war es um die Weihnachtstage 2020. Den Forschern zufolge lag die Sterblichkeit in der zweitletzten Woche des vorigen Jahres um 80 Prozent über der vorheriger Jahre.

Extrem hohe Sterblichkeit

Die Infektionsschutzmaßnahmen zu Beginn der Pandemie hätten nicht ausgereicht, um die pflegebedürftigen Menschen zu schützen, bilanziert der Report. Es müsse untersucht werden, ob dies im weiteren Verlauf besser geworden sei und welche Maßnahmen das Ansteckungsrisiko tatsächlich senken. Die drastischen Folgen zeigen sich auch in den Abrechnungsdaten der Krankenhäuser zu Covid-Patienten, die älter waren als 60 Jahre. Von April bis Juni 2020 starben in den Kliniken 45 Prozent der Covid-Patienten über 60, die in einem Pflegeheim lebten - und damit fast doppelt so viele wie unter allen anderen Covid-Krankenhaus-Patientinnen und Patienten über 60 Jahre.

Der Report enthält auch Ergebnisse einer Angehörigen-Befragung über die Isolationsmaßnahmen in den Heimen. Aus ihr geht hervor, dass die Isolierung für zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner negative gesundheitliche Folgen hatte, vor allem in Form psychischer Probleme und nachlassender geistiger Fitness. Mehr als die Hälfte der alten Menschen (56 Prozent) litten auch körperlich unter den Folgen der Bewegungseinschränkung und konnten schlechter gehen, Treppen steigen oder aufstehen. 16 Prozent waren über längere Zeit ganz im eigenen Zimmer eingesperrt, ein Viertel überwiegend.

Überforderte Angehörige

Die Isolation alter pflegebedürftiger Menschen dürfe „auf keinen Fall noch einmal zur Gefährdungsvermeidung herangezogen werden“, heißt es in dem Report. Eine der Autorinnen des Reports, Antje Schwinger vom WIdO, sagte, augenscheinlich hätten die Maßnahmen die Heimbewohner nicht geschützt.

Die „Wut und Verzweiflung“ der Angehörigen darüber habe sie sehr berührt. Jeder Vierte habe angegeben, mit der Situation überfordert gewesen zu sein.

Die Studien über die Auswirkungen der Pandemie und der Anti-Corona-Maßnahmen auf Pflegeheimbewohner beruhen nach Angaben des WIdO auf den Daten von rund 400.000 Heimbewohnern, die bei der AOK versichert sind. Das sind die Hälfte aller Pflegebedürftigen, die in Deutschland in Heimen versorgt werden. Neben den Routinedaten der Krankenkassen flossen erste Ergebnisse des „Covid-Heim“-Forschungsprojekts ein, das vom Spitzenverband der Krankenkassen mitfinanziert wird, sowie die Befragung der Angehörigen von Pflegebedürftigen.

Bettina Markmeyer


Armut

Sozialverbände: Kindern und Familien effektiver helfen




Kinderarmut war im Bundestagswahlkampf 2017 ein Thema.
epd-bild/Jürgen Blume
Sozialverbände sehen den von der Bundesregierung vorgelegten 6. Armuts- und Reichtumsbericht kritisch und fordern mehr Elan bei der effektiven Hilfe für bedürftige Familien und deren Kinder. Ein Grundkonzept zum Kampf gegen verfestigte Armut fehle noch immer.

Berlin (epd). Die in der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen (AGF) zusammengeschlossenen Verbände fordern, die Kinderarmut in Deutschland zielgenauer zu bekämpfen. Aus Anlass der Debatte über den 6. Armuts- und Reichtumsbericht am 25. Juni im Bundestag teilte die AGF mit, „die bisherige Politik reicht nicht aus, um Familienarmut zu verhindern und Aufstiegschancen für alle Kinder zu gewährleisten“. Der Bericht dokumentiere den Stillstand beim Abbau sozialer Ungleichheit und sozialer Benachteiligung von besonders belasteten Familien. Auch andere Sozialverbände gingen auf Distanz zu der Bilanz der Bundesregierung.

„Wir dürfen uns nicht an den hohen Anteil armer Kinder gewöhnen und daran, dass ihnen die gesellschaftliche Teilhabe und die Perspektive auf einen sozialen Aufstieg verweigert wird“, sagte Sidonie Fernau, Vorsitzende der AGF. Besonders hohe Armuts- und Teilhaberisiken trügen Alleinerziehende, Familien mit drei und mehr Kindern und Familien mit Migrationsgeschichte.

Analyse gut, Umsetzung schlecht

Der Armuts- und Reichtumsbericht hinterlasse einen ambivalenten Eindruck. Die analytischen Teile sind aus Sicht der Familienorganisationen weitgehend gelungen. Dem selbst gesetzten Anspruch, „eine mehrdimensionale Betrachtung sozialer Lagen“ im Zeitverlauf vorzunehmen, würde der Bericht im Wesentlichen gerecht und bilde damit eine wichtige Datenquelle auch für die familienpolitische Diskussion.

Jedoch sei der Eindruck zu den politischen Maßnahmen ein völlig anderer: Hier bleibe die Aufzählung der Initiativen der Bundesregierung ein Flickenteppich der Legitimation des Regierungshandelns. Impulse für eine effektive Armutsbekämpfung fänden sich hier nicht, was insbesondere angesichts der sozialen Folgen der Corona-Pandemie besonders bedauerlich sei.

Kinderbetreuung und Bildung verbessern

Die Familienorganisationen fordern von der kommenden Bundesregierung wirksamere Maßnahmen der Familienentlastung und der Bekämpfung von Kinderarmut sowie der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Zentral seien neben einer familiengerechten Gestaltung der Arbeitswelt eine bessere Qualität der Kinderbetreuung und Bildung. Zudem müsse der Zugang zu Familienleistungen einfacher werden. Gebraucht werde ferner eine neue Debatte über die Entlastung von Familien sowie die Senkung der Mehrwertsteuer für Produkte für Kinder und Familien auf nur sieben Prozent.

„Dass das Wort Kinderarmut im Bericht selbst nur einmal, und dann in einer Fußnote vorkommt, steht stellvertretend für die fehlende tiefergehende Auseinandersetzung mit den kindspezifischen Auswirkungen und Sichtweisen auf Armut im Bericht“, rügte das Deutsche Kinderhilfswerk. Das sei angesichts der Kinderarmutszahlen in Deutschland mehr als ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. „Und das Wort Kindergrundsicherung sucht man tatsächlich komplett vergebens“, rügte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann.

Veränderungen an einzelnen Stellschrauben der sozialen Sicherungssysteme seien aber zu wenig, hieß es. Zwar hätten die Änderungen beim Unterhaltsvorschuss, beim Kinderzuschlag oder das ,Starke-Familien-Gesetz' einige Verbesserungen für armutsbetroffene Kinder und Jugendliche gebracht. „Zugleich fehlen aber nach wie vor eine umfassende Priorisierung der Förderung armer Familien und ihrer Kinder, unbürokratische Zugänge zu den Leistungen sowie weitere umfassende Maßnahmen, um der zunehmenden Verfestigung von Armut zu begegnen und Bildungsaufstiege zu befördern“, so der Geschäftsführer.

Caritas-Präsident Peter Neher sagte, es sei „sozialpolitisch hoch bedenklich, dass es vielen Menschen nicht gelingt, aus der Armutsspirale auszusteigen.“ Die Menschen bräuchten niedrigschwellige Angebote. Dringend müsse die soziale Daseinsvorsorge als Angebot der Armutsprävention ausgebaut werden, forderte Neher.

Dirk Baas


Armut

Bahnhofsmission: Frauen mehr in den Fokus nehmen



Berlin (epd). Nur ein Drittel aller Hilfesuchenden in den deutschen Bahnhofsmissionen ist weiblich. Deshalb suchen Expertinnen und Experten nach Wegen, wie bedürftigen Frauen zielgerichtet geholfen werden kann. Bei einer digitalen Fachtagung am 22. Juni erörterten über 50 Ehren- und Hauptamtliche mögliche Lösungsansätze.

Über 2,2 Millionen Menschen besuchen den Angaben zufolge jährlich eine der 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland und fragen nach Hilfe. Von Frauen werden diese Angebote allerdings deutliche seltener wahrgenommen: Nur ein Drittel aller Hilfesuchenden ist weiblich - und das hat Gründe.

„Frauen gehen nicht durch jede Tür - selbst dann nicht, wenn sie offen steht,“ war eine zentrale Erkenntnis der Fachtagung. Um sie zu erreichen, brauche es inklusive Strukturen, die von den Bahnhofsmissionen aktiv gestaltet werden müssten, so die Diskutanten. Es reiche nicht, „einfach da zu sein“.

„Frauen wollen unter sich sein“

„In der Konkurrenz um die begrenzten Ressourcen Zeit und Raum haben die Frauen oft die schlechteren Karten. Wer sie erreichen will, muss aktiv auf sie zugehen. Dazu gehören auch Angebote, in denen die Frauen unter sich sein können“, betonte Gisela Sauter-Ackermann, Bundesgeschäftsführerin der Bahnhofsmission.

Viele Gäste der Bahnhofsmissionen empfänden ihre prekäre Lebenssituation als beschämend, sagte Ulla Stegemann von der Diakonie Hessen. Gegen Scham helfen Anerkennung, Schutz und ein Gefühl der Zugehörigkeit, wie es hieß. Es müsse ein „Raum der Würde“ entstehen, in dem sich die Frauen angenommen fühlten.

Wer Frauen erreichen wolle, müsse ihre Wünsche ernst nehmen und ihnen Beteiligung ermöglichen. Einige Bahnhofsmissionen machten damit heute schon gute Erfahrungen, etwa mit Angeboten wie „Ellens Treff“ in der Bahnhofsmission Essen oder dem „Nachtcafé“ der Bahnhofsmission Freiburg.




sozial-Recht

Bundessozialgericht

Offenes Kirchenasyl kein Grund für geringere Asylleistungen




Ehepaar im Kirchenasyl (Archivbild)
epd-bild/Stefan Arend
Schutz zu suchen im offenen Kirchenasyl ist kein rechtsmissbräuchliches Verhalten. Wie das Bundessozialgericht urteilte, dürfen bei einem Kirchenasyl, bei der die Ausländerbehörde den Aufenthaltsort des Flüchtlings kennt, keine Asylleistungen verweigert werden.

Kassel (epd). Flüchtlinge dürfen wegen ihres Aufenthaltes in einem offenen Kirchenasyl nicht mit geringeren Asylleistungen bestraft werden. Auch wenn abgelehnte Asylbewerber mit dem Kirchenasyl einer Abschiebung entgehen und ihren Aufenthalt in Deutschland auf diese Weise verlängern, stellt dies kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar, urteilte am 24. Juni das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Sogenannte Analogleistungen für Flüchtlinge, also Asylleistungen auf Sozialhilfeniveau, dürften nicht verweigert werden.

Klägerin wollte nicht nach Italien zurück

Im Streitfall ging es um eine aus Äthiopien stammende schwerbehinderte Frau, die im Sommer 2016 über Italien nach Deutschland einreiste. Ihr Asylantrag wurde als unzulässig abgelehnt, da Italien als Ersteinreiseland nach den geltenden sogenannten Dublin-III-Regelungen für das Asylverfahren zuständig war.

Die deutschen Behörden haben dann üblicherweise sechs Monate Zeit, den Asylsuchenden in das Ersteinreiseland zu überstellen. Die Frist gilt ab Zustimmung des anderen EU-Mitgliedslandes, den Flüchtling wieder zu aufzunehmen.

Doch die schwerbehinderte Klägerin wollte nicht nach Italien zurück und floh vom 26. Februar 2017 bis zum 22. September 2017 in ein Kirchenasyl einer fränkischen Gemeinde. Der Pfarrer hatte der Ausländerbehörde den Aufenthalt der Frau mitgeteilt, so dass ein sogenanntes offenes Kirchenasyl bestand.

Toleranter Umgang mit Kirchenasyl

Während ihres Kirchenasyls sahen die Behörden davon ab, sie nach Italien zurückzuschicken. Als die Überstellungsfrist abgelaufen war, war nun Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Sie beantragte schließlich sogenannte Analogleistungen, Asylleistungen auf Sozialhilfeniveau. Nach einem ununterbrochenen Aufenthalt in Deutschland von damals länger als 15 Monaten (heute 18 Monate) konnten Asylsuchende statt der geringeren Asylgrundleistungen diese Leistungen erhalten. Dies hatte die Stadt Bayreuth der Frau aber verweigert.

Die Asylsuchende habe sich „rechtsmissbräuchlich“ verhalten, weil sie ihren Aufenthalt mit dem Kirchenasyl bewusst verlängert und sich einer Überstellung nach Italien entzogen hat, so die Stadt. Nach dem Gesetz könnten Flüchtlinge bei einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten nur die geringeren Asylgrundleistungen beanspruchen.

Der Anwalt der Frau verwies darauf, dass der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit überhaupt nicht im Gesetz definiert sei. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt habe zudem am 4. Juni 2020 in einem anderen Fall entschieden, dass die Flucht in ein offenes Kirchenasyl nicht rechtsmissbräuchlich sei, da der Staat dieses akzeptiere und die Ausreisepflicht eines Flüchtlings von sich aus nicht durchsetze. Es wäre widersprüchlich, das Kirchenasyl bei dem Ausländer zu tolerieren und gleichzeitig ihm Rechtsmissbrauch vorzuwerfen.

Absprachen zwischen Staat und Kirche

Dieser Argumentation folgte auch das BSG und sprach der Klägerin höhere Leistungen - entsprechend der Sozialhilfe - zu. Die Klägerin habe politische Absprachen zwischen dem Staat und den Kirchen genutzt, dass keine Flüchtlinge im offenen Kirchenasyl abgeschoben werden. Faktisch habe der Staat auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht verzichtet. Dies dürfe der Klägerin nicht angelastet werden.

Die obersten Sozialrichter verwiesen auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses hatte am 26. Januar 2021 ebenfalls auf die Widersprüchlichkeit im Verhalten der deutschen Behörden hingewiesen. Im Streitfall ging es um die Frage, ob Flüchtlinge im offenen Kirchenasyl als „flüchtig“ gelten und sich deshalb die Überstellungsfrist in das Ersteinreise-EU-Land von sechs auf 18 Monate verlängert. Den Behörden sei aber im offenen Kirchenasyl der Aufenthaltsort des Asylsuchenden bekannt, urteilte das Bundesverwaltungsgericht. Eine Überstellung wäre damit rechtlich und tatsächlich wieder möglich gewesen. Von „flüchtig“ auszugehen, sei daher widersprüchlich.

Az.: B 7 AY 4/20 R (Bundessozialgericht)

Az.: L 4 AY 5/20 B ER (LSG Darmstadt)

Az.: 1 C 42.20 (Bundesverwaltungsgericht)

Frank Leth


Bundessozialgericht

Flüchtlinge können Anspruch auf Blindenhilfe haben



Kassel (epd). Blinde Flüchtlinge können zusätzlich zu ihren Asylleistungen auch Blindenhilfe erhalten. Die Behörden müssten nach den Umständen des Einzelfalls eine Ermessensentscheidung über die zu gewährenden Leistungen treffen, urteilte am 24. Juni das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Im konkreten Fall ging es um einen seit 2012 in Deutschland lebenden blinden Flüchtling aus Tschetschenien. Der Mann ist verheiratet und hat drei Kinder. Wegen seines langen Aufenthaltes in Deutschland erhält er sogenannte Analogleistungen, Asylleistungen entsprechend der regulären Sozialhilfe. Um seine Mehraufwendungen infolge seiner Blindheit abmildern zu können, beantragte er beim Landkreis Märkisch-Oderland Blindenhilfe. Er könne sonst nur eingeschränkt am kulturellen und sozialen Leben teilhaben.

Der Landkreis lehnte die Blindenhilfe ab und verwies auf das Asylbewerberleistungsgesetz. Danach erhalten Flüchtlinge, die Asylbewerberleistungen erhalten, keine regulären Sozialhilfeleistungen oder vergleichbare Leistungen nach Landesgesetzen. Darunter falle auch die Blindenhilfe.

Das BSG verwies das Verfahren an das Sozialgericht Frankfurt an der Oder zurück, da es an Feststellungen zur Hilfebedürftigkeit und dem Zeitpunkt der Blindheit des Klägers fehlt. Liegen diese vor, dürfe Blindenhilfe aber nicht pauschal verweigert werden, so die Kasseler Richter. Dass Bezieher von Analogleistungen von der Blindenhilfe ausgeschlossen seien, ergebe sich aus dem Gesetz nicht.

Az.: B 7 AY 1/20 R



Bundessozialgericht

Jobcenter muss vom Vermieter verlangte private Haftpflicht bezahlen



Kassel (epd). Hartz-IV-Bezieher können sich vom Jobcenter eine im Mietvertrag verlangte private Haftpflichtversicherung als Unterkunftskosten erstatten lassen. Soweit die vom Vermieter verlangte Police Schäden versichert, die direkt im Zusammenhang mit dem Wohnen stehen, handelt es sich um zu übernehmende Unterkunftskosten, urteilte am 30. Juni das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Im Streitfall war ein Arbeitslosengeld-II-Bezieher vom Rheingau-Taunus-Kreis nach Kassel umgezogen. In seinem neuen Mietvertrag hatte der Wohnungseigentümer verlangt, dass der Mann eine private Haftpflichtversicherung abschließt und ihm den Versicherungsschutz jährlich nachweist.

Zusammenhang zur Unterkunft

Die Beiträge der Versicherung in Höhe von monatlich 4,10 Euro machte der Hartz-IV-Bezieher beim Jobcenter Kassel als Unterkunftskosten geltend. Schließlich sei die Versicherung im Mietvertrag vorgeschrieben, führte er zur Begründung an.

Die Behörde sah in der Versicherung dagegen keine Unterkunftskosten und lehnte die Erstattung der Beiträge ab. Die private Haftpflichtversicherung hänge nicht unmittelbar mit der Nutzung der Unterkunft zusammen. Sie komme auch für Schäden auf, die nichts mit der Wohnung zu tun haben. Die Übernahme als Unterkunftskosten sei nur bei einem „bestimmungsgemäßen Gebrauch der Mietsache“ möglich, so die Behörde.

Das BSG verurteilte das Jobcenter jedoch zur Zahlung. Die Haftpflichtversicherung sei im Mietvertrag verbindlich vorgeschrieben. Auf diese Weise wolle der Vermieter sicherstellen, dass mögliche Schäden an der Wohnung behoben werden können. Damit bestehe ein sachlicher Zusammenhang zur Unterkunft. Die Zahlungspflicht würde nur entfallen, wenn die Mietvertragsklausel unwirksam ist. Diese bislang noch offene Frage habe der Bundesgerichtshof aber noch nicht abschließend entschieden, so das BSG.

Az.: B 4 AS 76/20 R



Landesarbeitsgericht

Teilzeitanspruch während Elternzeit durchsetzbar



Köln (epd). Ohne ausreichende Begründung darf ein Arbeitgeber Beschäftigten in Elternzeit nicht die Aufnahme einer Teilzeitarbeit verweigern. Allein die pauschale Behauptung, es gibt keine entsprechenden Beschäftigungsmöglichkeiten, reichen nicht, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln in einem am 22. Juni bekanntgegebenen Beschluss. Werden die Gründe nicht genauer dargelegt, könnten die betroffenen Elternteile ihren Teilzeitanspruch per einstweiliger Verfügung durchsetzen.

Nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch während ihrer Elternzeit in Teilzeit arbeiten. Die Teilzeitarbeit soll nicht weniger als 15 und nicht mehr als 30 Wochenstunden im Durchschnitt des Monats betragen. Kein Teilzeitanspruch besteht, wenn „dringende betriebliche Gründe“ dem entgegenstehen.

Konkrete Tatsachen

Hier hatte die Klägerin wegen der Geburt ihres Kindes mit ihrem Arbeitgeber vom 20. Juni 2020 bis zum 24. April 2022 Elternzeit vereinbart. Sie beantragte bei ihrem Arbeitgeber ab dem 1. Mai 2021 eine Teilzeitbeschäftigung im Umfang von 30 Wochenstunden.

Doch dazu war der Arbeitgeber nicht bereit. Es gebe im Betrieb keine Teilzeit-Beschäftigungsmöglichkeiten. Daher könne die Zustimmung zur Teilzeitarbeit nicht erteilt werden. Die Beschäftigte legte daraufhin Klage ein und beantragte eine einstweilige Verfügung.

Das LAG gab dem Antrag auf einstweiliger Verfügung statt. Allein die Behauptung, dass es fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten gebe, reiche als schlüssige Darlegung regelmäßig nicht aus, um die Zustimmung zur Teilzeitarbeit zu verweigern. Der Arbeitgeber müsse hierfür konkrete Tatsachen benennen.

Hier habe die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie ohne die Teilzeitbeschäftigung aufs berufliche Abstellgleis geraten werde und dass an ihrer Stelle andere Arbeitnehmer gefördert würden. Bis zur Entscheidung in der Hauptsache müsse sie für ihren Teilzeitanspruch nicht warten, entschied das LAG.

Az.: 5 Ta 71/21



Landessozialgericht

Kasse muss behinderter Schülerin Spracherkennung zahlen



Celle (epd). Spracherkennungs-Software kann für behinderte Kinder ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zur Sicherung der Schulfähigkeit sein. Mit dieser Entscheidung gab das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen der Klage von Eltern einer Förderschülerin aus Ostfriesland statt. Das Urteil wurde am 28. Juni in Celle bekannt.

Das zum Zeitpunkt der Klage neunjährige Mädchen, das seit einer frühkindlichen Hirnblutung an spastischen Lähmungen leidet, konnte nur unter größter Anstrengung einen Stift halten und schreiben. Im Jahre 2016 beantragten die Eltern bei der Krankenkasse unter anderem eine Computerausstattung mit der Spracherkennungssoftware „Dragon Professional“ für Schüler zum Preis von 595 Euro.

Barrierefreie Ausstattung von Schulen

Die Kasse lehnte den Antrag ab, da es sich bei der Software um ein Produkt für die Allgemeinbevölkerung handele und kein Hilfsmittel für Behinderte. Für sogenannte „Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens“ sei die gesetzliche Krankenversicherung nicht zuständig. Außerdem könne das Mädchen die in das Betriebssystem integrierte Spracherkennung nutzen. Für die barrierefreie Ausstattung von Schulen sei im Übrigen der Schulträger zuständig.

Das Landessozialgericht verurteilte die Kasse jedoch zur Erstattung der verauslagten Kosten. Zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre auch die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit, hieß es zur Begründung. Benötige ein Schüler aufgrund einer Behinderung ein Hilfsmittel, um am Unterricht teilnehmen oder die Hausaufgaben erledigen zu können, habe die Kasse dieses zur Verfügung zu stellen.

Bei Kindern sei ein großzügiger Maßstab anzulegen, um deren weiterer Entwicklung Rechnung zu tragen. Die Software sei hier deshalb als Hilfsmittel für Behinderte zu bewerten, das der Integration diene. Das Mädchen kann dem Gericht zufolge auch nicht auf die Spracherkennung des Betriebssystems verwiesen werden, die 2016 noch nicht ausreichend entwickelt gewesen sei. Eine Zuständigkeit des Schulträgers verneinte das Gericht. Das Urteil ist rechtskräftig.

Az.: L 4 KR 187/18



Kirchengerichtshof

Diakoniebetrieb an kirchliches Arbeitsrecht gebunden



Hannover (epd). Diakonische Einrichtungen dürfen beim diakonisch-kirchlichen Arbeitsrecht nicht eine eigene Vergütungsordnung anwenden. Sie sind an kirchlich-diakonisches Arbeitsvertragsrecht gebunden, wie der Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover in einem am 23. Juni veröffentlichten Beschluss klarstellte.

Im Streit stand die verweigerte Zustimmung einer Mitarbeitervertretung (MAV) zur Eingruppierung einer Mitarbeiterin. Die Leitung der im Diakonischen Werk Schleswig-Holstein organisierten Dienststelle wollte ihre eigene Entgeltordnung anwenden, für die es weder einen auf dem sogenannten Zweiten Weg vereinbarten Tarifvertrag noch eine auf dem Dritten Weg vereinbarte Arbeitsrechtsregelung gibt.

Zustimmung verweigert

Die MAV lehnte dies ab und berief sich auf das Diakoniegesetz der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Dieses legt unter anderem fest, dass die diakonischen Einrichtungen kirchlich-diakonisches Arbeitsvertragsrecht und kirchliches Mitarbeitervertretungsgesetz anwenden müssen. Bei der von der Dienststellenleitung angewandten Entgeltordnung habe es sich aber nicht um kirchlich-diakonisches Arbeitsrecht gehandelt, so dass sie die Zustimmung zur Eingruppierung der Mitarbeiterin verweigere.

Die Dienststellenleitung meinte, dass es nicht zwingend erforderlich sei, dass rechtlich selbstständige diakonische Träger auf dem Zweiten oder Dritten Weg zustande gekommenes Arbeitsrecht anwenden müssten. Im Diakoniegesetz gehe es nur um die „Gewährleistung der kontinuierlichen Verbindung mit der Landeskirche“ und „die gemeinsame Verantwortung von Kirche und Diakonie“ - und nicht um eine arbeitnehmerbezogene Regelung.

Kontinuierliche Verbindung zur Kirche

Der Kirchengerichtshof gab der MAV recht. Die Dienststelle wende eine „nicht kirchengesetzlich legitimierte“ Vergütungsordnung an, da diese „einseitig von der Dienststelle gesetzt worden ist“. Nach dem Diakoniegesetz sei sie verpflichtet, „auf dem Zweiten oder Dritten Wege zustande gekommenes kirchlich-diakonisches Arbeitsrecht anzuwenden“.

Das Diakoniegesetz schreibe fest, dass eine „kontinuierliche Verbindung zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland gewährleistet sein muss“. Hierzu seien auch Kriterien aufgeführt, die erfüllt sein müssen, wie etwa die Anwendung kirchlich-diakonischen Arbeitsrechts. Die Dienststelle dürfe dieses Kriterium nicht außer acht lassen.

Az.: I-0124/7-2020




sozial-Köpfe

Kirchen

Berliner Diakoniechefin Eschen in Ruhestand verabschiedet




Barbara Eschen
epd-bild/DWBO/Zellentin
Barbara Eschen beendet nach vielen Jahren ihre Tätigkeit beim evangelischen Wohlfahrtsverband. Sie geht mit 65 Jahren in Rente.

Berlin (epd). Die Berliner Diakoniedirektorin Barbara Eschen ist am 27. Juni mit einem Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in den Ruhestand verabschiedet worden. Die 65-jährige Theologin hatte das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (DWBO) seit 2014 geleitet und war davor seit 1989 Leiterin verschiedener Diakonieeinrichtungen.

Vertreterinnen und Vertreter von Kirche und Politik würdigten Eschen als Fürsprecherin der Menschen am Rand der Gesellschaft. Neue Diakoniechefin wird die Theologin Ursula Schoen. Die Prodekanin des Evangelischen Stadtdekanats Frankfurt und Offenbach wird ihr neues Amt in Berlin zum 1. September antreten.

Eschen habe mit großer Leidenschaft die Interessen von Diakonie und Kirche vertreten, sagte der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Christian Stäblein: „Ihre Stimme hat Gewicht bei den politisch Verantwortlichen.“ Zugleich habe sie die Menschen, die in der Stadtgesellschaft von Armut und sozialer Härte bedroht sind, in den Mittelpunkt gestellt. In den Jahren 2017 und 2018 war Eschen Vorsitzende der Nationalen Armutskonferenz (nak).

Die brandenburgische Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) würdigte Eschen als „Anwältin und Sprachrohr für Menschen in schwierigen Lebenslagen“. Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) erklärte, die Theologin habe viel dazu beigetragen, dass sich das soziale Berlin weiterentwickelt habe.



Weitere Personalien



Cristina Marin Campos ist mit dem Dresdner Friedenspreis ausgezeichnet worden. Die 33-jährige spanische Ärztin sei stellvertretend für Ärzte und Pflegekräfte geehrt worden, die in der Corona-Pandemie Herausragendes geleistet hätten, erklärte der Verein „Friends of Dresden Deutschland“ zur Verleihung in Dresden. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Campos ist Ärztin am Hospital Universitario de La Princesa in Madrid. Sie hatte die spanische Bevölkerung dazu aufgerufen, den Kranken zu schreiben, um die Einsamkeit der auf Intensivstationen isolierten Covid-19-Patienten zu lindern. Bereits am ersten Tag gingen 35.000 Briefe ein.

Karin Böllert bleibt Vorstandsvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ). Die Mitgliederversammlung bestätigte die Professorin für Erziehungswissenschaft für die bereits vierte Amtsperiode. Die Delegierten wählten als stellvertretende Vorsitzende Martina Reinhardt für die AGJ-Mitgliedergruppe Oberste Jugend- und Familienbehörden der Länder sowie Björn Bertram für die Mitgliedergruppe Jugendverbände und Landesjugendringe. Reinhardt ist Abteilungsleiterin im Thüringer Jugendministerium. Bertram arbeitet als Geschäftsführer des Landesjugendrings Niedersachsen. Der Geschäftsführenden Vorstand wurde auf vier Personen erweitert. Neu in das Gremium zog Doris Beneke ein. Sie ist Leiterin des Zentrums Kinder, Jugend, Familie und Frauen bei der Diakonie Deutschland.

Andreas Luttmer-Bensmann ist der neue Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft christlicher Arbeitnehmerorganisationen (ACA). In der ACA sind drei christliche Verbände zusammengeschlossen, die gemeinsam bei den Sozialwahlen antreten. Dies sind neben dem Kolpingwerk die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) und der Bundesverband evangelischer Arbeitnehmerorganisationen (BVEA). Luttmer-Bensmann ist seit 2015 Bundesvorsitzender der KAB. Er tritt als neuer ACA-Bundesvorsitzender die Nachfolge von Hannes Kreller an, der seit 2014 der ACA-Bundesebene vorstand.

Alena Buyx, Medizinethikerin und Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, ist mit dem Deutschen Nationalpreis 2021 geehrt worden. Die mit 30.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde am 26. Juni in Berlin verliehen. Verliehen wird der Preis von der 1993 errichteten Deutschen Nationalstiftung. Buyx habe während der Coronavirus-Pandemie Herausragendes geleistet, hieß es. Der Ethikrat sei in der Coronakrise stärker gefordert als je zuvor. Buyx sei besonders präsent in der öffentlichen Wahrnehmung: „Unermüdlich bezieht sie in den Medien Stellung, begründet nachvollziehbar die Empfehlungen des Ethikrats und stellt auch ihren eigenen Standpunkt transparent dar.“

Peter Becker, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht (BSG), ist am 30. Juni in den Ruhestand getreten. Zum 1. Februar 2003 wurde Becker zum BSG-Richter ernannt und dem für die gesetzliche Unfallversicherung zuständigen 2. Senat zugewiesen. Zum 1. Januar 2011 wechselte er in den für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen 14. Senat, dessen Vorsitzender er seit August 2016 ist. Becker ist seit 2012 Honorarprofessor der Universität Kassel ist er seit 2012. Becker ist 1955 im hessischen Herborn geboren.

Jörg Dräger (53) verlässt die Bertelsmann Stiftung. Dräger scheidet nach Mitteilung der Stiftung auf eigenen Wunsch zum Ende des Jahres aus dem Vorstand aus, um sich einer neuen internationalen beruflichen Herausforderung zu stellen. Der promovierte Physiker war seit 2008 im Vorstand zuständig für die Bereiche Bildung, Integration und Digitalisierung. Eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger steht den Angaben zufolge noch nicht fest. Der Stiftungsvorsitzende Ralph Heck bedauerte Drägers Entscheidung. Dieser habe die Themenbereiche Bildung und Integration innerhalb der Stiftung maßgeblich gestaltet.

Matthias Jena, langjähriger Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bayern, ist tot. Er starb am 29. Juni im Alter von 60 Jahren. Er hatte sein Amt im Mai aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt. Jena war seit 1979 Mitglied der SPD und seit 2014 auch berufenes Mitglied der bayerischen Landessynode. Der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Florian von Brunn, bezeichnete Jena als kreativen Ideengeber. „Mit ihm verlieren nicht nur wir, der DGB und die Evangelische Kirche, sondern ganz Bayern einen profilierten Kämpfer für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“




sozial-Termine

Veranstaltungen bis August



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Juli

6.-8.7.:

Virtuelle Fachmesse „Altenpflege“

des Vincentz-Verlages

Tel.: 0511/89-30417

7.-8.7.:

Online-Seminar „Haftungsrecht und Gemeinnützigkeit“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

August

5.8.:

Online-Seminar „Die Dublin-III-Verordnung - Eine Einführung“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

12.8.: Berlin:

Seminar „Konfliktmanagement und Mediation in Organisationen - Ziel- und methodensicher mit Konflikten umgehen!“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

14.-17.8.:

Online-Kurs „Agile Führungsansätze - online Soziale Organisationen für die Zukunft ausrichten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandess

Tel.: 0761/200-1700

23.-27.8. Freiburg:

Fortbildung „Projektmanagement - Effektiv planen und erfolgreich zusammenarbeiten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

26.8. Berlin:

Fortbildung „Veränderung initiieren - wirksame Führungsimpulse setzen“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

31.8.:

Webinar „Einstieg in die Welt der öffentlichen Fördermittel: EU, Bund, Länder und Kommune“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-160

31.8. Berlin:

Seminar „Grundlagen des Arbeitsrechtes in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - Gestaltungsspielräume nutzen“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-160