Pfaffenhofen/Dülmen (epd). „Es war ein Albtraum“, erinnert sich Alexandra Becker aus dem nordrhein-westfälischen Dülmen. Monatelang spielte sich ihr gesamtes Leben im Wohnzimmer ab: Sie übernachtete auf dem Sofa neben dem Pflegebett ihres schwer mehrfachbehinderten Sohns Sandro. Um ihn zu baden, befüllte sie ein Schlauchboot mit aufgewärmtem Wasser aus Gießkannen.
Spätestens nach der zweiten Hüftoperation war Becker klar, dass es dem 75 Kilo schweren, schon zuvor gehbehinderten Jugendlichen niemals mehr möglich sein würde, über die Treppe ins Obergeschoss zu gelangen. Dort hat er sein Zimmer und ein behindertengerechtes Bad. Selbst Hochziehen am Treppengeländer und Runterrutschen auf dem Schoß der Mutter ging nicht mehr.
Der rund 38.000 Euro teure Rollstuhltreppendeckenlift war schon längst vom Facharzt verordnet - doch die Krankenkasse genehmigte ihn nicht. Becker ließ eine Pflegeberatung kommen, schrieb an die Krankenkasse. Ein aufgrund der Akten erstelltes Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) behauptete, die Familie hätte einen Aufzug und bräuchte deshalb keinen Lift, obwohl kein Aufzug existierte. Wieder verging kostbare Zeit.
Erst als Becker sich an die Medien wandte, wurde ihr der Lift nach fast einem Jahr Auseinandersetzung mit der Kasse im August 2019 bewilligt. „Jeden Tag freue ich mich jetzt, wenn Sandro im Rollstuhl sitzend in sein Kinderzimmer, seine Rückzugsoase, hochfährt und ich ihn mit fließendem Wasser abduschen kann. Dafür bin ich unglaublich dankbar.“
Viele Eltern von behinderten Kindern könnten ähnliche Geschichten erzählen, sagt Carmen Lechleuthner aus dem bayerischen Pfaffenhofen. „Es gibt Familien, die gar keine Hilfsmittel mehr beantragen, weil sie resigniert haben“, erzählt die Ärztin und Mutter des vierjährigen Korbinian, der mit schwersten Hirnschäden auf die Welt gekommen ist. Die Pflege schwer kranker oder behinderter Kinder verlangt den Eltern viel Kraft ab. Da bleibt oft keine Energie mehr, um für Fußorthesen oder einen zweiten Therapiestuhl für den Kindergarten zu kämpfen.
Lechleuthner hat darum eine Petition initiiert, die 55.000 Unterschriften erhielt und Mitte Mai dem Petitionsausschuss im Bundestag überreicht wurde. Darin verlangen die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen, dass Krankenkassen ärztliche eingeleitete Therapien oder Verordnungen nicht systematisch infrage stellen, sondern übernehmen. Weitere Forderung: Der Medizinische Dienst soll nicht durch fachfremde Gutachter und nur nach Aktenlage über die Gewährung eines Hilfsmittels entscheiden dürfen.
Der sozialmedizinische Beratungs- und Begutachtungsdienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung soll sicherstellen, dass die Leistungen der Kranken- und der Pflegeversicherung nach objektiven medizinischen Kriterien allen Versicherten zu gleichen Bedingungen zugutekommen.
In einer Stellungnahme teilte der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit: „Für Leistungsbereiche, die nicht ausschließlich einer bestimmten Fachrichtung zuzurechnen sind - hierzu zählt die Hilfsmittelversorgung - werden die Gutachterinnen und Gutachter kontinuierlich geschult und weitergebildet.“
Die Krankenkassen seien nicht verpflichtet, den Medizinischen Dienst bei der Hilfsmittelversorgung mit einer Stellungnahme zu beauftragen, weshalb nur ein sehr geringer Teil der jährlich bundesweit rund 19 Millionen verordneten Hilfsmittel zum Medizinischen Dienst kämen. Im vergangenen Jahr hätten in 276.000 Fällen die Kassen eine Stellungnahme eingefordert. In einem knappen Drittel der Fälle hätten sich die Gutachter gegen eine Gewährung der Hilfsmittel ausgesprochen - also in rund 90.000 Fällen.
Die Vorsitzende des Vereins „Hölder-Initiative für Kultur und Inklusion“ in Lauffen bei Heilbronn, Verena Niethammer, spricht sich für eine „Umkehr der Beweislast“ aus: Sie möchte, dass Eltern die verordneten Hilfsmittel grundsätzlich von der Krankenkasse erhalten, es sei denn, die Kassen können belegen, dass diese überflüssigerweise verordnet wurden. Außerdem sei wichtig, dass bei schwerbehinderten Kindern oder Kindern mit unheilbaren Erkrankungen die Pflegegrade entfristet würden und nicht immer wieder neu belegt werden müsse, warum das Kind beispielsweise weiterhin Physiotherapie benötigt, so die Autorin des Blogs „Sophiesanderswelt“.
Tina Kouemo aus Kirchheim am Neckar ist mit zur Übergabe der Petition nach Berlin gefahren. Alles, was zum Standardprogramm der Kassenleistung gehöre, erhalte sie ohne Probleme, erklärt Kouemo. Doch oft gebe es wichtige Hilfsmittel, die sie nicht oder erst nach langen Diskussionen bewilligt bekäme.
Ihrem Sohn Kyle, der das sehr seltene FoxG1-Syndrom hat, hatte ein Experte in einer Spezialklinik eine Geh- und Stehhilfe für knapp 1.000 Euro verordnet. Die Krankenkasse bewilligte sie nicht. Kouemo legte Widerspruch ein - und erfuhr erst nach einem Jahr, dass sie auch beim Widerspruchsausschuss der Kasse nicht erfolgreich war. Dabei hätte ihr Rücken dringend Entlastung gebraucht, sagt sie, sie habe bereits zwei Bandscheibenvorfälle hinter sich: „Es ist wahnsinnig zermürbend, wenn man so oft um Hilfsmittel kämpfen muss.“