Kassel (epd). Flüchtlinge dürfen wegen ihres Aufenthaltes in einem offenen Kirchenasyl nicht mit geringeren Asylleistungen bestraft werden. Auch wenn abgelehnte Asylbewerber mit dem Kirchenasyl einer Abschiebung entgehen und ihren Aufenthalt in Deutschland auf diese Weise verlängern, stellt dies kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar, urteilte am 24. Juni das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Sogenannte Analogleistungen für Flüchtlinge, also Asylleistungen auf Sozialhilfeniveau, dürften nicht verweigert werden.
Im Streitfall ging es um eine aus Äthiopien stammende schwerbehinderte Frau, die im Sommer 2016 über Italien nach Deutschland einreiste. Ihr Asylantrag wurde als unzulässig abgelehnt, da Italien als Ersteinreiseland nach den geltenden sogenannten Dublin-III-Regelungen für das Asylverfahren zuständig war.
Die deutschen Behörden haben dann üblicherweise sechs Monate Zeit, den Asylsuchenden in das Ersteinreiseland zu überstellen. Die Frist gilt ab Zustimmung des anderen EU-Mitgliedslandes, den Flüchtling wieder zu aufzunehmen.
Doch die schwerbehinderte Klägerin wollte nicht nach Italien zurück und floh vom 26. Februar 2017 bis zum 22. September 2017 in ein Kirchenasyl einer fränkischen Gemeinde. Der Pfarrer hatte der Ausländerbehörde den Aufenthalt der Frau mitgeteilt, so dass ein sogenanntes offenes Kirchenasyl bestand.
Während ihres Kirchenasyls sahen die Behörden davon ab, sie nach Italien zurückzuschicken. Als die Überstellungsfrist abgelaufen war, war nun Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Sie beantragte schließlich sogenannte Analogleistungen, Asylleistungen auf Sozialhilfeniveau. Nach einem ununterbrochenen Aufenthalt in Deutschland von damals länger als 15 Monaten (heute 18 Monate) konnten Asylsuchende statt der geringeren Asylgrundleistungen diese Leistungen erhalten. Dies hatte die Stadt Bayreuth der Frau aber verweigert.
Die Asylsuchende habe sich „rechtsmissbräuchlich“ verhalten, weil sie ihren Aufenthalt mit dem Kirchenasyl bewusst verlängert und sich einer Überstellung nach Italien entzogen hat, so die Stadt. Nach dem Gesetz könnten Flüchtlinge bei einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten nur die geringeren Asylgrundleistungen beanspruchen.
Der Anwalt der Frau verwies darauf, dass der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit überhaupt nicht im Gesetz definiert sei. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt habe zudem am 4. Juni 2020 in einem anderen Fall entschieden, dass die Flucht in ein offenes Kirchenasyl nicht rechtsmissbräuchlich sei, da der Staat dieses akzeptiere und die Ausreisepflicht eines Flüchtlings von sich aus nicht durchsetze. Es wäre widersprüchlich, das Kirchenasyl bei dem Ausländer zu tolerieren und gleichzeitig ihm Rechtsmissbrauch vorzuwerfen.
Dieser Argumentation folgte auch das BSG und sprach der Klägerin höhere Leistungen - entsprechend der Sozialhilfe - zu. Die Klägerin habe politische Absprachen zwischen dem Staat und den Kirchen genutzt, dass keine Flüchtlinge im offenen Kirchenasyl abgeschoben werden. Faktisch habe der Staat auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht verzichtet. Dies dürfe der Klägerin nicht angelastet werden.
Die obersten Sozialrichter verwiesen auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses hatte am 26. Januar 2021 ebenfalls auf die Widersprüchlichkeit im Verhalten der deutschen Behörden hingewiesen. Im Streitfall ging es um die Frage, ob Flüchtlinge im offenen Kirchenasyl als „flüchtig“ gelten und sich deshalb die Überstellungsfrist in das Ersteinreise-EU-Land von sechs auf 18 Monate verlängert. Den Behörden sei aber im offenen Kirchenasyl der Aufenthaltsort des Asylsuchenden bekannt, urteilte das Bundesverwaltungsgericht. Eine Überstellung wäre damit rechtlich und tatsächlich wieder möglich gewesen. Von „flüchtig“ auszugehen, sei daher widersprüchlich.
Az.: B 7 AY 4/20 R (Bundessozialgericht)
Az.: L 4 AY 5/20 B ER (LSG Darmstadt)
Az.: 1 C 42.20 (Bundesverwaltungsgericht)