sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

Gewalt gegen Frauen findet täglich statt, und das auf vielen Ebenen. Allein die Zahlen erschrecken: 117 Frauen wurden nach offiziellen Angaben im vergangenen Jahr in Deutschland durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet, jede dritte Frau erlebt hierzulande mindestens einmal im Leben massive körperliche Gewalt. Auch subtilere Formen der Unterdrückung gehören zum Alltag: sexuelle Belästigung auf der Straße, geschlechtsspezifische Schlechterstellung am Arbeitsplatz. Die Liste ist lang, und der jährliche Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November konnte daran noch nicht viel ändern.

Der Bundesregierung ist es mit ihrer vor zwei Jahren gestarteten Konzertierten Aktion Pflege bei weitem nicht gelungen, den Personalmangel bei den Fachkräften zu beseitigen. Die Personalnot entwickelt sich in der Corona-Krise offensichtlich zum entscheidenden Engpass auf den Intensivstationen der Krankenhäuser. Symbolische Handlungen helfen da nicht, notwendig ist eine deutliche Aufwertung der Pflegeberufe. Hier sind an erster Stelle die Arbeitgeber gefragt.

Es geht endlich voran mit Corona-Schnelltests in Pflegeheimen: Das Senioren- und Pflegezentrum Bethanien in Braunschweig gehört zu den ersten diakonischen Einrichtungen, die mit Antigen-Schnelltests Bewohner, Angehörige und Beschäftige auf das Virus testen. Sehen Sie dazu auch das Video in epd sozial an.

Der Bundesfinanzhof hat für den Bezug von Kindergeld für erwachsene, geistig behinderte Pflegekinder hohe Hürden aufgestellt. So müsse für einen Kindergeldanspruch auch tatsächlich ein Erziehungs- und Autoritätsverhältnis vorliegen. Berufliche Pflegeeltern sind vom Kindergeld ausgeschlossen.

Lesen Sie täglich auf dem Twitteraccount von epd sozial Nachrichten aus der Sozialpolitik und der Sozialbranche. Auf diesem Kanal können Sie mitreden, Ihren Kommentar abgeben und über Neuigkeiten Ihrer Einrichtung berichten. Gerne lese ich auch Ihre E-Mail.

Hier geht es zur Gesamtausgabe von epd sozial 47/2020. Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen

Markus Jantzer




sozial-Thema

Frauen

Gewalt gegen Frauen in Deutschland ist durch Hierarchien geprägt




Ein Mann wird gegenüber einer Frau gewalttätig (Symbolfoto).
epd-bild/Steffen Schellhorn
Beziehungsdramen, Hassmorde: Immer mal wieder wird in den Medien von einzelnen Gewaltakten gegen Frauen berichtet. Diese Taten sind aber nur die Spitze des Eisberges. Denn die Gewalt zieht sich strukturell durch die ganze Gesellschaft.

Oberrimbach, irgendwo zwischen Würzburg und Nürnberg. Es ist Anfang Juli, eine junge Frau trifft sich mit ihrem Ex in der Nähe eines Waldes. Sie wollen sich aussprechen, doch die Situation eskaliert. Der 27-Jährige ersticht die 23-jährige Frau mit einem Messer und tötet sich danach an einer Bahnstrecke selbst.

So beschreiben die Behörden den Tathergang dieses "Beziehungsdramas", wie es in manchen Medien heißt. Etwa jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht. Jede vierte wird mindestens einmal in einer Partnerschaft Opfer körperlicher oder sexueller Übergriffe.

Abhängig vom Alleinernährer

Diese Gewaltakte haben Struktur, sagt Lilian Hümmler, Soziologin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. "Allgemein ist Gewalt nicht ohne Herrschaftssysteme denkbar", sagt sie. Die Hierarchien zwischen den Geschlechtern seien über Jahrhunderte gewachsen und kulturell sowie sozial geprägt. "So entstanden verschiedene Formen der Abhängigkeit", sagt sie. Beispiele hierfür seien Frauen, die nicht entlohnte Care-Arbeit wie Haushalt, Kindererziehung oder Angehörigenpflege leisten und somit an einen Alleinernährer gebunden sind, oder auch stark hierarchisierte Arbeitsplätze, die es unmöglich machten, Gewaltvorfälle zu thematisieren.

Dauerhaft gesichert sind diese Machtstrukturen laut Hümmler nicht. "Sie müssen immer wieder durchgesetzt werden", sagt sie. Gewalt entstehe dann "an den Bruchstellen der Macht, wie Hannah Arendt sagte", wenn also Männlichkeitsbilder infrage gestellt werden. Dies sei zum Beispiel in Trennungsprozessen oder rund um die Schwangerschaft der Fall, wenn der Partner wegen des Kindes nicht mehr im Mittelpunkt steht.

Gerade bei häuslicher Gewalt spiele zudem Kontrolle eine große Rolle, sagt Ksenia Meshkova vom Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut Göttingen zu Geschlechterfragen. Verliere der Mann in einer solchen Beziehung die Überhand, bedeute dies eine Gefahr für die Partnerin. "Das äußert sich aber nicht immer in körperlichen Übergriffen", sagt sie. Allein der Kontrollversuch an sich sei bereits eine Form der Gewalt. "Der Partner versucht, die Frau emotional und psychisch so zu beeinflussen, dass sie ihn nie verlassen würde", sagt sie. Das gehe oftmals Hand in Hand mit sexueller Gewalt.

"Jahrzehnte männlicher Dominanz"

Zu dieser Art der Abwertung gehöre auch die Belästigung am Arbeitsplatz oder auf der Straße, sagt Meshkova. Andere Formen seien die kulturelle Gewalt, zum Beispiel Zwangsheiraten. Diese kämen zwar in westlichen Gesellschaften selten vor, dafür gebe es aber "eine ständige Objektivierung von Frauen, die wiederum Gewalt begünstigt".

Diese sei Bestandteil der sogenannten Rape Culture, sagt Soziologin Hümmler. Darunter wird ein Kontext verstanden, in dem Vergewaltigung weit verbreitet ist und sexualisierte Gewalt beispielsweise in Medien und Popkultur normalisiert wird. Geprägt sei diese Kultur zudem von Vergewaltigungsmythen, etwa dass Betroffene durch ihr Verhalten Übergriffe provozierten, sagt Hümmler.

Die Vereinten Nationen prangern diese Missstände jedes Jahr am 25. November mit dem "Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen" an. "Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen beruht auf Jahrzehnten männlicher Dominanz", sagte UN-Generalsekretär António Guterres am Gedenktag im vergangenen Jahr. Noch immer gebe es geschlechtliche Ungleichheiten, die die Rape Culture befeuerten.

Den Gedenk- und Aktionstag gibt es schon seit den 1980er Jahren. Genug verändert habe sich in den letzten Jahrzehnten aber nicht, sagt Sozialwissenschaftlerin Meshkova. Noch immer würden Männer für Frauen wichtige Entscheidungen treffen, Frauenmorde würden als Familiendramen bagatellisiert. Den Handlungsbedarf zeigt insbesondere eine Zahl, sagt Meshkova: "Die Kriminalität insgesamt ist in den letzten 40, 50 Jahren zurückgegangen. Die Zahl der Frauenmorde bleibt stabil."

Jana-Sophie Brüntjen


Frauen

Hintergrund

Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben massive Gewalt



"Eine gravierende Menschenrechtsverletzung": So beschreiben die Vereinten Nationen die grassierende Gewalt gegen Frauen. Aktuelle Zahlen legen nahe, dass ein Großteil aller Frauen unter ihr leidet. Für viele Frauen endet diese Gewalt im Tod.

Ob in Industrienationen, dem globalen Süden oder in Schwellenländern – Gewalt gegen Frauen ist weltweit Alltag. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 35 Prozent aller Frauen in ihrem Leben mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt innerhalb oder außerhalb einer Beziehung erlebt haben. Das Bundesfamilienministerium kommt auf ähnliche Zahlen und geht davon aus, dass in Deutschland jede dritte Frau in ihrem Leben mindestens einmal Gewalt erfährt. Statistisch gesehen sind das mehr als zwölf Millionen Frauen.

Femizide und sexuelle Übergriffe

So vielfältig wie die Umstände, unter denen Frauen Gewalt erfahren, sind auch die Formen der Übergriffe. Oftmals lassen sich die verschiedenen Arten nicht genau trennen. Häusliche Gewalt geht zum Beispiel oft mit emotionaler und verbaler Gewalt einher. Zwei der wohl extremsten Arten der Gewalt gegen Frauen sind Femizide und sexuelle Übergriffe.

Unter Femizid wird die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts verstanden. Nach Angaben des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (Eige) fallen darunter unter anderem Morde an Frauen durch aktuelle oder ehemalige Partner, im Namen der "Ehre", in bewaffneten Konflikten oder in Verbindung mit Banden- oder organisierter Kriminalität.

Im Jahr 2019 wurden nach Angaben des Bundesfamilienministeriums 117 Frauen durch sogenannte Partnerschaftsgewalt getötet, also an jedem dritten Tag. Im Vorjahr lag die Zahl bei 122 Morden, Totschlägen oder Körperverletzungen mit Todesfolge.

137 vorsätzliche Tötungen pro Tag

Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) veröffentlicht noch viel erschreckendere globale Zahlen. Im Jahr 2017 wurden demnach 87.000 Frauen vorsätzlich getötet, davon 50.000 durch Intimpartner oder Familienmitglieder. Das entspricht 137 Taten pro Tag. In einer vorherigen Erhebung aus dem Jahr 2012 schätzte die UN-Einrichtung die Gesamtzahl dieser Morde auf 48.000 pro Jahr. Somit haben Femizide innerhalb von fünf Jahren zugenommen.

In mehreren lateinamerikanischen Ländern kennt die Gesetzgebung eigene Strafbestände für Femizide. In Deutschland forderte die Linksfraktion im Bundestag jüngst eine Beobachtungsstelle für Frauenmorde. Verschiedene Frauenorganisationen setzen sich dafür ein, "Femizid" im Gesetz zu einer eigenen Straftat zu machen.

Bei vielen Verbrechen lassen sich Zahlen nur schätzen, weil sich die Opfer entweder schämen oder die Täterinnen und Täter verhindern, dass sie ihre Erfahrungen öffentlich machen. Wenn also im Jahr 2018 nach Statistiken des Bundeskriminalamtes 3.086 Fälle von sexuellen Übergriffen, sexueller Nötigung oder Vergewaltigung von Frauen in Partnerschaften registriert wurden, ist von einer weitaus höheren Dunkelziffer auszugehen.

Sexuelle Übergriffe und Belästigungen

Eine repräsentative Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Fra) aus dem Jahr 2014 zeigte, dass innerhalb eines Jahres vor der Erhebung 3,7 Millionen Frauen in der EU sexuelle Gewalt erfahren haben. Insgesamt gaben elf Prozent der Befragten an, seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein. Eine Untersuchung von Unicef aus dem Jahr 2017 ergab, dass 15 Millionen der damals 15- bis 19-jährigen Mädchen und Frauen mindestens einmal in ihrem Leben zum Sex gezwungen wurden.

Eine sehr häufige Form der Gewalt gegen Frauen ist sexuelle Belästigung. Diese reicht von Anstarren und anzüglichen Bemerkungen bis hin zu unerwünschten Berührungen. In Deutschland gaben in einer repräsentativen Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos vor zwei Jahren 60 Prozent der befragten Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr einer Art von sexueller Belästigung ausgesetzt gewesen zu sein. Eine ebenfalls repräsentative Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2015 ergab, dass 17 Prozent der Frauen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt haben.

Jana-Sophie Brüntjen



sozial-Politik

Bundesregierung

Gemischte Bilanz über "Konzertierte Aktion Pflege"




Eine Pflegebedürftige im Krankenbett
epd-bild/Meike Böschemeyer
Gut zwei Jahre nach dem Start der "Konzertierten Aktion Pflege" stellt sich die Bundesregierung ein gutes Zeugnis aus. Verbände und Gewerkschaften mahnen aber weitere Reformen an. Minister Spahn räumt ein, dass Corona die schwierige Lage verschärft hat.

Die Bundesregierung spricht von Fortschritten, die Verbände von weiterem Handlungsbedarf. Die Bundesregierung und weitere Akteure der "Konzertierten Aktion Pflege" haben am 13. November eine gemischte Bilanz der bisherigen Bemühungen für Verbesserungen in der Pflege gezogen. Einig waren sich alle, dass Verbesserungen gelungen sind, wichtige Reformen bei den Arbeitsbedingungen und Gehältern aber noch ausstehen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will ein Personalbemessungsverfahren gesetzlich verankern, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am liebsten einen flächendeckenden Tarifvertrag für die Pflege als allgemeinverbindlich erklären.

Gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) präsentierten die Minister in Berlin eine Art Zwischenzeugnis über ihre eigene Arbeit. Spahn räumte ein, dass die Corona-Pandemie die schwierige Lage in der Pflege noch verstärkt habe. Das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, "dass wir so viel für die Pflege getan haben wie wenige Regierungen vor uns". Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe erklärte demgegenüber, viele Maßnahmen seien noch nicht umgesetzt. Bei den großen politischen Vorhaben gebe es noch nicht genug Fortschritt, sagte Präsidentin Christel Bienstein.

Reformen nachbessern

Es gebe bei den großen politischen Vorhaben zur Personalbemessung in der Langzeitpflege und im Krankenhaus sowie bei einer neuen Aufgabenverteilung zwischen den Gesundheitsberufen erheblichen Nachbesserungsbedarf, kritisierte Bienstein. "Auch in die Ausbildung muss weiter investiert werden, und hier muss insbesondere die hochschulische Qualifikation in der Pflege konsequenter gefördert werden." Manche der vereinbarten Maßnahmen lägen allerdings auch nicht in den Händen der Politik, etwa bei der Gestaltung von Arbeitsprozessen und Initiativen für eine bessere Mitarbeiterbindung an die Betriebe, betonte die Verbandschefin.

Fünf Arbeitsgruppen hat die "Konzertierte Aktion Pflege", die Verbesserungen bei Ausbildung, Personalstärke, Bezahlung, Digitalisierung und Tarifbindung voranbringen sollen. Bund, Länder und die maßgeblichen Verbände und Akteure in der Pflege beraten dafür zusammen. Es geht dabei sowohl um die Alten- als auch um die Krankenpflege.

In seiner Bilanz verwies Spahn auf eine inzwischen bessere Refinanzierung der Pflege durch die Krankenversicherungen. Gleichzeitig musste er aber auch einräumen, dass die Anstrengungen für mehr Personal immer noch zu wenig Früchte tragen. Von den 13.000 von ihm geplanten zusätzlichen Stellen in der Altenpflege sind nach seinen Worten erst 3.600 besetzt. "Der Arbeitsmarkt ist leer gefegt", sagte er. Zudem habe die Corona-Pandemie den Anstrengungen für eine Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland "einen Strich durch die Rechnung gemacht".

Giffey bezeichnete die zum Januar in Kraft getretene Reform der Pflegeausbildung, mit der das Schulgeld für Auszubildende abgeschafft wurde, als Erfolg. Zudem seien in diesem Jahr 30 Studiengänge für die Pflegeausbildung gestartet. In einigen Bundesländern, insbesondere Sachsen-Anhalt und Bayern, ist laut Giffey die Zahl der Bewerber für die Ausbildung gestiegen. Giffey hat sich zum Ziel gesetzt, zehn Prozent mehr Bewerber zu gewinnen.

Neher: Deutlich mehr ausbilden

Die Caritas erklärte dagegen, es müssten mehr Ausbildungskapazitäten zur Verfügung gestellt werden. Präsident Peter Neher: "Die Pandemie führt uns gerade gnadenlos vor Augen, wie groß der Druck im Kessel in der Pflege ist: zu hohe Arbeitsbelastung und viel zu wenig Personal." Die Länder müssten dringend mehr Ausbildungskapazitäten für Pflegefach- und auch für Pflegehilfskräfte zur Verfügung stellen.

Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, begrüßte die Zwischenergebnisse der Konzertierten Aktion: "Der Bericht zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Ausbildungszahlen sind im letzten Ausbildungsjahr um erfreuliche 8,3 Prozent auf 71.300 Auszubildende angestiegen, und ein erster Schritt für mehr Personal in der Altenpflege ist mit 20.000 zusätzlichen Pflege-Assistenzstellen getan." Die Bezahlung der Pflegekräfte verbessere sich durch neue Tarifverträge. Alles in allem werde der Pflegeberuf attraktiver.

"Die Überlastung der Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ist endlich als gravierender Missstand anerkannt", sagte Sylvia Bühler, im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig. "Jetzt braucht es mutige und wirksame Schritte, um mehr Personal zu gewinnen und zu halten." Vor allem verbindliche und bedarfsgerechte Personalvorgaben müssten nun schnell auf den Weg gebracht werden.

Die Bundesregierung habe gemeinsam mit den Partnern in der Konzertierten Aktion Pflege bereits einiges angestoßen, sagte Bühler weiter, doch die Beschäftigten spürten immer noch keine Entlastung. "Den Pflegekräften wird in dieser zweiten Welle der Pandemie wieder enorm viel abverlangt." Nur mehr Personal könne Entlastung bringen. Konkret fordert ver.di, die vorliegenden Instrumente zur Personalbemessung baldmöglichst auf den Weg zu bringen.

Heil verweist auf höheren Mindestlohn

Heil betonte für seinen Bereich die Erhöhungen des Mindestlohns für Pflegehilfs- und Pflegefachkräfte. Für Hilfskräfte soll er zum 1. April 2022 in bis dahin vier Schritten auf 12,55 Euro pro Stunde angehoben werden. Für Fachkräfte gilt ab 1. Juli 2021 eine Lohnuntergrenze von 15 Euro pro Stunde.

Gleichzeitig strebt Heil aber auch an, dass sich die maßgeblichen Arbeitgeber in der Pflege mit den Gewerkschaften auf einen flächendeckenden Tarifvertrag einigen. Dies sei eine "Riesenchance", sagte er und appellierte an die Verhandlungspartner, diese Chance nicht verstreichen zu lassen. Zurückhaltung gibt es bislang bei den privaten Trägern in der Pflege, aber auch bei den Kirchen.

Die Diakonie forderte eine weitere Arbeitsgruppe für die "Konzertierte Aktion Pflege", um die Finanzierung der Pflegeversicherung zu beraten. Die Finanzierung der Pflege müsse insgesamt auf die Tagesordnung, erklärte Vorständin Maria Loheide.

Der Gesundheitsökonom und Heinz Rothgang habe der Diakonie aktuell in einem Gutachten bestätigt, dass es möglich sei, die Pflegeleistungen zu verbessern und Beitragssteigerungen zu begrenzen, wenn zusätzlich weitere Finanzierungsreformen greifen. Loheide: "Deutlich wird, dass es ein 'Weiter so' nicht geben kann. Allein durch die demografische Entwicklung werden die Kosten für die Pflege erheblich steigen." Alle Verbesserungen der Gehälter und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte würden derzeit auf die Eigenanteile der pflegebedürftigen Menschen umgelegt und führe für viele in die Sozialhilfe: "Das kann so nicht weitergehen."

Corinna Buschow, Dirk Baas


Pflege

Kommentar

"Merci" gegen die Personalnot




Pflegekräfte fordern in der Corona-Krise mehr Geld.
epd-bild/Friedrich Stark

Das Klagelied ist altbekannt: Deutschland lebt im Pflege-Notstand. Und das schon seit Jahren. Geändert hat sich in dieser langen Zeit vor allem eines: Der Chor, der das traurige Lied singt, ist größer geworden. Substanzielle Veränderungen – Fehlanzeige.

Die viel zu wenigen Pflegerinnen und Pfleger in den Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanten Diensten machen ihre Arbeit unverändert im Laufschritt, haben am Abend Rückenschmerzen und gegenüber ihren anvertrauten Patienten und Pflegebedürftigen ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht ausreichend um sie kümmern können.

Dabei liegen die Handlungsoptionen für einen aussichtsreichen Kampf gegen den Personalmangel längst auf dem Tisch: An erster Stelle muss der überdurchschnittlich schnelle Ausstieg gelernter Fachkräfte aus dem Beruf gestoppt werden. Das geht nur durch deutlich bessere Arbeitsbedingungen, gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die selbstverständliche Möglichkeit für Pflegekräfte, ihr Können am Arbeitsplatz zu entfalten und durch regelmäßige Fortbildung weiter zu entwickeln. Und natürlich sind flächendeckend Gehälter notwendig, die gegenüber anderen Branchen konkurrenzfähig sind. Das gilt auch für Azubis, die in großer Zahl gebraucht werden.

Pflegekräfte fühlen sich veräppelt

Es ist ein erbärmliches Schauspiel, wie hartnäckig große Teile der Pflegebranche Tarifverträge blockieren. Und die Pflegekräfte sollten endlich begreifen, dass sie in Arbeitskämpfen und politischen Kampagnen Ausdauer und Geschlossenheit beweisen müssen.

In der Corona-Pandemie haben die Pflegekräfte viel "Wertschätzung" erfahren - allerdings eine, die wenig kostet und wenig bringt. Der Gesundheitsminister bringt etwa in Krankenhäusern "Merci"-Tafeln vorbei – und die schuftenden Pflegerinnen und Pfleger fühlen sich von ihm auf den Arm genommen.

Noch eine vermeintlich großzügige Geste ist gefloppt: Die Bundesregierung stellt für einen einmaligen Lohnzuschlag Geld bereit, ist aber zu knausrig, jeder Pflegekraft eine "Prämie" zu zahlen. Also setzt sie ein Limit: Der Zuschlag ist in erster Linie für diejenigen gedacht, die "Pflege am Bett" geleistet haben. Die Pflegekräfte, die eher im Hintergrund notwendige Arbeiten gemacht haben, drohen also, leer auszugehen. Statt ehrliche Wertschätzung auszudrücken, sät die Bundesregierung Streit unter die Klinikbeschäftigten. Als hätten diese nicht schon genug Stress in der Corona-Pandemie!

Wertschätzung in Grenzen

Der Gesundheitsminister findet es außerdem in Ordnung, wenn Covid-19-infizierte Pflegekräfte weiterarbeiten. Jedenfalls dann, wenn sonst die Patientenversorgung gefährdet sein könnte. Und hier droht in den nächsten Monaten tatsächlich Gefahr. Denn dann wird sich zeigen, ob die Intensivkapazitäten in deutschen Krankenhäusern ausreichen, um die schweren Covid-19-Fälle und die anderen schweren Fälle zu behandeln. Der Engpass wird, wie Experten warnen, das knappe Pflegefachpersonal sein. Wenn kranke Pflegerinnen zu Hause bleiben, wird es für die Patientenversorgung noch kritischer.

Das weiß auch Minister Spahn und erwartet deshalb vollen Einsatz. Aber sieht so Wertschätzung aus? Ganz sicher nicht. Eher die Haltung: Wertschätzung ist schön und gut, aber wir können sie uns halt nicht immer leisten.

Markus Jantzer


Armut

Leben mit einem bedingungslosen Grundeinkommen




Dörte Müller-Dinse vor ihrem Haus in Gremersdorf
epd-bild/Olaf Malzahn
Ein Verein will herausfinden, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen das Denken von Menschen verändert und verlost monatlich das Geld an 20 Haushalte. Dörte Müller-Dinse gehört zu den Gewinnern.

Das erste, was sich im Leben von Dörte Müller-Dinse änderte, war das Gefühl: Jahrelang hatte sie mit dem Gedanken gelebt, das Geld könnte am Monatsende nicht genug sein. "Dabei sind wir gar nicht arm. Es war immer genug. Aber die Sorge war trotzdem da", sagt sie. Auf einmal war die Sorge weg. Irgendwann in jenen Tagen wagte Müller-Dinse dann einen Blick auf ihr Konto: Jemand hatte ihr 1.000 Euro überwiesen. Und das würde jetzt ein Jahr lang so gehen. Jeden Monat. Sie fühlte sich befreit. "Ich habe aber erst mal nicht überlegt, was ich mit dem Geld mache. Ich wollte, dass das Gefühl bleibt."

Ausreichend versorgt

61 Jahre ist Müller-Dinse alt, sie lebt im schleswig-holsteinischen Gremersdorf, in der Nähe der Ostsee. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie eine Werkstatt für Yachtelektrik, die mal besser und mal schlechter läuft - und die ihr ziemlich durchschnittliche Alltagssorgen bereiten. Dass sich ihr Leben und ihr Denken nun so verändert hat, lag daran, dass sie an einer Verlosung teilgenommen hat: Der Verein "Mein Grundeinkommen" will herausfinden, was es mit Menschen macht, wenn sie weniger Gedanken darüber machen müssen, ob sie ausreichend versorgt sind. Deswegen verlost er unter seinen Mitgliedern regelmäßig ein bedingungsloses Grundeinkommen, als Experiment, wie eine ganze Gesellschaft damit leben könnte.

Jeder Mensch bekommt jeden Monat einen festen Betrag vom Staat, egal, wer er ist oder was er macht: Das ist die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Seine Anhänger sagen: Es macht die Menschen frei. Kritiker wenden ein, vielleicht blieben wichtige Arbeiten liegen, einfach weil sie keiner mehr machen will. "Wir wollen ausprobieren, was passiert, wenn Menschen einfach Geld bekommen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen", sagt Jannes Bögerding von "Mein Grundeinkommen". Nach seinen Angaben verlost der Verein jeden Monat 20 Grundeinkommen, getragen von Freiwilligen, die jeden Monat einen größeren oder kleineren Betrag spenden. Derzeit sind das 145.000 Menschen. "Die Idee ist ganz einfach: Menschen geben Geld, damit andere es ausgeben können. Man vertraut dabei einem Menschen aus Prinzip."

Im Fall von Dörte Müller-Dinse war das so, dass sie sich nach einigen Wochen vom reinen Gefühl verabschiedete und das zusätzliche Geld auf ihrem Konto anrührte. Eine Investition hatte sie schon zuvor geplant, nämlich den Bau eines kleinen Ferienhauses auf ihrem Grundstück, als Altersvorsorge: "Ich hatte das überschlagen, wie viel Geld ich dafür brauche, und gehofft, dass ich damit hinkomme. Und jetzt konnte ich einfach bauen, ohne ständig über die Kosten nachdenken zu müssen." Und nicht nur das: Während des Baus ging bei ihr zu Hause die Heizungsanlage kaputt. Unter normalen Umständen hätte das den ganzen Ferienhaus-Bau gefährdet. Jetzt zahlte sie einfach die 7.000 Euro Reparaturkosten und dachte nicht weiter drüber nach. "Ich hatte einfach viel mehr Vertrauen in die Dinge. Es hat sich ein bisschen angefühlt wie Verliebtheit."

Grundlage für ein anderes Empfinden

Man mag das alles profan finden, aber diese Kleinigkeiten sind es, die die Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens faszinieren: Es macht die Welt ganz normaler Menschen ein bisschen größer. "Es geht um die Erfahrung der Bedingungslosigkeit im Menschsein", hat Götz Werner das einmal genannt, Gründer der Drogerie-Kette "dm", und prominenter Fürsprecher des bedingungslosen Grundeinkommens. Deswegen geht es bei dem Konzept auch nur vordergründig um Geld - als Grundlage für ein anderes Empfinden.

Das spiegelt sich nach Ansicht des Vereins "Mein Grundeinkommen" auch in der Kooperationsbereitschaft der Gewinner wieder: Natürlich wolle man, dass diese davon erzählen, wie sie mit dem Grundeinkommen gelebt haben. "Aber man kann das nicht erwarten, denn sonst wäre es nicht mehr bedingungslos. Wir haben statt dessen das Vertrauen, dass sich viele Leute mit ihren Erfahrungen zum Beispiel vor eine Kamera stellen", sagt Johannes Bögerding. Die Erfahrung zeige, dass das geschehe.

Dörte Müller-Dinses Jahr mit dem Grundeinkommen ist inzwischen wieder vorbei. Und auch das hat sie schon gefühlt, bevor sie es verstanden hat: Irgendwann war der Gedanke wieder da, dieses: "Reicht das Geld?" Sie guckte auf ihr Konto - und das Geld war nicht mehr da: "Natürlich kann man vorher wissen, wann ein Jahr vorbei ist. Aber ich wollte das bewusst nicht an mich ran lassen, weil ich das Gefühl so genossen habe", sagt sie. Immerhin, sie weiß jetzt, wie es sich anfühlt, so zu leben. Das ist ihr geblieben.

Sebastian Stoll


Corona

Bundestag und Bundesrat verabschieden Infektionsschutzgesetz




Proteste gegen Infektionsschutzgesetz
epd-bild/Christian Ditsch
Mit dem dritten Gesetz zum Bevölkerungsschutz hat der Bundestag den gesetzlichen Rahmen für die Anti-Corona-Maßnahmen präzisiert. Teile der Opposition stimmten dagegen. AfD und Tausende Demonstranten vor dem Bundestag protestierten heftig.

Nach kontroverser Debatte hat der Bundestag am 18. November in Berlin das dritte Gesetz zum Bevölkerungsschutz verabschiedet. Neben Union und SPD stimmten auch die Grünen der Regierungsvorlage zu. FDP, Linke und AfD lehnten das Gesetz ab, das den rechtlichen Rahmen für die Corona-Regeln bestimmt. Noch am selben Tag gab auch der Bundesrat grünes Licht für das Gesetz. Die abschließenden Beratungen wurden von Protesten im Regierungsviertel und Störmanövern der AfD im Bundestag selbst begleitet.

Einfluss des Parlaments

Die Bundesländer müssen dem Gesetz zufolge ihre Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie künftig befristen. Die Opposition kritisierte, die Gesetzesnovelle verschaffe dem Parlament nicht genug Einfluss auf Entscheidungen über Eingriffe in die Grundrechte. Union und SPD verteidigten den Entwurf und erklärten, die Gesetzesänderungen schafften Rechtssicherheit, stärkten den Bundestag und gäben den Bundesländern einen klaren Rahmen für ihre Schutzmaßnahmen.

Die AfD-Fraktion versuchte vergeblich, die Abstimmung abzusetzen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, nannte das Gesetz eine "Ermächtigung" für die Regierung. Zwischenrufe aus der AfD-Fraktion und symbolische Akte über das angebliche Ende des Grundgesetzes störten die Debatte immer wieder.

Die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Karin Maag (CDU), stellte klar: "Wir weiten den Handlungsspielraum der Regierung nicht aus, sondern engen ihn ein." An die Adresse der AfD erklärte sie, es werde ein Anspruch auf Impfungen gegen das Coronavirus eingeführt, keine Impfpflicht. Das Gesetz dient auch der Vorbereitung von Impfprogrammen, der Ausweitung von Testkapazitäten und der Anpassung von Entschädigungs- und Reiseregelungen.

Verordnungen befristet

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner begründete die Ablehnung seiner Fraktion damit, dass der Bundestag nicht ausreichend gestärkt werde: "Wir als Parlament müssen die Entscheidungen der Regierungen lenken, wenn in Grundrechte eingegriffen wird", sagte er. Dafür sei das Gesetz zu unbestimmt.

Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, hielt dagegen, die Länderregierungen müssten ihre Verordnungen künftig immer wieder überprüfen, weil das Gesetz verlange, dass sie die Verordnungen befristen und begründen müssen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte die Änderungen im Infektionsschutzgesetz und erinnerte an den Zweck aller Maßnahmen. Es dürfe nicht zu einer Überforderung des Gesundheitswesens kommen, die zu viel Leid führen werde, sagte er.

Durch das dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung werden im Infektionsschutzgesetz die Maßnahmen konkretisiert, die Bund und Länder ergreifen können, wenn die Infektionen stark steigen. Dazu zählen neben Maskenpflicht, Abstandsgeboten und Reisebeschränkungen auch Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen, die Schließung von Betrieben und Einrichtungen sowie Veranstaltungs- und Gottesdienstverbote. Die Bundesländer müssen ihre Verordnungen künftig grundsätzlich auf vier Wochen befristen und begründen. Der Bundestag muss regelmäßig informiert werden.

Tausende demonstrierten

Die Corona-Schutzmaßnahmen werden seit Beginn der Pandemie auf der Grundlage gemeinsamer Beschlüsse der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten sowie des Kanzleramts in Länderverordnungen geregelt. Gerichte hatte einzelne Bestimmungen gekippt mit der Begründung, die sogenannte Generalklausel im Infektionsschutzgesetz, wonach der Staat während einer Pandemie im Ernstfall "notwendige Maßnahmen" ergreifen kann, reiche als Rechtsgrundlage inzwischen nicht mehr aus.

Im Berliner Regierungsviertel demonstrierten Tausende Kritiker der Anti-Corona-Maßnahmen. Redner sprachen von einer "Corona-Diktatur" und zogen Vergleiche zum Nationalsozialismus. Erneut hatten Demonstranten an Kleidung oder Rucksäcken Judensterne angebracht. Wegen der Nichteinhaltung der Abstands- und Maskenregel erklärte die Polizei die Versammlung am Brandenburger Tor am Nachmittag für beendet und setzte Wasserwerfer ein. Die Demonstranten rührten sich zunächst dennoch nicht vom Platz.

Von allen Parteien mit Ausnahme der AfD wurden diese Vergleiche mit Empörung zurückgewiesen, ebenso von der Bundesregierung. "Wer in diesem Zusammenhang vom Ermächtigungsgesetz redet, will Assoziationen zum sogenannten Ermächtigungsgesetz des Reichstags am 24. März 1933 hervorrufen", sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer. Das Parlament habe damals Verantwortung an die Regierung delegiert. Das sei heute nicht so. Das Parlament schaffe begrenzte und befristete Rechtsgrundlagen für das Regierungshandeln, die das Parlament jederzeit wieder ändern könne, sagte Demmer.

Bettina Markmeyer, Corinna Buschow


Arbeit

Studie: Vor allem Frauen stecken in der Minijob-Falle




In der Gastronomie sind Minijobs stark verbreitet.
epd-bild/Steffen Schellhorn
Bringt eine Teilzeitstelle mehr Geld als ein Minijob? Nicht unbedingt. Für Zweitverdienerinnen oder Alleinerziehende lohnt sich rechnerisch eher letzteres. Und damit stecken sie in der Minijob-Falle, wie eine Studie zeigt. Der DGB mahnt Reformen an.

Minijobs mit bis zu 450 Euro im Monat sind einer Studie zufolge für Mütter oft finanziell attraktiver als ein sozialversicherter Job. Grund sei das Steuer- und Sozialversicherungssystem in Deutschland, das mehrheitlich für Frauen falsche Anreize setze, heißt es in der am 17. November in Gütersloh veröffentlichen Untersuchung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

So würden Zweitverdienende in Paarhaushalten mit hohen Steuern und Abgaben belastet, wenn sie eine Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung aufnehmen. Ein Wechsel von einem Mini- in einen sozialversicherungspflichtigen Teilzeitjob rechne sich für sie kaum. Auch für Alleinstehende und Alleinerziehende im Niedriglohn sei die Aufnahme eines Kleinstjobs bis 100 Euro monatlich attraktiver, als sich einen festen Arbeitsplatz zu suchen.

Sonderregelung für Minijobs wirkt

Die Volkswirte Andreas Peichl und Maximilian Blömer vom Münchner ifo-Institut haben in der Studie die sogenannte Partizipationsbelastung auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) berechnet. Die Untersuchung beschreibt, wie viel Prozent des individuellen Bruttoeinkommens als Steuern und Abgaben sowie durch Transferentzug vom Staat einbehalten werden.

Von 7,6 Millionen Ehefrauen im Erwerbsalter haben den Angaben zufolge rund drei Viertel ein geringeres Einkommen als der Mann und sind demnach Zweitverdienerinnen. Verdient ein Mann 48.000 Euro brutto im Jahr, würde seine Frau bei einem Stundenlohn von zehn Euro und einem Minijob mit etwa zehn Wochenstunden 5.400 Euro im Jahr hinzuverdienen. Das alles ohne Abzüge aufgrund der Sonderregelung für Minijobs.

Wählt sie stattdessen einen Teilzeitjob mit doppelt so vielen, also 20 Wochenstunden bei gleichem Bruttostundenlohn, bleiben der Familie 6.293 Euro im Jahr zusätzlich - lediglich knapp 900 Euro mehr als per Minijob mit halber Arbeitszeit. "Eine Zweitverdienerin müsste doppelt so viel arbeiten, um nicht einmal 1.000 Euro mehr im Jahr in der Tasche zu haben", kritisierte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Alleinerziehende mit kleinem Gehalt trifft es besonders

Noch stärker würden allerdings die Einkommen von Alleinerziehenden - und damit meistens Mütter - im Niedriglohnbereich belastet, hieß es. Für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern rechne sich beispielsweise bereits eine Beschäftigung über den Kleinstjob hinaus kaum. Denn verglichen mit einem Anspruch auf Arbeitslosengeld II blieben ihr bei der Aufnahme eines Minijobs 2.040 Euro im Jahr beziehungsweise 38 Prozent ihres zusätzlich verdienten Einkommens übrig. Bei zehn Euro Bruttostundenlohn seien es in einem Teilzeitjob im Umfang von 20 Wochenstunden 3.040 Euro jährlich und damit gerade einmal 29 Prozent ihres Bruttohinzuverdienstes.

Am höchsten ist der Untersuchung zufolge die Belastung für Alleinstehende ohne Kinder im Niedriglohnsektor. Entscheiden sie sich für eine Vollzeitbeschäftigung von 40 Stunden Wochen, bleiben ihnen gerade mal 25 Prozent ihres Bruttoeinkommens. Das seien bei einem Bruttostundenlohn von zehn Euro 5.283 Euro pro Jahr mehr als in Arbeitslosigkeit mit dem entsprechenden Bezug staatlicher Sozialleistungen, hieß es.

Frauen und Mütter müssten aus der Falle der Kleinst- und Minijobs befreit werden, forderte Dräger. Dazu sollten für Alleinstehende und Alleinerziehende die Hinzuverdienstregelungen angepasst werden. Auch der Steuertarif für Ehepaare, das sogenannte Ehegattensplitting, bedürfe Korrekturen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die SPD mahnten eine Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse an. "In der Corona-Krise haben viele der Minijobberinnen von heute auf morgen ihre Arbeit verloren, vorläufige Endstation Grundsicherung", sagte das DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Es sei deshalb "allerhöchste Zeit", dass Niedriglohntätigkeiten in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt werden. Katja Mast, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, sagte: "Job ist nicht gleich Job." Nur ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis gebe eine mittel- und langfristig soziale Sicherheit.

Katrin Nordwald


Behinderung

Interview

Dusel: Bei Inklusion von EU-Nachbarn lernen




Jürgen Dusel
epd-bild/Christian Ditsch
Beim ersten "European Inclusion Summit" tauschten sich Behindertenbeauftragte, Betroffene und Experten aus ganz Europa aus - wegen der Corona-Pandemie nur digital. Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel erwartet dennoch wichtige Impulse für die Inklusion. Über seine Ziele und deren Umsetzung sprach er mit epd sozial.

Neben dem Themenfeld Digitalisierung wurde beim ersten "European Inclusion Summit" auch über besseren Gewaltschutz für Frauen und Kinder mit Behinderung gesprochen. Für Jürgen Dusel fehlt es hier nicht nur an Forschung, sondern auch an besonderen Unterstützungssystemen. Auch fehle noch immer ein barrierefreier Zugang zum Rechtssystem nach erlebter Gewalt. Die Fragen an ihn stellte Dirk Baas.

epd sozial: Experten und auch Verbände sind unzufrieden mit dem Fortgang der Inklusion hier in Deutschland. Nun haben Sie zu einem ersten europäischen Gedankenaustausch eingeladen. Was versprechen Sie sich davon?

Jürgen Dusel: Es ist wichtig, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. In puncto Inklusion haben wir zwar schon einiges erreicht, aber auch noch einigen Nachholbedarf. Und da gibt es in Europa einige gute Beispiele, an denen wir uns orientieren können. Deswegen habe ich den "European Inclusion Summit" initiiert, um eine Plattform zu schaffen für Austausch und Vernetzung. Es soll aber dabei nicht bleiben. Ich werde mich mit den Vertreterinnen und Vertretern für die Belange von Menschen mit Behinderungen in den Mitgliedsstaaten zusammensetzen. Und ich kann schon vorwegnehmen, dass wir einige Empfehlungen und Forderungen an die EU-Kommission haben.

epd: Deutschland muss wie alle EU-Staaten auch bis 2022 den Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit umsetzen. Da bleibt noch viel zu tun, und die Zeit ist knapp. Was sind die wichtigsten Schritte und wo besteht der größte Nachholbedarf?

Dusel: Der "European Accessibility Act" muss bis zum 28. Juni 2022 in nationales Recht umgesetzt werden, so dass er ab dem 28. Juli 2025 angewandt werden kann. Dieser Rechtsakt bietet realistische Chancen, in der Inklusion endlich einen richtig großen Schritt weiterzukommen, denn es geht um die Verpflichtung privater Unternehmen zur Barrierefreiheit. Insbesondere im Bereich Hard- und Software, zum Beispiel von Anbietern von Geld- und Ticketautomaten oder auch Streamingdiensten. Bislang sind ja vor allen Dingen öffentliche Stellen in der Pflicht.

epd: Das reicht Ihnen aber nicht ...

Dusel: Die Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen und Produkten ist ein dickes Brett, das endlich gebohrt werden muss. Hier müssen wir allerdings aufpassen, dass kein Schmalspur-Gesetz das Ergebnis ist. Damit würden wir eine große Chance vertun im Hinblick auf unsere eigene Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Österreich zum Beispiel oder auch die USA sind hier viel weiter als wir. Wir drohen, den Anschluss zu verlieren und wertvolles Potenzial zu vergeuden, wenn wir das nicht richtig machen.

epd: Ein weiteres zentrales Thema ist der Schutz von Frauen und Kindern mit Behinderungen. Wie weit ist Deutschland hier und wie lässt sich das ambitionierte Ziel am besten erreichen?

Dusel: Ich denke, dass wir in Deutschland gute und wichtige Schritte in Richtung Gewaltschutz von Frauen und Kindern mit Behinderungen gehen. Wichtig ist zunächst einmal, das Thema überhaupt zu benennen und zu erfassen. Ein paar Zahlen: Eine Studie der Universität Bielefeld hat ergeben, dass Frauen mit Behinderungen fast doppelt so häufig wie Frauen ohne Behinderungen körperliche Gewalt erleben. Bei sexualisierter Gewalt im Erwachsenenleben sogar etwa zwei- bis dreimal häufiger als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt. Besonders betroffen sind gehörlose, blinde und körperbehinderte Frauen. Auch Kinder mit Behinderungen erfahren deutlich mehr Gewalt, auch sexualisierte Gewalt. Das ist unerträglich.

epd: Was ist zu tun?

Dusel: Um dieses Thema insgesamt anzugehen, brauchen wir mehrere Ansätze, angefangen bei systematischen Analysen zu bestehenden Gefährdungskontexten. Zentral ist aber auch die Aufklärung zu bestehenden Hilfs- und Unterstützungssystemen und der barrierefreie Zugang zum Rechtssystem nach erlebter Gewalt. Außerdem gibt es zu wenig barrierefreie Frauenhäuser. Extrem wichtig ist auch die Erarbeitung geeigneter Präventionsstrategien und bewusstseinsbildende Maßnahmen für Mitarbeitende in Einrichtungen und Behörden.

epd: Wie können Kinder und Jugendliche besser vor Übergriffen geschützt werden?

Dusel: Damit hier nichts dem Zufall überlassen bleibt, braucht es zunächst einmal eine übergeordnete Instanz, die systematisch und konsequent Maßnahmen ergreift, sie koordiniert und initiiert. Hier leistet das Programm des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, sehr viel. In Zukunft müssen wir noch stärker dafür sorgen, dass die Unterstützungssysteme noch mehr auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen eingestellt sind. Dazu sind wir in engem Austausch.



Missbrauch

Interview

Landesbischof Meyns: "Die Emotionen bleiben"




Christoph Meyns
epd-bild/Susanne Hübner
Der neue Sprecher des Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Christoph Meyns, wünscht sich eine intensive Beteiligung Betroffener, um Missbrauchsfälle aufzuarbeiten.

Christoph Meyns ist seit Anfang November Sprecher des Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Im Interview berichtet der braunschweigische Landesbischof über die Schwierigkeiten, die tatsächlichen Dimensionen des Missbrauchs in der Kirche zu erfassen - und über emotionale Herausforderungen, die das neue Amt mit sich birgt. Mit Meyns sprach Daniel Behrendt.

epd sozial: Seit zwei Jahren bündeln die evangelischen Landeskirchen die Aufarbeitung von Missbrauch in ihren Reihen verstärkt auf Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie haben kürzlich von der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs den Sprecherposten des EKD-Beauftragtenrats zum Schutz vor sexualisierter Gewalt übernommen. Ein schwieriges Amt?

Christoph Meyns: Ich bin bereits von Beginn an Mitglied des fünfköpfigen Beauftragtenrates, insofern kenne ich die Aufgabe. Ich weiß also, dass es kein leichtes Amt ist. Was mich, was uns umtreibt, ist zuallererst das Leid der Betroffenen und unsere Verantwortung als Institution. Das bedingt das Mitfühlen mit den aufwühlenden Geschichten der Betroffenen - und führt zu Fassungslosigkeit über die sexualisierte Gewalt in unserer Kirche. Es ist keineswegs so, dass man unempfindlicher wird, wenn man sich länger mit der Aufarbeitung und Prävention beschäftigt. Die Emotionen bleiben. Sie sind ein starker Antrieb, dafür zu sorgen, dass sich insbesondere die Leitungsebenen der Kirche intensiv mit dem Themenfeld auseinandersetzen.

epd: Was sind die Ziele des Aufarbeitungsprozesses?

Meyns: Neben Konzepten zur Prävention von sexualisierter Gewalt geht es vor allem darum, dass die Betroffenen gehört werden, dass sie Raum zur Aufarbeitung ihrer Erfahrungen bekommen und dass wir uns als Kirche mit ihrem Leid konfrontieren. Zudem wollen wir verstehen, wie es zu diesen Übergriffen gekommen ist. Gibt es in der Institution Kirche Faktoren, die sexualisierte Gewalt begünstigen und deren Aufarbeitung erschweren? Etwa im Handeln der Kirchenleitung oder in den engen Sozialstrukturen, die ja kennzeichnend für kirchliches Leben sind? Haben wir strukturelle Defizite, die den Tätern den Missbrauch leicht machen? Das wissen wir alles noch nicht genau. Deshalb haben wir eine umfassende Aufarbeitungsstudie ins Leben gerufen, die unter anderem diese Fragen beleuchten soll.

epd: Bislang wurden durch die zuständige Kommission 881 Fälle sexualisierter Gewalt in der EKD und der Diakonie bekannt. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?

Meyns: Auch das ist schwer zu sagen. Untersuchungen über sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld haben beispielsweise ergeben, dass der weit überwiegende Teil der Fälle nicht zur Anzeige gebracht wird. Andere Studien gehen bei Missbrauchsdelikten davon aus, dass die Dunkelziffer etwa Faktor zehn der bekannten Fälle beträgt. Ohne genaue Zahlen zu kennen: Sicher ist, dass wir nur um einen Teil der Fälle wissen.

epd: Wie schwierig ist es, dieses Dunkelfeld auszuleuchten - und womöglich weitere Täter zu identifizieren?

Meyns: Natürlich umfasst die unabhängige Aufarbeitungsstudie auch ein Projekt zur Gesamtzahl der Fälle. Es soll klären, welche Dimensionen die sexualisierte Gewalt in der Kirche tatsächlich hat. Da dies ohne konkrete Hinweise schwierig ist, sollen, soweit möglich, die Personalakten Auskunft geben. Sofern im Einzelfall kein Disziplinarverfahren wegen entsprechender Vergehen verzeichnet ist, wird es komplizierter, Hinweise auf sexualisierte Gewalt zu finden. Um die Dimensionen des Missbrauchs in der Kirche darüber hinaus einordnen zu können, haben wir den Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung gebeten, eine Studie anzuregen, die das Dunkelfeld sexualisierter Gewalt in allen Institutionen bundesweit erhellt.

epd: Womöglich weil es so schwer ist, Licht ins Dunkel zu bringen, fordern Betroffene eine Einbindung staatlicher Stellen in die Aufarbeitung, um maximale Unabhängigkeit zu garantieren. Wie stehen Sie dazu?

Meyns: Tatsächlich beraten wir mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, bereits, wie wir die institutionelle Aufarbeitung transparent, unabhängig und im Sinne der Betroffenen gestalten können.

epd: Was tun Sie, um die Betroffenen am Prozess zu beteiligen?

Meyns: Seit dem Sommer gibt es einen zwölfköpfigen Betroffenenbeirat, der sich aus Personen zusammensetzt, die entweder selbst Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt haben oder Familienangehörige sind. Das Gremium konnte Corona-bedingt leider erst verspätet an den Start gehen. Ich bin überzeugt, dass der Betroffenenbeirat uns ein kritisches Gegenüber sein wird - und wo nötig, ein Korrektiv. Denn klar ist: Für eine Aufarbeitung, die diesen Namen verdient, müssen die Betroffenen intensiv beteiligt sein.



Corona

Ethikrat-Mitglied Graumann: Zu wenig für Pflegeheime gelernt




Sigrid Graumann
epd-bild/Christian Ditsch

Die Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Sigrid Graumann, vermisst eine konsequente politische Initiative für den Schutz der Pflegeheime in der Corona-Pandemie. Aus dem ersten "Lockdown" sei zu wenig gelernt worden, kritisierte Graumann am 16. November bei einer Online-Veranstaltung der Evangelischen Stadtakademie Bochum. "Mir fehlt in der politischen Debatte, dass wir grundsätzlich überlegen, was wir tun können, um Gesundheitsschutz mit möglichst viel Freiheit zu vereinbaren", sagte Graumann. Es gebe Mittel und Wege, die die einzelnen Heime aber nur mit politischer Unterstützung umsetzen könnten.

So gebe es Maßnahmen, die eine erhebliche Schutzwirkung hätten, ohne die Heimbewohner zu isolieren, sagte Graumann, die Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Durch die Schaffung kleiner Wohngruppen, die von einem festen, eng begrenzten Mitarbeiter-Stab versorgt würden, könne das Ansteckungsrisiko erheblich minimiert werden. "Wenn es politisch gewollt wäre und wenn es finanziert würde, wäre eine solche Umstrukturierung auch kurzfristig denkbar."

Schädigungen durch monatelange Isolation

Wenn ein Bruchteil des Geldes, das für die Schaffung von Krankenhausbetten aufgebracht worden sei, in die Pflege flösse, könne schon sehr viel erreicht werden. Längerfristig seien diese Investitionen ohnehin notwendig, um eine krisenfeste Pflege zu sichern. "Angesichts der hohen Infektions- und Sterberaten in Pflegeheimen können wir uns sicher sein, dass die geforderte Umstrukturierung eine erhebliche Wirkung hinsichtlich der Eindämmung der Pandemie hätte."

Graumann warnte vor erneut laut gewordenen Forderungen nach besonderen Schutzmaßnahmen für Risikogruppen. Faktisch hieße das, Menschen mit einem erhöhten Infektionsrisiko zu isolieren, um die Schutzmaßnahmen für andere Teile der Gesellschaft lockern zu können. Rechte von Selbstbestimmung und Teilhabe von Heimbewohnern dürften aber nicht dauerhaft ausgesetzt werden.

Der erste Lockdown in Heimen im Frühjahr sei vor dem Hintergrund eines begrenzten Wissens und fehlender Schutzmittel zwar gerechtfertigt gewesen, sagte Graumann. Denn sonst hätte es wahrscheinlich noch viel mehr Tote gegeben. Experten und Interessensvertreter seien sich aber einig, dass sich das nicht wiederholen dürfe. Mittlerweile seien die Schädigungen sichtbar, die durch die monatelange Isolation im Frühjahr bei Heimbewohnern entstanden seien. Weil Therapien und Besuche fehlten, hätten viele Pflegeheim-Bewohner kognitive und körperliche Fähigkeiten eingebüßt. Das sei oftmals nicht wieder aufzuholen.

Gabriele Fritz



sozial-Branche

Corona

Mehr Sicherheit im Pflegeheim nach 15 Minuten




Schnelltest im Senioren- und Pflegezentrum Bethanien in Braunschweig
epd-bild/Peter Sierigk
15 Minuten dauert es, bis ein Strich auf dem Test Entwarnung gibt. Vorher dürfen Besucher nicht zu ihren Angehörigen. Ein Braunschweiger Pflegeheim hat mit den Corona-Schnelltests begonnen und steht nun vor neuen Herausforderungen.

Heimleiterin Stefanie Rutsch führt das Wattestäbchen vorsichtig in den weit geöffneten Mund der Mitarbeiterin. "Das ist wie beim Zahnarzt", sagt Rutsch, die blaue Schutzkleidung, Handschuhe, eine Schutzbrille und einen Mund-Nasenschutz trägt. Das Senioren- und Pflegezentrum Bethanien in Braunschweig ist eine der ersten diakonischen Altenpflege-Einrichtungen in Niedersachsen, die mit Antigen-Schnelltests Bewohner, Angehörige und Mitarbeiter auf das Coronavirus testet.

Keine 100-prozentige Garantie

Während Rutsch das Wattestäbchen für zwei Minuten in eine Lösung stellt, bereitet eine Mitarbeiterin die nächsten Tests vor. Rutsch träufelt etwas Lösung auf ein Testgerät. Nach 15 Minuten kommt die Entwarnung. Ein Strich bedeutet: Das Virus wurde nicht nachgewiesen. Vor der Tür des eigens eingerichteten Testzentrums hat sich bereits eine Schlange von Mitarbeitern gebildet. Manche werden ungeduldig, sie müssen in die Küche und das Mittagessen vorbereiten.

"Die Schnelltests bieten zwar keine 100-prozentige Garantie, aber sie sind ein Mehrwert", sagt die Heimleiterin. Der Ernst der Lage wurde gleich zu Beginn deutlich: Eine Angehörige, die zuvor ihre Mutter im Heim besucht hatte, war positiv auf das Virus getestet worden. So wurden gleich am ersten Tag im Heim bis in die Nacht alle 50 Kontaktpersonen getestet. Bislang hat es in der Einrichtung keinen einzigen Corona-Fall gegeben.

Geschäftsführer Ulrich Zerreßen weiß, das Ganze findet unter einem erheblichen Druck für alle statt. "Das größte Problem ist die Personalkapazität." Dreieinhalb Vollzeitstellen braucht die Einrichtung mit derzeit 238 Bewohnern, um die Tests täglich durchzuführen. 42 Besucher können täglich getestet werden, die 180 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derzeit zwei Mal in der Woche. Steigt der Corona-Inzidenzwert in Braunschweig auf über 100, müssten die Beschäftigten drei Mal in der Woche zum Test. "Das werden wir nicht schaffen", befürchtet Zerreßen.

Zeitarbeitskräfte zur Verstärkung

Nur gut geschultes Fachpersonal darf die Tests durchführen. Viele Heimträger befürchten deshalb Engpässe. Pflegeeinrichtungen bräuchten personelle Unterstützung, heißt es von der Diakonie in Deutschland. Auch müssten sie ausreichend finanziell ausgestattet werden. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste beklagt zudem in mehreren Bundesländern gravierende bürokratische Hindernisse, vor denen die Einrichtungen stehen.

In Braunschweig übernehmen Zeitarbeitskräfte den Ausfall in der Pflege. Derzeit werden dem Pflegeheim die sieben Euro Materialkosten für jeden Test erstattet. Für jeden Bewohner werden im Monat 20 Tests gestattet. Wann und ob die zusätzlichen Personalkosten von etwa sechs Euro je Test übernommen werden, ist noch unklar. Allerdings sei der Krankenstand deutlich zurückgegangen, betont Zerreßen. Vorher fielen die Mitarbeiter in der beginnenden Erkältungs- und Grippe-Zeit schon wegen eines kleinen Schnupfens aus, da sie oft eine Woche in Quarantäne auf ein Testergebnis warten mussten.

Vertrauen in die Einrichtung

Heike Fiddeke-Kasten ist froh, dass sie an diesem Morgen ihre 86-jährige Mutter besuchen kann. Zuvor hat sie über die Telefon-Hotline einen Termin ausgemacht. Im Zehn-Minuten-Takt dürfen die Besucher die Schleuse im Eingangsbereich passieren. Dort wird auch Fiddeke-Kasten eine neue Maske ausgehändigt, sie muss Formulare ausfüllen, ihre Hände desinfizieren und schließlich einen Kittel überziehen.

Geschäftsführer Zerreßen sieht trotz der zusätzlichen Belastungen vor allem Vorteile. Ein Corona-Fall im Haus würde "schnell Hunderttausende" kosten, schätzt er. Neben einem Belegungsstopp und "wahnsinnigen Krankenquoten im Personal" werde es auch Monate dauern, bis die Menschen wieder Vertrauen in die Einrichtung hätten. "Das steht in keiner Relation zu dem, was wir jetzt machen." Und schließlich wird Zerreßen, die rheinländische Frohnatur, ernst. Im schlimmsten Fall könnten Bewohner an dem Virus sterben. "Nein, bitte nicht."

Charlotte Morgenthal


Corona

Hintergrund

Schnelltests in der Pflege



Alten- und Pflegeheime können in Deutschland seit dem 15. Oktober Corona-Schnelltests durchführen, um Personal, Besucher und Bewohner besser vor dem Virus zu schützen. Mit der Teststrategie will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einer erneuten Isolation der Menschen in den Heimen entgegenwirken. Einrichtungsträger begrüßen die Schnelltests, sehen aber Schwierigkeiten in der Umsetzung, vor allem weil dafür in der ohnehin angespannten Pflegesituation Personal fehlt.

Zudem gibt es laut dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste bürokratische Hürden, wenn Heime die Tests beantragen. Darum würden die Tests noch nicht flächendeckend angewendet. Die Pflegeheime müssen zunächst ein individuelles Testkonzept erarbeiten. Dann müssen sie ihren Plan dem Gesundheitsamt zur Genehmigung vorlegen. Ist die da, können die Einrichtungen die festgelegte Zahl an Antigen-Tests für zunächst 30 Tage bestellen. Die Heime dürfen pro Bewohner 20 Schnelltests im Monat verwenden. Kritiker halten diese Zahl für zu gering.

Für die Tests muss ein Abstrich im Nasenrachenraum vorgenommen werden. Die einfachere Auswertung der Antigentests erlaubt die Testung auch außerhalb eines Labors, zum Beispiel direkt im Pflegeheim. Die Antigentests haben jedoch eine höhere Fehlerquote als die sogenannten PCR-Tests in den Laboren. Fallen sie positiv aus, ist ein PCR-Test zwingend, bevor eine Quarantäne angeordnet werden kann. Viele Experten sprechen deshalb von einer "Vorstufe von Sicherheit".



Corona

Unterschiedliche Kostenerstattung bei Schnelltests



Pflegefachverbände rügen die unterschiedliche Kostenerstattung für Corona-Schnelltests in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Krankenhäuser sollten zunächst mit 12 Euro Personalkosten pro Test eine doppelt so hohe Erstattung bekommen wie Pflegeeinrichtungen, berichtete der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) am 18. November. Dann wurde mit der GKV eine Erhöhung der Sätze für die Pflegeeinrichtungen nachverhandelt, hieß es. Zwar gebe es jetzt pauschal neun Euro für den Personalaufwand je Test, doch der Unmut über die schlechte Behandlung der Pflegebranche bleibe.

Aufwand identisch

"Eine derartige Besserstellung der Krankenhäuser ist ein krasses Signal für die Pflegeeinrichtungen", sagte Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes der Anbieter sozialer Dienste (bpa) am 13. November, also noch vor der Anhebung: "Der Aufwand für einen Schnelltest ist in den Pflegeheimen und ambulanten Diensten mindestens genauso hoch wie in den Krankenhäusern."

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) bestätigte eine Vereinbarung mit dem GKV-Spitzenverband und präzisierte die Zahlen: Es wurde für die Kliniken ein Preis von insgesamt 18,82 Euro je Schnelltest verhandelt. Der setze sich zusammen aus 8,02 Euro für die ärztliche Abstrichleistung und 10,80 Euro Laborkosten, sagte ein Sprecher dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Der GKV-Spitzenverband antwortete auf die Anfrage, wie sich die unterschiedlich hohe Kostenerstattung erkläre, nicht. In der Vereinbarung mit den Pflegeheimen, die dem epd vorliegt, heißt es, die Personalkosten "sind pauschal in Höhe von neun Euro brutto je tatsächlich genutztem Test erstattungsfähig". Für die Materialkosten je Kit gibt es maximal sieben Euro.

Stundenpauschale nicht ausreichend

Der DEVAP begrüße grundsätzlich die Nutzung der Schnelltests, sagte Vorsitzender Wilfried Wesemann. Scharf kritisierte er jedoch "das zähe Ringen um eine auskömmliche Pauschale pro Testung". Ein Test dauere etwa 20 Minuten, also könnten bei sachgerechter Durchführung in einer Stunde im stationären Bereich drei Tests stattfinden. Im ambulanten Bereich seien aufgrund der Wege zwischen den Einsatzorten sogar nur maximal zwei Tests in der Stunde machbar: "Das bedeutet eine Stundenpauschale in Höhe von 18 Euro, damit kann keine Fachkraft bezahlt werden."

Diese Pauschale widerspricht laut Wesemann ausdrücklich den Bestrebungen im Eckpunktepapier zur Pflegereform 2021, die beruflich Pflegenden zu stärken, indem nur ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen zugelassen werden, die nach Tarif entlohnen.



Corona

Familien erleben die Pandemie höchst unterschiedlich




Eike Wiesner bei einem Beratungsgespräch
epd-bild/Fernando Baptista
Homeoffice, keine Kita, Kurzarbeit: Die Corona-Pandemie stellt Familien vor zahlreiche Herausforderungen. Während einige gut zurechtkommen, suchen andere Hilfe bei Beratungsstellen. Aber auch dort rutschen Fälle durch.

"Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise": Als der russische Autor Leo Tolstoi seinen weltberühmten Roman "Anna Karenina" mit diesem Satz begann, dachte er wohl kaum daran, dass er sich rund 150 Jahre später während einer globalen Pandemie erneut bewahrheitet. Während Familien in stabilen Verhältnissen teilweise sogar durch die Ausnahmesituation zusammenwachsen, kochen in anderen ungelöste Konflikte hoch.

Dies zeigt unter anderem eine gemeinsame Studie der Universität Hildesheim und der Goethe-Universität Frankfurt am Main aus den Monaten April und Mai dieses Jahres. Unter den 25.000 befragten Elternteilen empfanden die einen diese Zeit als schön und konnten sie als Familie genießen. Den anderen machten die Corona-Maßnahmen stark zu schaffen. Sie fühlten sich seelisch und körperlich erschöpft und hatten Schuldgefühle gegenüber den Kindern.

Schulische Hilfen nachgefragt

Solche seelisch belasteten Mütter und Väter kommen zu Eike Wiesner, dem Leiter der Caritas-Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Fürth im Odenwald. Vom Homeschooling und der fehlenden Betreuung ausgelaugt seien derzeit aber auch "Kinder, die keine Möglichkeit hatten, in den Monaten vor den Sommerferien Routine im Umgang mit der neuen Schulform zu erwerben", sagt er. Themen in diesen Fällen seien "Konzentration, Struktur, Hausaufgaben und Sozialverhalten".

Sozialpädagoge Wiesner beobachtet noch ein weiteres "Cluster" in aktuellen Beratungen. Zunehmend kämen "hochstrittige Paare, die sich vor, während oder nach Corona getrennt oder geschieden haben", sagt er. Die Pandemie scheine "der ideale Vorwand zu sein", der Ex-Partnerin oder dem Ex-Partner die gemeinsamen Kinder vorzuenthalten, die Kommunikation abzubrechen oder den Wohnort unkommentiert zu wechseln.

Von Beginn der Corona-Pandemie an warnten Fachleute und Jugendämter vor einem höheren Gewaltrisiko. Die offiziellen Fallzahlen stiegen aber nicht. Geändert hat sich daran bislang nichts, sagt Manfred Jahn, Fachdienstleiter Familienberatung im Caritas-Zentrum Rosenheim. "Auch die erwartete Welle von Anfragen nach dem Lockdown ist ausgeblieben", sagt er.

Schulen melden auch Konflikte in Familien

Über die Gründe könne nur spekuliert werden, sagt Jahn. Als Kitas und Schulen geschlossen waren, hätten diese als soziale Instanzen gefehlt, die Konflikte in Familien melden könnten. Von diesem Problem berichtet auch Sozialpädagoge Wiesner. Während der Schließzeiten hätten Hilfseinrichtungen "mit verbundenen Augen" gearbeitet.

Die aktuelle Zahl der Beratungsanfragen werde möglicherweise durch die zweite Corona-Welle verzerrt, sagt Wiesner. Angesichts der hohen Infektionszahlen könne es sein, dass Familien trotz Beratungsbedarf zu Hause bleiben. Mit Sorge blickt er auf die wahrscheinlich in Zukunft steigenden Arbeitslosenzahlen. "Das steigert den Bedarf an Beratung in jedem Fall", sagt er.

Martina Schmitz vom Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW teilt diese Befürchtung. Eine belastende wirtschaftliche Situation könne in Familien zu mehr Gewalt führen, "besonders wenn viele Personen auf engem Raum leben", sagt sie. Bei strengen Kontaktbeschränkungen gebe es zudem weniger Möglichkeiten für Dritte, bei Problemen einzugreifen.

Für Schmitz ist es zentral für den Schutz von Frauen in Familien mit Kindern, dass die Kitas und Schulen geöffnet bleiben. "So können Betroffene noch Kontakt nach draußen halten", sagt sie. Für Jahn ist es ebenfalls "mit Abstand das Wichtigste", dass Schulen und Kitas nicht wieder schließen müssen. "Normaler Familienalltag entlastet am meisten", sagt er.

Jana-Sophie Brüntjen


Corona

Sozialmediziner fordert kostenlose Masken für Obdachlose



Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert mahnt mehr kommunale Anstrengungen bei der Winterhilfe für Obdachlose in Corona-Zeiten an. Es müsse - so wie mancherorts im Frühjahr - wieder spezielle Unterkünfte für Risikopatienten und für Quarantäneplätze geben, sagte der Vorsitzende des Hilfsvereins "Armut und Gesundheit in Deutschland" in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Außerdem müssten dringend kostenlose Schutzmasken an Menschen verteilt werden, die auf der Straße leben. Schals oder Tücher böten keinen ausreichenden Schutz vor dem Virus.

"Die Gefahr für diese Menschen ist im Winter noch größer. Das hat man noch immer nicht realisiert", sagte Trabert. Er appellierte an die Kommunalpolitiker, ihre Hilfen für Wohnungslose nicht herunterzufahren, damit die Betroffenen möglichst schnell in andere Städte weiterziehen. "Ich habe schon den Eindruck, dass es sich manche Kommunen sehr leicht machen", kritisierte er. Engagierte Kommunen müssten mehr Unterstützung von der Landesregierung erfahren. Dass Mitarbeiter von Ordnungsämtern drastische Corona-Bußgelder gegen Obdachlose verhängen wie zuletzt in Karlsruhe, verurteilte Trabert als "absolut inakzeptabel".

Separate Notunterkünfte

"Wohnungslose Menschen sind häufig chronisch krank oder immungeschwächt", warnte der Arzt. Daher seien sie in der Coronavirus-Pandemie besonders gefährdet. Im Winter verschärfe sich das Infektionsrisiko ohnehin aufgrund des nasskalten Wetters. In vielen Städten gebe es wegen der Corona-Maßnahmen nun kaum noch Möglichkeiten sich aufzuwärmen. Zusätzliche Unterkunftsplätze seien auch deshalb dringend nötig, weil viele Menschen beispielsweise wegen ihrer Hunde nicht in den bestehenden Wohnheimen aufgenommen würden.

In Mainz, wo der Verein "Armut und Gesundheit" sich seit Jahren um die medizinische Versorgung Wohnungsloser kümmert und eine Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung betreibt, habe die Stadt in der aktuellen Krise viele wichtige Maßnahmen ergriffen. So seien auf einem ehemals vom US-Militär genutzten Gelände separate Notunterkünfte für Personen geschaffen worden, die isoliert werden müssen. In den Wohnheimen seien die strengen Regeln zur maximal erlaubten Aufenthaltsdauer gelockert worden. Außerdem habe die Stadt eine Forderung seines Vereins aufgegriffen und finanziere eine Grippeschutz- und Streptokokken-Impfung für Wohnungslose ohne Versicherungsschutz.



Armut

Gastbeitrag

Energiearmut per Gesetz - Die Stromkosten im Regelbedarf 2021




Valentin Persau und Gerwin Stöcken
epd-bild/privat
Die Stromkosten werden laut der Nationalen Armutskonferenz (nak) in der neuen Regelbedarfsermittlung für 2021 erneut zu knapp bemessen. Für viele Haushalte im Hartz-IV-Bezug und in der Sozialhilfe bedeute das, dass ihre Energieversorgung nicht gesichert ist, schreiben Gerwin Stöcken und Valentin Persau von der nak in ihrem Gastbeitrag.

Am 5. November hat der Bundestag den Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen beschlossen. Darin werden die Regelbedarfe ab 2021 festgesetzt. Sie sollen grundsätzlich den gesamten Lebensunterhalt für Beziehende der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), der Sozialhilfe (SGB XII) und der Asylbewerberleistungen (AsylbLG) als Pauschalbetrag abdecken. Zusammen mit den Kosten für Unterkunft und Heizung und den Mehrbedarfen verwirklichen die Regelbedarfe das Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums.

Zu dessen Aktualisierung ist der Gesetzgeber in regelmäßigen Abständen und nach festen Vorgaben verpflichtet. Dabei beauftragt der Gesetzgeber eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) und leitet die Regelbedarfe aus den Verbrauchsausgaben von unteren Referenzhaushalten ab. Wir als Nationale Armutskonferenz (nak) üben regelmäßig Kritik an diesem Verfahren. Nach unsere Auffassung bemisst der Gesetzgeber die Regelbedarfe innerhalb seines verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraums auch dieses Mal wieder möglichst knapp.

Gesetz verhindern Stromsperren nicht

Das trifft auch auf die Stromkosten zu. Künftig werden für eine erwachsene Person monatlich 35,30 Euro übernommen. Das neue Gesetz wird weiterhin nicht verhindern, dass vielen Menschen wieder der Strom abgestellt wird.

Im Jahr 2018 kam es nach offiziellen Angaben zu 296.370 Stromsperren. Sie entfallen überwiegend auf Grundsicherungs- und Schwellenhaushalte. Stromsperren bedeuten für die Betroffenen existenzielle Not. Strom ist ein elementares Gut, das im Regelbedarf nicht einfach substituiert werden kann, wie das bei anderen Konsumausgaben unter der Annahme des internen Ausgleichs vorgesehen ist. Deshalb ist es wichtig, dass bei den Regelbedarfen die Ausgaben in bedarfsdeckender Höhe zur Verfügung stehen. Weil der Regelbedarf jedoch die durchschnittlichen Ausgaben der Referenzgruppe widerspiegelt, droht bei den Stromkosten oft eine Unterdeckung.

Außerdem bestehen bei der Berechnung der Strombedarfe Bedenken, inwiefern die Situation der Referenzhaushalte auf die Situation der Grundsicherungshaushalte übertragbar ist. Zum Beispiel verbringen Grundsicherungsbeziehende in der Regel mehr Zeit zu Hause. Außerdem ist Grundsicherungsbezieherinnen und -beziehern die Anschaffung von Elektrogroßgeräten nur in großen zeitlichen Abständen finanziell möglich. Das führt zu einer Vielzahl an stromintensiven Altgeräten und einem damit verbundenen höheren Stromverbrauch.

Sparangebote verwehrt

Hinzu kommt, dass Grundsicherungshaushalte mitunter wegen ihrer Bonität von günstigeren Stromanbietern abgelehnt werden und dann im Gegensatz zur Referenzgruppe keinen Zugang etwa zu Sparangeboten haben. Die betroffenen Haushalte sind dann auf teurere Grundversorgungstarife angewiesen, die den Anteil für Strom im Regelsatz zum Teil deutlich übersteigen.

In der Einkommens- und Verbraucherstichprobe wird außerdem nicht erhoben, ob offene Energierechnungen bestehen. Auch halbjährliche oder jährliche Abrechnungen sind mitunter in der Statistik nicht erfasst. Außerdem geben nicht alle berücksichtigten Referenzhaushalte Energieausgaben an und verzerren die Pauschale so nach unten. Festzuhalten ist auch, dass die Strompreise in Deutschland regelmäßig überproportional zu den sonstigen Verbraucherpreisen steigen. Über die jährliche Fortschreibung der Regelbedarfe werden unterjährige und regionale Preissteigerungen nicht ausreichend aufgefangen.

All diese Faktoren legen nahe, dass die im Regelbedarf übernommenen Kosten in vielen Fällen unterhalb der tatsächlichen Ausgaben für Strom liegen. Daher sollte der Betrag für Strom erhöht werden, um eine systematische Unterdeckung zu vermeiden. Vor dem Hintergrund der erneuten Verschärfung der Pandemiesituation sollten zudem alle Stromsperren mit sofortiger Wirkung ausgesetzt und die zu erwartenden Mehrkosten als Mehrbedarfsleistung übernommen werden. Längerfristig ist grundsätzlich zu überdenken, inwiefern die Ausgaben für Strom überhaupt sinnvoll zu pauschalieren und im Regelbedarf anzusiedeln sind.

In der Zwischenzeit gilt es, die Menschen vor Ort bei der Bewältigung und Prävention von Energieschulden und Stromsperren zu unterstützen. Die kommunale Praxis zeigt, dass eine Kooperation von Energieversorgern, Jobcenter, Sozialbehörden, Wohlfahrtsverbänden und Verbraucherzentralen dazu einen wichtigen Beitrag leistet.

Verbrauchertransparenz stärken

Hilfreich wäre außerdem eine Stärkung der Verbrauchertransparenz. Denkbar sind hier etwa intelligente Messsysteme im Haushalt, regelmäßige Zwischenabrechnungen und Zugang zur Schuldner- und Energieberatung. Bei Zahlungsrückständen kann auch eine frühzeitige, niedrigschwellige und aufsuchende Ansprache der Betroffenen beitragen. Die hierfür erforderliche soziale Infrastruktur muss verlässlich und dauerhaft finanziert werden.

Eine zukunftsfähige Lösung für das Problem der Energiearmut ist auch angesichts einer ambitionierten sozialökologischen Transformation geboten. Arme Menschen müssen genauso in die Lage versetzt werden, am ökologischen Umbau teilzuhaben. In der Grundsicherung sollten daher Leistungen für die Erst- und Ersatzbeschaffung großer, energieeffizienter Haushaltsgeräte wie Waschmaschine oder Kühlschrank (weiße Ware) vorgesehen werden.

Hohe Strompreise haben eine regressive Verteilungswirkung und belasten einkommensarme Haushalte überproportional. Über Steuern, Abgaben und Umlagen hat der Staat regulatorische Möglichkeiten für eine stärker sozialverträgliche Ausgestaltung des Energiepreises. Die sollten genutzt werden. Die Energieversorgung ist Teil der Daseinsvorsorge und muss für alle Privathaushalte stets verlässlich zur Verfügung stehen.

Gerwin Stöcken ist Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (nak), Valentin Persau Geschäftsführer der nak.


Verbände

Interview

Diakonie-Chef: Kirchengemeinden zum Umdenken gebracht




Dieter Kaufmann
epd-bild/Norbert Neetz
Dieter Kaufmann ist ein "Gremienmann", aktiv, präsent und gut vernetzt. Der Oberkirchenrat geht Ende November in den Ruhestand, nach elf Jahren an der Spitze der Württembergischen Diakonie. Nicht alles Bemühen sei von Erfolg gekrönt, räumt er im Interview ein. Aber so manche soziale Initiative in den Kirchengemeinden trage heute Früchte.

Die diakonischen Betriebe sind mit mehr als 50.000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber im Südwesten. Ihr Vorstandsvorsitzender in Württemberg, Oberkirchenrat Dieter Kaufmann, geht Ende November in den Ruhestand. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) bedauert er, dass in seiner elfjährigen Amtszeit die Schere zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft noch weiter auseinandergegangen sei. Kaufmann, der auch dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) angehört, erläutert zudem, was beim Thema Inklusion alles gelungen ist. Mit ihm sprach Marcus Mockler.

epd sozial: Herr Oberkirchenrat, was war in Ihrer Amtszeit Ihr Herzblut-Projekt?

Kaufmann: Da gibt es mehrere, aber ich nenne als Beispiel die Inklusion, die Teilhabe von Menschen. Da geht es nicht nur um Menschen mit Behinderung, sondern auch um andere gesellschaftlich Ausgeschlossene. Wir haben einen Aktionsplan Inklusion in der Landeskirche erarbeitet, um den uns andere Landeskirchen und deren Diakonische Werke teilweise beneiden. Am Aktionsplan sind alle Einrichtungen der Landeskirche beteiligt und genauso Menschen, die behindert oder psychisch erkrankt oder langzeitarbeitslos sind. Inklusion macht unsere ganze Kirche aus.

epd: Was ist denn durch diesen Inklusionsplan besser geworden?

Kaufmann: Es gibt viele Einzelbeispiele in Gemeinden, die die Situation vor Ort deutlich verbessert haben. Zu nennen wäre etwa der Heidenheimer Teilort Mergelstetten, wo die Kirchengemeinde zusammen mit der Nikolauspflege einen Kindergarten für mehrfach behinderte Kinder eingerichtet hat. Das hat die Wahrnehmung der ganzen Gemeinde im Umgang mit behinderten Kindern verändert. Über den Aktionsplan haben wir dort eine FSJ-Stelle für ein Jahr finanziert, die Kinder mit und ohne Behinderungen zusammenbringt.

epd: Und weiter?

Kaufmann: In Münsingen auf der Schwäbischen Alb hat die Kirchengemeinde behinderte Menschen in ihre Arbeit integriert. So unterstützen zwei von ihnen den Hausmeister des evangelischen Gemeindehauses in ihrer Freizeit. Ein anderer hilft im Gottesdienst, sogar beim Austeilen des Abendmahls. So etwas verändert eine Gemeinde.

epd: Sind in Ihrer Amtszeit Württembergs evangelische Kirchengemeinden inklusionsfreundlicher geworden?

Kaufmann: Das gilt natürlich nicht für jede Gemeinde, aber viele haben hier Neues für sich entdeckt. Manche haben etwas mit Langzeitarbeitslosen vorangebracht, andere mit benachteiligten Kindern. Das Wesentliche dabei ist ja die innere Haltung: dass man das nicht als zusätzliche Arbeit ansieht, sondern als eine andere Art, Gemeinde zu leben.

epd: Gibt es einen Bereich, in dem Sie nach eigenem Empfinden gescheitert sind?

Kaufmann: Was mich nach elf Jahren sehr schmerzt: Die Schere zwischen Arm und Reich geht in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander. Das empfinde ich als Skandal. Stichwort Vesperkirche: Die sind eigentlich vor allem dazu da, dass man auf die Entwicklung in unserer Gesellschaft aufmerksam macht. Wir konnten uns leider auch nicht mit der Forderung durchsetzen, dass in der Corona-Zeit Hartz-IV-Empfänger 100 Euro mehr im Monat bekommen. Deshalb sind wir froh, dass die württembergische Landessynode unseren Mutmacher-Fonds so großzügig unterstützt, der Menschen in Notsituationen unbürokratisch hilft. Insgesamt hätte ich auf diesem Gebiet jedenfalls gerne mehr erreicht.

epd: Steht uns aufgrund von Corona-Lockdowns und Rezession eine neue Armutswelle bevor?

Kaufmann: Die Entwicklung werden wir genau anschauen müssen. Es fallen leider viele Arbeitsplätze weg, die für einfachere Arbeiten ausgelegt sind, auch in den Werkstätten für Behinderte. Das könnte den Druck auf Menschen, die ohnehin schon an der Armutsgrenze stehen, noch einmal erhöhen. Es ist aber zu früh, die Auswirkungen jetzt schon zu bewerten.

epd: Die Diakonie hat zunehmend Probleme, ihre Stellen mit Kirchenmitgliedern zu besetzen. Wie kann sie ihr christliches Profil bei einer steigenden Zahl nichtchristlicher Mitarbeiter bewahren?

Kaufmann: Zunächst sehe ich in dieser Entwicklung eine riesige Chance, denn wir erklären auf vielfältige Weise unseren nichtkirchlichen Mitarbeitern, woran wir glauben und was uns für die diakonische Arbeit motiviert. In der Diakonie gibt es wahrscheinlich mehr Glaubenskurse als in der ganzen Landeskirche. An bestimmten Positionen, etwa in der Verkündigung, müssen die Stelleninhaber natürlich Kirchenmitglieder sein. An vielen Stellen, wo das nicht im Vordergrund steht, ist es jedoch toll, wenn wir nichtkirchlichen Mitarbeitern erklären können, was Glaube ist. Das ist eine missionarische Chance.

epd: Ihr Haus stand gelegentlich in Opposition zur bundesweiten Diakonie, zum Beispiel beim Thema Prostitution. Fühlen Sie sich in einzelnen Punkten vom Diakonischen Werk Deutschland schlecht repräsentiert?

Kaufmann: Es zeichnet die Diakonie wie den Protestantismus überhaupt aus, dass wir miteinander um Positionen ringen. Wir haben manchmal unterschiedliche Sichtweisen. Sinnvollen Streit brauchen wir. Denn darin liegt die Chance, dass wir uns weiterentwickeln. Wir konnten in manchen Diskussionen aber auch anderen Diakonischen Werken zeigen, dass etwa der Dritte Weg im kirchlichen Arbeitsrecht in Württemberg sehr gut funktioniert. Diesen Dritten Weg ohne Streik und Aussperrung hatten zu Beginn meiner Amtszeit viele auch in der Diakonie schon abgeschrieben. Zu Unrecht, wie ich finde.

epd: Ihre Nachfolgerin Annette Noller hat im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg die Diakonie bereits auf Sparkurs eingestimmt. Man wolle zwar alle Arbeitsbereiche erhalten, könne aber vielleicht nicht mehr an jedem Standort alles anbieten. Ist das die richtige Strategie?

Kaufmann: Klar ist, dass es weiterhin einen hohen Bedarf an diakonischen Diensten geben wird. Also wird die Diakonie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, diesen Bedarf zu stillen.

epd: Diakonische Arbeit ist auch Öffentlichkeitsarbeit. In welchen Bereichen haben Sie sich am häufigsten missverstanden gefühlt?

Kaufmann: Ich habe immer wieder erlebt, dass unser Dritter Weg im Arbeitsrecht von vielen nicht verstanden wird. Das Vorurteil, wir würden Arbeitnehmer um ihre Rechte bringen und sie schlecht bezahlen, hat nie gestimmt. Und was vielen auch nicht bewusst ist: Wenn sie mit der Diakonie reden, reden sie mit der evangelischen Kirche. Es ist eine tolle Konstruktion, dass ein Diakonie-Vorsitzender gleichzeitig Oberkirchenrat und damit Mitglied der Kirchenleitung in Württemberg ist. Diese Konstruktion hat nicht jede Landeskirche. Für mich war das Wichtigste in diesem Leitungsamt die theologische Arbeit. Management und geistliches Leben gehören für mich engstens zusammen.

epd: Sie bleiben bis Anfang 2022 Mitglied im Rat der EKD, dem Leitungsgremium zwischen den jährlichen EKD-Synoden. Sind Sie dort der Lobbyist für diakonische Themen?

Kaufmann: So verstehe ich mich nicht. Aber im Rat vertreten verschiedene Experten verschiedene Schwerpunkte. Wir haben dort etwa einen Jura-Professor, den wir bei juristischen Fragen konsultieren. Oder einen früherer Unternehmenschef, den wir zu wirtschaftlichen Themen ansprechen. Und so werde eben ich häufig befragt, wenn Diakonisches auf der Tagesordnung steht. Ich habe eine Leidenschaft dafür, diakonische Kirche zu entwickeln. Alle Untersuchungen und Studien zeigen, dass das soziale Engagement der Kirche, das Eintreten für Benachteiligte, Mitglieder engstens mit ihrer Kirche verbindet.



Corona

Sozialbank startet erneut Branchenumfrage



Die Bank für Sozialwirtschaft (BFS) startet eine zweite Umfrage bei Gesundheits- und Sozialunternehmen, um herauszufinden, wie sich die fortschreitende Corona-Pandemie wirtschaftlich auf die Branche auswirkt. Die Umfrage solle bis zum 20. Dezember erfolgen, heißt es in einer Mitteilung vom 16. November. "Sie wird uns noch deutlicher zeigen, wie die konkreten Unterstützungsbedarfe des Sozial- und Gesundheitswesens und der Freien Wohlfahrtspflege aussehen", sagte Harald Schmitz, Vorsitzender des Vorstandes der Bank.

Im Sommer hatte die BFS in Zusammenarbeit mit Verbänden und der Universität Köln in einer Online-Befragung bereits ermittelt, vor welchen Herausforderungen Unternehmen die Träger in Zeiten von Corona stehen. Erstmals hätten damit belastbare Zahlen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise für die Sozialbranche zur Verfügung gestanden.

Erhebliche Ertragsausfälle

Es zeigte sich nach Auswertung der Resultate, dass bereits im Juli die Träger trotz der Schutzschirme und Hilfsprogramme teilweise erhebliche Ertragsausfälle hatten und sie deren Kompensation durch die Rettungspakete als unzureichend ansahen. Mehr als die Hälfte der rund 1.000 Teilnehmenden erwartete durch die Pandemie eine Refinanzierungslücke, rund zwei Drittel gingen von einer verschlechterten Liquiditätssituation aus, teilte die Bank für Sozialwirtschaft mit.

Erneut werden nun unter anderem Auslastungsveränderungen, Einnahmeausfälle und Refinanzierungslücken, Rückzahlungsforderungen, die Inanspruchnahme und Wirksamkeit der Schutzpakete abgefragt: "Mit den Ergebnissen werden unsere Kunden ihre Belange noch wirksamer in politische und wirtschaftliche Weichenstellungen einbringen können", sagte Schmitz.

Die Umfrage findet gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, dem Deutschen Verein, dem Bundesverband privater Anbieter (bpa) und der Universität zu Köln statt. Zielgruppe sind Geschäftsführer und Vorstände von Trägern und Einrichtungen aus allen Leistungsfeldern des Sozial- und Gesundheitswesens sowie der Freien Wohlfahrtspflege.



Sucht

Forscher untersuchen Abhängigkeit von Pornografie im Internet



Wissenschaftler der Universität Siegen wollen erforschen, wodurch Menschen abhängig von Pornografie im Internet werden. Die Gruppe um den Psychologen und Psychotherapeuten Tim Klucken will herausfinden, ob exzessiver Porno-Konsum wie andere Süchte etwa nach Drogen oder Alkohol funktioniert oder ob es Unterschiede gibt, teilte die Hochschule am 16. November mit. Nach einer Schätzung sollen fünf Prozent der Männer in Deutschland süchtig nach Pornos sein, es gebe aber kaum belastbare Zahlen und Studien dazu.

Bei der Untersuchung geht es demnach um psychologische Prozesse, emotionale und rationale Mechanismen, die zur Sucht führen. Neben Befragungen von Betroffenen solle vor allem die Reizreaktivität des Gehirns mit Hilfe von Bildertests untersucht werden. Man wisse, welche Hirnstrukturen bei süchtigem Verhalten reagieren. Könnten diese Erkenntnisse in Bezug auf Pornografie bestätigt werden, helfe dies später bei den Therapien, hofft Klucken.

Als Therapeut habe Klucken schon einige Patienten kennengelernt - fast nur Männer - die durch ihren Konsum so sehr litten, dass sie Hilfe suchten, hieß es weiter. Oft beherrschten die Pornos den Alltag der Süchtigen, so dass sie nicht nur familiär, sondern auch beruflich ins Straucheln gerieten. Einige bräuchten immer neue Bilder, Härteres oder Ungewöhnlicheres. Das gehe bis zu strafrechtlich relevanten Filmen, erklärte der Psychologie-Professor.




sozial-Recht

Bundesfinanzhof

Hürden bei Kindergeldanspruch für geistig behinderte Erwachsene




Erwachsene mit Down-Syndrom
epd-bild/Meike Böschemeyer
Angehörige können für ihre erwachsenen, geistig behinderten Pflegekinder weiter Kindergeld erhalten. Der Bundesfinanzhof hat hierfür jedoch hohe Hürden aufgestellt. So muss etwa für einen Kindergeldanspruch auch tatsächlich ein Erziehungsverhältnis vorliegen.

Ohne ein "familienähnliches Band" zu einem volljährigen, geistig behinderten Kind gibt es kein Kindergeld. Beansprucht ein Angehöriger für sein erwachsenes, geistig behindertes Pflegekind Kindergeld, muss hierfür auch ein Erziehungsverhältnis - vergleichbar zwischen Eltern und Kind - vorliegen, entschied der Bundesfinanzhof in einem am 12. November veröffentlichten Urteil. Das volljährige Kind müsse zudem auf dem Entwicklungsstand eines Minderjährigen sein, forderten die Münchener Richter.

Kindergeld bis zum Lebensende

Die gesetzlichen Regelungen sehen Kindergeldzahlungen für erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr vor, vorausgesetzt, sie befinden sich noch in der Ausbildung. Bei einer Behinderung kann diese Altersgrenze wegfallen, so dass sogar bis zum Lebensende des behinderten Kindes Kindergeld gezahlt werden kann. Die Behinderung muss aber vor dem 25. Lebensjahr eingetreten sein. Auch darf sich das Kind nicht selbst "unterhalten" können. Kindergeld wird dann nicht nur für leibliche, sondern auch für Pflegekinder gezahlt.

Im konkreten Fall hatte sich die klagende Schwester ihres 1950 geborenen geistig behinderten Bruders auf solch ein Pflegekindschaftsverhältnis berufen. Ihr Bruder wurde zunächst von seiner Mutter betreut. Da er behinderungsbedingt nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen konnte, erhielt die Mutter für ihn auch noch Kindergeld. Mit ihrem Tod im Mai 2017 sprang die Schwester für die Betreuung ihres Bruders ein.

Dieser wohnte zwar in einer eigenen Wohnung. An allen Wochenenden und Feiertagen hielt er sich bis zu seinem Tod im Jahr 2018 im Familienhaushalt der Schwester auf. Diese ging für ihn einkaufen, kümmerte sich als Betreuerin um alle Finanzangelegenheiten und übernahm die Wäsche. Da ihr Bruder nun ihr Pflegekind sei, müsse die Familienkasse ihr das Kindergeld zahlen.

Erziehungs- und Autoritätsverhältnis

Das Finanzgericht des Saarlandes gab ihr noch recht. Doch der BFH hob dieses Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das Finanzgericht zurück. Zwar könne durchaus ein Kindergeldanspruch für ein volljähriges, geistig behindertes Pflegekind bestehen. Allerdings müsse auch wirklich zu dem Kind ein Pflegekindschaftsverhältnis bestehen. Voraussetzung hierfür sei, dass die Pflegeperson mit dem Kind "durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist".

Das Verhältnis müsse vergleichbar mit dem zwischen Eltern und Kind, müsse also ein Erziehungs- und Autoritätsverhältnis sein. Ohne erzieherische Einwirkungsmöglichkeit der pflegenden Person ähnele ein solches "Pflegeverhältnis mehr dem zu einem Kostgänger als dem zwischen Eltern und Kindern". Kindergeld gebe es dann nicht.

Ob im Streitfall die Voraussetzungen für ein Pflegekindschaftsverhältnis und damit einem Kindergeldanspruch erfüllt waren, soll nun das Finanzgericht noch einmal klären. Allerdings spreche die eigene Wohnung des geistig behinderten Erwachsenen eher gegen ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis, meinte der BFH.

Berufliche Pflegeeltern ohne Anspruch

Bereits im Februar 2012 hatten die obersten Finanzrichter geurteilt, das für einen Kindergeldanspruch erwachsene, geistig behinderte Kinder auf dem typischen Entwicklungsstand einer noch minderjährigen Person sein müssen. Berufliche Pflegeeltern seien vom Kindergeld aber ausgeschlossen. Das Kind dürfe nicht "zu Erwerbszwecken" in dem Haushalt aufgenommen worden sein. Die kindergeldberechtigte Pflegeperson müsse zum Pflegekind schließlich eine länger dauernde familiäre Bindung anstreben. Ausreichend sei hier eine Dauer von zwei Jahren.

Gehen erwachsene behinderte Kinder einer Vollzeit-Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen nach und erhalten sie hierfür Eingliederungsleistungen, müssen die Eltern deshalb aber nicht den Verlust des Kindergeldes fürchten. Wie das Hessische Finanzgericht in Kassel im September 2017 klarstellte, gibt es Kindergeld, wenn das behinderte erwachsene Kind "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten". Seit 2019 darf das Einkommen des Kindes nicht höher sein als der Grundfreibetrag von 9.168 Euro zuzüglich eines möglichen behinderungsbedingten Mehrbedarfs.

Erhält das Kind Eingliederungsleistungen, im Streitfall waren dies jährlich bis zu 4.800 Euro im Jahr, zählen diese als Einkommen aber nicht mit, so das Finanzgericht. Die Eingliederungshilfe sei als behinderungsbedingter Mehrbedarf anzusetzen und wirke sich daher nicht einkommenserhöhend und damit möglicherweise auf einen Verlust des Kindergeldanspruchs aus.

Az.: III R 9/19 (BFH, Pflegekind)

Az.: III R 15/09 (BFH, Entwicklungsstand der behinderten Person)

Az.: 12 K 2289/13 (Finanzgericht Kassel)

Frank Leth


Bundesgerichtshof

Kindesunterhaltszahlung bei reichen Eltern gedeckelt



Wachsendes Einkommen getrennt lebender Eltern führt nicht automatisch zu höheren Kindesunterhaltszahlungen. Liegen die monatlichen Einkünfte eines unterhaltspflichtigen Elternteils über 11.000 Euro netto, wirkt sich der übersteigende Betrag nicht mehr erhöhend auf den regelmäßigen Kindesunterhalt aus, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 9. November veröffentlichten Urteil. Damit dürfen Kinder zwar am Wohlstand des unterhaltspflichtigen Elternteils teilhaben, Anspruch auf Luxus haben sie dem BGH zufolge aber nicht.

Im Streitfall ging es um ein heute neunjähriges Mädchen getrennt lebender Eltern. Die Tochter lebt bei der Mutter in München. Die geschiedenen Eltern hatten sich darauf geeinigt, dass der Vater ab Juli 2019 monatlich 160 Prozent des in der für den Kindesunterhalt üblich herangezogenen Düsseldorfer Tabelle ausgewiesenen Mindestunterhalts zahlt. Dies ist die höchste in der Tabelle ausgewiesene Stufe, derzeit für Kinder von sechs bis elf Jahren 679 Euro monatlich. Der Satz gilt für Netto-Einkünfte von 5.101 bis 5.500 Euro. Bei einem höheren Einkommen soll der Unterhalt "nach den Umständen des Falles" bemessen werden.

Die Tochter vermutete, dass ihr Vater über solch ein höheres Einkommen verfügt. Sie verlangte von ihm daher Auskunft über seine Einkünfte. Der Vater lehnte dies ab. Er zahle bereits den Unterhaltshöchstsatz für sein Kind und müsse daher seine Einkünfte nicht mehr offenlegen.

Auskunftspflicht des Vaters

Der BGH verpflichtete den Vater jedoch zur Auskunft über sein Einkommen. Zwar zahle er bereits 160 Prozent des Mindestunterhalts, bei einem in der Düsseldorfer Tabelle ausgewiesenen obersten Einkommen von derzeit 5.500 Euro monatlich. Verdiene der unterhaltspflichtige Elternteil mehr, müsse er aber mehr zahlen. Allerdings deckelten die Karlsruher Richter erstmals auch die mögliche Unterhaltszahlung von besonders wohlhabenden Elternteilen. Danach könne hier der Vater bis zu einer Einkommensgrenze von 11.000 Euro auch zu höherem Kindesunterhalt verpflichtet sein. Bei einem Kind zwischen sechs und elf Jahren fielen so monatlich bis zu 1.153 Euro Unterhalt an. Darüber hinausgehende Einkünfte führten dann jedoch nicht mehr zu höheren Unterhaltszahlungen.

Doch selbst dann sei der unterhaltspflichtige Elternteil zur Auskunft über sein Einkommen verpflichtet, betonten die Karlsruher Richter. Denn im Einzelfall könnten bei anfallenden Mehrbedarfen - etwa für Hortkosten - doch noch höhere Unterhaltszahlungen fällig werden.

Az.: XII ZB 499/19



Bundesgerichtshof

Lebenslange Haft wegen versuchten Mordes an Frühchen bestätigt



Eine frühere Kinderkrankenschwester des Uniklinikums Marburg muss nun endgültig wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung von drei Frühchen lebenslang in Haft. Der Bundesgerichtshof (BGH) erklärte in einem am 12. November bekanntgegebenen Beschluss die vom Landgericht Marburg verhängte Gefängnisstrafe für rechtmäßig und wies die Revision der Frau als unbegründet zurück.

Die Angeklagte arbeitete als Kinderkrankenschwester auf der neonatologischen Intensivstation des Uniklinikums Marburg. Nach den Feststellungen des Landgerichts verabreichte sie zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 unter anderem drei Frühchen ärztlich nicht verordnete Beruhigungs- und Narkosemittel, um die Säuglinge in einen lebensbedrohlichen Zustand zu bringen.

Beruhigungsmittel verabreicht

Anschließend beabsichtigte sie, zur "Befriedigung ihres narzisstischen Bedürfnisses nach Anerkennung" sich mit Rettungsbemühungen hervorzutun. Bei dem ersten Kind hatte sie nur eine geringe Dosis der Beruhigungsmittel verabreicht. Das Kind starb schließlich an einer vorher bestehenden Grunderkrankung.

Das zweite Frühchen geriet dagegen in einen komatösen Zustand. Beim dritten Säugling verabreichte die Kinderkrankenschwester nach Überzeugung des Landgerichts gleich dreimal die Medikamente und brachte es in konkrete Lebensgefahr. An allen Rettungsmaßnahmen des von ihr alarmierten Klinikpersonals hatte sich die Angeklagte beteiligt, ohne jedoch die Vergiftung der Kinder offenzulegen.

Das Landgericht verurteilte die Frau schließlich wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die dagegen eingelegte Revision der Frau wies der BGH zurück. Das Urteil ist nun rechtskräftig.

Az.: 2 StR 130/20



Arbeitsgericht

Abgelehnte Kurzarbeit kann zu Änderungskündigung führen



Beschäftigte sollten in der Corona-Krise die Einführung von Kurzarbeit nicht einfach von der Hand weisen. Andernfalls kann ein Arbeitgeber, der in wirtschaftliche Bedrängnis geraten ist, eine Änderungskündigung aussprechen, so dass der Arbeitsvertrag die Kurzarbeit festschreibt, entschied das Arbeitsgericht Stuttgart in einem 13. November veröffentlichten Urteil.

Im konkreten Fall war eine Personaldisponentin einer Leiharbeitsfirma vor Gericht gezogen. Die Frau arbeitete zuletzt im Bereich "Soziales und Pflege" und koordinierte den Einsatz von Leiharbeitern in Kindergärten und Kitas. Mit den Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mussten jedoch Schulen und Kindergärten zeitweise weitgehend schließen. Leiharbeiter wurden dort nicht mehr benötigt.

Erheblicher Arbeitsausfall

Der Arbeitgeber der Klägerin beantragte daher bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) am 2. April Kurzarbeit. Vier Tage später wurde die Beschäftigte bis zum 5. August krankgeschrieben. Die BA genehmigte die Kurzarbeit. Die erkrankte Personaldisponentin lehnte ihre Zustimmung jedoch ab. Daraufhin sprach ihr Arbeitgeber eine fristlose Änderungskündigung aus. Danach wurde das bisherige Arbeitsverhältnis gekündigt und der Frau gleichzeitig ein neues Arbeitsverhältnis angeboten, nach dem der Arbeitgeber berechtigt ist, bis Ende Dezember 2020 Kurzarbeit anzuordnen.

Die Klägerin hielt die Änderungskündigung für unwirksam. Sie bestritt die wirtschaftlich schwierige Situation ihres Arbeitgebers.

Doch die betriebsbedingte außerordentliche Änderungskündigung ist gerechtfertigt, urteilte das Arbeitsgericht. Es sei zu einem erheblichen Arbeitsausfall gekommen, so dass ein "wichtiger Grund" für eine fristlose Änderungskündigung vorlag. Diese sei auch verhältnismäßig gewesen, da für den Arbeitgeber kein milderes Mittel als Alternative bestand. Die fristlose Änderungskündigung habe zudem dem Zweck gedient, überhaupt erst einmal die Grundlage für Kurzarbeit und damit für den Erhalt von Kurzarbeitergeld zu schaffen. Die fristlose Änderungskündigung sei damit wirksam.

Az.: 11 Ca 2950/20



Sozialgericht

Jobcenter muss Kosten für Konfirmationsfeier nicht bezahlen



Hartz-IV-Bezieher können für die bei einer Konfirmationsfeier anfallenden Kosten keinen Zuschuss vom Jobcenter erhalten. Es handelt sich bei den Bekleidungs- und Bewirtungskosten anlässlich einer Konfirmation nicht um einen besonderen oder atypischen Bedarf, entschied das Sozialgericht Düsseldorf in einem am 13. November veröffentlichten Gerichtsbescheid.

Im konkreten Fall beantragten eine Hartz-IV-Bezieherin und ihre Tochter die Kostenübernahme für eine Konfirmationsfeier im Mai 2019 und der dafür erforderlichen festlichen Kleidung. Es sei weder Geld für eine festliche Kleidung noch für die Feier im Restaurant vorhanden, erklärte die Mutter.

Die 15 Konfirmations-Gäste könne sie unmöglich in ihrer Wohnung unterbringen. Sie verwies darauf, dass sie ihre Tochter im christlichen Glauben erziehen und ihr die christlichen Werte und Tradition weitergeben wolle. Dazu gehöre eine Konfirmationsfeier. Auch für Hartz-IV-Bezieher müsse eine "angemessene Feier" möglich sein. Andernfalls drohe eine Ausgrenzung bedürftiger Personen. Dies sei mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht vereinbar.

Sparen oder Geld leihen

Das Sozialgericht lehnte den gewünschten Zuschuss ab. Zwar komme für Bekleidung eine Erstausstattung bei außergewöhnlichen Umständen in Betracht. Dazu zähle etwa eine Schwangerschaft und Geburt oder auch bei einem außergewöhnlichem Größenwachstum. Eine Bekleidung anlässlich einer Konfirmation sei davon nicht umfasst. Dieses könne aus der Regelleistung angespart werden. Notfalls sei ein Darlehen vom Jobcenter möglich.

Das Jobcenter müsse auch keinen Zuschuss für die Kommunionsfeier gewähren. Ein Mehrbedarf könne nur bei einem laufenden, dauerhaften und längerfristigem Bedarf geltend gemacht werden. Dies liege hier aber nicht vor. Die Bewirtung der Konfirmationsgäste hätte in der Wohnung der Klägerinnen - aber dann in kleinerem Rahmen - stattfinden können.

Das Grundgesetz gewährleiste zwar die ungestörte Religionsausübungsfreiheit. Ein Leistungsanspruch gehe damit aber nicht einher, befand das Sozialgericht. Kosten religiöser und kultureller Feiern würden unabhängig von der Religion und der Kultur eines Hartz-IV-Beziehers daher nicht vom Jobcenter übernommen. Die Klägerinnen müssen sich auf eine "bescheidene Familienfeier" verweisen lassen.

Az.: S 15 AS 2919/19



Verwaltungsgericht

Abzuschiebende Ausländer haben Recht auf Nachtruhe



Ausländer, die abgeschoben werden sollen, dürfen in der Regel nicht zu nachtschlafender Zeit von den Behörden aufgesucht werden. Dies entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf in einem am 17. November bekanntgegebenen Beschluss und untersagte damit das Vorgehen des Ausländersamtes Duisburg, das anlässlich einer geplanten Abschiebung um 4.30 Uhr eine Wohnung durchsuchen wollte. Das Aufenthaltsgesetz lasse solche Vollstreckungsmaßnahmen zur Nachtzeit nur ausnahmsweise zu, erklärte die 7. Kammer des Verwaltungsgerichts.

Nach den heutigen Lebensgewohnheiten sei zumindest die Zeit zwischen 21 und 6 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen. Die Durchsuchung einer Wohnung sei zudem nicht allein schon dann erforderlich, wenn eine dem Ausländer gesetzte Ausreisefrist abgelaufen sei. Erforderlich seien darüber hinausgehende Umstände - etwa die Erklärung des Ausländers, nicht freiwillig ausreisen zu wollen. Überdies müsse der zu ergreifenden Person dargelegt werden, warum diese ausreisepflichtig sei und keine zwingenden Duldungsgründe vorlägen.

Die beantragte Durchsuchung der Duisburger Wohnung zur Nachtzeit sei auch nicht ausnahmsweise zulässig, weil keine Tatsachen vorlägen, aus denen zu schließen sei, dass die Abschiebung andernfalls vereitelt würde, betonte das Gericht. Die Ausländerbehörde müsse ihre Planungen der Abschiebewege und -mittel an den rechtlichen Vorgaben ausrichten.

Gegen den Beschluss kann Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.

Az.: 7 I 32/20



Europäischer Gerichtshof

Zusätzlicher Urlaub nach Geburt nur für Mütter möglich



Frauen darf auch nach Ablauf des gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs ein zusätzlicher Urlaub gewährt werden, von dem Väter ausgeschlossen sind. Dieser Urlaub müsse dem Schutz ihrer körperlichen Verfassung nach der Schwangerschaft und der "besonderen Beziehung" zu ihrem Kind nach der Entbindung dienen, erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 18. November in Luxemburg. Sonst stünde ihm das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts entgegen, erklärte das Gericht.

In dem Fall aus Frankreich hatte sich die regionale Gewerkschaft einer Krankenkasse an die Justiz gewandt. Für die Krankenkassen-Mitarbeiter gilt ein landesweiter Tarifvertrag, wonach Müttern im Anschluss an den gesetzlichen Mutterschaftsurlaub ein zusätzlicher Urlaub zusteht. Die Gewerkschaft wollte das auch für den Vater eines Kindes durchsetzen. Der EuGH legte dazu jetzt das einschlägige EU-Recht aus. Im Lichte seines Urteils muss die französische Justiz nun den konkreten Fall entscheiden. Das EuGH-Urteil gilt darüber hinaus für derartige Fälle in ganz Europa.

Az.: C-463/19



Gerichtshof für Menschenrechte

Schweiz darf Homosexuellen nicht abschieben



Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat der Schweiz verboten, einen homosexuellen Gambier in dessen Heimat abzuschieben. Die Schweizer Behörden hätten es unterlassen zu prüfen, ob Gambia den Mann gegen Angriffe nicht-staatlicher Akteure schützen würde, erklärte der EGMR am 17. November in Straßburg. Daher verstieße die Abschiebung gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung. Die Schweiz muss dem Mann zudem 14.500 Euro für Auslagen erstatten.

Der EGMR urteilte, dass ein bloßes Verbot homosexueller Handlungen in einem Land die Abschiebung dorthin noch nicht zu einer Menschenrechtsverletzung mache. Im konkreten Fall wäre es aber eine Verletzung. Der EGMR verwies darauf, dass unabhängige Stellen festgestellt hätten, dass der gambische Staat nicht bereit sei, Angehörige sexueller Minderheiten gegen Attacken Dritter zu schützen.

Der EGMR widersprach der Schweiz in einem weiteren Punkt. Die Abschiebungsentscheidung war auch damit gerechtfertigt worden, dass die Homosexualität des Mannes in Gambia nicht publik würde. Der EGMR hielt dagegen, dass die sexuelle Orientierung ein Grundbestandteil der Identität eines Menschen sei und man von niemandem verlangen könne, sie zu verstecken.

Az.: 43987/16 und 889/19



Gerichtshof für Menschenrechte

Kein Recht auf Umgang mit nicht-leiblichem Kind



Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Klage einer Frau abgewiesen, die ein Umgangsrecht mit dem leiblichen Kind ihrer früheren Lebensgefährtin erstreiten wollte und sich dafür auf das Menschenrecht auf Achtung des Familienlebens bezog. Die französische Justiz habe das Ansinnen nicht zu Unrecht abgewiesen, weil sich gemeinsame Treffen durch den Konflikt der beiden Frauen für das Kind als traumatisch erwiesen hätten, erklärte der EGMR am 12. November in Straßburg.

Die Frauen hatten lange zusammengelebt, bevor sie die Entscheidung zur Gründung einer Familie fällten, erläuterte der EGMR. 2009 kam der Junge zur Welt, den sie bis zur Trennung 2012 gemeinsam aufzogen. Kurz darauf verbat die leibliche Mutter, bei dem das Kind geblieben war, der Ex-Partnerin den Umgang und bekam damit in Frankreich schließlich Recht. Die Justiz dort urteilte laut EGMR, dass die konflikthaften Treffen gegen das Kindeswohl seien.

Der EGMR hatte an dem Urteil nichts auszusetzen. Zwar sei die Klägerin laut französischem Recht berechtigt gewesen, Umgang mit dem Kind zu suchen, nachdem sie trotz der fehlenden leiblichen Abstammung faktisch eine familiäre Beziehung mit ihm aufgebaut habe. Bei der Frage, was daraus für den konkreten Fall folge, habe Frankreichs Justiz aber begründet gehandelt und ihren Ermessensspielraum nicht überschritten.

Az.: 19511/16




sozial-Köpfe

Diakonie

Winfried Wesemann ist neuer DEVAP-Vorstandsvorsitzender




Wilfried Wesemann
epd-bild/Bethel
Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) hat einen neuen Vorsitzenden. Die Mitgliederversammlung des diakonischen Fachverbandes wählte Winfried Wesemann zum Nachfolger von Bodo de Vries.

Winfried Wesemann (64) ist neuer Vorstandsvorsitzender des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP). Er wurde turnusgemäß von der digital abgehaltenen Mitgliederversammlung gewählt.

Wesemann ist seit dem 1. Juli 2018 Mitglied der Direktion der Stiftungen Sarepta und Nazareth in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel Bielefeld und als Geschäftsführer verantwortlich für die Betheler Altenhilfe. Er folgt auf Bodo de Vries, der seit November 2017 in der laufenden Legislatur als Vorstandsvorsitzender eingesprungen ist. De Vries geht künftig anderen Verpflichtungen nach, wird aber weiter dem Vorstand angehören.

Wesemann ist seit 2010 im Verband aktiv. Seit 2015 engagierte er sich als Vorsitzender des Fachausschusses stationäre Altenhilfe im Vorstand, seit 2017 ist er stellvertretender Vorsitzender des diakonischen Fachverbandes.

"Die Altenhilfe und Pflege braucht auf der Bundesebene eine starke Interessenvertretung, die neben der Bundesdiakonie die Interessen der Mitgliedseinrichtungen und der Mitarbeitenden in der Pflege vertritt", sagte Wesemann nach der Wahl. "Politik und Gesellschaft haben in den letzten Monaten erkannt, wie wichtig eine gute pflegerische Versorgung ist. Diese positive Grundstimmung müssen wir nutzen, um unsere Konzepte und Strategien zur Sicherung einer angemessenen und würdevollen Pflege umzusetzen."

Der DEVAP bündelt als Bundesfachverband die Interessen diakonischer Träger und Verbände und positioniert sich zu aktuellen Themen auf Bundesebene. Diakonische Unternehmen und Verbände repräsentieren nach eigenen Angaben über 20 Prozent der Altenarbeit und Pflege in Deutschland. Organisiert sind 1.950 stationäre Einrichtungen der Altenhilfe, über 1.400 ambulante gesundheits- und sozialpflegerische Dienste sowie mehr als 120 Altenpflegeschulen.



Weitere Personalien



Michael Schmidt wird neuer Vorstandsvorsitzender der Diakonie Düsseldorf. Der evangelische Theologe übernimmt zudem das Amt des Diakoniepfarrers. Der 56-Jährige tritt das Amt entweder zum 1. März oder zum 1. April 2021 an. Schmidt folgt auf Thorsten Nolting, der im Juni nach München gewechselt war. Die Diakonie Düsseldorf zählt eigenen Angaben zufolge mit rund 2.800 hauptamtlichen und 1.600 ehrenamtlichen Mitarbeitern zu den größten Stadtdiakonien in Deutschland. Schmidt wurde 2005 Landespfarrer für Diakonie und Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Bremen. Im Mai 2013 wurde er zum theologischen Vorstand der Stiftung Friedehorst in Bremen-Lesum berufen. Das Unternehmen befand sich zu der Zeit in einer tiefgreifenden finanziellen Krise. Schmidt sagte, er verlasse Friedehorst in der Gewissheit, dass viele große Schritte zur Zukunftssicherung geschafft seien.

Gerrit Jungk (53) wird neuer Vorstand der Baunataler Diakonie Kassel (BDKS). Der Gesundheits- und Personalexperte, der derzeit in Gesundheitseinrichtungen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe im Kreis Soest tätig ist, wird sein Amt zum 1. Februar 2021 antreten, teilte der Aufsichtsrat der BDKS mit. Jungk folgt dem langjährigen Vorstandsvorsitzenden Joachim Bertelmann, der am 1. April 2021 in den Ruhestand gehen werde. Jungk wird die Ressorts Kommunikation und Personal verantworten, kaufmännischer Vorstand bleibt Michael Conzelmann. Bei der Baunataler Diakonie sind knapp 3.000 Menschen in der Behindertenhilfe und der Suchthilfe hauptamtlich beschäftigt.

Bernd Schütze ist zum Vorsitzenden Richter am Bundessozialgericht (BSG) ernannt worden. Er übernimmt den Vorsitz des für gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Künstlersozialversicherung zuständigen Dritten Senats. Schütze, geboren 1958, ist seit 1. Juli 2007 Richter am BSG. Zunächst war er dem Dritten Senat des Gerichts zugewiesen, bevor er 2013 in den für Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen 14. Senat wechselte, dem er bis zu seiner Ernennung zum Vorsitzenden Richter, seit August 2016 als dessen stellvertretender Vorsitzender, angehörte. Schütze wurde 2018 die Honorarprofessur der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verliehen. Er ist Herausgeber eines Kommentars zum SGB X (Sozialverwaltungsverfahrensrecht und Sozialdatenschutz) und als Mitherausgeber an einem Kommentar zum SGB XI (Soziale Pflegeversicherung) und als Autor an Kommentaren unter anderem zum SGB V beteiligt.

Charlotte Klinnert (49), derzeit Vorstandsmitglied bei der Pensionskasse des Deutschen Roten Kreuzes, wurde zum Mitglied der Vorstände des Verka-Verbundes berufen. Sie tritt ihr neues Amt zum 1. März an. Klinnert folgt Ewald Stephan (65), der in den Ruhestand geht. Verka sieht sich als Partner für Menschen und Unternehmen, die Wert auf Nachhaltigkeit und Transparenz legen. Ursprünglich 1924 als Spezialversicherer für Mitarbeiter in Kirche und Diakonie gegründet, verwaltet der Verbund für etwa 50.000 Kunden rund zwei Milliarden Euro. Für kirchliche Träger übernimmt Verka die Vorsorgeverwaltung, die Verwaltung von Kapitalanlagen und weitere Verwaltungs-Dienstleistungen.

Claus-Dieter Heidecke (66) tritt am 1. Januar die Leitung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) an. Er wurde zum Nachfolger des zum Jahresende 2020 ausscheidenden Leiters des IQTIG, Christof Veit, bestellt. Heidecke hat in Regensburg und München Medizin studiert. In den Jahren 2009 bis 2011 absolvierte er einen MBA-Studiengang im Gesundheitsmanagement an der Hochschule Osnabrück. Heidecke hatte von 2001 bis 2020 den Lehrstuhl für Allgemeine und Viszeralchirurgie an der Universität Greifswald inne und leitete bis zum Jahr 2018 die Klinik für Allgemeine Chirurgie, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie. Heidecke ist unter anderem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Initiative Qualitätsmedizin (IQM) sowie Beisitzer im Vorstand des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS).

Gert Griebeling, ehemaliger Richter am Bundesarbeitsgericht (BAG), ist am 11. November im Alter von 84 Jahren gestorben. Griebeling kam 1980 vom Oberlandesgericht Koblenz zum BAG. Er wurde zunächst dem Fünften Senat zugeteilt und wechselte 1982 in den Dritten Senat. Nach seiner Ernennung zum Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht im September 1994 übernahm er die Leitung des Fünften Senats, den er bis zu seiner Pensionierung im August 2001 leitete. Griebeling hat die Rechtsprechung des BAG zur betrieblichen Altersversorgung maßgeblich mitgeprägt. Außerdem gab er der Rechtsprechung zum Mutterschutz, zur Entgeltfortzahlung und zum Arbeitnehmerstatus wesentliche Impulse.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Dezember



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

November

23.-25.11. Korntal:

Seminar "Psychisch erkrankte Menschen systemisch wahrnehmen und verstehen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

23.-25.11.:

Online-Seminar: "Digital Leadership: Führen im digitalen Wandel"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-416

30.11.-3.12.:

Online-Fortbildung: "Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

Dezember

8.-11.12.:

Online-Seminar "Führung auf Distanz - Praxiserprobte Werkzeuge für erfolgreiche Führungsleistung in verteilt arbeitenden Teams"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298-925

14.-15.12.:

Online-Fortbildung: "Sozialräumliches Arbeiten in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

14.-18.12. Filderstadt:

Fortbildung (Teil 1) "Rechtliche Grundlagen in der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0173/5105498