

Gremersdorf (epd). Das erste, was sich im Leben von Dörte Müller-Dinse änderte, war das Gefühl: Jahrelang hatte sie mit dem Gedanken gelebt, das Geld könnte am Monatsende nicht genug sein. "Dabei sind wir gar nicht arm. Es war immer genug. Aber die Sorge war trotzdem da", sagt sie. Auf einmal war die Sorge weg. Irgendwann in jenen Tagen wagte Müller-Dinse dann einen Blick auf ihr Konto: Jemand hatte ihr 1.000 Euro überwiesen. Und das würde jetzt ein Jahr lang so gehen. Jeden Monat. Sie fühlte sich befreit. "Ich habe aber erst mal nicht überlegt, was ich mit dem Geld mache. Ich wollte, dass das Gefühl bleibt."
61 Jahre ist Müller-Dinse alt, sie lebt im schleswig-holsteinischen Gremersdorf, in der Nähe der Ostsee. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie eine Werkstatt für Yachtelektrik, die mal besser und mal schlechter läuft - und die ihr ziemlich durchschnittliche Alltagssorgen bereiten. Dass sich ihr Leben und ihr Denken nun so verändert hat, lag daran, dass sie an einer Verlosung teilgenommen hat: Der Verein "Mein Grundeinkommen" will herausfinden, was es mit Menschen macht, wenn sie weniger Gedanken darüber machen müssen, ob sie ausreichend versorgt sind. Deswegen verlost er unter seinen Mitgliedern regelmäßig ein bedingungsloses Grundeinkommen, als Experiment, wie eine ganze Gesellschaft damit leben könnte.
Jeder Mensch bekommt jeden Monat einen festen Betrag vom Staat, egal, wer er ist oder was er macht: Das ist die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Seine Anhänger sagen: Es macht die Menschen frei. Kritiker wenden ein, vielleicht blieben wichtige Arbeiten liegen, einfach weil sie keiner mehr machen will. "Wir wollen ausprobieren, was passiert, wenn Menschen einfach Geld bekommen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen", sagt Jannes Bögerding von "Mein Grundeinkommen". Nach seinen Angaben verlost der Verein jeden Monat 20 Grundeinkommen, getragen von Freiwilligen, die jeden Monat einen größeren oder kleineren Betrag spenden. Derzeit sind das 145.000 Menschen. "Die Idee ist ganz einfach: Menschen geben Geld, damit andere es ausgeben können. Man vertraut dabei einem Menschen aus Prinzip."
Im Fall von Dörte Müller-Dinse war das so, dass sie sich nach einigen Wochen vom reinen Gefühl verabschiedete und das zusätzliche Geld auf ihrem Konto anrührte. Eine Investition hatte sie schon zuvor geplant, nämlich den Bau eines kleinen Ferienhauses auf ihrem Grundstück, als Altersvorsorge: "Ich hatte das überschlagen, wie viel Geld ich dafür brauche, und gehofft, dass ich damit hinkomme. Und jetzt konnte ich einfach bauen, ohne ständig über die Kosten nachdenken zu müssen." Und nicht nur das: Während des Baus ging bei ihr zu Hause die Heizungsanlage kaputt. Unter normalen Umständen hätte das den ganzen Ferienhaus-Bau gefährdet. Jetzt zahlte sie einfach die 7.000 Euro Reparaturkosten und dachte nicht weiter drüber nach. "Ich hatte einfach viel mehr Vertrauen in die Dinge. Es hat sich ein bisschen angefühlt wie Verliebtheit."
Man mag das alles profan finden, aber diese Kleinigkeiten sind es, die die Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens faszinieren: Es macht die Welt ganz normaler Menschen ein bisschen größer. "Es geht um die Erfahrung der Bedingungslosigkeit im Menschsein", hat Götz Werner das einmal genannt, Gründer der Drogerie-Kette "dm", und prominenter Fürsprecher des bedingungslosen Grundeinkommens. Deswegen geht es bei dem Konzept auch nur vordergründig um Geld - als Grundlage für ein anderes Empfinden.
Das spiegelt sich nach Ansicht des Vereins "Mein Grundeinkommen" auch in der Kooperationsbereitschaft der Gewinner wieder: Natürlich wolle man, dass diese davon erzählen, wie sie mit dem Grundeinkommen gelebt haben. "Aber man kann das nicht erwarten, denn sonst wäre es nicht mehr bedingungslos. Wir haben statt dessen das Vertrauen, dass sich viele Leute mit ihren Erfahrungen zum Beispiel vor eine Kamera stellen", sagt Johannes Bögerding. Die Erfahrung zeige, dass das geschehe.
Dörte Müller-Dinses Jahr mit dem Grundeinkommen ist inzwischen wieder vorbei. Und auch das hat sie schon gefühlt, bevor sie es verstanden hat: Irgendwann war der Gedanke wieder da, dieses: "Reicht das Geld?" Sie guckte auf ihr Konto - und das Geld war nicht mehr da: "Natürlich kann man vorher wissen, wann ein Jahr vorbei ist. Aber ich wollte das bewusst nicht an mich ran lassen, weil ich das Gefühl so genossen habe", sagt sie. Immerhin, sie weiß jetzt, wie es sich anfühlt, so zu leben. Das ist ihr geblieben.