sozial-Politik

Behinderung

Interview

Dusel: Bei Inklusion von EU-Nachbarn lernen




Jürgen Dusel
epd-bild/Christian Ditsch
Beim ersten "European Inclusion Summit" tauschten sich Behindertenbeauftragte, Betroffene und Experten aus ganz Europa aus - wegen der Corona-Pandemie nur digital. Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel erwartet dennoch wichtige Impulse für die Inklusion. Über seine Ziele und deren Umsetzung sprach er mit epd sozial.

Neben dem Themenfeld Digitalisierung wurde beim ersten "European Inclusion Summit" auch über besseren Gewaltschutz für Frauen und Kinder mit Behinderung gesprochen. Für Jürgen Dusel fehlt es hier nicht nur an Forschung, sondern auch an besonderen Unterstützungssystemen. Auch fehle noch immer ein barrierefreier Zugang zum Rechtssystem nach erlebter Gewalt. Die Fragen an ihn stellte Dirk Baas.

epd sozial: Experten und auch Verbände sind unzufrieden mit dem Fortgang der Inklusion hier in Deutschland. Nun haben Sie zu einem ersten europäischen Gedankenaustausch eingeladen. Was versprechen Sie sich davon?

Jürgen Dusel: Es ist wichtig, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. In puncto Inklusion haben wir zwar schon einiges erreicht, aber auch noch einigen Nachholbedarf. Und da gibt es in Europa einige gute Beispiele, an denen wir uns orientieren können. Deswegen habe ich den "European Inclusion Summit" initiiert, um eine Plattform zu schaffen für Austausch und Vernetzung. Es soll aber dabei nicht bleiben. Ich werde mich mit den Vertreterinnen und Vertretern für die Belange von Menschen mit Behinderungen in den Mitgliedsstaaten zusammensetzen. Und ich kann schon vorwegnehmen, dass wir einige Empfehlungen und Forderungen an die EU-Kommission haben.

epd: Deutschland muss wie alle EU-Staaten auch bis 2022 den Europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit umsetzen. Da bleibt noch viel zu tun, und die Zeit ist knapp. Was sind die wichtigsten Schritte und wo besteht der größte Nachholbedarf?

Dusel: Der "European Accessibility Act" muss bis zum 28. Juni 2022 in nationales Recht umgesetzt werden, so dass er ab dem 28. Juli 2025 angewandt werden kann. Dieser Rechtsakt bietet realistische Chancen, in der Inklusion endlich einen richtig großen Schritt weiterzukommen, denn es geht um die Verpflichtung privater Unternehmen zur Barrierefreiheit. Insbesondere im Bereich Hard- und Software, zum Beispiel von Anbietern von Geld- und Ticketautomaten oder auch Streamingdiensten. Bislang sind ja vor allen Dingen öffentliche Stellen in der Pflicht.

epd: Das reicht Ihnen aber nicht ...

Dusel: Die Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen und Produkten ist ein dickes Brett, das endlich gebohrt werden muss. Hier müssen wir allerdings aufpassen, dass kein Schmalspur-Gesetz das Ergebnis ist. Damit würden wir eine große Chance vertun im Hinblick auf unsere eigene Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Österreich zum Beispiel oder auch die USA sind hier viel weiter als wir. Wir drohen, den Anschluss zu verlieren und wertvolles Potenzial zu vergeuden, wenn wir das nicht richtig machen.

epd: Ein weiteres zentrales Thema ist der Schutz von Frauen und Kindern mit Behinderungen. Wie weit ist Deutschland hier und wie lässt sich das ambitionierte Ziel am besten erreichen?

Dusel: Ich denke, dass wir in Deutschland gute und wichtige Schritte in Richtung Gewaltschutz von Frauen und Kindern mit Behinderungen gehen. Wichtig ist zunächst einmal, das Thema überhaupt zu benennen und zu erfassen. Ein paar Zahlen: Eine Studie der Universität Bielefeld hat ergeben, dass Frauen mit Behinderungen fast doppelt so häufig wie Frauen ohne Behinderungen körperliche Gewalt erleben. Bei sexualisierter Gewalt im Erwachsenenleben sogar etwa zwei- bis dreimal häufiger als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt. Besonders betroffen sind gehörlose, blinde und körperbehinderte Frauen. Auch Kinder mit Behinderungen erfahren deutlich mehr Gewalt, auch sexualisierte Gewalt. Das ist unerträglich.

epd: Was ist zu tun?

Dusel: Um dieses Thema insgesamt anzugehen, brauchen wir mehrere Ansätze, angefangen bei systematischen Analysen zu bestehenden Gefährdungskontexten. Zentral ist aber auch die Aufklärung zu bestehenden Hilfs- und Unterstützungssystemen und der barrierefreie Zugang zum Rechtssystem nach erlebter Gewalt. Außerdem gibt es zu wenig barrierefreie Frauenhäuser. Extrem wichtig ist auch die Erarbeitung geeigneter Präventionsstrategien und bewusstseinsbildende Maßnahmen für Mitarbeitende in Einrichtungen und Behörden.

epd: Wie können Kinder und Jugendliche besser vor Übergriffen geschützt werden?

Dusel: Damit hier nichts dem Zufall überlassen bleibt, braucht es zunächst einmal eine übergeordnete Instanz, die systematisch und konsequent Maßnahmen ergreift, sie koordiniert und initiiert. Hier leistet das Programm des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, sehr viel. In Zukunft müssen wir noch stärker dafür sorgen, dass die Unterstützungssysteme noch mehr auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen eingestellt sind. Dazu sind wir in engem Austausch.