sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

die Corona-Krise beförderte Millionen Beschäftigte in Deutschland ad hoc ins Homeoffice. Was anfangs als vorübergehende Erscheinung gesehen und überwiegend begrüßt wurde, dauert nun schon Monate an. Und könnte womöglich die Zukunft der Büroarbeit sein. Doch längst nicht alle Heimarbeiter sind begeistert. Umfragen zeigen, dass immer mehr Beschäftigte liebend gerne ins Büro zurückkehren würden. Wie also sieht die Zukunft des Homeoffice aus? epd sozial ist der Frage nachgegangen.

Wer Schulden hat, ist dieser Tage doppelt in Not. Zu den finanziellen Problemen kommt der Umstand, dass es wegen Corona nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Beratung gibt. Die Pandemie bedroht die finanzielle Sicherheit vieler. Experten befürchten ein Welle von Überschuldeten, denn Corona lässt die Arbeitslosenzahlen ansteigen. Im Juni dieses Jahres hatten der Bundesagentur für Arbeit zufolge 2,9 Millionen Menschen keinen Job, im Vorjahr waren es 637.000 weniger.

Der EKD-Migrationsexperte Manfred Rekowski fordert im epd-Gespräch, die Bundesregierung müsse ihre gerade begonnene EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um Bewegung in die festgefahrene europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik zu bringen. Zwar könne die Problemlösung nur gesamteuropäisch gelingen, doch müsse Kanzlerin Merkel in der Asylpolitik eigene Akzente setzen, so der Theologe. Bitte lesen Sie dazu auch unseren Kommentar!

Schon lange wirbt die Volkssolidarität für eine grundlegende Sozialreform, die bedürftigen Kindern mehr Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Aus gutem Grund, denn in Ostdeutschland liegt die Armutsgefährdungsquote seit der Einheit bis heute deutlich höher als im Durchschnitt in Deutschland. Doch die Kindergrundsicherung kommt nicht voran. Warum der Verband trotzdem für sie eintritt, beschreibt Präsident Wolfram Friedersdorff in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

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Dirk Baas




sozial-Thema

Arbeit

Homeoffice für immer?




Eine Frau arbeitet in Hannover im Homeoffice.
epd-bild/Jens Schulze
Als Corona ausbrach, ermöglichten die Unternehmen quasi über Nacht Millionen Mitarbeitern Telearbeit in den eigenen vier Wänden - notgedrungen. Für viele könnte das die Zukunft der Büroarbeit sein. Doch die schöne neue Arbeitswelt hat noch ungeahnte Tücken - das weiß nicht nur der DGB.

War das Homeoffice bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in vielen Branchen noch eher selten, so könnte der jetzige Ausnahmezustand mit Millionen "Heimarbeitern" zur Regel werden - verbunden allerdings mit zahlreichen Problemanzeigen, etwa beim Arbeitsschutz. Doch eine Mehrheit der Telearbeiter will ohnehin lieber heute als morgen wieder zurück ins Büro. Das, was sich derzeit in Deutschlands Arbeitswelt tut, ist ein riesiges Sozialexperiment - mit durchaus offenem Ausgang.

"Homeoffice ist die Zukunft der Arbeitswelt", sagen die Zukunftsforscher Daniel Dettling und sein Bruder Thomas J. Dettling. Es gehe künftig "um mehr Selbständigkeit, um unternehmerisches Mitgestalten und um die Entfaltung aller Potenziale". Dazu, so die Experten, müssten Mitarbeitern in "agilen Teams" maximale Freiräume gegeben werden. Das, so betonen die Brüder, setze jedoch ein völlig anderes Führungsverständnis von Vorgesetzten voraus: "Das hat etwas mit 'loslassen' zu tun."

So eindeutig positiv sieht die Soziologin Bettina Kohlrausch, neue Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, die Beschäftigung daheim nicht. "Die Arbeit im Homeoffice kann die Autonomie der Beschäftigten erweitern oder im Gegenteil zu mehr Kontrolle führen." Und sie betont, dass das Homeoffice "der zunehmenden Kontrolle, Intensivierung und Entgrenzung der Arbeit Vorschub leistet".

Zwischen neuer Freiheit und mehr Stress

Damit benennt die Expertin die beiden Pole, zwischen denen sich die Bewertung von Vor- und Nachteilen der Telearbeit aktuell bewegt: dem Zugewinn an individueller Freiheit einerseits und dem wachsenden Stress wegen immerwährender Erreichbarkeit, tendenziell längerer Arbeitszeiten und dem Verwischen der Grenzen zwischen "Home" und "Office" auf der anderen Seite.

Betroffen sind Millionen von Beschäftigten. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stieg im April die Zahl der Heimarbeiter von 12 auf 35 Prozent aller Beschäftigten. Im Mai lag deren Zah bei 44,6 Millionen.

Viele, die zunächst begeistert ihren Laptop auf der Couch aufgeklappt oder den PC auf den Küchentisch gestellt haben, betrachteten die Verbannung aus dem Büro zunächst als willkommene Abwechslung. Dabei, so scheint es, hatten sie die negativen Folgen wie die soziale Isolation, fehlenden "Flurfunk" und Arbeitsschutz oder die Gefahren der Selbstausbeutung zunächst nicht auf dem Schirm. Das ändert sich nun, wohl auch wegen eigener negativer Erfahrungen: Die Zustimmung zum Homeoffice auf Dauer bröckelt erkennbar, wie Umfragen belegen.

Erste Euphorie ist längst verflogen

Viele Heimarbeiter waren in ihrer ersten Euphorie angetan vom gefühlten Zugewinn an Lebensqualität, nicht zuletzt dadurch, dass sie unbeobachtet im Schlabberlook und auf Strümpfen ihren Job verrichten konnten. Doch nach über vier Monaten haben die Deutschen den Job in der eigenen Wohnung offenbar schon wieder satt. "Die Arbeit im Homeoffice kann dazu führen, dass die Beschäftigten vereinsamen, weil sie kaum noch im vertrauten Kollegenkreis zusammenarbeiten", sagt Aline Zucco vom Referat Genderforschung des WSI.

Inzwischen scheinen viele Büroangestellte für die Zukunft eine "hybride Arbeitsweise" zwischen Präsenz im Unternehmen und dem Homeoffice zu bevorzugen. Karl Edlbauer, Geschäftsführer der Stellenbörse Hokify, sagte der FAZ: "Es wird sich eine Mischform einpendeln, die je nach Funktion und Branche unterschiedlich sein wird."

Auch der Arbeitswissenschaftler Axel Haunschild aus Hannover sieht für die Zukunft keine virtuelle Arbeitsgesellschaft: "Es wird viel mehr Hybridlösungen geben, wo man einen Teil der Arbeit im Büro verbringt, einen Teil zu Hause."

Der Psychologe und Marktforscher Stephan Grünwald hat die Corona-Folgen genau beobachtet: "Einige Arbeitnehmer erlebten eine Art Vorhölle: Homeoffice, Homeschooling, Kinderbetreuung, enge Lebensverhältnisse, Existenzängste, Überforderung. Andere beschreiben diese Zeit als wahre Glückseligkeit: Da wurde neben der Arbeit gegärtnert, getöpfert, man genoss die Entschleunigung und das Leben im Corona-Biedermeier."

Jetzt beginnt laut Grünwald die dritte Phase. Unternehmen bemühten sich, zur Normalität zurückzukehren. Aber: "Wer den Lockdown als eine Phase der Entspannung erlebt hat, möchte dieses Lebensgefühl nur ungern wieder aufgeben."

Jeder Zweite sehnt sich nach Rückkehr ins Büro

Umfragen spiegeln indes eine andere Sicht. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov berichtet, etwa jeder zweite Beschäftigte (47 Prozent), der wegen der Corona-Krise im Homeoffice ist, will so bald wie möglich an den Arbeitsplatz zurückkehren. Männer wollen deutlich häufiger zurück ins Unternehmen (52 Prozent) als Frauen (41 Prozent), wie aus der Erhebung hervorgeht.

Und wie sieht Experte Grünwald die Zukunft? "Im aktuellen Change-Prozess liegt eine riesige Chance für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer." Denn wenn Mitarbeiter im Homeoffice effizienter arbeiten könnten als im Büro, dann freue sich auch der Arbeitgeber über diesen Produktivitätszuwachs. Doch ist das wirklich so?

Dass sich am heimischen Schreibtisch effektiver arbeiten lässt als im Büro darf bezweifelt werden. Einer Studie der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität zufolge gaben Telearbeiter einen selbst empfundenen Rückgang ihrer Produktivität um durchschnittlich rund zehn Prozent an.

40 Prozent schaffen daheim weniger

Laut DIW arbeitet nur jeder zehnte Befragte zuhause mehr und besser. 40 Prozent machen die gegenteilige Erfahrung: Sie schaffen weniger, was auch mit der individuellen Situation zu tun hat. Wer sich auch um Kinder kümmern muss, ist massiv belastet.

Gleichwohl betont Experte Grünwald: "Wir werden in den nächsten Monaten sehen, dass sich neue Formen der Zusammenarbeit etablieren, weil nicht jeder mehr seinen festen Platz im Büro einnimmt." In Bürokomplexen würden freie Flächen entstehen, die neu genutzt werden könnten - zum Beispiel für Kreativräume oder Stillarbeitsplätze.

Der Wille zu Veränderungen in der Arbeitsorganisation scheint vorhanden zu sein: Nach einer noch nicht veröffentlichten Umfrage des Fraunhofer Instituts und der Deutschen Gesellschaft für Personalführung erklärten 89 Prozent der Unternehmen, Homeoffice lasse sich umsetzen, ohne dass daraus Nachteile entstünden. Und: Knapp über die Hälfte (54 Prozent) der Unternehmen in Deutschland wollen einer Umfrage des ifo Insituts zufolge Homeoffice dauerhaft stärker etablieren. "Die Coronakrise könnte einen dauerhaften Schub fürs Homeoffice bedeuten", sagte Oliver Falck, Leiter des ifo Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien.

Gewerkschaften hoffen auf Heils Gesetz

Die Gewerkschaften sehen für die Zukunft noch jede Menge Regelungsbedarf, allem voran beim Arbeitsschutz. "Die größte Gefahr des Homeoffice stellt die Entgrenzung und die ständige Erreichbarkeit dar. Das bedeutet, dass durch die Arbeit von zu Hause aus große Gefahr besteht, dass der Acht-Stunden-Tag, Pauseregelungen und Höchstarbeitszeiten überschritten werden", sagte Aline Zucco. Und sie verweist auf eine eigene Umfrage vom April zur Akzeptanz des Homeoffice: "Die Arbeit von zu Hause aus ist ein Prozess, der Zeit braucht, und an den sich Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer gewöhnen müssen."

Auch Arbeitswissenschaftler Haunschild fordert klare Regeln für die Arbeit im Homeoffice. "Ein zurück in die Zeit vor Corona wird schwierig." Allerdings müssten Bedingungen neu ausgehandelt werden. In vielen Unternehmen gebe es keine klaren Regeln für das Homeoffice. "Im Moment bewegen wir uns oft in einer Grauzone", sagt Haunschild. Es bestehe die Gefahr, dass vieles, was zum Beispiel zum Arbeitsschutz ausgehandelt wurde, jetzt über Bord geworfen werde.

DGB beklagt Wildwuchs

Die Gewerkschaften hoffen nun auf Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der bis zum Herbst ein Gesetz zum Recht auf Homeoffice vorlegen will. "Was nicht geht, ist die vollkommene Willkür und der Wildwuchs, den es durch die Corona-Pandemie beim Homeoffice immer noch gibt", betont Anja Piel, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte sie, es brauche "dringender denn je einen Rechtsrahmen für mobiles Arbeiten und Homeoffice". Dazu gehöre ein Rechtsanspruch auf selbstbestimmtes, freiwilliges mobiles Arbeiten, den der Arbeitgeber nur aus dringenden betrieblichen Gründen ablehnen kann.

Piel betont, dass Stressbelastungen durch ausufernde Arbeitszeiten und verkürzte Ruhezeiten in Folge ständiger Erreichbarkeit nachweislich machten. "Auch im Home Office brauchen die Beschäftigten deshalb zum eigenen Schutz eine verlässliche Arbeitszeiterfassung. Das Recht auf Abschalten und Nichterreichbarkeit muss auch für den Arbeitsplatz zu Hause gelten."

Außerdem dürfe mobiles Arbeiten nicht als Vorwand dienen, Arbeitsplätze im Büro einfach wegzurationalisieren. "Der Betrieb ist als Ort der sozialen Begegnung ebenso unverzichtbar wie als Raum für betriebliche Mitbestimmung. Das ist eine wichtige Erfahrung aus der Zeit des Social Distancing."

Dirk Baas


Arbeit

Expertin: Gefahr durch fehlende Sozialkontakte



Die Sozialökonomin und Volkswirtschaftlerin Aline Zucco warnt vor einer drohenden Entgrenzung der Arbeit im Homeoffice. Auch die Tatsache, dass es bei der Ausweitung der Heimarbeit kaum noch direkte soziale Kontakte der Beschäftigten untereinander geben würde, verändere die Arbeitswelt nachhaltig, sagte die Leiterin der Geschlechterforschung am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Frau Zucco, wo drohen den Beschäftigten aus Ihrer Sicht im Homeoffice Gefahren?

Aline Zucco: Ich denke, es ist die Entgrenzung und die ständige Erreichbarkeit dar. Das bedeutet, dass durch die Arbeit von zu Hause aus große Gefahr besteht, dass der Acht-Stunden-Tag, Pausenregelungen und Höchstarbeitszeiten überschritten werden.

epd: Gibt es noch andere spürbar negative Folgen?

Zucco: Ja. Die Arbeit daheim kann auch dazu führen, dass die Beschäftigten vereinsamen, weil sie kaum noch im vertrauten Kollegenkreis zusammenarbeiten.

epd: Wie bewerten die Beschäftigten die aktuelle Situation der Arbeit in den eigenen vier Wänden?

Zucco: Dazu gibt es Erkenntnisse aus einer Umfrage, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung Mitte April vorgenommen wurde. 7.677 Personen wurden zu ihrer Erwerbstätigkeit befragt. Sie schätzen die Situation sehr gemischt ein, aber grundsätzlich sind die Befragten im Homeoffice relativ zufrieden. Zwar stellen sich die Entgrenzung so wie die fehlende persönliche Kommunikation als die zentralen Probleme des Homeoffice dar, aber es kristallisieren sich auch positive Aspekte des Homeoffice wie zum Beispiel die freiere Gestaltung der Arbeitszeit heraus.

epd: Wie lassen sich die Ergebnisse unter dem Strich zusammenfassen?

Zucco: Insgesamt findet sich nicht nur in unserer Studie, dass die Arbeit von zu Hause aus ein Prozess ist, der Zeit dauert und an den sich Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen noch gewöhnen müssen. Andere Untersuchungen deuten außerdem daraufhin, dass insbesondere Beschäftigte mit langen Pendelzeiten das Arbeiten im Homeoffice als sehr angenehm wahrnehmen.



Arbeit

Hintergrund: Homeoffice ist kein rechtsfreier Raum



Der Begriff "Homeoffice" hat derzeit Hochkonjunktur, auch weil mit dem Beginn der Corona-Pandemie unvermittelt Millionen Beschäftigte ad hoc in die Heimarbeit geschickt wurden. Laut Definition handelt es sich dabei um "Telearbeit, eine flexible Arbeitsform, bei der die Beschäftigten ihre Arbeit vollumfänglich oder teilweise aus dem privaten Umfeld heraus ausführen".

Schon hier wird deutlich: Es geht weniger um das Ausstatten eines Arbeitszimmer im eigenen Heim, sondern um einen unternehmerischen Organisationsansatz zur Flexibilisierung der Arbeit. In diesem Sinne wird der Begriff "Telearbeit" weitgehend synonym verwendet, schreibt das Software-, Beratungs- oder Weiterbildungsunternehmen Haufe auf seiner Homepage.

Grundsätzlich lassen sich drei Formen unterscheiden. Bei der Teleheimarbeit verrichtet ein Mitarbeiter seinen Job in Vollzeit "aus dem Homeoffice". Er arbeitet also ausschließlich von Zuhause aus.

Bei der sogenannten alternierenden Telearbeit, der verbreitetsten Form der Telearbeit, steht dem Mitarbeiter sowohl ein Arbeitsplatz im Unternehmen als auch ein Homeoffice zur Verfügung. Bei der mobilen Telearbeit folgt der Arbeitsplatz quasi dem Arbeitnehmer.

Gleiche Bestimmungen gelten

Das Homeoffice bewegt sich keineswegs im rechtsfreien Raum, wie oft fälschlich angenommen wird. Es bestehen sehr wohl zahlreiche Vorgaben aus den Bereichen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, die bei der Nutzung des Homeoffice zu beachten sind.

So sieht etwa die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) vor, dass der Arbeitgeber für die Büroausstattung zuständig ist, wenn mit einem Mitarbeiter eine wöchentliche Arbeitszeit am Telearbeitsplatz vereinbart ist. Dabei gelten nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) dieselben Vorschriften zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz wie für Arbeitsplätze an der Betriebsstätte.

Gesetz von Heil soll Klarheit bringen

Hierzulande haben die Mitarbeiter keinen Anspruch auf ein Homeoffice. Noch nicht, muss man sagen, denn Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das ändern. Grundsätzlich gelten auch für den heimischen Arbeitsplatz dieselben arbeitsrechtlichen Vorgaben, die auch im Betrieb gelten. So sieht das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) etwa eine Ruhezeit von elf Stunden vor.

Experten und Gewerkschaften raten Arbeitgebern und Mitarbeitern zu klare Vereinbarungen in Sachen Heimarbeit. Generell gilt laut DGB: "Der Arbeitgeber darf das Arbeiten von Zuhause weder einseitig anweisen, noch darf er ohne entsprechende Grundlage eine Vereinbarung zum Homeoffice - sofern es eine gab - einfach beenden. Er muss sich bei einer getroffenen Vereinbarung nach den Regeln, Fristen und Bedingungen richten, die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zum Beispiel in einer Betriebsvereinbarung festgehalten worden sind."




sozial-Politik

Corona

Studie: Psyche von Kindern besonders belastet




Die Wassertorstraße im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wird zur Spielstraße.
epd-bild/Rolf Zöllner
Die psychische Belastung von Kindern durch die Corona-Pandemie ist deutlich höher als Experten bislang vermutet haben. Vor allem arme Familien seien betroffen, heißt es in einer Studie. Helfen können Gespräche und eine feste Tagesstruktur, betonen Experten.

Die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen hat sich während der Corona-Pandemie deutlich erhöht. Betroffen seien vor allem Kinder aus armen Familien und mit ausländischen Wurzeln, sagte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Ulrike Ravens-Sieberer, Professorin an der Hamburger Uni-Klinik Eppendorf, am 10. Juli bei der Vorstellung der COPSY-Studie (Corona und Psyche). 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen fühlten sich psychisch stark belastet, vor der Pandemie war es nur etwa ein Drittel.

Man habe mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens gerechnet, sagte Ravens-Sieberer: "Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht." Die Grünen sehen in der Studie ein Indiz für dringenden Handlungsbedarf.

27 Prozent der Kinder und Jugendlichen sowie 37 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass es mehr Streit in der Familie gab. Das ist laut Ravens-Sieberer dann häufiger der Fall, wenn die Familien nur wenig Platz haben und eine feste Tagesstruktur fehlt. Fast jedes dritte Kind (31 Prozent) zeigt ein Risiko für psychische Auffälligkeiten, vorher war es nur jedes fünfte (18 Prozent). Bei 24 Prozent gab es Anzeichen für eine Angststörung, vorher waren es nur 15 Prozent. Bislang sei aber nicht zu beobachten, dass dies zu häufigeren klinischen Behandlungen geführt habe, sagte die Psychiaterin.

"Lage nicht dramatisieren"

Ravens-Sieberer warnte auch vor einer Dramatisierung. Viele Kinder und Jugendliche hätten Ressourcen, um sich zu stabilisieren. Wichtig sei dafür ein gutes Klima in den Familien. Eltern sollten sich Zeit für Unternehmungen und Gespräche nehmen, eine gute Tagesstruktur einrichten und ihren Kinder das Gefühl vermitteln, dass sie gebraucht werden.

Die Corona-Krise hat laut Studie auch die allgemeine Gesundheit beeinträchtigt. Kinder und Jugendliche ernähren sich ungesünder, treiben weniger Sport und nehmen zu. Dazu kommen Einschlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen. Zwei Drittel gaben an, dass sie das Smartphone häufiger nutzen. Dies ist nach Einschätzung von Ravens-Sieberer nicht unbedingt von Nachteil, weil damit auch soziale Kontakte aufrecht erhalten werden.

Sollte es zu einer zweiten Corona-Welle kommen, müssten die Kinder und Jugendlichen stärker in den Fokus rücken, forderte die Kinderpsychiaterin. Gerade belastete Familien müssten mehr Unterstützung beim Homeschooling erfahren. Auch sollten Möglichkeiten gefunden werden, wie sich Kinder in kleinen Gruppen treffen können.

Ziel der COPSY-Studie ist es nach Angaben der Uni-Klinik Eppendorf, die Kinder und Jugendlichen selbst zu Wort kommen zu lassen. Befragt wurden zwischen dem 26. Mai und 10. Juni 1.040 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren und mehr als 1.500 Eltern von Kindern zwischen 7 und 17 Jahren per Online-Fragebogen. Zum Vergleich mit der Zeit vor Corona nutzten die Forscher Daten aus anderen bundesweiten Studien.

Maria Klein-Schmeink, Sprecherin der Grünen für Gesundheitspolitik, sagte, die Daten zeigten Handlungsbedarf. Ein schneller Zugang zu Hilfe und Therapie müsse sichergestellt werden. "Das bedeutet beispielsweise auch eine höhere Flexibilität für die Art der Hilfeleistung, also ob telefonisch oder auch per Videotherapie. Es hat sich gezeigt, dass die niedergelassenen Psychotherapeutinnen sich im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten sehr bemüht haben, ihre Patientinnen und Patienten zu erreichen."

Schnelle Hilfe verhindert chronische Erkrankung

Auch der Zugang zu Institutsambulanzen muss laut der Grünen erleichtert werden. Zugleich müssen die Wartezeit auf eine reguläre Therapie verkürzt und mehr Kinder-und Jugendpsychotherapeutinnen zugelassen werden: "Denn schnelle Hilfe und Therapie verhindern, dass psychische Belastungen zu chronischen Erkrankungen führen. Schon in normalen Zeiten sind die Hürden und insbesondere die Wartezeiten zu hoch. Dies rächt sich nun erst recht."

Insgesamt zeigen die Zahlen, dass Menschen in engen Wohnungen und ohne ihre regulären Alltagsbezüge in den Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen die coronabedingten Einschränkungen sehr viel schlechter weg stecken können. Deshalb ist bei allen Schutzmaßnahmen immer darüber nachzudenken, wie sie sich auf Kinder und Jugendliche gerade aus sozial benachteiligten Gruppen auswirken."

Thomas Morell


Corona

Vor allem Menschen mit geringem Einkommen spüren Folgen der Krise




Eine ehemalige Obdachlose in Frankfurt am Main (Archivbild)
epd-bild/Peter Jülich
Die finanziellen Folgen der Corona-Pandemie machen sich laut einer Umfrage bei immer mehr Menschen bemerkbar. Vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen seien betroffen, warnt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung.

Die Folgen der Corona-Krise bereiten den Menschen in Deutschland zunehmend finanzielle Probleme. Laut einer am 10. Juli von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf veröffentlichten Umfrage ist in den vergangenen Monaten der Anteil der Menschen gestiegen, die die Folgen der Krise im eigenen Portemonnaie spüren. Im April sagten 20 Prozent der Befragten, die Epidemie habe sich bereits negativ auf ihr persönliches Einkommen ausgewirkt, im Juni waren es 26 Prozent.

Zugleich ist aber die Quote der Menschen gesunken, die sich Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft oder ihren Job machen: So hatten sich im April noch 70 Prozent der Befragten Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation gemacht, im Juni waren es 58 Prozent. Erfolge bei der Eindämmung der Epidemie in Deutschland und die Krisenpolitik von Bund und Ländern würden offensichtlich positiv wahrgenommen, hieß es.

Verschärfung der sozialen Ungleichheit

Die Hans-Böckler-Stiftung warnte allerdings vor einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit in Deutschland, da vor allem Haushalte mit einem niedrigen Einkommen von finanziellen Einbußen betroffen seien. In Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 1.500 Euro berichteten 40 Prozent von Einschnitten. In der Gruppe ab 3.200 Euro monatlichem Haushaltsnettoeinkommen waren es lediglich 22 Prozent. Gleichzeitig waren die Befragten in der höchsten Einkommensgruppe auch am optimistischsten, generell von Einkommensverlusten verschont zu bleiben.

"Angesichts der enormen weltweiten Erschütterungen durch die Pandemie zeigt sich die deutsche Gesellschaft bislang vergleichsweise stabil", sagte die Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, Bettina Kohlrausch. Diese Stabilität könne allerdings "ins Kippen geraten, wenn diejenigen, die schon vorher finanziell und sozial schlechter gestellt waren, in der Krise noch weiter zurückfallen", mahnte die Soziologieprofessorin der Universität Paderborn.

Traditionelle Rollenmuster

Allgemein bessere Perspektiven in der Krise haben den Angaben zufolge Beschäftigte in Unternehmen mit Tarifvertrag und Mitbestimmung. So erhielten beispielsweise im Fall von Kurzarbeit 54 Prozent der Befragten mit Tarifvertrag eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, während es ohne Tarifvertrag nur 31 Prozent waren. In Betrieben mit Betriebsrat existierten zudem deutlich häufiger feste Regeln für das Homeoffice als in Betrieben ohne Mitbestimmung.

Die Einschränkungen im Berufsleben haben der Umfrage zufolge außerdem dazu geführt, dass die traditionelle Arbeitsteilung in den Familien wieder Einzug hält. 55 Prozent der befragten Männer gaben an, ihre Partnerin würde den größeren Anteil schultern. Bei den Frauen waren es sogar 62 Prozent, die erklärten, sie würden die Kinderbetreuung in erster Linie selbst übernehmen. "Die Befürchtung bleibt, dass sich Mütter und Väter unter dem Druck der Krise wieder an traditionellere Rollenmuster gewöhnen", sagte Kohlrausch.

Das Meinungsforschungsinstitut Kantar Deutschland befragte zwischen dem 18. und 29. Juni mehr als 6.300 Erwerbstätige in Deutschland. Die Online-Befragung war der zweite Teil einer Umfrage, für die bereits Anfang April gut 7.700 Erwerbstätige interviewt worden waren.

Jana Hofmann


Corona

Zweiter Teil der Corona-Kinderstudie gestartet



Der zweite Teil der baden-württembergischen Corona-Kinder- und Jugendstudie ist an den Universitätskliniken in Ulm, Heidelberg, Tübingen und Freiburg gestartet. In dem Anschlussprojekt der im April und Mai durchgeführten Studie werde untersucht, wie Kinder und Jugendliche im Unterschied zu Erwachsenen auf das Coronavirus SARS-CoV2 reagieren, teilte die Uniklinik Ulm am 13. Juli mit.

Professor Klaus-Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Ulm, erläuterte, dass Kinder seltener und in der Regel leichter von der vom Virus ausgelösten Erkrankung COVID-19 betroffen sind. Nun werde der Antikörper-Status untersucht und das Immunsystem im Hinblick auf die Virusabwehr. Außerdem wird nach der Konzentration des Eiweißstoffs ACE2 im Blut der Studienteilnehmer gesucht. Die Forscher suchen nach Belegen, ob und wie das Eiweiß in Zusammenhang steht mit dem Infektionsrisiko und dem Schweregrad der Erkrankung.

An der aktuellen Studie nehmen Familien mit Kindern und Jugendlichen im Alter von null bis siebzehn Jahren teil, bei denen es mindestens eine nachgewiesene Coronavirus-Erkrankung gab. Mit ersten Ergebnissen dieser Corona-Kinderstudie, Teil B, rechnet Debatin in drei bis vier Monaten.



Corona

Land bittet Freiwillige aus Gesundheitsberufen um Registrierung



Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat im Kampf gegen die Corona-Pandemie Fachkräfte aus allen Gesundheitsberufen aufgerufen, sich online im neuen Freiwilligenregister des Landes zu registrieren. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) appellierte am 13. Juli in Düsseldorf "an alle, die sich vorstellen können, im Fall der Fälle den Krisenstäben vor Ort zu helfen, sich zu registrieren". Die Corona-Pandemie zeige, wie entscheidend es sei, im Falle einer epidemischen Lage bei der medizinischen und pflegerischen Versorgung gut aufgestellt zu sein.

Bereits heute leisteten die Fachkräfte in den Krankenhäusern, Arztpraxen, Heimen und Pflegediensten Außergewöhnliches, sagte Laumann. Im Blick auf künftige Herausforderungen müsse sich das Gesundheitssystem darauf vorbereiten, "die bestehenden Strukturen zu stärken und zusätzliche Versorgungssstrukturen zu schaffen". Mit der Registrierung sei keine Verpflichtung verbunden, betonte der Gesundheitsminister. Es gehe zunächst "nur um eine grundsätzliche Bereitschaft zur Unterstützung".

Das Freiwilligenregister wird im Auftrag des Landes durch die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe geführt. Eintragen können sich Ärzte, Pflegekräfte, medizinische Fachangestellte und Angehörige anderer Gesundheitsberufe, aber auch Verwaltungskräfte aus dem Gesundheitswesen. Wenn bei einer epidemischen Lage vor Ort Bedarf an personeller Unterstützung besteht, erhalten die Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen durch die Krisenstäbe Informationen aus der Datenbank.



Flüchtlinge

Rekowski: Sterben im Mittelmeer stoppen und Krisenregionen helfen




Manfred Rekowski beim Besuch der "Sea-Watch 3" auf Malta 2018
epd-bild/Heiko Kantar
Menschen aus Seenot retten, Flüchtlinge in der EU verteilen und Krisenregionen unterstützen, um Fluchtursachen zu beseitigen: Der EKD-Migrationsexperte Manfred Rekowski fordert im epd-Gespräch, die Bundesregierung müsse ihre gerade begonnene EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um Bewegung in die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik zu bringen.

Flucht sei ein Weltproblem, "deshalb ist ein abgestimmtes europäisches Handeln notwendig", sagte Rekowski, der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzende der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dem Evangelischen Pressedienst (epd) ist. Die Fragen stellte Ingo Lehnick.

epd sozial: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat zum Auftakt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Europas Verantwortung in der Welt als ein zentrales Thema genannt. Was erwarten Sie mit Blick auf die Migrations- und Flüchtlingspolitik vom deutschen EU-Ratsvorsitz?

Manfred Rekowski: Ich habe als Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) immer wieder darauf hingewiesen, dass das Thema Flucht ein Weltproblem ist. Deshalb ist ein abgestimmtes europäisches Handeln notwendig. Dass die deutsche Ratspräsidentschaft hier Bewegung erzeugen will, die humanitäre Lösungen erleichtert und ermöglicht, ist ein sehr positives Vorzeichen. Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat sich zuversichtlich gezeigt, dass Fortschritte erzielt werden können. Am Ende wird man natürlich auf die Ergebnisse schauen müssen.

epd: Eine Kernfrage ist die Verteilung von Flüchtlingen - daran wollen sich noch immer nicht alle EU-Staaten beteiligen.

Rekowski: Es scheint in der Tat sehr schwer zu sein, in diesem Punkt Fortschritte zu erreichen. Angesichts der dramatischen Situation im Mittelmeer und in Griechenland muss aber Bewegung in dieses Thema kommen. Jedes Bemühen, humanitäre Lösungen zu ermöglichen und das Sterben im Mittelmeer zu verhindern, verdient unsere Unterstützung.

epd: Das Sterben im Mittelmeer zu verhindern heißt auch Bootsflüchtlinge zu retten. Das passiert immer seltener: Vor einigen Tagen haben die italienischen Behörden das deutsche Rettungsschiff "Sea-Watch 3" festgesetzt, angeblich wegen technischer und operativer Mängel.

Rekowski: Auch dieser jüngste Fall wirkt auf mich so, als sollte die humanitäre Aktion der Rettung von Menschen behindert werden. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass der Umgang mit den Geretteten ungeklärt ist: Wo werden sie untergebracht, wie werden sie in Europa verteilt? Hier stecken wir aktuell weiter in einer Sackgasse. Trotzdem: Ich halte es für erforderlich, dass zur Rettung von Menschen in Seenot alles Menschenmögliche geschieht.

epd: Die evangelische Kirche will sich daran mit dem zivilen Rettungsschiff "Sea-Watch 4" aktiv beteiligen, das sie maßgeblich initiiert hat. Wann soll es seine Mission starten?

Rekowski: Der Beginn der Rettungsmission hat sich Corona-bedingt verzögert. Aber wir hoffen, dass das Schiff des Bündnisses "United4Rescue" seine Aufgabe ab Anfang August wahrnehmen kann. Seenotrettung ist ja kein Selbstzweck, sondern es geht darum, Menschen, die auf der Flucht sind, vor dem Ertrinken zu bewahren. Die EKD hat deshalb sehr bewusst entschieden, sich daran aktiv zu beteiligen.

epd: Deutschland will aus griechischen Lagern einige hundert weitere behandlungsbedürftige Kinder und ihre Familien aufnehmen. Ist das ein Vorbild, das Europa braucht, oder nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Rekowski: Ich sehe noch nicht, dass sich die Situation der Menschen in den griechischen Lagern grundsätzlich geändert hat - insbesondere die Lage von besonders verletzlichen Personengruppen wie Familien, Frauen und Minderjährige. Insofern ist die Ankündigung der Bundesregierung nicht die große Lösung. Aber in humanitären Fragen ist jeder kleine Schritt und jede Einzelfall-Lösung wichtig und gut. Gleichwohl müssen wir immer wieder daran erinnern, dass das Problem deutlich größer ist und wir auch grundlegende Lösungen brauchen.

epd: EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat angekündigt, Europol und die EU-Grenzschutzagentur Frontex zu stärken - ist das der richtige Weg?

Rekowski: Ich betrachte solche Vorschläge eher zurückhaltend und skeptisch. Mit ihnen verbindet sich oft die Strategie, nicht Fluchtursachen zu bekämpfen, sondern Menschen, die auf der Flucht sind. Sie sollen daran gehindert werden, Europa zu erreichen. Das darf aber nicht unser Hauptziel sein. Sondern es geht darum, humanitäre Lösungen zu finden.

epd: Sind Sie weniger skeptisch im Blick auf den Vorschlag, Libyen, Algerien und Tunesien durch eine engere Zusammenarbeit dazu zu bringen, dass sie weniger Menschen nach Europa kommen lassen?

Rekowski: Auch dieses Ansinnen ist aus meiner Sicht kein wirklicher Beitrag zur Lösung des Weltproblems Flucht, weil es in der Regel darauf abzielt, die Flüchtlinge aus unserem Blick zu bringen und sie von Europa fernzuhalten. Das ist nicht das, was nach unserem christlichen Verständnis geboten ist. Wir müssen uns mit dem Schicksal von Menschen auf der Flucht intensiv befassen und versuchen, ihre oft erbärmliche Situation substanziell zu verändern. Da sind Europa und die Weltgemeinschaft gefragt - einzelne Mittelmeer-Anrainerstaaten kommen hier an Grenzen. Es bedarf eines grundlegend anderen Ansatzes.

epd: Was wären denn die wichtigsten Ansätze zur Lösung des "Weltproblems Flucht"?

Rekowski: Von den rund 80 Millionen Flüchtlingen, die weltweit unterwegs sind, fliehen drei Viertel in Nachbarstaaten. Das heißt, sie bleiben zunächst heimatnah. Deshalb müssten die Nachbarstaaten von Krisenländern intensiv unterstützt werden. Dort müssten Bedingungen geschaffen werden, dass sich Menschen nicht auf lebensgefährliche Fluchtwege in weiter entfernte Regionen begeben müssen.



Flüchtlinge

Kommentar

EU-Asylpolitik: Dicke Bretter und zu kurzer Bohrer



Groß sind die Erwartungen an die just übernommene deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Vielleicht zu groß, denn das Thementableau quillt bereits über. Dass es in den kommenden sechs Monaten unter deutscher Anleitung auf einem wichtigen Feld einer gemeinsamen Asylpolitik wohl keine erkennbaren Fortschritte geben wird, ist leider jetzt schon klar.

Nach der jüngsten Video-Schalte der EU-Innenminister konnte Horst Seehofer (CSU) einmal mehr keinerlei Fortschritte beim Streit über die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen vermelden, sondern verfloskelte sich. Was nicht verwundert, geht es doch seit Jahren nicht voran mit der Frage, wie mit den Flüchtlingen, die etwa auf dem Mittelmeer gerettet werden, künftig rechtssicher und solidarisch verfahren werden kann und wie sie auf die Mitgliedsländer verteilt werden.

Wer auf einen einstimmigen Beschluss aller 27 EU-Länder dazu warten wil, braucht starke Nerven - und Geduld bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Seehofer weiß das natürlich, und er hat deshalb versucht, zuvor den Druck auf die EU-Partner zu erhöhen. Es sei eine "unwürdige Situation", wenn sich Europa nicht auf eine gerechtere Verteilung der Migranten einigen könne. Dass solche Vorwürfe viel bewirken, ist kaum zu erwarten.

Seehofer ist ein Politfuchs, aber seine Strategie ist durchsichtig: Er will sich nicht vorhalten lassen, es nicht zumindest mit einem weiteren Reformvorstoß versucht zu haben: "Es ist ein sehr dickes Brett, das wir hier zu bohren haben."

Selbst kleine Forschritte kann Seehofer nicht vermelden, denn auch um die Allianz der Willigen, also jener Handvoll Staaten, die außer Deutschland weitere Flüchtlinge aufnehmen wollen, ist es merkwürdig still geworden. Statt sich führungsstark an die Spitze der Bewegung zu setzen und eine deutsche Duftmarke bei der Reform des Asylrechts zu setzen, hofft Seehofer weiter auf eine nicht mal in weiter Ferne erkennbare Solidarität der anderen EU-Staaten und den lange versprochenen Vorschlag der EU-Kommission: "Ohne Gesamtlösung bekommen wir das Problem nicht in den Griff", sagt der CSU-Mann.

Doch dieser Ansatz ist grundfalsch, ja töricht und ignorant. Man kann und darf nicht auf die Bremser in der EU wie etwa Polen, Tschechien und Ungarn warten. Jetzt ist die Zeit für einen stets gescheuten deutschen Alleingang, um einen Flüchtlingsschutz zu schaffen, der seinen Namen verdient. Hunderte Städte und Landkreise in Deutschland sind bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Hier gibt es genügend Ressourcen und auch Kompetenzen. Mehrere Bundesländer unterstützen diese Pläne. Das wäre ein bemerkenswerter und zugleich mutiger Schritt. Stattdessen bohrt Seehofer lieber weiter dicke Bretter. Dabei wird man den Verdacht nicht los, dass sein Bohrer schlicht nicht lang genug ist.

Dirk Baas


Homosexualität

Spahn: Blutspendeverbot für schwule Männer wird überprüft



Das Blutspendeverbot für schwule und bisexuelle Männer wird nach Angaben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) derzeit überprüft. Derzeit befänden sich die zuständigen Institutionen wie die Bundesärztekammer in einem Prozess, die bisherige Praxis zu überprüfen, sagte Spahn am 13. Juli in Berlin. Auch er sei diesbezüglich im Gespräch mit diesen Institutionen, um zu schauen, wie hier eine Auflösung geschaffen werden könne.

In der "Richtlinie zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Richtlinie Hämotherapie)" heißt es: "Zeitlich begrenzt von der Spende zurückzustellen sind Personen, deren Sexualverhalten ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten, wie (...) HIV bergen, für zwölf Monate." Neben "heterosexuellen Personen mit sexuellem Risikoverhalten" werden hier "Männer, die Sexualverkehr mit Männern haben", genannt.

Die Deutsche Aidshilfe kritisiert die Regelung als diskriminierend, wonach schwule und bisexuelle Männer in Deutschland nur Blut spenden dürfen, wenn sie ein Jahr lang keinen Sex mit einem Mann hatten.



Arbeit

14,5 Prozent der Langzeitarbeitslosen vermittelt



Von den 1,15 Millionen Langzeitarbeitslosen in Deutschland, die in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) als "Abgänge" verzeichnet werden, haben im vergangenen Jahr nur 14,5 Prozent eine reguläre Arbeit gefunden. Etwa 123.800 Menschen fanden dabei einen Job auf dem ersten und 42.400 auf dem zweiten Arbeitsmarkt, wie aus einer am 9. Juli bekanntgegebenen Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion hervorgeht.

Rund 24 Prozent fingen Ausbildungen oder Weiterbildungen an. Den größten Anteil hatten jedoch mit mehr als 53 Prozent die "Nicht-Erwerbstätigen", also Menschen, die in Rente gingen, arbeitsunfähig wurden oder für die Arbeitsagenturen nicht mehr erreichbar waren.

Unter den rund 1,15 Millionen Menschen, die im Jahr 2019 nicht mehr als langzeitarbeitslos registriert wurden, waren mehr als 89.000 Schwerbehinderte. Rund elf Prozent von ihnen gelang es, einen Job zu bekommen.

Chance für schwer Vermittelbare

Die AfD-Bundestagsfraktion hatte bei der Bundesregierung angefragt, wie sich das im Januar 2019 in Kraft getretene Teilhabechancengesetz bislang ausgewirkt hat. Das Gesetz soll Langzeitarbeitslosen mit Lohnzuschüssen und individueller Betreuung dabei unterstützen, wieder am Arbeitsleben teilzuhaben.

Im Zuge der "Teilhabe am Arbeitsmarkt" fanden laut der Bundesregierung rund 34.000 Menschen, die seit mindestens sechs Jahren arbeitslos waren, einen Job. Mit 68 Prozent waren die meisten 25 bis 54 Jahre alt, die anderen älter. 62 Prozent von ihnen waren männlich. Die Hälfte hatte keine abgeschlossene Berufsausbildung. Von 25.600 Menschen, die befragt wurden, hatten rund 27 Prozent einen Migrationshintergrund.

Von der "Eingliederung von Langzeitarbeitslosen" profitierten 2019 rund 10.000 Menschen. Sie waren seit mindestens zwei Jahren arbeitslos und fanden nun Arbeit. Auch hier war die Mehrheit 25 bis 54 Jahre alt und männlich. Knapp die Hälfte hatte eine schulische oder betriebliche Ausbildung. Von insgesamt 8.100 Befragten hatte ein Drittel einen Migrationshintergrund. Zugleich wurden hier rund 1.000 Arbeitsverhältnisse vorzeitig beendet. In knapp der Hälfte der Fälle hatte der Arbeitgeber gekündigt. Insgesamt waren hier zwei Drittel männlich, rund die Hälfte hatte keine abgeschlossene Berufsausbildung vor und 34 Prozent der Befragten hatten einen Migrationshintergrund.

Cristina Marina



sozial-Branche

Corona

Schuldnerberatung mit Einschränkungen




Anmeldung bei einer Schuldnerberatung
epd-bild/Werner Krüper
Rechnungen stapeln sich, Gehälter fallen aus: Die Corona-Pandemie bedroht die finanzielle Sicherheit vieler. Läuft die Situation aus dem Ruder, unterstützt die Schuldnerberatung. Einigen der besonders Gefährdeten darf aber nicht geholfen werden.

Normalerweise wäre er jetzt auf Abschlussfesten unterwegs, in Bibliotheken und in Kindergärten. In der Regel häufen sich ab dem Frühling die Anfragen, sagt Liedermacher und Entertainer Frank Bode. Dieses Jahr sei alles anders: Seit Mitte März seien seine Auftritte und damit ein großer Teil seiner Einnahmen weggebrochen. Künstlerinnen und Solo-Selbstständige gehören zu den Menschen, die infolge der Corona-Pandemie die stärksten finanziellen Einschnitte hinnehmen mussten. Ohne Rücklagen können sich schnell Schuldenberge anhäufen.

Meist sind Tipps kostenlos

Angestellte Arbeitnehmer können sich in einer solchen Situation Hilfe bei ihm und seinen Kollegen holen, sagt Thomas Bode, Leiter der Schuldnerberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Göttingen und Referent für Schuldnerberatung des AWO-Bezirksverbands Hannover. Die Beratung werde allerdings meist nur für Privathaushalte finanziert. Freischaffenden Künstlern und selbstständigen Gewerbetreibenden dürfe er "nur in den allerschlimmsten Notfällen" zur Seite stehen.

Schuldnerberater helfen meist kostenlos Einzelpersonen oder Familien, die mit Geldproblemen oder Überschuldung kämpfen. Kurzfristig geht es darum, die wichtigsten finanziellen und rechtlichen Probleme zu klären, damit Grundbedürfnisse wie die Miete und Lebensmittel bezahlt werden können. Die Berater stehen zudem bei psychischen Problemen bei und zeigen, wie die Ratsuchenden mit ihren Finanzen besser haushalten können. Insgesamt gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 1.450 Schuldnerberatungsstellen in Deutschland.

Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes haben sich im vergangenen Jahr mehr als 580.000 Personen an eine Schuldner- oder Insolvenzberatungsstelle gewendet. Der Hauptauslöser für die Überschuldung war demnach meist der Verlust des Arbeitsplatzes. Die infolge der Corona-Pandemie gestiegenen Arbeitslosenzahlen lassen eine Zunahme der Beratungsfälle befürchten: Im Juni dieses Jahres hatten der Bundesagentur für Arbeit zufolge 2.853.000 Menschen keinen Job, im Vorjahr waren es 637.000 weniger.

Keine Vorbereitung möglich

Momentan sei die Lage in den Beratungsstellen noch unter Kontrolle, sagt Berater Bode. "Man muss allerdings die Zeitachse im Blick behalten", sagt er. So durften bis vor kurzem Vermieter bei Zahlungsausfällen nicht kündigen, viele Gläubiger seien Stundungsbitten nachgekommen. "Die Einbußen waren also nicht so groß, dass die Leute schon in drei, vier Monaten in der Schuldenfalle landen", sagt er. Das könne sich allerdings schnell ändern - spätestens dann, wenn sich die Gläubiger nicht auf weitere Stundungen einlassen.

Die typischen Corona-Ratsuchenden sind laut Schuldnerberater Bode Menschen, die schon vor der Pandemie nur knapp über die Runden kamen. "Ein Merkmal der Krise ist, dass sie so plötzlich kam. Niemand konnte sich auf ihre finanziellen Folgen vorbereiten", sagt er. Auch Personen, die vorher nebenbei in Branchen wie der Gastronomie gearbeitet haben, suchten nun Beratung.

Ebenfalls überraschend kam die Krise für Künstler, die laut Liedermacher Bode oft "von der Hand in den Mund leben". Viele seiner Künstlerkollegen seien bereits jetzt essenziell betroffen, manche brauchten ihre Rücklagen auf oder suchten neue Einkommensmöglichkeiten. In Netzwerken gebe es zwar vereinzelt Ratschläge, eine wirkliche Schuldnerberatung sei das aber natürlich nicht.

"Künstler sind schon vor Corona Krisenmanager gewesen", sagt er. Für die kommenden Monate setze er auf die gesellschaftliche Solidarität mit der Branche und seine persönliche Fähigkeit, sich einzuschränken. Dafür hätten Künstler schließlich schon immer kreative Lösungen gefunden.

Jana-Sophie Brüntjen


Corona

Wenn die Pandemie die Ausgrenzung verstärkt




Markus Rummel, Musiktherapeut am Würzburger Blindeninstitut, mit seiner Frau Rita Fiedler
epd-bild/Pat Christ
Die Corona-Pandemie bringt für fast jeden Einschränkungen mit sich - für gehörlose, sehbehinderte und blinde Menschen aber in ganz besonderer Weise. Denn die Verlagerung ins Digitale birgt für viele Menschen mit Behinderung weitere Schwierigkeiten.

Durch die coronabedingten Hygienemaßnahmen haben viele Arbeitnehmer in den vergangenen Wochen unfreiwillig die Vorteile der Heimarbeit kennengelernt: Dank Internet konnten sie im Homeoffice arbeiten, der stressige Weg zur Arbeit fiel weg. Auf der anderen Seite haben allerdings viele den direkten Kontakt zu Kollegen vermisst. Für Blinde ist das Internet nur bedingt ein Ersatz für das "reale" Leben, sagt Markus Rummel: "Denn wir sehen mit den Händen." Der Zwang, zunehmend online agieren zu müssen, schränke blinde Menschen deshalb noch mehr ein als sonst, erläutert er.

Rummel ist keiner, der sofort lamentiert. Für den 64-jährigen aus Würzburg ist klar, dass eine vollständige Inklusion blinder Menschen kaum möglich ist. Auch nicht in der digitalen Welt: "Was Software anbelangt, hinken wir den Sehenden meist fünf Jahre hinterher." In einigen Lebensbereichen würde er sich aber dringend Verbesserungen wünschen. So hat ihm seine Bank noch keine Alternative zum Einsatz eines TAN-Generators angeboten: "Die Transaktionsnummer, die auf dem Gerät erscheint, wird nicht vorgelesen". Will er Bankgeschäfte tätigen, braucht er immer seine Frau Rita Fiedler dazu.

Virtuelle Musiktherapie funktioniert nicht

Arbeiten zu gehen, ist für Rummel nach wie vor noch nicht möglich. Denn das, was er tut, lässt sich virtuell nicht erledigen: Er arbeitet als Musiktherapeut am Würzburger Blindeninstitut. Seit mehr als drei Monaten ist er zu Hause. Mit seinen sehenden Kollegen kommuniziert er per Videokonferenz. Das Problem: "Die Sprachqualität ist einfach nicht gut genug." Weil er wegen vollständiger Blindheit keine Gestik und Mimik wahrnehmen kann, ist er auf den Klang der Stimme angewiesen. Sensibel hört er im Live-Kontakt Unmut, Zufriedenheit oder Skepsis heraus. Das gelingt ihm derzeit nur bedingt.

Blinde und Sehbehinderte werden gerne über einen Kamm geschoren. Doch gerade in der Corona-Krise zeigt sich, so Rummel, dass zwischen beiden Welten liegen: Sehbehinderte profitieren anders als Blinde stark von Videokonferenzen. Der 34-jährige Sozialpädagoge Daniel Musizza, der dem Münchner Verein "Sehbehindert - aber Richtig" vorsitzt, ist auf dem rechten Auge komplett blind, links sieht er noch zehn Prozent. "Weil ich die Teilnehmer einer Videokonferenz ganz nah heranzoomen kann, bekomme ich mehr mit als bei Teambesprechungen, wo manche Teilnehmer fünf Meter von mir wegsitzen", schildert er.

Problem: Internetseiten nicht barrierefrei

Auch virtuelle Veranstaltungen findet Musizza ganz in Ordnung, nehmen sie ihm doch beschwerliche Anreisen ab. Schwierig ist für ihn allerdings, dass viele Internetseiten noch immer nicht barrierefrei sind. Musizza kommt zum Beispiel nicht weiter, werden plötzlich Aufgaben gestellt, mit denen der Nutzer beweisen soll, dass er kein Roboter ist. Da kann er noch so sehr vergrößern: "Der Buchstabe 'O' lässt sich für mich nicht von der Ziffer '0' unterscheiden." Auch an verschnörkelten Schriften, wie sie Restaurants gern für ihre Speisekarten verwenden, scheitert der gelernte Kaufmann wegen seines Handicaps.

Insgesamt sei es sehr positiv, dass es für Sehbehinderte jetzt viel mehr Möglichkeiten als noch vor ein paar Jahren gibt, virtuell zu partizipieren, meint Musizza. Nur eines findet er inakzeptabel: "Man muss zum Teil lange kämpfen, bis man die entsprechenden Hilfsmittel bekommt." Das hat er selbst erlebt. Der junge Mann, der in seinem gelernten Beruf nicht mehr zufrieden war, entschied 2012, auf die Berufsoberschule zu gehen, um die ur Hochschulreife zu erwerben. Damit er sehen konnte, was an der Tafel stand, benötigte er eine Tafelbildkamera: "Dafür musste ich zwei Jahre gegen den Bezirk Oberbayern kämpfen."

Vorteil: Erfahrung im eLearning

Laut Monika Weigand, Expertin für barrierefreie IT beim Berufsförderungswerk Würzburg (BFW), gelang es ihrer Einrichtung zwar gut, die Ausbildung beim Ausbruch der Krise kurzfristig auf Online-Unterricht umzustellen. "Unser großer Vorteil war, dass wir schon viele Jahre eLearning anbieten, und mit unserer barrierefreien Lernplattform über eine bewährte Arbeitsumgebung auch für Blinde und Sehbehinderte verfügen", sagte sie. Problematisch sei gewesen, die Teilnehmer mit blindengerechter Hardware auszustatten. Rund 80 Arbeitsplatzausstattungen für 350.000 Euro wurden verschickt.

Informationen aus sicherer Quelle waren und sind gerade in Krisenzeiten wichtig. Jeder möchte wissen, wie schlimm die aktuelle Situation ist und womit in Zukunft gerechnet werden muss. Für Gehörlose war es laut Uta Schmitgen, Gehörlosenberaterin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Würzburg, gerade am Anfang schwer, an sichere Infos zu kommen. Erst nach einer Petition wurden Gebärdensprachdolmetscher bei wichtigen Nachrichtensendungen eingeblendet: "Oft jedoch nur im Livestream, was nicht jeder gehörlose Mensch nutzen kann, insbesondere nicht die gehörlosen Senioren."

Dass es im Internet Informationen in Hülle und Fülle gibt, nützt den meisten gehörlosen Menschen nur wenig. "Der starke Fokus auf die Schriftsprachkompetenz ist problematisch", erklärt Cornelia von Pappenheim, Geschäftsführerin des Gehörlosenverbands München und Umland. Dem stimmt Schmitgen zu: "Ein Großteil meiner gehörlosen Klienten tut sich sehr schwer mit schriftsprachlichem Ausdruck und dem Lesen von Texten." Die Kommunikation mit gehörlosen Menschen per SMS und E-Mail stelle oftmals eine "große Herausforderung" dar.

Pat Christ


Corona

Verband fordert zusätzliche Stunden für Integrationskurse



Der Berufsverband für Integrationskurse warnt davor, dass viele Zuwanderer in den Integrationssprachkursen das Sprachziel durch coronabedingte Ausfälle nicht erreichen könnten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sollte deshalb für alle Teilnehmer, die es benötigten, 100 zusätzliche Unterrichtseinheiten bewilligen und finanzieren, erklärte die Geschäftsführerin des Berufsverbandes für Integrations- und Berufssprachkurse, Christiane Carstensen, am 10. Juli in Bielefeld. Außerdem sollte der Aufwand für Anträge auf Wiederholung deutlich reduziert werden.

In den vom Bamf geförderten Kursen haben die Teilnehmer nach Angaben des Verbandes einen Anspruch auf 600 Unterrichtseinheiten. Diese sollten nach Forderungen des Verbandes um 100 Stunden aufgestockt werden. Wer nach dem Integrationskurs das Sprachziel B1 nicht erreicht, kann einen Wiederholerantrag auf 300 weitere Stunden stellen. Auch für diese Kurse sollte es ein "Corona-Modul" von zusätzlich 100 Einheiten geben, so Carstensen.

Bei den im Juli wieder gestarteten Sprachkursen verschaffen sich laut Carstensen die Lehrkräfte derzeit einen Überblick über den Lernstand. An den als Ersatz für den Präsenzunterricht angebotenen Online-Kursen hätten lediglich 83.000 von rund 220.000 Zuwanderern teilnehmen können. Selbst dort hätten bei vielen Teilnehmern die Lernstände bestenfalls gesichert, aber kaum erweitert werden können.



Corona

NRW-Wohlfahrtsverbände werben für Nutzung der Warn-App



Die Wohlfahrtsverbände in Nordrhein-Westfalen empfehlen die Nutzung der Corona-Warn-App der Bundesregierung. "Je mehr Menschen mitmachen, desto größer die Chancen, mit Hilfe der App sich und andere zu schützen", erklärte Frank Johannes Hensel, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege NRW, am 10. Juli in Düsseldorf. Es gehe darum, Infektionswege schneller zu erkennen und nachzuverfolgen.

Angesichts etwaiger Bedenken verwies Hensel auf den "anerkannt hohen Datenschutzstandard" der App. Die Nutzung der App sei zudem freiwillig, betonte der Kölner Caritasdirektor. "Selbst auf Diensthandys in unseren Einrichtungen wird niemand gezwungen, sie zu aktivieren."

Die Wohlfahrtsverbände fordern außerdem, die App unbedingt auch für ältere Betriebssysteme nutzbar zu machen. Auch Menschen, die nicht über das neueste Gerät verfügen, müssten die Chance haben, diese App zu nutzen.



Corona

Diakonie: Beschäftigte fordern Prämie für alle



Nicht nur Altenpfleger, sondern alle Diakoniemitarbeiter sollen eine Corona-Prämie erhalten - das fordern 5.464 Unterzeichner einer Petition von Beschäftigten diakonischer Einrichtungen in Württemberg und von der Gewerkschaft ver.di. Wie ver.di am 13. Juli mitteilte, habe man die Unterschriften beim Diakonischen Werk Württemberg als Dachverband der diakonischen Arbeitgeber abgegeben. Die Prämie sei eine Anerkennung für erhebliche Belastungen und Risiken in der Pandemie, so die Gewerkschaft.

Die Beschäftigten hätten die Versorgung und Betreuung der Patienten, Klientinnen, Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen am Laufen gehalten. Dafür brauchten sie jetzt eine Anerkennung und vor allem zukünftig die materielle Aufwertung ihrer Berufe, fordert die Gewerkschaft. Der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks, Oberkirchenrat Dieter Kaufmann, habe allerdings mitgeteilt, dass ver.di als Gewerkschaft nicht das "Gegenüber" für kirchliche Arbeitgeber sei, sondern die Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen (AGMAV).

"Das Diakonische Werk hat damit die Gewerkschaft ver.di als Vertretung der Beschäftigten in unmissverständlicher Offenheit infragegestellt", kritisierte die Gewerkschaft. Man erwarte jetzt eine Initiative der diakonischen Arbeitgeber und ein positives Zeichen an die Beschäftigten. Vom Diakonischen Werk Württemberg war bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme zu dem Vorgang zu erhalten.



Armut

Gastbeitrag

Volkssolidarität: Armut von Kindern nicht länger tolerieren




Wolfram Friedersdorff
epd-bild/Volkssolidarität
Schon lange wirbt die ostdeutsche Volkssolidarität für eine grundlegende Sozialreform, die bedürftigen Kindern mehr Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Doch die Kindergrundsicherung kommt nicht voran. Warum der Verband trotzdem an dem Vorhaben festhält, beschreibt Präsident Wolfram Friedersdorff in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

Die Volkssolidarität engagiert sich seit zweieinhalb Jahren im Bündnis von Verbänden und Einzelpersonen für die Einführung einer Kindergrundsicherung. Sie sieht in der Ersetzung des jetzigen familienorientierten Systems der monetären Förderung von Kindern und Jugendlichen durch eine kindsbezogene Grundsicherung einen wichtigen Baustein zur Bekämpfung von Kinderarmut und zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder und Jugendliche.

Die Volkssolidarität ist noch immer vor allem in Ostdeutschland verankert, als Trägerin von Kindertagesstätten sowie vielen weiteren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, als sozialer Dienstleister und vor allem durch Mitgliedergruppen und Begegnungszentren in Städten und auf dem Land.

Deutlich mehr Armut im Osten

Die Armutsgefährdungsquote liegt in den neuen Bundesländern seit der deutschen Einheit bis heute deutlich höher als im Durchschnitt in Deutschland. Durch den hohen Anteil des Niedriglohnbereiches an der Wertschöpfung sind nach wie vor viele Beschäftigte auf Sozialtransfers nach dem SGB II angewiesen. Der Anteil von Menschen, die Grundsicherung im Alter beziehen oder Einkünfte haben, die nur geringfügig über dieser Grundsicherung liegen, wächst zudem von Jahr zu Jahr. Das führt in Verbindung mit dem höheren Anteil von Älteren an der Bevölkerung auch dazu, dass die Unterstützungsmöglichkeiten im Familienverbund immer weiter eingegrenzt werden.

Die Volkssolidarität ist über ihre Mitglieder und Einrichtungen sehr häufig und direkt mit der sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die in Armut leben. Bekämpfung von Kinderarmut ist deshalb für uns zu einem wichtigen sozialpolitischen Anliegen der geworden.

Kinder sind arm, weil sie in Familien leben, die arm sind. Kinder und Jugendliche sind aber von den Armutslagen ihrer Familien besonders betroffen. Denn Armut führt bei ihnen überproportional häufig zu formal niedrigen Schulabschlüssen, zu Krankheit und Perspektivlosigkeit. Trotz hoher Beiträge der Familienförderung und trotz verschiedener Reformen im Förderungssystem in den zurückliegenden Jahren ist es nicht gelungen, die Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen substanziell zu mindern.

Zersplitterte und ungerechte Förderung

Denn die Förderung von Familien ist nach wie vor sozial ungerecht, sie ist bei den Förderinstrumenten für von Armut betroffenen Familien zersplittert, bürokratisch und basiert auf Misstrauen. Sie garantiert weder den notwendigen sächlichen Bedarf für eine Teilhabe an der Gesellschaft noch das soziokulturelle Existenzminimum. Antragsverfahren und gegenseitigen Anrechnungen führen zur Unübersichtlichkeit und zu geringer Inanspruchnahme von staatlichen Transferleistungen.

Die Zusammenfassung der verschiedenen monetären Leistungen (wie zum Beispiel Regelbedarf, Kinderzuschlag, Kindergeld, Wohngeld, Unterhaltsvorschuss, Bildungs- und Teilhabepaket) in einer Kindergrundsicherung würde diese genannten Defizite der existierenden Sozialleistungen für Familien beheben und einen signifikanten Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Profitieren würden vor allem Kinder und Jugendliche aus Familien, die auf Sozialtransfers angewiesen oder die im Niedriglohnbereichen tätig sind. Dafür setzt sich die Volkssolidarität im Bündnis Kindergrundsicherung entschieden ein.

Existenzminimun transparent berechnen

Grundlage für die Berechnung der Kindergrundsicherung ist eine bedarfsgerechte Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums eines Kindes. Dies muss sowohl die physischen Bedarfe als auch die Bedarfe an Bildung und Teilhabe abbilden.

Gegenwärtig erfolgt das für Familien, die auf Sozialtransfers angewiesen sind, durch die Regelsatzermittlung, ansonsten für die steuerliche Veranlagung durch die im Existenzsicherungsbericht der Bundesregierung ausgewiesenen Beträge, die deutlich die Regelsätze überschreiten. Vorgenannter Betrag soll nach Auffassung des Bündnisses Kindergrundsicherung zunächst auch für die Rechtsbereiche des Sozialrechts gelten. Die Kindergrundsicherung wird einer Besteuerung nach dem Grenzsteuersatz unterworfen, so dass sie bei steigendem Einkommen abgeschmolzen wird bis auf den Steuersparbetrag bei Spitzeneinkommen.

Für die Einführung einer Kindergrundsicherung gibt es inzwischen eine breite politische und gesellschaftliche Akzeptanz. Politische Parteien, die Bertelsmann Stiftung und Sozialwissenschaftlerinnen haben ähnliche Konzepte wie das des Bündnisses Kindergrundsicherung entwickelt. Für uns ist der vom Bündnis Kindergrundsicherung verfolgte Ansatz gegenwärtig am besten geeignet, die vorgenannten Ziele einer Kindergrundsicherung zu erreichen.

Kaum Hoffnung auf schnelle Reformen

Trotz dieser breiten Akzeptanz gibt es gegenwärtig wenig Hoffnung, dass bis zur Bundestagswahl Schritte zur Einführung der Grundsicherung gegangen werden. Dennoch gibt es einen wichtigen Ansatzpunkt, um gerade in diesem Jahr an einem entscheidenden Punkt voranzukommen.

Nach dem Vorliegen der Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 sind in diesem Jahr die Regelsätze der Grundsicherung durch die Bundesregierung zu überprüfen. An der Art und Weise der Regelsätze ist inzwischen durch Sozialverbände und den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge grundsätzliche Kritik geäußert worden. Die Volkssolidarität hat sich durch ihren Bundesvorstand für das von der Diakonie entwickelte Modell zur Regelsatzbestimmung ausgesprochen.

Die jetzige Überprüfung kann für uns im Bündnis genutzt werden, um Initiativen zu entwickeln, um die Vorstellung von dem, was ein Kind mindestens braucht, zu präzisieren und das "Wie" der Ermittlung der Bedarfe zu thematisieren. Es kann nicht sein, dass über die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen im stillen Kämmerlein von gut situierten Ministerialbeamten und Beamtinnen entschieden wird.

Betroffene in Debatte einbeziehen

Notwendig ist eine politische und gesellschaftliche Debatte. Kinder und Jugendliche, vor allem aus armutsbetroffenen Familien, in diese Ermittlung mit einzubeziehen, ist für die Volkssolidarität eine zentrale Forderung. Sie wird dafür auch eigene Projekte entwickeln.

Die Corona-Pandemie hat vor allem gezeigt, dass Kinder, Jugendliche und ihre Familien in Krisenzeiten ebenso schnell vergessen werden wie viele marginalisierte Gruppen unserer Gesellschaft. Schulen und Kitas wurden mit größter Selbstverständlichkeit geschlossen, für Hunderttausende Kitakinder und Schülerinnen und Schüler fiel von heute auf morgen das kostenlose warme Mittagessen weg. Ihre Teilhabechancen haben sich zudem durch fehlende digitale Lernmittel sowie die ausfallende schulische Förderung und pädagogische Unterstützung weiter verschlechtert. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kinder und Jugendlichen sind unabsehbar.

Wolfram Friedersdorff ist seit 2014 Präsident der Volkssolidarität


Hilfsorganisationen

Caritas International fordert mehr Hilfen für notleidende Menschen



Caritas International hat die Weltgemeinschaft zu stärkerer Unterstützung notleidener Menschen aufgerufen. Dabei fehle es nicht an finanziellen Mitteln, sondern am politischen Willen, kritisierte der Präsident des katholischen Hilfswerks, Peter Neher, am 15. Juli in Freiburg. Während die EU-Geberkonferenz jüngst 7,4 Milliarden Euro für einen Impfstoff gesammelt habe, sei der Corona-Hilfsfonds der Vereinten Nationen erst zu einem Fünftel gefüllt. Weil die die Zahl der Corona-Infizierten weltweit weiter ansteige, würden dafür weitere sieben Milliarden Dollar benötigt.

Die Pandemie offenbare bestehende soziale Missstände und deren tiefer liegende Ursachen. Dabei spiele es keine Rolle, ob es sich um Fabrikarbeiter in Indien oder osteuropäische Arbeiter in den Fleischfabriken Deutschlands handle. Die gesellschaftliche Ungleichheit habe vor allem für die Bevölkerungsgruppen am Rand der Gesellschaft tödliche Folgen, sagte Neher.

Kritik an EU-Asylpolitik

Er kritisierte zudem die europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dass auf den griechischen Insel Geflüchtete unter katastrophalen, menschenunwürdigen Umständen lebten, sei ein beschämendes Ergebnis einer "zu Kompromissen unfähigen Asylpolitik". Europa müsse endlich Lösungen für die geflüchteten Menschen und die Einheimischen auf den Inseln finden. Ein gemeinsames europäisches Handeln sei auch erforderlich, um die Friedensbemühungen in Syrien, in Afghanistan oder im Südsudan zu unterstützen.

In humanitäre Unterstützung hat das Hilfswerk im vergangenen Jahr nach eigenen Angaben mehr als 82 Millionen Euro investiert. Dies sei ein neuer Höchststand. Trotz der Corona-Krise habe es in der ersten Jahreshälfte 2020 eine hohe Spendenfreudigkeit gegeben, die ein Drittel über der Planung liege.



Verbände

Deutscher Verein: Familienzentren langfristig abbsichern



Nach Ansicht des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge müssen Familienzentren durch eine langfristige und planbare Finanzierungsgrundlage gestärkt werden. Außerdem seien durch Fort- und Weiterbildung qualifizierte Fachkräfte und eine räumliche Ausstattung nötig, die die Arbeit mit Kindern und ihren Familien erst möglich mache, heißt es in einem Positionspapier, das am 13. Juli in Berlin veröffentlicht wurde. Damit Familienzentren auch wirklich alle Familien erreichen könnten, gelte es Angebote umzusetzen, die dem Bedarf der Familien entsprächen.

"Für Eltern wird es zunehmend anstrengender, gerade in dieser besonderen Zeit, den wachsenden Anforderungen an ihre Erziehungsleistung gerecht zu werden. Dabei müssen sie gleichzeitig die Balance zwischen Familie und Beruf herstellen. Wir brauchen daher niedrigschwellige und für alle Familien zugängliche, unterstützende und bildungsförderliche Angebote und Leistungen", sagte Michael Löher, Vorstand des Vereins. Ziel müsse es sein, einen lokalen und alltagspraktischen Mehrwert für Familien zu schaffen, um sie beim "Doing Family" zu unterstützen.



Kirchen

EKD will Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt besser vernetzen



Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) geht weitere Schritte bei der Aufarbeitung und der Prävention in Fällen sexualisierter Gewalt. Eine neu zusammengesetzte Fachstelle "Sexualisierte Gewalt" habe Ihre Arbeit im Juli aufgenommen, teilte die EKD am 15. Juli in Hannover mit. Die Stelle solle mit den Landeskirchen und diakonischen Einrichtungen dafür sorgen, "dass bestehende Maßnahmen verstärkt, noch umfassender vernetzt und auf Dauer verlässliche Vorkehrungen und Strukturen gegen sexualisierte Gewalt geschaffen werden", erklärte Hans Ulrich Anke, Präsident des Kirchenamts der EKD.

Aufgabe der neuen Fachstelle sei auch, die weitere Umsetzung des Elf-Punkte-Handlungsplans zu begleiten. Die EKD hatte den Elf-Punkte-Plan zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche im Herbst 2018 beschlossen. Der Plan sieht etwa neben einer umfassenden wissenschaftlichen Studie auch die Beteiligung von Betroffenen vor. Im Juni hatte die EKD bekanntgegeben, dass von Oktober an drei Jahre lang in mehreren Teilstudien Ursachen und Strukturen sexualisierter Gewalt untersucht werden. Auch ein Betroffenenbeirat soll im Laufe des Sommers berufen werden. Im vergangenen Jahr hatte die EKD bereits die Zentrale Anlaufstelle "help" eingerichtet.

Leiter der Fachstelle sei der 31-jährige promovierte Politikwissenschaftler Helge Staff, der an der TU Kaiserslautern zu Fragen der inneren Sicherheit und Reformen der Strafgesetzgebung geforscht habe. Nicole Toms (36) werde laut EKD im Fachstellenteam mit dem Schwerpunkt institutionelle und individuelle Aufarbeitung weiterhin tätig sein und Nicole Segert (28) bei der EKD den zukünftigen Betroffenenbeirat begleiten. Beide Kriminologinnen blickten auf mehrjährige Erfahrungen in der Bearbeitung von Fragen sexualisierter Gewalt in kirchlichen Kontexten zurück, hieß es.



Nordrhein-Westfalen

Zahl der häuslichen Sterbebegleitungen steigt auf über 13.800



Immer mehr schwerstkranke Menschen in Nordrhein-Westfalen verbringen die letzte Phase ihres Lebens in ihrer gewohnten Umgebung. Die ambulanten Hospizdienste mit ihren ehrenamtlichen Sterbebegleitern ermöglichten das im vergangenen Jahr in NRW in über 13.800 Fällen, wie der Verband der Ersatzkassen am 16. Juli in Düsseldorf mitteilte. Gegenüber dem Vorjahr bedeutete das einen Anstieg von mehr als 2.200 Fällen.

Im laufenden Jahr fördern die gesetzlichen Krankenkassen die rund 250 ambulanten Hospizdienste in Nordrhein-Westfalen mit mehr als 23,6 Millionen Euro. Das entspreche einer geplanten Steigerung von etwa sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Landesweit ist die Zahl der ehrenamtlichen Begleiter um fast 500 auf knapp 11.300 gestiegen. Die Hospizdienste und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter stellen sicher, dass es in Nordrhein-Westfalen flächendeckend Angebote für häusliche Sterbebegleitung gibt.




sozial-Recht

Landessozialgericht

Keine zu hohen Hürden für Schmerztherapie mit Medizinalcannabis




Cannabis-Medikament Pedanios
epd-bild/Jörg Koch
Schmerzpatienten müssen für eine Behandlung mit Medizinalcannabis nicht erst jahrelang schwere Nebenwirkungen anderer alternativer Arzneimittel erdulden. Erweist sich dagegen Cannabis als verträglich, darf die Krankenkasse die Kostenerstattung hierfür nicht einfach verweigern.

Krankenkassen dürfen keine zu hohe Hürden für die Kostenübernahme cannabishaltiger Medikamente errichten. Auch wenn der Einsatz der Präparate nur ausnahmsweise vom Gesetz her vorgesehen ist, bedeutet das nicht, dass Patienten zunächst jahrelang schwerwiegende Nebenwirkungen anderer Schmerzmittel in Kauf nehmen müssen, entschied das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in München in einem am 10. Juli veröffentlichten Urteil.

Der Gesetzgeber hatte zum 10. März 2017 festgelegt, dass im Ausnahmefall die gesetzlichen Kassen die Behandlung mit cannabishaltigen Medikamenten bezahlen müssen. Danach haben Versicherte Anspruch auf eine Cannabis-Versorgung in Form getrockneter Blüten oder Extrakten sowie auf den Erhalt von Arzneimitteln mit dem Cannabis-Wirkstoff Dronabinol oder Nabilon. Voraussetzung ist eine "schwerwiegende Erkrankung", für die keine "allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung" zur Verfügung steht oder nach Einschätzung des Arztes nicht zur Anwendung kommen kann.

Immer wieder Streit vor Gerichten

Seitdem streiten sich regelmäßig Krankenkassen und Versicherte. Problem: Was gilt als "schwerwiegende Erkrankung" und inwieweit ist die Cannabis-Behandlung wirklich alternativlos? Auch ist die Versorgung mit Cannabisblüten teuer. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse liegen die monatlichen Kosten zwischen 300 und 2.200 Euro. Die Kosten für cannabishaltige Fertigarzneimittel sind allerdings viel geringer.

Im jetzt entschiedenen Streitfall ist der schwerbehinderte Kläger seit Juni 2017 arbeitsunfähig. Infolge eines Unfalls leidet er seit vielen Jahren unter einem chronischen Schmerzsyndrom an der linken Schulter.

Nachdem der Gesetzgeber 2017 die Behandlung mit Cannabis im Ausnahmefall erlaubte, stellte der Mann bei seiner Kasse einen Antrag auf Kostenübernahme mit Medizinalcannabis. Wegen seines chronischen Schmerzsyndroms müsse die Kasse die Versorgung sicherstellen, so seine Argumentation. Andere Schmerzmittel oder Cannabis-Fertigarzneimittel vertrage er nicht, was auch gerichtlich bestellte Sachverständige bestätigten.

Die Krankenkasse lehnte den Antrag jedoch ab. Der Kläger habe nur eine kleine Zahl an alternativen Schmerzmitteln ausprobiert sei, hieß es. Auch seien die Nebenwirkungen der Medikamente wie Müdigkeit nicht so gravierend.

Ausnahmefall liegt vor

Das LSG verpflichtete die Kasse jedoch zur Kostenübernahme der Schmerztherapie mit Medizinalcannabis. Hier liege der im Gesetz vorgesehene Ausnahmefall vor, befanden die Richter. Der Kläger leide eindeutig an einer "schwerwiegenden Erkrankung". Das Schmerzsyndrom sei zwar nicht lebensgefährlich, es beeinträchtige aber die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig. Es gebe auch keine alternativen Schmerzmedikamente, weil diese zu erheblichen Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Magen-Darm-Problemen geführt hätten.

"Die gesetzliche Voraussetzung bedeutet nicht, dass der Kläger langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen müsste, bevor ihm Cannabis als Alternative genehmigt werden könnte", heißt es in dem Urteil. Die Cannabisbehandlung habe eine "spürbare positive Einwirkung auf den Behandlungsverlauf" des Klägers gezeigt.

Wirtschaftlichkeitsgebot ist nachrangig

Die Krankenkasse könne sich auch nicht darauf berufen, dass zur Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebotes nur die kostengünstigste Darreichungsform von cannabishaltigen Medikamenten gewählt wird. Allein der behandelnde Vertragsarzt bestimme je nach Patient Form und Dosis der Therapie.

Bei einem massiven lebensbedrohlichen Untergewicht kann nach einem Beschluss des Hessischen LSG vom 18. Juli 2019 die gesetzliche Krankenkasse ebenfalls zur Kostenübernahme für eine Cannabis-Behandlung verpflichtet werden. Auch wenn nicht nachgewiesen sei, dass für die Therapie keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht oder nicht angewendet werden kann, könne bei einer Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit ausnahmsweise vorläufig ein Anspruch bestehen, so das Gericht.

Sei ein Patient lebensbedrohlich untergewichtig, müsse das im Eilverfahren Vorrang vor dem Interesse einer möglichst wirtschaftlichen Behandlung haben. Hier hatte der behandelnde Arzt auf die positiven Auswirkungen der seit einigen Monaten durchgeführten Cannabis-Behandlung verwiesen.

Az.: L 5 KR 544/18 (LSG München)

Az.: L 1 KR 256/19 B ER (LSG Darmstadt)

Frank Leth


Bundesfinanzhof

Kein Kindergeldanspruch bei spät auftretender erblicher Behinderung



Ein zu einer Behinderung führender Gendefekt bei einem Kind reicht noch nicht für einen Kindergeldanspruch über das 25. Lebensjahr hinaus. Nur wenn vor Erreichen der Altersgrenze "Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen" vorliegen, kann länger Kindergeld gezahlt werden, entschied der Bundesfinanzhof (BFH) in München in einem am 9. Juli veröffentlichten Urteil.

Kindergeld kann nach den geltenden Bestimmungen bis zum 25. Lebensjahr gezahlt werden, wenn sich das Kind noch in der Ausbildung befindet. Eltern behinderter Kinder können aber ein Leben lang Kindergeld erhalten, vorausgesetzt, das Kind kann wegen seiner Behinderung nicht für sich selbst sorgen. Die Behinderung muss für den Kindergeldanspruch vor Erreichen der Altersgrenze von 25 Jahren (früher 27 Jahre) aufgetreten sein.

Krankheit erst sehr spät diagnostiziert

Im Streitfall ging es um die 1968 geborene Tochter des Klägers, die an einer erblich bedingten Muskelerkrankung leidet. Erste Symptome traten im Alter von 15 Jahren auf. Die Erkrankung wurde allerdings erst im Alter von 30 Jahren diagnostiziert. Ihren Lebensunterhalt verdiente die gelernte Bürokauffrau zunächst selbst. Zehn Jahre später war sie zu 100 Prozent schwerbehindert.

Den Kindergeldantrag des Vaters lehnte die Familienkasse jedoch ab. Denn die Krankheit sei erst nach Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze von damals 27 Jahren aufgetreten.

Der BFH urteilte, dass für den Kindergeldanspruch die Behinderung vor der maßgeblichen Altersgrenze aufgetreten sein muss. Das Finanzgericht Köln muss dies nun noch einmal prüfen.

Az.: III R 44/17



Landesarbeitsgericht

Trotz Erkrankung ist Gang zum Amtsarzt Pflicht



Arbeitsunfähig geschriebene Beschäftigte müssen grundsätzlich die vom Arbeitgeber veranlasste amtsärztliche Untersuchung wahrnehmen. Ist ein Arbeitnehmer an dem Termin erkrankt, kann er nur ausnahmsweise - etwa wegen einer ansteckenden Erkrankung - Zuhause bleiben, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg in einem am 8. Juli veröffentlichten Urteil. Die Arbeitsrichter hielten damit eine erteilte Abmahnung wegen eines verpassten Amtsarzttermins für rechtmäßig.

Der 57-jährige Kläger war im öffentlichen Dienst als Schreiner angestellt. 2018 war er an insgesamt 75 Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Laut Attest durfte er keine über zehn Kilogramm schweren Gegenstände mehr tragen, heben oder ohne Hilfsmittel bewegen.

Kläger versäumte zwei Termine

Der Arbeitgeber hatte daraufhin Zweifel, ob der Mann überhaupt noch seine Arbeit ausführen kann. Er verlangte eine amtsärztliche Untersuchung. Den ersten Termin verschob der Schreiner. Doch auch den zweiten Termin nahm er nicht wahr. Er sei ganau an diesem Tag arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Daraufhin erhielt er eine Abmahnung.

Die wollte der Kläger mit gerichtlicher Hilfe aus der Personalakte entfernen lassen. Bei bestehender Arbeitsunfähigkeit dürfe der Arbeitgeber laut dem Bundesarbeitsgericht nur aus "dringenden betrieblichen Anlässen" eine Weisung erteilen. Das sei bei der Weisung zur Wahrnehmung eines Amtsarzttermins aber nicht der Fall, befand der Kläger.

Wäre er zu dem Untersuchungstermin gegangen, hätte eine "latente Gefahr der Beeinträchtigung des Genesungsprozesses" gedroht. Der Termin sei schließlich mit einer psychischen und nervlichen Belastung verbunden gewesen.

Gericht: Abmahnung rechtmäßig

Doch das LAG erklärte die Abmahnung für rechtmäßig. Hier habe es für die amtsärztliche Untersuchung einen "wichtigen Grund" gegeben. Der Beschäftigte müsse für die Teilnahme an der Untersuchung nicht arbeitsfähig sein. Denn die Untersuchung diene ja gerade dem Zweck, zu prüfen, ob der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Arbeit überhaupt noch erbringen könne. Mit der Untersuchung könne nicht bis zur Genesung gewartet werden.

Schließlich müsse der Arbeitgeber im Rahmen seiner Fürsorgepflicht die Möglichkeit erhalten, rechtzeitig Maßnahmen für einen passenden Arbeitsplatz ergreifen zu können. Besondere Umstände, warum der Kläger nicht an dem Untersuchungstermin teilnehmen konnte, etwa wegen einer ansteckenden Krankheit, seien nicht dargelegt worden.

Az.: 7 Sa 304/19



Landessozialgericht

Unfallschutz beim Termin für ein Grußwort



Ein ehrenamtlicher Vorsitzender eines Ortsvereins des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung wenn er bei einem befreundeten Ortsverein eine Grußwort sprechen soll. Solche repräsentativen Belange der Öffentlichkeitsarbeit weisen einen "inneren Zusammenhang" zur Aufgabe des DRK dar, so dass der Unfallversicherungsschutz greift, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 10. Juli veröffentlichten Urteil.

Im Streitfall wurde ein DRK-Ortsverein von einem befreundeten DRK-Verein zur Generalversammlung eingeladen. Der eingeladene ehrenamtliche Ortsvorsitzende wollte ein Grußwort auf der Veranstaltung sprechen. Anschließend sollten noch Termine ausgetauscht werden.

Schwerer Autounfall bei der Anfahrt

Doch auf dem Weg zur Generalversammlung kam es zu einem schweren Unfall mit dem DRK-Mannschaftsbus. Eine Insassin wurde getötet, fünf andere schwer verletzt, darunter auch der klagende ehrenamtliche DRK-Vorsitzende.

Den Unfall wollte er als Arbeitsunfall von der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt haben. Schließlich habe er ja ein Grußwort auf der Generalversammlung sprechen wollen.

Unfallkasse lehnte Zahlung ab

Der Unfallversicherungsträger wies das Anliegen jedoch ab. Zwar stünden auch ehrenamtliche satzungsgemäße DRK-Tätigkeiten unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Gesellschaftliche Anlässe wie die Teilnahme an der Generalversammlung des befreundeten Ortsvereins gehörten dazu aber nicht, hieß es zur Begründung.

Doch das LSG gab dem Kläger recht. Als Ortsvorsitzender habe er repräsentative und organisatorische Belange verfolgt. Tätigkeiten, die wesentlich der Öffentlichkeitsarbeit dienten, stünden auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unter dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz. Hier habe das beabsichtigte Grußwort in einem "inneren Zusammenhang" zu den satzungsgemäßen Aufgaben des DRK gestanden. Um bloß "gesellige Zwecke" habe es sich nicht gehandelt. Folglich sein der Wegeunfall versichert.

Az.: L 10 4485/18



Europäischer Gerichtshof

Recht auf persönliche Anhörung vor Abschiebung in anderes EU-Land



Asylsuchende haben, bevor sie in ein anderes EU-Land abgeschoben werden können, Recht auf eine persönliche Anhörung. Das hat der Europäische Gerichtshof am 16. Juli in Luxemburg zum Fall eines Mannes entschieden, dessen Antrag das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgelehnt hatte. Die deutsche Justiz muss den Fall nun weiter prüfen.

Der Mann, der nach eigenen Angaben Eritreer ist, war 2011 nach Deutschland eingereist und hatte um Asyl gebeten. Später stellte sich laut EuGH heraus, dass er bereits in Italien Asyl erhalten hatte. Das Bamf wollte den Mann daher 2013 dorthin abschieben. Da dieser sich juristisch wehrte, landete der Fall vor Gericht.

Keine persönliche Anhörung

Der EuGH hatte zu klären, ob die Ablehnung eines Antrags unter derartigen Umständen rechtmäßig ist, obwohl das Bamf den Mann nicht persönlich angehört hatte. Er urteilte, dass eine persönliche Anhörung dann zumindest im Zuge des weiteren Verfahrens, also vor Gericht, gegeben sein müsste.

Eine persönliche Anhörung solle dem Betroffenen nicht nur Gelegenheit bieten, sich zu äußern, ob ihm ein anderer EU-Staat tatsächlich Schutz zuerkannt habe, heißt es um Urteil. Sie solle ihm vor allem ermöglichen, sich zu detailliert zu seinem Fall zu äußern, um auszuschließen, dass der Betroffene in dem anderen Land "ernsthaft Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung" im Sinne der EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein.

Der EuGH legte ferner die Standards der persönlichen Anhörung dar. Danach hat der Asylsuchende unter anderem Recht auf einen Dolmetscher und darauf, dass er von einer Person gleichen Geschlechtes angehört wird. Der Behördenmitarbeiter, der die Anhörung leitet, darf auch keine Polizei- oder Militäruniform tragen.

Az.: C-517/17



Europäischer Gerichtshof

Familienzusammenführung: Für Kinder kommt es auf Alter bei Antrag an



Bei Anträgen von Kindern auf Familienzusammenführung in der EU kommt es auf ihr Alter bei der Antragstellung und nicht bei der Entscheidung über den Antrag an. Das geht aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16. Juli aus Luxemburg hervor.

Anlass war der Fall eines in Belgien anerkannten Flüchtlings, der 2012 und 2013 drei Kinder aus Afrika nachholen wollte. Das Recht auf Familienzusammenführung haben aber grundsätzlich nicht nur Flüchtlinge, sondern auch andere Personengruppen. Im vorliegenden Fall verweigerten die belgischen Behörden die Zusammenführung. Als eine Revisionsinstanz darüber befinden musste, lehnte sie sie ebenfalls ab. Ihr Argument war, dass die Kinder inzwischen volljährig geworden seien.

Familienzusammenführung soll begünstigt werden

Dem EuGH zufolge war das nicht rechtens. Der Zeitpunkt, auf den bei der Feststellung der Minderjährigkeit abzustellen sei, sei der Tag des Antrags. Ziel des einschlägigen EU-Gesetzes sei es schließlich, Familienzusammenführungen zu begünstigen und Drittstaatsangehörigen, vor allem Kindern, Schutz zu gewähren. Ansonsten wären die Behörden und Gerichte nicht veranlasst, die Fälle Minderjähriger mit der "erforderlichen Dringlichkeit" zu bearbeiten, erklärte der EuGH.

Ferner erstreckte sich das Urteil auf Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes. Auch ein solcher könne nicht nur deshalb für unzulässig erachtet werden, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden sei, so der EuGH.

Az.: C-133/19, C-136/19 und C-137/19




sozial-Köpfe

Führungswechsel

Martina von Witten wird Vorstand der Diakonie Mitteldeutschland




Martina von Witten
epd-bild/Andreas Lander
Martina von Witten wird zum 1. Februar 2021 Kaufmännische Vorständin der Diakonie Mitteldeutschland. Diese Personalentscheidung hat der Diakonische Rat, das Aufsichtsgremium des evangelischen Wohlfahrtsverbandes, getroffen.

Die Stelle des Kaufmännischen Vorstands der Diakonische Mitteldeutschland wird neu besetzt. Dies ist notwendig, weil Wolfgang Teske, seit 2011 Kaufmännischer Vorstand des Verbandes, mit Erreichen des Rentenalters im Januar 2021 in den Ruhestand geht. Auf Teske folgt Martina von Witten. Sie ist als künftige Kaufmännische Vorständin im Zweier-Vorstand der Diakonie Mitteldeutschland für den Haushalt des Verbandes, für juristische Angelegenheiten und die Organisation der Geschäftsstelle verantwortlich. Vorstandschef ist Christoph Stolte.

Von Witten, Jahrgang 1970, wuchs in Marktredwitz in Nordbayern auf. Nach Abitur und Banklehre studierte von Witten Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth. Dem Abschluss als Diplom-Kauffrau folgten die wissenschaftliche Mitarbeit an der Technischen Universität Braunschweig und 2007 die Promotion.

Sie ist beruflich und ehrenamtlich mit Diakonie und Kirche eng verbunden. Zusammen fast 20 Jahre mit Controlling-, Vorstands- und Geschäftsführungsaufgaben in der Magdeburger Stadtmission, im Diakonischen Werk im Landkreis Jerichower Land und im Regionalverband Magdeburg/Börde/Harz der Johanniter-Unfall-Hilfe prägen ihre Leitungserfahrung in der kirchlichen Sozialen Arbeit. Daneben engagiert sich von Witten seit vielen Jahren in kirchlichen Gremien und für die Domschulen in Magdeburg.

Wolfgang Teske gehörte vor seiner Tätigkeit bei der Diakonie Mitteldeutschland von 1995 bis 2011 dem Vorstand des diakonischen Bundesverbandes an. Seit 2000 war der promovierte Jurist auch Vizepräsident im Diakonie Bundesverband.



Weitere Personalien



Ines Härtel (48) ist von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Richterin am Bundesverfassungsgericht ernannt worden. Sie ist die erste Ostdeutsche in diesem Amt. Der Bundesrat hatte die 1972 in Staßfurt bei Magdeburg (Sachsen-Anhalt) geborene Juristin am 3. Juli auf den Richterposten in Karlsruhe gewählt. Steinmeier nannte Härtel eine hoch qualifizierte Juristin, die 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auf eine originär ostdeutsche Biografie verweisen kann und diese in den Gerichtsalltag einbringen werde. Die Professorin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) folgt am Bundesverfassungsgericht im für Grundrechtsfragen zuständigen Ersten Senat Johannes Masing nach. Härtels Forschungsschwerpunkte sind nach Angaben der Viadrina unter anderem Datenschutz- und Digitalrecht, Europa- und Agrarrecht.

Manfred Becker (59), Jurist, leitet künftig die hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen. Er hat die Abteilung "Flüchtlingsangelegenheiten, Erstaufnahmeeinrichtung und Integration" im Regierungspräsidium Gießen bereits seit anderthalb Jahren kommissarisch geleitet. Becker war zuvor für den Bereich "Soziales" beim Regierungspräsidium verantwortlich. Dort war zunächst auch die hessenweite Erstaufnahme von Flüchtlingen angesiedelt. Seit 2016 gibt es dafür eine eigene Abteilung beim Regierungspräsidium.

Emilia Stegemann, Bernd Reith und Thomas Bürger, Chefärzte der Agaplesion-Diakonie-Kliniken Kassel sind vom Magazin "Focus" für ihre besonderen Leistungen als Top-Mediziner ausgezeichnet worden. Stegemann arbeitet an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Angiologie, Reith an der Klinik für Allgemein-, Viszeralchirurgie und Proktologie und Thomas Bürger an der Klinik für Gefäß- und Endovaskuläre Chirurgie. Die Magazine "Focus" und "Focus-Gesundheit" veröffentlichen seit mehr als 20 Jahren Ärztelisten der führenden Mediziner in Deutschland. Die Agaplesion-Diakonie-Kliniken gemeinnützige GmbH gehört zu den größten medizinischen Einrichtungen Nordhessens. Die Kliniken sind zudem akademisches Lehrkrankenhaus der Philipps-Universität Marburg. Pro Jahr werden etwa 15.600 stationäre und rund 30.000 ambulante Patienten behandelt, 2.000 Kinder kommen dort jährlich zur Welt.

Thorsten Arens erhält für seine Promotion "Christliches Profil und muslimisches Personal" über die Zusammenarbeit von muslimischen und katholischen Ärzten in Caritas-Krankenhäusern den Lorenz-Werthmann-Preis des Deutschen Caritasverbandes. Der Gertrud-Luckner-Preis geht an Elisa Ebertz, die über Solidarität geforscht hat. Arens ist Absolvent des Promotionsstudiengangs der Theologischen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV). Der mit 5.000 Euro dotierte Lorenz-Werthmann-Preis würdigt Dissertations- und Habilitationsschriften. Elisa Ebertz, ehemalige Studentin an der der Katholischen Stiftungshochschule in München, wurde für ihre Bachelorarbeit "Farben der Solidarität: Geschichte, Analyse und Systematisierung eines Wertbegriffs für die Soziale Arbeit und Sozialpolitik" prämiert. Der mit 1.000 Euro dotierte Gertrud-Luckner-Preis wird für Abschlussarbeiten in Bachelor-, Master-, Magister- und Diplomstudiengängen verliehen. Beide Preise werden alle zwei Jahre von einer unabhängigen Jury vergeben.

Klaus-Peter Hesse (52) wird zum 1. September "Director City Development & Acquisition" beim Hamburger Projektentwickler ECE. Er tritt damit eine neu geschaffene Stelle in der Geschäftsführung an. Hesse war zuletzt Sprecher der Geschäftsführung des Zentralen Immobilien Ausschusses (ZIA). Zuvor war er dort Pressesprecher und Geschäftsführer. Der Zentrale Immobilien Ausschuss vertritt als Spitzenverband der Immobilienwirtschaft die Interessen von 28 Verbänden und insgesamt rund 37.000 Unternehmen aus der Immobilienbranche auf nationaler und europäischer Ebene sowie im Bundesverband der deutschen Industrie (BDI).




sozial-Termine

Veranstaltungen bis September



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

August

11.8. Berlin:

Online-Seminar "Menschenhandel im Kontext von Flucht - Eine Einführung in das Phänomen Menschenhandel und die Auswirkungen für die Beratungspraxis"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

11.-13.8.:

Online-Fortbildungstraining "Meetings per Video oder Telefon moderieren: online miteinander im Kontakt sein und effektiv arbeiten"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

14.8. Berlin:

Seminar "Personal-, Personalentwicklungs- und Kritikgespräche erfolgreich führen"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275 82 82-27

17.-18.8. Berlin:

Basisseminar "Führung und Kommunikation"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356.159

17.-21.8. Berlin:

Seminar "Integrierte Schuldnerberatung in Sucht- und Straffälligenhilfe, Sozialberatung und Betreuung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-388

19.-20.8. Hamburg:

Seminar " Team entwickeln, einschätzen und kompetent begleiten. Wie Sie als Führungskraft gemeinsam mit Ihrem Team Ziele erreichen"

der Paritätischen Akademie Nord

Tel.: 040/415201-66

24.-26.8.:

Online-Seminar: "Online Moderieren - Tipps und Werkzeuge für den Austausch und die Zusammenarbeit im virtuellen Raum"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

24.-27.8.: Remagen-Rolandseck:

Seminar "Familiennachzug von Geflüchteten"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

26.-28.8.:

Onlineseminar "Einführung ins SGB II und aktuelle Rechtsprechung"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

27.-30.8. Remagen-Rolandseck:

Seminar "Freiwilliges Engagement in der Suchthilfe - Beratung und Unterstützung von Verantwortlichen in der Selbsthilfe"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

31.8.-2.9. Freiburg:

Seminar "Case-Management im Migrationsdienst der Caritas - Grundlagen"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

September

9.9. Kassel:

Seminar "Ausgliederung und Umstrukturierung beim Verein"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

14.9. Berlin:

Workshop "Wie wir Konflikte besser bewältigen - Qualifizierung für Migrationsfachdienste"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-0

17.9. Hamburg

Seminar "Heute schon gelobt? Anerkennung als Führungsinstrument"

des Paritätischen Hamburg

Tel.: 040/415201-66

21.-22.9. Eisenach:

Fortbildung "Werkstatt Gemeinwesendiakonie - Bilanz - Neue Ideen - Strategieentwicklung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488