sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

Gesundheitsminister Karl Lauterbach will eine neue Versorgungsform für Pflegebedürftige einführen. Die „stambulante“ Betreuung soll ambulante und stationäre Pflege mischen. Menschen jeden Pflegegrades könnten sich künftig in dafür ausgestatteten Wohnungen pflegen lassen. So etwas gibt es bereits, aber nur als Modellprojekt, zum Beispiel im südbadischen Wyhl. Die Branche ist über Lauterbachs Pläne allerdings irritiert, weil die gesetzlichen Regelungen dazu noch völlig unklar seien. Und die Forschung ist skeptisch. Sie hält die Einführung eines dritten Sektors neben ambulant und stationär für ein veraltetes Konzept.

Etwas positiver blickt die Branche auf das geplante Pflegekompetenzgesetz. Es soll professionellen Pflegekräften mehr Eigenverantwortung und Kompetenzen bringen. Die Pflegeberufsverbände begrüßen das Vorhaben der Bundesregierung, fordern aber zugleich bessere Rahmenbedingungen. Eine Umfrage belegt, dass Pflegefachkräfte überdurchschnittlich hoch motiviert sind. Dieselbe Umfrage zeigt aber auch, dass diese Fachkräfte in ihrem Beruf, so wie er jetzt ist, äußerst unzufrieden sind.

Die Caritas rügt die öffentliche Debatte über das Bürgergeld. „Für uns ist es inakzeptabel, dass über die Beziehenden derart schlecht gesprochen wird“, schreibt Annette Holuscha-Uhlenbrock, Direktorin des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart, in ihrem Gastbeitrag. Denn es entspreche schlicht nicht der Wahrheit, dass Arbeit sich wegen der angeblich hohen Sozialleistungen nicht lohne und Bürgergeldempfänger unwillig zur Arbeitsaufnahme seien. Holuscha-Uhlenbrock lehnt schärfere Sanktionen ab, weil diese tiefer liegende Probleme wie psychische Erkrankungen oder Sucht verschlimmerten. Sie setzt auf bessere Förderung und Vermittlung.

Sozialhilfeträger dürfen das Kindergeld für ein in einer Wohngruppe lebendes erwachsenes behindertes Kind nicht als Einkommen auf die Sozialleistungen anrechnen. Das Kindergeld ist den Eltern zuzurechnen, urteilte das Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart. Es entschied im Fall eines behinderten und schwer pflegebedürftigen Klägers, der in einer Wohngruppe lebt, aber hin und wieder bei seinen Eltern übernachtet.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Pflege

"Stambulante Versorgung": Leben im "Mitmach-Pflegeheim"




Pflegerin und Bewohnerin im Altenpflegeheim
epd-bild/Tim Wegner
Gesundheitsminister Lauterbach will eine neue Versorgungsform für Pflegebedürftige einführen. Die "stambulante" Betreuung soll ambulante und stationäre Pflege mischen. Menschen jeden Pflegegrades könnten sich künftig in dafür ausgestatteten Wohnungen pflegen lassen. So etwas gibt es bereits, aber nur als Modellprojekt. Die Branche ist irritiert, die Forschung skeptisch.

Berlin (epd). Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will per Gesetz eine neue „stambulante“ Versorgung schaffen - und hat damit für reichlich Verwirrung in der Pflegebranche gesorgt. Geregelt werde der neue Ansatz laut Minister im Pflegekompetenzgesetz, das bis zum Sommer vorliegen solle. Die neue Versorgungsform werde eine Mischung aus stationärer und ambulanter Pflege, die bislang in Deutschland fehle, sagte Lauterbach.

Menschen, die weder in ein Pflegeheim ziehen möchten, noch in der Lage sind, alleine ohne Hilfe zu Hause zu bleiben, sollen laut dem Minister in speziell ausgerüsteten Wohnungen rund um die Uhr betreut werden, so dass auch bei höheren Pflegegraden ein selbstständiges Leben möglich werde. Wenn der rechtliche Rahmen dafür geschaffen sei, könnte zum Beispiel die eine oder andere Seniorenresidenz solche Angebote mit Pflegediensten zusammen aufbauen, so Lauterbach.

„Ein solches Angebot fehlt nicht in Deutschland“

Eher irritiert reagierten die Fachverbände sowie Pflegeforschende auf die für sie überraschende Ankündigung. Noch sei völlig unklar, wie die gesetzlichen Regelungen dazu ausfallen. Die Ruhrgebietskonferenz Pflege ging umgehend auf Abstand zu den Plänen. Es sei Unfug zu sagen, dass ein solches Angebot in Deutschland fehle: „Es ist eine Versorgungsform, die Parallelen zu ambulant betreuten Wohngemeinschaften und sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen aufweist“, sagte ein Sprecher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Warum die neue Regelung Teil des Pflegekompetenzgesetzes werden soll, „hat uns der Minister noch nicht offenbart“. Die Pflegebranche sei „mit einem ungelegten Ei in Aufruhr versetzt worden“.

Seit Jahren gibt es ein Projekt, das für Lauterbachs Pläne eine Blaupause sein könnte: Die BeneVit Gruppe in Wyhl in Baden-Württemberg praktiziert im Haus Rheinaue seit 2016 stambulante Pflege. Sie hebt das tradierte Verständnis von „stationär“ und „ambulant“ in der Altenhilfe auf und versucht, beide Sektoren intelligent miteinander zu verbinden. Inhaber Kaspar Pfister kämpft seit Jahren ohne Erfolg dafür, dass dieser Versuch, der nach Paragraf 45f SGB XI zur Weiterentwicklung der stationären Altenpflege initiiert wurde, in die Regelversorgung aufgenommen wird. Ende 2023 gab es stattdessen eine erneute Verlängerung und das Projekt ging in das achte Jahr seiner Modellphase - weil es trotz aller positiven Evaluierungen noch keine gesetzliche Verankerung gibt.

Pflegeplätze deutlich günstiger

In Wyhl sind ähnlich wie in vollstationären Einrichtungen mit der Überlassung von Wohnraum pflegerische Leistungen verbunden, allerdings nur bis zu einem gewissen Umfang (sogenannte Grundleistung). Weitergehende Hilfen und Dienste werden ambulant hinzugebucht oder können alternativ auch von Angehörigen übernommen werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses Rheinaue leben in einem Hausgemeinschaftskonzept in Wohngruppen von bis zu 15 Personen zusammen und übernehmen auch Arbeiten wie Wäsche waschen oder Zimmerreinigung selbst. Und auch das lässt aufhorchen: Dort fallen deutlich geringere Eigenanteile im Vergleich zu stationären Pflegeheimen an: um bis zu 1.000 Euro weniger pro Monat.

Der Träger wirbt auf seiner Homepage für ein „Mitmach-Pflegeheim“, wie es sich Bewohnende und Angehörige wünschten. „Pflegebedürftigkeit steht nicht im Vordergrund: Eine lebensbejahende, fröhliche Grundhaltung trägt die Gemeinschaft.“ Alltag werde als Therapie gelebt. Und weiter: „Stationäre Sicherheit, kombiniert mit ambulanter Vielfalt, bedeutet, Wahlmöglichkeiten zu haben: Unterkunft, Betreuung und Pflege können durch unterschiedliche Leistungen ergänzt werden. Daraus entsteht ein individualisiertes Betreuungspaket nach den Bedürfnissen des pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen und seiner Angehörigen.“

Gutachten: Anspruch wird eingelöst

Im Evaluationsgutachten des GKV-Spitzenverbandes aus dem Jahr 2023 heißt es: „Die stambulante Versorgung stellt den Versuch dar, das Beste aus zwei Welten in einem Angebot zu kombinieren. Die sehr viele Aspekte und Beteiligte einbeziehenden Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Anspruch eingelöst wird.“

„Das Modell zeigt als ein Beispiel neuer Wohnformen, wie Versorgungsgrenzen im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner aufgehoben werden und Selbstbestimmung sowie Sicherheit gefördert werden können“, erklärte Christian Heerdt vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA). Dass nun ein gesetzlicher Rahmen dafür geschaffen werden solle, sei ein Schritt in die richtige Richtung und zugleich „eine Chance für alle alternativen Wohnangebote“, so Heerdt. Deshalb gehe es bei der anstehenden Gesetzesreform eben nicht darum, eine weitere zum Stambulant-Modell passende Säule einzuziehen, sondern den rechtlichen Rahmen dafür zu schaffen, die Vielfalt der Wohnformen möglich zu machen und die künstlichen Grenzen aufzuheben.

Rothgang: Gut gemeint, aber schädlich

Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang wies den Vorschlag Lauterbachs dagegen ebenfalls zurück. Das sei „gut gemeint, aber im Ergebnis schädlich und sogar gefährlich“, sagte er dem epd. Die Problemanalyse sei zwar absolut nachvollziehbar. Aber dafür mit der „stambulanten“ Pflege einen neuen Sektor zu schaffen, sei rückwärtsgewandt.

Der Forscher befürchtet eine große Zahl an Abgrenzungsproblemen, die unter anderem mit Blick auf die Vergütung von Leistungen eine Flut juristischer Streitfälle auslösen könnten. Hinweise darauf gebe es schon jetzt, beispielsweise in betreuten Wohnformen und in der teilstationären Tagespflege. „Im Moment haben wir zwischen der ambulanten und der stationären Pflege eine Grenze, an der es schon knirscht. Künftig haben wir zwei Grenzen, da wird es doppelt knirschen“, so Rothgang.

Die Lösung sei aus seiner Sicht eine sektorfreie Versorgung, bei der jeder Mensch wohnen könne, wie er wolle, „die Pflege kommt unabhängig von der Wohnform modular als Leistung dazu und wird nach einheitlichen Regeln abgerechnet“. Die Umsetzung dieses Konzeptes sei auch nicht einfach, „aber zukunftsweisend“.

Forscher Isfort: Kein großer Wurf

Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung zeigte sich auf Anfrage des epd ebenfalls skeptisch. Das werde kein großer Wurf, „der die aktuellen und vor allem zukünftigen Anforderungen substanziell neu sortieren kann“. Solange man den Fokus auf Versorgung und auf professionelle Sektoren lege, werde man an einer Grenze immer scheitern: „Diese heißt der Fachkraftmangel professionell Pflegender, der jüngst im DAK-Pflegereport noch einmal nachdrücklich mit Zahlen untermauert wurde“, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende. „Insgesamt braucht es eine deutlichere Hinwendung zu präventiven Ansätzen und zu Ideen, die jenseits der bestehenden Sektoren der Versorgung gedacht werden können.“

Verband: Erst Pflichtaufgaben in der Pflege erledigen

Der Bundesverband „wir pflegen“ begrüßt zwar grundsätzlich alle Bemühungen, die Entlastungsangebote und Wahlmöglichkeiten für pflegebedürftige Menschen zu erweitern. „Allerdings sehen wir den Zeitpunkt und die Folgen der potenziellen Umsetzung stambulanter Versorgung sehr kritisch“, sagte Sprecherin Lisa Thelen dem epd: „Der Gesundheitsminister sollte zuerst die Pflichtaufgaben erledigen, denn die häusliche und stationäre Pflege stehen unter extremem Druck. Pflegende Angehörige zu Hause leiden an Überlastung, krasse Bürokratie behindert nach wie vor eine Flexibilisierung der Leistungen, und die Praxis der Pflege-Triage greift immer mehr um sich.“

Zudem bestehe bei der Umsetzung neuer Initiativen die akute Gefahr, dass sie der häuslichen und stationären Pflege weiteres Fachpersonal und Mittel zur Finanzierung abgraben. Man befürchte eine Politik des „Verschiebebahnhofs“, so Thelen. Angesichts des Personalmangels, mangelnder Investitionen und weiterer Haushaltskürzungen drohe eine stambulante Entwicklung, die keineswegs billig sein werde. Bei fehlenden Investitionen in allen Pflegebereichen muss das unabdingbar dazu führen, dass letztlich bereits völlig überlastete An- und Zugehörige weitere Pflegeverantwortung schultern müssten. Ohne wichtige Investitionen in alle Pflegebereiche werde stambulante Pflege den Notstand nicht verringern. Im Gegenteil.

Dagegen will sich der baden-württembergische Sozialminister Manne Lucha (Grüne) für mehr stambulante Modelle in der Praxis einsetzen - wohl auch, weil sein Ministerium an dem Modellprojekt in Wyhl mittelbar beteiligt ist. Aus seiner Sicht entspricht es dem Wunsch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen nach mehr Flexibilität und der Möglichkeit, sich auch selbst an der Versorgung zu beteiligen.

Die AOK Baden-Württemberg war an der Ausgestaltung des Konzepts im Haus Rheinaue ebenfalls beteiligt und hat dort nach eigenen Angaben sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Konzeption ermögliche es den Pflegebedürftigen, ein Leben wie zu Hause zu führen und gleichzeitig von der Gesellschaft einer häuslichen Gemeinschaft zu profitieren. „Eine Verschmelzung der Sektoren ermöglicht eine neue Lebensqualität für Pflegebedürftige, aber auch für deren Angehörige“, sagte Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Mit neuen Leistungskombinationen könnten individuelle Bedürfnisse besser berücksichtigt werden.

Dirk Baas


Gesundheit

Lob und Kritik für Entwurf des Gesundheitsversorgungsgesetzes




Sprechstundenhilfe beim Arzt
epd-bild/Jürgen Blume
Mit dem Gesundheitsversorgungsgesetz wollte Gesundheitsminister Karl Lauterbach neue Elemente in die medizinische Versorgung vor Ort hineinbringen. In einem Referentenentwurf finden sich allerdings viele Vorschläge nicht mehr. Ärzteverbände, Hilfsorganisationen und Krankenkassen bewerten das sehr unterschiedlich.

Berlin (epd). Ursprünglich sollten mit dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) jede Menge Neuerungen in die ambulante Medizin einfließen. In sogenannten Gesundheitskiosken beispielsweise sollten nach dem Vorhaben von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Pflegekräfte niedrigschwellig zu Prävention und Behandlung beraten. In unterversorgten Regionen sollten sogenannte Primärversorgungszentren entstehen. In diesen sollte es neben medizinischer auch soziale Hilfe geben. Kassen und Kommunen hätten „Gesundheitsregionen“ bilden können, in denen Anbieter von Gesundheitsleistungen kooperieren und sich vernetzen.

Hausärztinnen und Hausärzte sollten vom GVSG profitieren. Für hausärztliche Leistungen etwa sollte es keine Budgetgrenze mehr geben. Zwei neue Pauschalzahlungen sollten jährlich an die Praxen gehen: eine Versorgungspauschale für chronisch Kranke und eine Vorhaltepauschale, die an Bedingungen geknüpft sein soll, zum Beispiel an Abendsprechstunden.

In einem Referentenentwurf von Mitte April waren allerdings viele der Vorschläge nicht mehr enthalten. Ärzteverbände und die FDP hatten die Gesundheitskioske als „unnötige Doppelstrukturen“ kritisiert. Von ihnen ist nun keine Rede mehr, auch nicht von Gesundheitsregionen und Versorgungszentren. Die Erleichterungen für Hausärzte blieben hingegen erhalten. Am 6. Mai konnten sich Verbände im Gesundheitsausschuss des Bundestags zu dem Entwurf äußern.

AOK: Entwurf „größtenteils substanzlos“

Kritik am vorliegenden Referentenentwurf kommt vom Bundesverband der AOK. Der Anspruch, die Gesundheitsversorgung in der Kommune zu stärken, sei in der aktuellen Fassung nicht mehr erkennbar, monierte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Jens Martin Hoyer: „Mit der Streichung der ursprünglich vorgesehenen Primärversorgungszentren und weiterer inhaltlicher Versorgungselemente wie der Gesundheitsregionen und Gesundheitskioske ist das Gesetz größtenteils substanzlos geworden.“

Die Entbudgetierung der Hausärzte werde die Beitragszahlenden 300 Millionen pro Jahr zusätzlich kosten, prognostizierte die AOK. Dabei sei vollkommen unklar, inwiefern diese Mehrkosten die Versorgung von Patientinnen und Patienten auf dem Land verbessern solle. Die vorgesehene Jahrespauschale für Hausärzte werde die Versorgung chronisch Kranker sogar verschlechtern, weil sie starke Anreize schaffe, diese Patientinnen und Patienten seltener zu behandeln.

Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege nahmen „mit Bedauern“ zur Kenntnis, dass „die wichtigsten in den bisherigen Arbeitsentwürfen für ein Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz enthaltenen innovativen Ansätze zur Weiterentwicklung der Primärversorgung in Deutschland aus dem Referentenentwurf gestrichen wurden“. Der vorliegende Gesetzentwurf werde seinem Namen nicht mehr gerecht. Die Verbände votierten dafür, die Gesundheitskioske, Primärversorgungszentren und Gesundheitsregionen wieder in den Entwurf aufzunehmen. Der freien Wohlfahrtspflege gehören beispielsweise die Diakonie, die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt und das Deutsche Rote Kreuz an.

Kritische Stimmen aus der Ärzteschaft

Auch von Leistungserbringern gab es kritische Stimmen zu den gestrichenen Vorhaben im Referentenentwurf. Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte veröffentlichte ein gemeinsames Positionspapier mit dem Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe und dem Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten. Die Dominanz von Ärztinnen und Ärzten im deutschen Gesundheitswesen müsse endlich aufgehoben werden, heißt es darin. Für Hilfsbedürftige sei es besser, wenn Beschäftigte im Gesundheitswesen multiprofessionell und auf Augenhöhe zusammenarbeiteten, anstatt sich hierarchisch gegeneinander abzuschotten und wirtschaftliche Eigeninteressen zu verfolgen. In Primärversorgungszentren sei eine solche Zusammenarbeit möglich.

Hausärzte fordern weitere Verbesserungen

Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband hingegen mahnte bei der Umsetzung des Gesetzes zur Eile. „Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren“, teilten dessen Bundesvorsitzenden Nicola Buhlinger-Göpfarth und Markus Beier mit. „Wer sich gegen diese notwendigen Reformen stellt, der stellt sich gegen die Hausärzteschaft.“ Der Erfolg des Gesetzes entscheide maßgeblich darüber, ob es in zehn Jahren noch eine gute hausärztliche Versorgung in Deutschland gebe. Zugleich forderten die Hausärztinnen und Hausärzte Verbesserungen im Entwurf, beispielsweise bei den Pauschalen für chronisch Kranke, bei den Kriterien für eine Vorhaltepauschale und bei der Umsetzung der Entbudgetierung.

Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung drang auf die Regulierung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die von branchenfremden Investoren gegründet werden. Von diesen gingen „erhebliche Gefahren für die Patientenversorgung aus“. Es brauche eine räumliche und fachliche Gründungsbeschränkung für die MVZ. In einer früheren Verlautbarung hatten die Zahnärztinnen und Zahnärzte kritisiert, dass die Investoren-MVZ eine „Tendenz zu Über- und Fehlversorgungen“ zeigten. Überdies siedelten sie sich bevorzugt in Großstädten und Ballungsräumen an, wo das Einkommen überdurchschnittlich sei, die aber zugleich einen hohen zahnärztlichen Versorgungsgrad aufwiesen.

Nils Sandrisser


Armut

Döner-Imbissbuden bieten kostenloses Essen für Bedürftige




Huzan Albag in seiner Dönerimbissbude "Original-Berliner-Döner" in Nürnberg
epd-bild/Stefanie Unbehauen
Menschen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich oft von Armut betroffen, dennoch nimmt ein Teil von ihnen die Angebote der Tafeln relativ selten in Anspruch. Einige Döner-Imbissbuden unterstützen Bedürftige mit kostenlosem Essen.

Nürnberg, Passau (epd). Betritt man den „Original Berliner Döner“ in der Dürrenhofstraße in Nürnberg, fällt sofort das weiße Schild auf, das rechts unten am Eingang befestigt ist. Darauf steht in schwarzen Großbuchstaben: „Das Essen ist für Bedürftige kostenlos.“ Und weiter heißt es: Wer Obdachlose oder Menschen in einer Notsituation kennt, solle sie hierherschicken. Damit das Angebot auch wirklich bei den Bedürftigen ankommt, bittet der Imbiss-Besitzer Hivar Saeeid darum, es nicht unbefugt auszunutzen.

Saeeid weiß, was es heißt, bedürftig zu sein. „Auf die Idee kam ich, weil ich selbst schon mal in einer solchen Situation war und damals einen Döner kostenlos erhalten habe“, erinnert sich der 36-Jährige. Mit 19 Jahren wollte er sich etwas zu essen kaufen, hatte jedoch nur zwei Euro in der Hosentasche. Als der Verkäufer das bemerkte, schenkte er ihm einen Döner. Das Angebot komme sehr gut an, sagt er. „In den letzten Wochen und Monaten ist es mehr geworden. Genau das wollte ich erreichen.“

Höhere Armutsbetroffenheit bei Migranten

Migranten sind, auch wenn sie schon länger in Deutschland leben, überdurchschnittlich oft von Armut betroffen. Laut Statistischem Bundesamt betrug die Armutsgefährdungsquote von Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2021 fast 29 Prozent. Im Gesamtdurchschnitt lag sie bei knapp 17 Prozent.

Nach einer Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2020 hat etwas mehr als ein Drittel der Tafel-Nutzerinnen und -Nutzer einen Migrationshintergrund. Personen mit einem direkten Migrationshintergrund - also diejenigen, die im Ausland geboren wurden - nehmen Tafeln überdurchschnittlich häufig in Anspruch. Anders verhält es sich mit Personen mit Migrationshintergrund in der zweiten und dritten Generation, die trotz höherer Armutsquote Tafeln nicht häufiger besuchen als Menschen ohne ausländische Wurzeln.

Die Soziologin Magdalena Nowicka, Leiterin der Abteilung Integration des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin, sagt: „Scham kann dabei eine Rolle spielen, ebenso die Angst, als Schmarotzer zu gelten.“ Aufgrund der Hemmschwelle würden Migrantinnen und Migranten häufiger Hilfe innerhalb der eigenen Community suchen.

Auch Menschen, die arbeiten, sind auf die Tafeln angewiesen

Auch der hohe Anteil deutscher Bedürftiger gibt der Soziologin zu denken. „Es ist alarmierend, dass zwei Drittel der Tafel-Nutzer Deutsche sind, denen es eigentlich strukturell besser gehen sollte.“ Besorgniserregend sei, wenn Personen, die Arbeit haben, auf Unterstützung durch Tafeln angewiesen seien.

Ein ähnliches Angebot wie in Nürnberg gibt es auch am Passauer Dönerstand „Prince“. Seit der Eröffnung im April 2022 bietet Besitzer Ameer Al-Sudani kostenlose Mahlzeiten an. „Lieber schenke ich einem Menschen in Not einen Döner, als dass ich am Ende des Tages etwas wegschmeiße“, sagt der 31-Jährige. Er wolle Menschlichkeit zeigen. Manchmal kämen ein paar Bedürftige in der Woche wegen einer Gratis-Mahlzeit zu ihm, manchmal nur ein paar im Monat.

„Seit die Lebensmittel teurer geworden sind, sind es mehr geworden“, sagt Al-Sudani, der selbst mit gestiegenen Preisen kalkulieren muss. Seit der Eröffnung vor zwei Jahren ist der Dönerpreis von vier auf fast sechs Euro gestiegen. Einen Nachweis für seine Bedürftigkeit müsse niemand vorzeigen. „Ich setze auf Vertrauen“, sagt Al-Sudani.

Trittbrettfahrer gibt es hin und wieder auch

Doch das Angebot werde auch ausgenutzt. „Letztens kam jemand mit einer nagelneuen Markenjacke, der nach Alkohol roch. Er sah nicht aus wie jemand, der bedürftig ist. Ich sagte ihm, dass sich das Angebot an Menschen richtet, die wirklich in Not sind“, sagt Al-Sudani.

Trotz derartiger Situationen mache er weiter. „Ich hoffe, dass weitere Imbissbuden und Restaurants auf solche Angebote aufmerksam werden und das nachmachen. Menschen in Not sollte man unterstützen, wenn man kann.“

Stefanie Unbehauen


Familie

Väter kümmern sich länger um Kinder als früher




Vater bei der Kinderbetreuung
epd-bild/Rolf Zöllner
Im vergangenen Jahrzehnt ist die Zeit, die Väter mit ihren Kindern verbringen, mehr geworden. Aber noch immer kümmern sich Frauen länger um den Nachwuchs als Männer - und anders.

Wiesbaden (epd). Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden kümmern sich Väter heute länger um ihre Kinder als noch vor einem Jahrzehnt. Aber immer noch sind es die Mütter, die mehr Betreuungsarbeit leisten, und Männer und Frauen setzen unterschiedliche Schwerpunkte bei der Kinderbetreuung. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung sieht darin das Abbild von Ungleichheiten in der Erwerbsarbeit.

Aus der Zeitverwendungserhebung für 2022 des Statistischen Bundesamts ging hervor, dass Väter sich in jenem Jahr Tag für Tag im Schnitt eine Stunde und 19 Minuten um den Nachwuchs gekümmert hatten. 2012/2013 habe die tägliche Betreuungszeit von Vätern noch 51 Minuten betragen und damit rund eine halbe Stunde weniger als in der jüngsten Erhebung, teilte das Bundesamt am 7. Mai mit.

Von den durchschnittlich 79 Minuten, die Väter täglich mit den Kindern verbrachten, wendeten sie 23 Minuten für das Beaufsichtigen drinnen oder draußen auf und 20 Minuten für Sport und Spiel. Mütter kümmern sich der Statistik zufolge dagegen eher um die Körperpflege sowie das Füttern und Anziehen des Nachwuchses.

Nur Kinderbetreuung als Hauptaktivität ausgewertet

Die Statistikbehörde berücksichtigte Alleinerziehenden- und Paar-Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren. Dazu zählten leibliche Kinder, Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder. Die ausgewiesenen Zeiten umfassten die Kinderbetreuung als Hauptaktivität. Kinderbetreuung, die nebenbei läuft, zum Beispiel das Beaufsichtigen beim Spielen, während der Elternteil einer Hausarbeit nachgeht, wurde nicht berücksichtigt. Diese beträgt bei Vätern den Angaben zufolge zusätzliche 40 Minuten und bei Müttern eine Stunde und 21 Minuten pro Tag.

Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, Claudia Kohlrausch, wies darauf hin, dass Väter nach der Geburt des ersten Kindes häufig mehr Erwerbsarbeit leisteten, während Mütter diese reduzierten. „Wir brauchen daher eine Umverteilung von Zeit: Zeit für Sorgearbeit muss von Frauen zu Männern und Zeit für Erwerbsarbeit von Männern zu Frauen verteilt werden“, sagte Kohlrausch. Die Zahlen des Bundesamts spiegelten den in Studien schon oft belegten Wunsch von Vätern nach einer gleichberechtigteren Verteilung von Sorgearbeit.

Studie bestätigt Befund der Statistik

Eine am 8. Mai veröffentlichten Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln bekräftigte den Befund des Statistischen Bundesamts. Laut der Untersuchung verbrachten Väter im Jahr 2021 durchschnittlich 4,7 Stunden am Tag mit ihren Kindern unter sechs Jahren. 2001 waren es dagegen im Durchschnitt nur 2,8 Stunden pro Tag gewesen. Die Zahlen in der Studie beruhen auf Angaben von 30.000 Menschen aus 15.000 Haushalten, die im sogenannten Sozio-oeconomischen Panel (SOEP) festgehalten werden. Dabei handelt es sich um eine seit 1984 regelmäßig realisierte Befragung.

Während demnach 2001 lediglich 7 Prozent der Väter mehr als sechs Stunden Zeit mit ihren Kindern verbracht hatten, waren es 2021 schon fast 21 Prozent. Der Anteil der Väter, die sich überhaupt nicht um die Betreuung ihrer Kinder kümmerten, sank in dem Zeitraum von 4,9 auf 1,4 Prozent.

Auch bei der Hausarbeit, wie Waschen, Putzen und Kochen, gaben Väter der Studie zufolge an, sich länger damit zu beschäftigen als noch vor 20 Jahren. So erklärten fast 85 Prozent der Väter, täglich bis zu zwei Stunden Hausarbeit zu erledigen. 2001 waren dies 61 Prozent gewesen. Die tägliche Hausarbeit bei den Männern stieg in dem Zeitraum allerdings nur leicht: von durchschnittlich 0,7 auf 1,1 Stunden pro Tag.

Kinder und Haushalt bleiben nach wie vor hauptsächlich an Frauen hängen

Aus den Studiendaten geht aber auch hervor, dass Mütter weiterhin den Großteil der Last bei der Kinderbetreuung und der Hausarbeit schultern. Elf Stunden verbrachten sie nach eigenen Angaben 2021 im Durchschnitt pro Tag mit der Kinderbetreuung. Außerdem gaben 56 Prozent an, dass sie am Tag bis zu zwei Stunden mit der Hausarbeit verbringen. Bei 43,6 Prozent waren es mehr als zwei Stunden.

„Da die geburtenstarken Babyboomer aus dem Erwerbsleben ausscheiden, wird Deutschland in den kommenden Jahren verstärkt auf die Arbeitskraft von Müttern angewiesen sein, um Wachstum und Wohlstand zu sichern“, sagte IW-Experte und Studienautor Wido Geis-Thöne. Insofern sei es eine erfreuliche Entwicklung, dass sich Väter mehr um Kindeserziehung und Hausarbeit kümmerten. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich gewährleisten zu können, reiche das allerdings nicht aus. Laut IW fehlen über 300.000 Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren in Deutschland.



Migration

Studie: Rassismus erhöht das Risiko für Armut




Protest gegen Rassismus
epd-bild/Rolf Zöllner
Leistung zahlt sich aus, so lautet das Aufstiegsversprechen. Für viele Menschen stimmt es aber nicht, zeigt eine neue Studie. Von Rassismus betroffene Menschen haben demnach oft trotz hoher Bildung und eines Vollzeitjobs ein höheres Armutsrisiko.

Berlin (epd). Rassistische Vorurteile erhöhen für schwarze, asiatische und muslimische Menschen einer Studie zufolge das Armutsrisiko. Wie aus Ergebnissen einer am 7. Mai in Berlin vorgestellten Befragung von rund 21.000 Erwachsenen hervorgeht, liegt die Quote der Armutsgefährdung bei Menschen, die keine sogenannte rassistische Markierung haben, bei rund 10 Prozent, bei schwarzen, asiatischen und muslimischen Männern jedoch bei bis zu 41 Prozent.

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens in Deutschland zur Verfügung hat. Laut Statistischem Bundesamt lag diese Quote 2022 bei rund 15 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen. Für die am Dienstag vorgestellte Studie wurden nur 18- bis 70-Jährige befragt. Die Armutsquote über alle Bevölkerungsgruppen hinweg liegt dort etwas niedriger, was laut den Forscherinnen vermutlich daran liegt, dass Altersarmut weitgehend nicht erfasst ist.

Schwarze, Asiaten und Muslime stark betroffen

Die Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) ist ein Kurzbericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors, der im Auftrag der Bundesregierung Daten zur Situation von Menschen erhebt und analysiert, die von rassistischen Zuschreibungen betroffen sein können. Der Bericht kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es nicht reicht, allein den Migrationshintergrund zu betrachten. Den Angaben zufolge liegt die Armutsgefährdung bei Menschen ohne Migrationshintergrund bei rund 12 Prozent, bei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bei rund 28 Prozent. Bei Menschen ohne Staatsbürgerschaft liegt das Armutsrisiko sogar bei mehr als 35 Prozent. Besonders stark betroffen sind den Daten zufolge schwarze, asiatische und muslimische Menschen.

Die Forschenden haben die Daten dabei in verschiedenen Modellen analysiert, die Bildung, Erwerbsstatus, Geschlecht, Geburtsort und Staatsbürgerschaft jeweils stärker berücksichtigen. Im Ergebnis zeigt sich, dass höhere Bildung oder ein Vollzeitjob das Armutsrisiko bei rassistisch markierten Menschen senken, allerdings nicht auf das gleiche Niveau wie bei Menschen, die ohne rassistische Benachteiligung ins Berufsleben starten. Trotz Vollzeiterwerbstätigkeit leben demnach etwa 22 Prozent der schwarzen Frauen oder 21 Prozent der muslimischen Männer an der Armutsschwelle oder darunter. Bei nicht rassistisch benachteiligten Menschen liegt die Quote nur bei 5 Prozent.

Die Migrationsforscherin Zerrin Salikutluk, Autorin des Berichts und Leiterin des Rassismusmonitors, hob den Zusammenhang zwischen Staatsbürgerschaft und Armutsrisiko besonders hervor. Der Besitz des deutschen Passes habe langfristige Konsequenzen für die Einkommenssituation. Bestimmte Berufe beispielsweise im öffentlichen Dienst seien nur zugänglich mit der deutschen Staatsbürgerschaft. Auch private Arbeitgeber seien verunsichert, wenn der Aufenthaltsstatus eines Jobbewerbers nicht geklärt sei oder scheuten den Aufwand für die Personalabteilung, erläuterte Salikutluk.

Viele Zuwanderer arbeiten unterhalb ihrer Qualifikation

Eine weitere Ursache sieht die Sozialwissenschaftlerin in den Hürden bei der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen. Viele Zuwanderer gingen einer Arbeit nach, die unterhalb ihrer Qualifikation liege, sagte sie.

Der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sagte, der Bericht beweise, dass es in Deutschland „gewisse Mythen“ gebe, etwa die Versprechen, dass sich Leistung und Investition in Bildung lohne. „Das stimmt für bestimmte Gruppen nicht“, sagte er. Auch aus wirtschaftlicher Perspektive müsse sich das mit Blick auf fehlende Arbeitskräfte ändern. Der Bericht deute darauf hin, „dass da ein riesiges Potenzial liegt“.



Gesellschaft

Studie: Zufriedenheit bei 30- bis 59-Jährigen auf hohem Niveau



Trotz vielfältiger Krisen ist die Stimmung der "Generation Mitte" gut. Dabei hofft sie laut einer Studie bei der Bewältigung von Problemen weniger auf die Politik und mehr auf die Wirtschaft. Nur eine Minderheit sieht die Demokratie in Gefahr.

Berlin (epd). Der mittleren Generation geht es laut einer Studie deutlich besser, als die aktuellen wirtschaftlichen Rahmendaten vermuten lassen. Der diesjährigen „Mitte-Studie“ zufolge sind die 30- bis 59-Jährigen mit ihrer eigenen finanziellen Situation zufriedener als im vergangenen Jahrzehnt. Zugleich steige der Zukunftsoptimismus, während Abstiegsängste zurückgingen. Das geht aus der Umfrage des Allensbach-Instituts hervor, die am 7. Mai in Berlin vorgestellt wurde.

Die Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts, Renate Köcher, sagte bei der Vorstellung der Studie, die „Generation Mitte“ empfinde sich in einer relativ gefestigten Situation, die durch die Corona-Pandemie kurzfristig angegriffen wurde. „Viele stimmen der These zu, dass bei uns zu viel gejammert wird und die Lage besser ist als die Stimmung“, erläuterte Köcher.

Ergebnisse bedeuten kein mangelndes Vertrauen in die Demokratie

Das Gefühl, das eigene Leben planen zu können, sei dabei in Westdeutschland stärker ausgeprägt als in Ostdeutschland. Als Hoffnungsträger sehe die Generation vor allem Wirtschaft, Wissenschaft und sich selbst, lediglich knapp 30 Prozent der Befragten gab die Politik als Hoffnungsträger an. Das bedeute kein mangelndes Vertrauen in die Demokratie, sagte Köcher. Lediglich ein Drittel der Befragten hält die Demokratie für gefährdet.

Dennoch werde großer Reformbedarf gesehen. Im Jahr der Europawahl hätten die Befragten ein zwiespältiges Verhältnis zur Europäischen Union. Jeder Dritte sieht die Zukunft der EU demnach optimistisch. 30 Prozent der Befragten seien in dieser Hinsicht pessimistisch, ein gutes Drittel traue sich kein Urteil darüber zu. Gleichzeitig seien die Erwartungen an die europäische Ebene vor allem mit Blick auf eine Steuerung der Migration, Bürokratieabbau sowie eine Stärkung der Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit hoch.

Die mittlere Generation beurteilt die wirtschaftliche Lage in Deutschland positiv, sieht aber große Herausforderungen für das eigene Land. Knapp die Hälfte der Befragten sind der Auffassung, dass Deutschland tiefgreifende Reformen braucht. Fast ebenso viele wünschen sich ein höheres Tempo bei der Veränderung. Knapp 20 Prozent finden, es gehe zu schnell.

Mittlere Generation ist überraschend stabil und krisenfest

In der zehnten „Mitte-Studie“ des Allensbach-Instituts im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zeigte sich eine Mehrheit der Befragten zufrieden mit ihrem Leben. Auf einer Skala von 0 für unzufrieden bis 10 für völlig zufrieden, wählten sie im Durchschnitt die Stufe 7,1 (2013: 7,2).

GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen nannte es überraschend, wie stabil und krisenfest die mittlere Generation sei. Auch die hohe Inflation des vergangenen Jahres habe die materielle Situation und Zufriedenheit der Befragten nicht nachhaltig beeinträchtigt. Dazu trage auch der robuste Arbeitsmarkt bei.

Für die Studie „Generation Mitte“ wurden zwischen dem 16. März und dem 4. April 1.026 Männer und Frauen befragt. Die Untersuchung wird seit 2013 jedes Jahr erstellt. Die repräsentative Befragung gibt Auskunft über das Lebensgefühl der beruflich und familiär besonders geforderten mittleren Generation und beschäftigt sich auch mit Fragen der Altersvorsorge.




sozial-Branche

Pflege

Umfrage: Pflegekräfte wollen mehr Verantwortung




Eine Pflegekraft saugt Schleim aus der Luftröhre einer Patientin auf einer Wachkomastation.
epd-bild/Werner Krüper
Das neue Pflegekompetenzgesetz soll professionellen Pflegekräften mehr Eigenverantwortung und Kompetenzen bringen. Die Pflegeberufsverbände begrüßen das Vorhaben der Bundesregierung, fordern aber zugleich bessere Rahmenbedingungen.

Berlin (epd). Eine überwiegende Mehrheit der professionellen Pflegekräfte (84 Prozent) erfährt einer Umfrage zufolge den Pflegeberuf als sinnstiftend. 59 Prozent von ihnen würden den Beruf wieder ergreifen, geht aus einer am 7. Mai vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) veröffentlichten Umfrage hervor. Die Online-Umfrage „Pflege, wie geht es dir?“ unter mehr als 6.000 beruflich Pflegenden fand vom 1. bis 31. März statt. Sie soll ab sofort jährlich erfolgen, teilte der DBfK mit.

DBfK-Bundesgeschäftsführerin Bernadette Klapper nannte es „bemerkenswert“, dass 68 Prozent der Befragten sich eine Ausweitung ihrer Kompetenzen wünschen und 78 Prozent angaben, dass sie bereit seien, mehr Verantwortung zu übernehmen. „Das zeigt sowohl die enorme Verbundenheit mit dem Pflegeberuf als auch die hohe Motivation der größten Berufsgruppe im Gesundheitswesen“, sagte Klapper.

Nachdenken über Berufsausstieg

In der Befragung gaben 28,8 Prozent der Teilnehmenden an, oft - das heißt mehrfach im Monat, wöchentlich oder gar täglich - über einen Berufsausstieg nachzudenken. Der Wert lag in den vergangenen Jahren regelmäßig um die 30 Prozent. „Wir sehen allerdings, dass diejenigen, die laut Umfrage ihre Kompetenzen im Berufsalltag nicht vollständig einbringen können, sogar mit 46 Prozent überdurchschnittlich oft an einen Berufsausstieg denken“, sagte Klapper.

„Wir haben die Teilnehmenden auch danach gefragt, ob neue berufliche Rollen wie die der Advanced Practice Nurses in Pflegeeinrichtungen oder Kliniken, Community Health Nurses in Primärversorgungszentren oder im Gesundheitsdienst, Schulgesundheitspflege oder die Pflegeexpertin mit Fachweiterbildung und einem erweiterten Verantwortungsbereich für sie interessant wären - das Interesse ist mit bis zu 48 Prozent sehr groß“, erklärte die Verbands-Chefin. Diejenigen, die kein Interesse an den genannten Rollen haben, gaben nach den Angaben zu 40 Prozent an, dass sie mit ihrer aktuellen Rolle zufrieden seien. 37,5 Prozent sagten, mehr Verantwortung zu übernehmen, „lohnt sich finanziell nicht“. Vor dem Hintergrund des geplanten Pflegekompetenzgesetzes zeigt das laut Klapper: „Wir sind bereit für eine Erweiterung unserer Kompetenzen und für mehr Verantwortung, wenn die Bedingungen stimmen. Wir sind aber auch bereit, den Beruf zu verlassen, wenn unser Können und unsere Motivation weiterhin ignoriert werden.“

Bürokratieabbau in vielen Prozessen

Die Bundesregierung will noch vor der Sommerpause das sogenannte Pflegekompetenzgesetz verabschieden. Mehr Eigenverantwortung und Kompetenzen sollen den Beruf attraktiver machen. Der Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) begrüßt das Vorhaben und fordert, hierfür die Rahmenbedingungen zu verbessern. Barbara Dietrich-Schleicher, die Vorsitzende des Verbandes, sagte am 7. Mai in Berlin: „Pflegefachkräfte müssen endlich das ausüben dürfen, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben. Ihre Kompetenz ist gesetzlich zu verankern, damit sie noch stärker gemäß ihrer Qualifikation arbeiten können. Dies kann zu einem Bürokratieabbau in vielen Prozessen führen und damit entlasten.“

Die Eckpunkte des Gesetzes sehen unter anderem vor, dass Pflegefachkräfte künftig in den Pflegebegutachtungsprozess eingebunden werden. Durch die Übertragung der Pflegebegutachtung könnten bürokratischen Hürden wie Nachweispflichten an den Medizinischen Dienst deutlich reduziert werden, sagte die VKAD-Vorsitzende. „Das wäre gut für die Menschen und gut für mehr Effizienz im Gesundheitssystem.“

Gleichwohl dürfe nicht die Erwartung geweckt werden, dass Pflegefachkräfte neue Aufgaben zusätzlich leisten. Der VKAD mahnt daher an, entlastende Maßnahmen parallel anzugehen. Insbesondere im Ausbildungsbereich müssten wichtige Vorhaben endlich angestoßen werden: „Die generalistische Pflegeassistenzausbildung muss kurzfristig bundesweit umgesetzt werden, um mehr Menschen einen niederschwelligen Einstieg in den Beruf zu ermöglichen. Zudem brauchen wir dringend mehr Ausbildungsplätze. Hier sind Bund und Länder gefragt, die Finanzierung sicherzustellen“, sagte Dietrich-Schleicher.

Markus Jantzer


Pflege

Interview

Diakoniechef zur Aufwertung der Pflege: "Grundgefühl, nicht respektiert zu werden"




Hans-Peter Daub
epd-bild/Torge Bleicher
Pflegekräfte genießen zu wenig Wertschätzung, sagt der Vorsitzende der Dachstiftung Diakonie, Hans-Peter Daub. Ihren Fähigkeiten werde misstraut und der Beruf sei so verrechtlicht, dass Pflegekräfte ihre Fähigkeiten oft nicht anwenden dürften. Während der Corona-Zeit habe es weitere Belastungen gegeben.

Hannover (epd). Der Umgang mit den Beschäftigten in der Pflege während der Corona-Pandemie hat nach Ansicht des Theologen Hans-Peter Daub nachhaltig Spuren hinterlassen. Vor allem die zeitweilig geltende Impfpflicht habe für Verletzungen gesorgt, die nachwirkten, sagt der Vorsitzende der Dachstiftung Diakonie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Dachstiftung als einer der größten Träger der Altenhilfe in Niedersachsen arbeite bis heute daran, die Folgen wieder zu mildern. Die Fragen stellte Karen Miether.

epd sozial: Herr Daub, Sie standen der zwischen Mitte März und Ende 2022 geltenden Impfpflicht in der Pflege von Anfang an kritisch gegenüber. Wie bewerten Sie das heute?

Hans-Peter Daub: Das ist im Nachgang immer noch ein Skandal und dieser wirkt sich bis heute in verschiedener Hinsicht aus. Damals war ja die allgemeine Corona-Impfpflicht gescheitert, weil gesagt wurde, das ist ein zu großer Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Was folgte, war die tiefe Verletzung eines Berufsstandes, der sich politisch dagegen nicht wehren konnte. Diese Gruppe musste dann exemplarisch retten, was Herr Lauterbach für die Gesamtgesellschaft nicht durchgesetzt hatte.

epd: Jetzt werden gut ein Jahr nach dem Ende der letzten Corona-Maßnahmen verschiedentlich Rufe nach einer Aufarbeitung laut. Wäre das für den Bereich Pflege wünschenswert?

Daub: Ich würde das sehr begrüßen, wenn eine Enquete-Kommission aus politisch Verantwortlichen und wissenschaftlicher Expertise aufarbeitet, wie das erlebt wurde. Eine repräsentative Befragung von Pflegekräften könnte ich mir sehr gut vorstellen. Mit dem Ziel, daraus zu lernen. Einen Untersuchungsausschuss, wie er den AfD-Leuten vorschwebt, in dem man schön schimpfen kann und eine Bühne hat, fände ich jedoch ganz falsch. Wichtig wäre die Fachlichkeit, die aber eine Verbindung zur Politik herstellt. Dafür ist eine Enquete-Kommission genau das richtige Mittel.

epd: Hat es die denn in der Krise aus Ihrer Sicht nicht gegeben?

Daub: Eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik war in der Corona-Krise ja einer der Ansprüche. Aber wenn man jetzt genau nachliest, etwa in den Protokollen des RKI, hat ein wahrer Dialog oft gar nicht stattgefunden. Die einen haben Dinge in irgendwelchen Talk-Sendungen verkündet, die anderen auch. Und dann haben sie genommen, was sie voneinander verstanden haben.

Die Langzeitpflege und auch die Pflegewissenschaft wurden in der Corona-Politik ohnehin wenig gehört und einbezogen. Als es dann die ersten 100-Jährigen gab, die Corona überstanden hatten, wollte das erst niemand hören. Es blieb einfach immer bei dem gleichen Verdikt, wir müssen die Vulnerablen schützen. Bei denen, die ihnen am nächsten waren, da wurde dann keine Rücksicht genommen auf elementare Bürgerrechte, die mussten geimpft werden. Dabei hatten wir im Bereich der Pflege bereits in kurzer Zeit auf freiwilliger Basis eine Impfquote von 85 bis 90 Prozent.

Die Impfung hat ganz bestimmt das Virus entschärft. Was die Krankenquoten in der Mitarbeiterschaft angeht, hat uns die Impfung jedoch nichts gebracht. Deshalb hat sich an diesem Punkt die Politik wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Mit der Scheinplausibilität, es gehe um die besonders gefährdeten Gruppen, ging es eigentlich darum, dem „Team Vorsicht“ einen Knochen hinzuwerfen.

epd: Wer sich nicht impfen ließ, musste mit Konsequenzen bis zum Betätigungsverbot rechnen. Wie sah dies in der Dachstiftung aus?

Daub: Wir haben als Unternehmen extrem dagegen angearbeitet. Wir haben gesagt, wenn wir Betretungsverbote kriegen, werden wir für euch Lösungen finden. Tatsächlich haben wir zwei oder drei Betretungsverbote gehabt und haben für diese Kolleginnen etwas anderes gesucht. Wir haben aber in dieser Phase auch Leute verloren, die von sich aus gesagt haben: Das ist nicht mehr meine Arbeitswelt!

Und wir haben weitere Mitarbeitende verloren, wegen des enormen Stresses, wegen Überforderung. Wenn wir Corona-Fälle gehabt haben, mussten Leute auch schon mal 20 Stunden am Stück arbeiten. Hinzu kam das entsetzliche Regime der zugeschlossenen Heime. Das war im Grunde ein Skandal, über Monate das Zuhause von Menschen abzuschließen und ihre Freizügigkeit mit Eingangskontrollen zu unterlaufen. Das hat die Lebensfreude in den Einrichtungen nachhaltig beschädigt.

epd: Was tun Sie, um das wieder aufzufangen?

Daub: Wir engagieren uns in der Diakonie für die Verbesserung der Rahmenbedingungen und haben ja auch einiges erreicht. Es sind zusätzliche Betreuungskräfte wie zum Beispiel Betreuungsassistenten in die Pflege gekommen. Jetzt setzen wir das Personalbemessungssystem um, das der Bremer Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang entwickelt hat. Dadurch kommen auch mehr Kolleginnen und Kollegen in die Pflege. Wir haben auch tariflich etwas verbessert. Aber es ist wie ein trockener Schwamm. Das ist etwas, das uns ratlos macht. Es verbessern sich die Rahmenbedingungen, aber das Grundgefühl, in der Pflege nicht genug respektiert zu werden, das kriegen wir im Moment noch nicht weg.

epd: Woran liegt das und was ließe sich tun?

Daub: Wir haben jetzt nach Corona unter anderem ein schönes, europäisch gefördertes Projekt aufgesetzt - „Rückenwind, selbstbewusst für eine neue Kultur in der Pflege“. Da versuchen wir jetzt den Teams mehr Zeit zu geben, um über ihre eigene Arbeit zu reflektieren. Sie können gemeinsam an Standards arbeiten, um auch einen eigenen Beitrag dazu zu leisten, ihren Arbeitsalltag zu verbessern. Zu oft sind es Kommissionen weit weg von der Pflege, die planen, wie zukünftig gepflegt werden soll.

Große Themen sind auch versteckte Ressourcen und das Delegieren mancher Aufgaben. Die Pflege ist ja so verrechtlicht, dass der gesunde Menschenverstand an vielen Stellen an seine Grenzen kommt. Das versuchen wir, aufzuweichen, wo es sinnvoll erscheint.

epd: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Daub: Wenn zum Beispiel eine Bewohnerin stürzt. Dann muss eine Pflegefachkraft kommen und begutachten, ob sie sich dabei etwas getan hat. Stellen Sie sich vor, in einem großen Haus bei uns in der Nacht stürzt die Frau und zwei erfahrene Pflegehelferinnen sind ganz in der Nähe. Dann dürfen sie ihr nicht aufhelfen, sondern müssen warten, bis die Fachpflegekraft vom anderen Ende des Hauses herbeigelaufen kommt.

Oder: Eine Bewohnerin stirbt am Abend. Die Tochter hatte sie erst kurz vorher verlassen und gebeten, informiert zu werden, wenn etwas passiert. Doch die Pflegerinnen können sie nicht anrufen, denn den Tod kann nur ein Arzt feststellen. Die Ärztin hat aber hat noch tausend andere Dinge zu tun und kommt erst am Ende ihrer Tour. Die Tochter erfährt erst am nächsten Morgen, dass ihre Mutter zwölf Stunden zuvor gestorben ist, weil man der Pflegefachkraft nicht zutraut, ihr dies vorher auf eigene Verantwortung zu sagen.

Natürlich kann ich mir einen theoretischen Fall vorstellen, in dem vielleicht die Vitalfunktionen so verändert sind, dass sich eine erfahrene Pflegekraft irrt. Aber daraus generell die Botschaft abzuleiten, ihr dürft das nicht, das kränkt. Das ist widersinnig. Das verhindert auch eine gute Pflege, eine gute Nähe.



Pflege

BKK-Dachverband: Der Pflegeversicherung droht die Pleite




Seniorin in einem Pflegeheim
epd-bild/Werner Krüper
Die Betriebskrankenkassen (BKK) rufen die Bundesregierung auf, ihr Reformtempo für die gesetzliche Pflegeversicherung zu erhöhen. Schon in diesem Jahr steige das Defizit in der Pflegekasse auf eine Milliarde Euro - Tendenz weiter deutlich steigend.

Berlin (epd). Der BKK Dachverband hat am 6. Mai sechs Thesen zum künftigen Reformbedarf in der sozialen Pflegeversicherung vorgestellt, die andernfalls auf eine Pleite zusteuere: „In der Pflege ist es bereits fünf nach zwölf. Die Pflegebeiträge steigen ungebremst, ebenso die Eigenanteile Pflegebedürftiger in den Heimen. Die Pflegeversicherung muss dringend völlig neu ausgerichtet werden“, sagte Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Bundesverbandes, in Berlin. Es brauche einen grundlegenden Umbau der Pflegeversorgung: „Die Flickschusterei der vergangenen Jahre muss beendet werden.“

Sie verwies auf Hochrechnungen, nach denen die Pflegekasse bereits in diesem Jahr auf ein Defizit von gut einer Milliarde Euro zulaufe, das in den nächsten Jahren wegen des demografischen Wandels noch deutlich ansteigen werde.

Zehn Prozent mehr Neuanträge auf Leistungen

Schon heute seien die Daten besorgniserregend: 2023 stieg die Zahl der Neuanträge auf Pflegeleistungen um zehn Prozent. „Nichtstun würde uns alle finanziell, aber auch mit Blick auf die Versorgung teuer zu stehen kommen“, warnte Klemm, die unter dem Titel „Darüber staunt der Laie und die Fachwelt wundert sich: Der Zustand der pflegerischen Versorgung 2024 in Deutschland“ sechs Thesen vorstellte, in welche Richtung sich die soziale Pflegeversicherung künftig entwickeln müsse. Man wolle auch aufzeigen, mit welchen Mitteln der Gesetzgeber dem drohenden Kollaps der Pflegekasse entgegenwirken könne.

Die Betriebskrankenkassen sehen die Finanzierung der Pflegeversicherung als nicht gesichert an. „Pflegebedürftige haben zwar Anspruch auf Leistungen, aber keine Angebote vor Ort. Die meisten werden von Angehörigen gepflegt, doch immer mehr Menschen leben allein. Und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt weiter und weiter“, wird die aktuelle Lage in dem Papier beschrieben. Angesichts dieser Herausforderungen stellten sich drängende Fragen: Wie können wir zukünftig eine angemessene pflegerische Versorgung überhaupt noch gewährleisten? Und ist das unter den derzeitigen Rahmenbedingungen überhaupt möglich?

Bürger erkennen Ernst der Lage

Ja, so der Befund. Aber: Die dringend notwendige Neuausrichtung der Pflege müsse schnell vorangetrieben werden. Nur dann könne man die Pflegeversorgung von morgen gewährleisten. Das Thema betreffe Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, so die Vorständin. Die wüssten um die Brisanz der Lage: In einer Umfrage der ARD hätten 78 Prozent der Befragten angegeben, der Staat dürfe in Pflege nicht sparen.

„Die Versorgungsstrukturen in der Pflege sind zu lange vernachlässigt worden. Dabei haben wir gute Voraussetzungen, noch umzusteuern, wenn wir die Mittel effizient einsetzen“, so Klemm. Man habe im europäischen Vergleich auch genug Pflegekräfte, aber sie seien falsch verteilt. Auch hier müsse man ansetzen, lokale Bedarfe analysieren und eine schlüssige Personalplanung vornehmen.

Hausgemachte Probleme überwinden

Die aktuellen Finanzprobleme seien zum Teil hausgemacht. So habe der Staat etwa die Kosten der Pandemie im Bereich der Pflege nicht übernommen. Und: „Würden die Zusagen aus dem Koalitionsvertrag eingehalten und versicherungsfremde Leistungen aus Steuermitteln finanziert, müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung nicht das zweite Jahr in Folge angehoben werden“, sagte Klemm. Es müsse eine verlässliche finanzielle Unterstützung für die Pflegekasse geben: „Steuerzuschüsse nach Haushaltslage sind keine Lösung.“ Bund und Länder müssten aufhören, ihre Zahlungsverpflichtungen auf die Pflegeversicherung abzuwälzen.

Doch es gehe bei den erhofften Reformen nicht nur ums Geld. „Wir brauchen vor allem eine Erneuerung der Versorgungsstrukturen.“ Auch müsse mehr Geld in die Prävention und die ambulante Versorgung Pflegebedürftiger fließen, so der Dachverband.

Fokus mehr auf ambulante Pflege legen

Von rund fünf Millionen Betroffenen werden nach Klemms Angaben nur 700.000 Personen in Heimen versorgt. Deshalb müssten künftig vor allem pflegende Familienmitglieder noch viel stärker vor allem finanziell unterstützt werden, so Klemm, die dazu die Einführung eines Pflegegeldes für Angehörige nach dem Vorbild Österreichs vorschlug. Ambulante Angebote wie Tagespflegen müssten ausgebaut und der Zugang zu diesen Hilfen erleichtert werden. Weitere Themen im Reformdiskurs seien der zügige Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen und die Sicherung von Pflegefachkräften.

Peter Rempel, Referent Finanzen beim BKK Dachverband, verwies darauf, dass schon 2023 die Ausgaben der Pflegeversicherung Corona-bereinigt über ihren Einnahmen lagen. Bereits im ersten Quartal dieses Jahres seien die Ausgaben der Kasse um rund zehn Prozent gestiegen. Das, so die Prognosen, werde sich in den kommenden Jahren bis 2027 fortsetzen.

Auch an anderer Stelle zeige sich, dass das Geld knapp werde. Die Kommunen zahlten 2022 - neuere Daten lägen nicht vor - 1,2 Milliarden Euro an Hilfe zur Pflege (Sozialhilfe). Das sei ein Anstieg pro Kopf um 6,6 Prozent. Kritik übte der Fachmann auch an den Entlastungszuschlägen der Pflegekassen für langjährige Heimbewohner. Hier werde viel Geld ausgegeben, doch der Nutzen sei gering, denn die Eigenanteile der Heimbewohner stiegen mit jeder Tariferhöhung der Pflegekräfte. Zudem brächten diese hohen Summen keinen Nutzen für die ambulante Pflege: „Im häuslichen Umfeld werden aber 85 Prozent der Pflegebedürftigen betreut. Darauf muss künftig der Fokus liegen.“

Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt, sagte am 7. Mai: „Um eine Pleite der Pflegeversicherung kurzfristig abzuwenden, sollten den Pflegekassen zunächst die Pandemiekosten von 5,5 Milliarden Euro aus Steuermitteln zurückgezahlt werden.“ Das könne aber nur eine kurzfristige Feuerwehrlösung sein. „Für eine nachhaltige und zukunftsfeste Finanzierung braucht es, neben der weiteren Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen, eine größere Einnahmebasis und die Kosten für Pflegebedürftige müssen gedeckelt werden“, so die Präsidentin: „Ohne eine echte Reform hat die Pflegeversicherung keine Zukunft.“

Dirk Baas


Pflege

Heimstiftung setzt höheren Risikozuschlag durch



Stuttgart (epd). Der Evangelischen Heimstiftung ist es gelungen, einen höheren Risikozuschlag für Pflegeheime durchzusetzen. Die baden-württembergische Schiedsstelle für Streitigkeiten zwischen Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen habe eine Erhöhung von 1,5 auf 2,75 Prozent entschieden, teilte die Stiftung am 8. Mai in Stuttgart mit. Dagegen könnten die Kostenträger noch klagen, das habe allerdings keine aufschiebende Wirkung.

Die Schiedsstelle hat den Angaben zufolge anerkannt, dass die Unternehmerrisiken als Wagnisse zu werten und mit einem entsprechenden Zuschlag auszugleichen sind. Dazu zählt die Heimstiftung den Personal- und Fachkräftemangel sowie Pandemien, die zu kurzfristigen Belegungsrisiken führen könnten. Sie seien im Pflegesatz ebenso wenig wie Risiken durch Krisen, Forderungsausfälle sowie nicht refinanzierte Kosten für Digitalisierung und Innovationen abgedeckt.

Heimstiftung geht von Klage der Kostenträger aus

Den Risikozuschlag auf die Pflegesätze und auf das Entgelt für Unterkunft und Verpflegung hat die Schiedsstelle nun neu festgelegt: 2,75 Prozent bei Einrichtungen bis einschließlich 45 Plätze, 2,5 Prozent bei 46 bis einschließlich 60 Plätzen, 2,25 Prozent bei mehr als 60 Plätzen. Der Schiedsspruch wurde laut Heimstiftung mehrheitlich gegen die Stimmen der Kostenträger getroffen. Deshalb gehe man von einer Klage aus.

Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung, nannte den Spruch einen „Schritt in die richtige Richtung“, auch wenn man die ursprüngliche Forderung von 4 Prozent nicht habe realisieren können. Es brauche eine angemessene Gewinnmöglichkeit, die ein gemeinnütziger Träger zu 100 Prozent wieder dem Unternehmen zukommen lasse, sagte er.



Bürgergeld

Gastbeitrag

Caritas: Verzerrtes Bild der Bedürftigen




Annette Holuscha-Uhlenbrock
epd-bild/Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart
Die Caritas rügt die öffentliche Debatte über das Bürgergeld. "Für uns ist es inakzeptabel, dass über die Beziehenden derart schlecht gesprochen wird", schreibt Annette Holuscha-Uhlenbrock, Direktorin des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart, im Gastbeitrag für epd sozial. Sie lehnt schärfere Sanktionen ab und setzt auf bessere Förderung und Vermittlung.

Die aktuelle Debatte zum Umbau des Bürgergelds vermittelt ein völlig verzerrtes Bild der Menschen, die Bürgergeld beziehen und ignoriert deren tatsächliche Lebensumstände. Den Menschen wird pauschal Unwillen unterstellt. Im Unterton schwingt häufig mit, sie hätten ihre Not selbst verschuldet. Für uns als Caritas ist es inakzeptabel, dass über das Bürgergeld und die Beziehenden derart schlecht gesprochen wird.

Unter den Beziehenden von Bürgergeld sind etwa 33 Prozent Kinder unter 18 Jahren. Andere Leistungsberechtigte befinden sich in Weiterbildung oder pflegen Angehörige. Zu den Bürgergeld-Beziehenden gehören auch viele Mütter und Väter, die kein ausreichendes Einkommen zum Unterhalt ihrer Familie erwirtschaften können, weil sie in Teilzeit arbeiten oder in atypischen Beschäftigungsverhältnissen stecken. Das Bürgergeld erhalten sie aufstockend und als Ergänzung zu ihrem geringen Arbeitslohn.

Stabilisieren und Hemmnisse überwinden

Nur etwa ein Drittel der Bürgergeldbeziehenden ist tatsächlich arbeitslos. Davon ist ein überwiegender Anteil langzeitarbeitslos. Die Menschen bringen multiple Vermittlungshemmnisse mit und haben etwa gesundheitliche Einschränkungen oder aufgrund fehlender Berufserfahrung geringe Chancen am Arbeitsmarkt. Sie sind häufig seit langem abgehängt und kämpfen um Anschluss. Als Caritasverband Rottenburg-Stuttgart arbeiten wir gemeinsam mit den Betroffenen daran, ihre Lebenslage zu stabilisieren, Bewältigungsstrategien zu entwickeln und ihre Kompetenzen zu aktivieren und zu stärken. Wir sehen: Diese Menschen brauchen ein sicheres Existenzminimum sowie Qualifikation und verlässliche Beratung anstatt mehr Druck.

Als das Bürgergeld eingeführt wurde, war das proklamierte Ziel, in der Beratung und Arbeitsvermittlung konsequent auf Hilfe und Ermutigung statt auf Sanktionen zu setzen. Denn es ist hinlänglich bekannt, dass im Hartz-IV-System geringqualifizierte und/oder langzeitarbeitslose Menschen meist nicht auf Dauer in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse vermittelt werden konnten. An die Reform haben auch wir als Caritasverband Rottenburg-Stuttgart die Erwartung geknüpft, dass das System besser auf die Bedarfe der betroffenen Menschen nach umfassender Beratung und Begleitung sowie Förderung abgestimmt wird.

Bürgergeld brachte auch Verbesserungen

Bei aller angebrachten Kritik brachte das neue Bürgergeld auch Verbesserungen. Positiv hervorzuheben ist, dass der sogenannte Vermittlungsvorrang gestrichen wurde, bei dem die Vermittlung in Jobs auch ohne dauerhafte Perspektive im Vordergrund stand und bisher häufig einen Drehtür-Effekt bewirkte.

Berücksichtigt ist auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das eine weniger restriktive und Existenz gefährdende Sanktionspraxis anmahnte. Zudem wird die berufliche Weiterbildung gezielt gefördert. Doch nach der schrittweisen Einführung 2023 dauerte es keine zwölf Monate, ehe Teile der Reform im Zuge der Verhandlungen des Bundeshaushalts zurückgenommen wurden. Es entfachte sich eine öffentliche Debatte, die Vorurteile und Ressentiments gegen Menschen im Bürgergeldbezug transportierte, die von den Betroffenen selbst vielfach als demütigend erlebt wurde.

Im Ergebnis wurde Anfang 2024 der Bürgergeld-Bonus gestrichen. Seitdem besteht auch wieder die Möglichkeit, die Regelsätze im vollen Umfang zu kürzen. Es gibt auch aus juristischer Sicht berechtigte Zweifel an der praktischen und rechtssicheren Durchsetzung voller Leistungskürzungen.

Kampf mit vielschichtigen Problemen

Indes haben die Änderungen nicht dazu beigetragen, die Debatte zu versachlichen oder zu befrieden. Vielmehr werden weiterhin und - mit Blick auf die Bundestagswahlen 2025 - vermeintliche Fehlanreize im Bürgergeld und Extrembeispiele wie sogenannte „Totalverweigerer“ aufgebauscht. Das geht zulasten der gesamten Gruppe. Wir sehen eine verzerrende Diskussion zum Bürgergeld. Es wird ignoriert, dass viele anspruchsberechtigte Menschen mit vielschichtigen Problemen zu kämpfen haben. Arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, wie beispielsweise Lösungen für langzeitarbeitslose Menschen, geraten aus dem Blick.

Damit langzeitarbeitslose Menschen in Arbeit kommen, müssen sie Zugang zu geeigneten Maßnahmen bekommen. Auch die Übergänge in ein normales Arbeitsverhältnis müssen flexibler werden. Wie eine erfolgreiche Begleitung langzeitarbeitsloser Menschen beim Übergang in Arbeit gelingen kann, verdeutlicht etwa das Caritas-Projekt NIL (Nachhaltige Integration langzeitarbeitsloser Menschen). Hier werden langzeitarbeitslose Menschen in Arbeit vermittelt und am neuen Arbeitsplatz begleitet, vor allem während der kritischen Phase nach der Arbeitsaufnahme. Klar ist, dass nicht alle gefördert Beschäftigten ihre Fähigkeiten so weiterentwickeln können, dass der allgemeine Arbeitsmarkt sie aufnimmt. Auch sie sollten soziale Teilhabe durch Erwerbsarbeit erfahren dürfen. Für sie braucht es eine unbefristete, geförderte Beschäftigung.

„Debatte geht an Problemen der Menschen vorbei“

Nach unseren Erfahrungswerten geht die parteipolitisch geprägte Debatte an den Problemen der Menschen vorbei. Die Beziehenden von Bürgergeld sind in aller Regel bemüht, mit den Jobcentern zu kooperieren und ihren Alltag zu stemmen. Eine restriktive Sanktionspraxis wird der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht gerecht. Verkannt wird auch, dass Sanktionen überwiegend wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen werden, die auf tieferliegende Probleme der Empfängerinnen und Empfänger hindeuten. Eine verschärfte Sanktionspraxis ist hier nicht die angebrachte Antwort. Vielmehr besteht die Gefahr, dass sich bestehende Probleme wie Isolation, psychische Erkrankung oder eine Sucht verschärfen. Die beharrliche Weigerung, ein Jobangebot anzunehmen oder die Beschäftigung fortzuführen, trifft nur für eine sehr kleine Minderheit zu. Expertinnen und Experten beziffern ihren Anteil auf ein bis zwei Prozent.

Die Debatte entzündet sich ganz wesentlich auch an der Leistungshöhe des Bürgergeldes. Hier ist festzustellen: Es hat keinen statistisch erkennbaren Anstieg der Übergänge aus Erwerbstätigkeit in das Bürgergeld gegeben. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass der Mindestlohn im Vergleichszeitraum stärker angestiegen ist als die Regelsätze. Erwerbstätigkeit lohnt sich auch nach der Einführung des Bürgergelds und der Anhebung der Regelsätze finanziell sowie aus Gründen der sozialen Teilhabe.

Zum anderen weisen wir darauf hin, dass die Regelsätze im Bürgergeld nicht willkürlich festgelegt werden, sondern auf Basis eines anerkannten Berechnungsverfahrens, das das soziokulturelle Existenzminimum und damit ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe gewährleisten sollen. Die Regelsätze wurden dementsprechend der allgemeinen Preissteigerung um rund 60 Euro angepasst. Im engeren Sinne handelt es sich dabei um einen Ausgleich realer Einbußen in den zurückliegenden Jahren.

Annette Holuscha-Uhlenbrock ist Direktorin des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart.


Bundesregierung

Caritas und Ärzteschaft vermissen Finanzierung für Suizid-Vorbeugung



Die Bundesregierung hat sich auf den Weg gemacht, etwas gegen die steigende Zahl von Suiziden zu unternehmen. Aus Sicht von Ärzteschaft und Sozialverbänden fehlt aber ein schlüssiges Konzept zur Finanzierung.

Berlin (epd). Die Kritik an der Suizid-Präventionsstrategie von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hält an. Der Caritasverband und die Ärzteschaft bemängelten, die Finanzierung sei nicht geklärt. Die bereits existierenden Angebote stünden damit weiter auf unsicheren Beinen, sagte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (3. Mai).

Lauterbach hatte am 2. Mai die Suizid-Präventionsstrategie der Bundesregierung vorgestellt, mit der die Suizidrate gesenkt werden soll. Um Betroffene zu erreichen und das Thema Suizid zu enttabuisieren, kündigte er unter anderem eine Aufklärungskampagne und eine zentrale Krisendienst-Notrufnummer an. Welskop-Deffaa sagte: „Angesichts der steigenden Suizidzahlen, von denen Minister Lauterbach berichtet, wirkt es wie ein Hohn, dass es keine Idee zu geben scheint, wie die erfolgreichen Maßnahmen, die aufgelistet werden, finanziell abgesichert und fortgeführt werden sollen.“

Bundesärztekammer vermisst klare Zuordnung

Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt äußerte sich in Berlin ähnlich. Aus Sicht der Bundesärztekammer fehle „eine klare Zuordnung, wie bereits vorhandene und gut funktionierende Suizid-Präventionsangebote finanziell gesichert werden sollen“ und Doppelstrukturen vermieden würden. Lauterbachs Strategie-Entwurf sei ein erster Schritt, erklärte der Ärzte-Präsident. Nur eine gesetzliche Verankerung der Suizidprävention werde aber auch für eine finanzielle Absicherung der Maßnahmen sorgen, betonte Reinhardt.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, forderte vor diesem Hintergrund einen Rechtsanspruch auf Suizidprophylaxe in der gesetzlichen Krankenversicherung. Dazu zählten Sprechstunden für suizidgefährdete Menschen, Behandlungsplätze und aufsuchende Therapie, sagte der Patientenschützer.

Gesundheitsminister Lauterbach will das Suizid-Präventionsgesetz in den kommenden Monaten vorlegen. Der Bundestag hatte im vergangenen Juli mit großer Mehrheit beschlossen, dass die Bundesregierung bis Ende Januar dieses Jahres ein Konzept zur Vorbeugung und bis Ende Juni ein Suizid-Präventionsgesetz hätte vorlegen sollen. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts nehmen sich in Deutschland jährlich fast 10.000 Menschen das Leben. Die Anzahl der Suizide ist damit mehr als dreimal so hoch wie die der Verkehrstoten. Zuletzt stieg sie im Jahr 2022 von 9.215 Suiziden im Vorjahr auf 10.119 Fälle von Selbsttötungen.



Familie

Verband fordert höheres Honorar für Verfahrensbeistände



Siegburg (epd). Verfahrensbeistände halten das Honorar für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Trennungs- und Scheidungsfällen für zu gering. „Wir fordern eine Erhöhung der Pauschale auf 850 Euro“, sagte Katja Seck, Bundesvorsitzende des maßgeblichen Berufsverbandes BVEB, dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Verfahrensbeistände werden bei Streitigkeiten um das Sorgerecht und den Umgang mit den gemeinsamen Kindern vom Familiengericht einbestellt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Interessen des Kindes zu vertreten. Hierzu können sie im Namen des Kindes Anträge stellen und Beschwerden einreichen.

Kritik an „mehr Verantwortung bei stagnierendem Entgelt“

Pro Auftrag und Kind erhält ein Verfahrensbeistand eine Pauschale von 550 Euro - zu wenig, sagt der BVEB. Die Abkürzung steht für Berufsverband der Verfahrensbeistände, Ergänzungspfleger und Berufsvormünder für Kinder und Jugendliche. Hauptkritikpunkt: immer mehr Verantwortung bei stagnierendem Entgelt. „Wir haben seit 15 Jahren keine Erhöhung erhalten, aber vor zwei Jahren neue Pflichten bekommen“, kritisiert Seck.

Zu der Tätigkeit eines Verfahrensbeistands gehört das Studieren der Akten, das Anschreiben der Eltern, Terminvereinbarungen, Gespräche mit dem Jugendamt und dem betroffenen Kind. Auch ein Treffen mit Erzieherinnen, Lehrern, Ärzten oder Psychologen ist oft erforderlich.

Wird nur das Kind angehört, erhält der Verfahrensbeistand eine „kleine“ Pauschale von 350 Euro. „Wir fordern die Abschaffung der kleinen Pauschale. Es ist aus Sicht des Verbands keine kindzentrierte Interessenvertretung möglich, wenn nicht mit Eltern und weiteren Bezugspersonen gesprochen werden kann“, sagt Seck.

Schwankende Vergütung pro Stunde

Der Stundenverdienst für Verfahren liegt laut Mitgliederumfragen nach Angaben des Verbandes zwischen 13 und 45 Euro brutto, abhängig von Verfahrensdauer, -komplexität und Anzahl der Kinder. Die befragten Verfahrensbeistände gaben an, für durchschnittlich 1,5 Kinder pro Verfahren bestellt zu werden.

Ein weiteres Problem: „Es gibt keine einheitlichen Standards zur Weiterbildung von Verfahrensbeiständen“, kritisiert Seck. Laut BVEB-Umfrage sollten nur 74 Prozent der Befragten dem Gericht einen Nachweis über eine Fortbildung vorweisen. Die Verbandsvorsitzende fordert deshalb ein zentrales Register für die Nachweise der Qualifikationsanforderungen. Diese Liste müsse den Familiengerichten zugänglich sein.

Eine besondere Herausforderung für Verfahrensbeistände sind Familien mit Sprachbarrieren. „Momentan müssen Verfahrensbeistände die Dolmetscherkosten selbst tragen. Das darf so nicht bleiben“, sagte Seck und kritisiert: „Kinder mit Auslandsbezug werden nicht gut genug vertreten in diesem Land.“

Stefanie Unbehauen


Gesundheit

Unabhängige Patientenberatung wieder gestartet



Berlin (epd). Die Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD) hat ihre Beratungstätigkeit wieder aufgenommen. „Wir schließen heute eine fast sechsmonatige Versorgungslücke in der Patientenberatung, die durch den Neuaufbau der Strukturen leider entstanden ist“, sagte der Patientenbeauftragte der Bundesregierung und Vorsitzende des Stiftungsrats, Stefan Schwartze, am 6. Mai in Berlin.

Die UPD bietet Ratsuchenden eine kostenlose Beratung in medizinischen und gesundheitsrechtlichen Fragen unabhängig von privaten Unternehmen, Versicherungen oder Behörden an. Zunächst war die UPD im Jahr 2000 als Modellvorhaben im Sozialgesetzbuch V verankert worden, seither folgten mehrere Modellphasen, in denen Methoden und Strukturen in der Patientenberatung erprobt und überprüft wurden. Im Mai 2023 hatte der Gesetzgeber den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen mit der Errichtung der Stiftung als dauerhaftes Angebot beauftragt. Ein halbes Jahr lang war die Beratungstätigkeit der UPD daher unterbrochen gewesen.

In der Startphase ist das Beratungstelefon unter der kostenfreien Nummer 0800/0117722 erreichbar, montags, dienstags und donnerstags zwischen 9.30 und 12 Uhr sowie zwischen 15 und 17 Uhr. Mittwochs und freitags liegen die Telefonzeiten zwischen 9.30 und 14 Uhr. Die UPD kann keine Diagnosen stellen, keine medizinischen Zweitmeinungen abgeben, keine Termine vermitteln oder Arztrechnungen prüfen. Sie bietet auch keinen juristischen Beistand an. Ihre Aufgaben liegen in einer Lotsenfunktion durch das Gesundheitssystem, dem Erklären medizinischer Begriffe und von Patientenrechten sowie der Unterstützung von Ratsuchenden bei Entscheidungsprozessen.




sozial-Recht

Landessozialgericht

Kindergeld für volljähriges Kind in Wohngruppe gehört Vater




Justitia
epd-bild/Heike Lyding
Sozialhilfeträger dürfen das Kindergeld für ein in einer Wohngruppe lebendes erwachsenes behindertes Kind nicht als Einkommen auf die Sozialleistungen anrechnen. Das Kindergeld ist den Eltern zuzurechnen, urteilte das Landessozialgericht Stuttgart.

Stuttgart, Kassel (epd). Sozialhilfeträger dürfen bei der Anrechnung von Einkommen für ein in einer besonderen Wohnform lebendes erwachsenes behindertes Kind keine zu strengen Maßstäbe anlegen. Wird das Kindergeld an den kindergeldberechtigten Elternteil ausgezahlt, stellt dies noch kein Einkommen des erwachsenen Kindes dar, das mindernd auf die Sozialleistungen angerechnet werden kann, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 2. Mai veröffentlichten Urteil. Kommen die Eltern dagegen voll für die Bekleidung des Kindes auf, muss dies als Naturalleistung und damit als Einkommen berücksichtigt werden, so dass die Sozialhilfe hierfür keine Leistungen mehr gewähren muss.

Kläger wollte erhöhten Bedarf geltend machen

Der 1990 geborene erwachsene Kläger lebt in einer diakonischen betreuten Wohngruppe im Raum Freiburg. Bei ihm besteht ein frühkindlicher Autismus, eine Epilepsie sowie Kleinwuchs. Ihm wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und der Pflegegrad 5 zuerkannt. Der Sozialhilfeträger zahlte dem Kläger von Juli bis Ende Dezember 2021 Grundsicherungsleistungen in Höhe von 805,10 Euro monatlich. Darin enthalten waren unter anderem der Regelbedarf, die Unterkunftskosten sowie behinderungsbedingte Mehrbedarfe.

Der Vater des Klägers hielt dies für zu wenig. Sein Sohn habe einen erhöhten Bedarf, der nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. So sei es im Zuge einer Medikamentenumstellung zu häufigem Einnässen und Einkoten und damit zu einem erhöhten Bekleidungsbedarf gekommen. Als Eltern würden sie zu Hause ein Zimmer für Übernachtungen des Sohnes vorhalten. Damit liege eine sogenannte temporäre Bedarfsgemeinschaft vor, so dass die anfallenden anteiligen Unterkunftskosten für die Übernachtungen zu Hause übernommen werden müssten. Weitere erhöhte Bedarfe bestünden in Form von Mobilitätskosten für durchzuführende Besuche sowie für einen Ernährungsmehrbedarf, da der Sohn eine Unverträglichkeit gegen Kuhmilch, Hühnerei und Banane habe. Auch das Kindergeld sei nicht als Einkommen des Kindes zu berücksichtigen. Dieses werde bereits für anfallende Kosten des Kindes verwendet, so der Vater.

Kindergeld ist kein Einkommen des Kinds

Das LSG gab dem behinderten Kläger teilweise recht. Er habe Anspruch auf Sozialhilfeleistungen in Höhe von monatlich 1.021,83 Euro. Allerdings müsse sich der Kläger monatlich 33,27 Euro für die von den Eltern gekaufte Bekleidung als Einkommen mindernd anrechnen lassen. Das an den kindergeldberechtigten Vater ausgezahlte Kindergeld stelle aber kein Einkommen des erwachsenen Kindes dar und sei nicht mindernd zu berücksichtigen, urteilte das LSG. Zwar sei seit einer ab Juli 2021 geltenden Gesetzesänderung das Kindergeld bei Minderjährigen dem Kind zuzurechnen. Hier sei der Kläger aber volljährig. Das Kindergeld habe der Kläger auch nicht von seinem Vater ausgezahlt bekommen.

Allerdings könne der Kläger für seine Aufenthalte bei den Eltern keine höheren Unterkunftskosten beanspruchen. Eine sogenannte temporäre Bedarfsgemeinschaft liege hier nicht vor, urteilte das LSG mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Das BSG hatte bereits am 12. Juni 2013 zu getrenntlebenden Eltern im Hartz-IV-Bezug entschieden, dass bei regelmäßigen Aufenthalten des Kindes beim anderen Elternteil das Jobcenter dort anteilig die Kosten übernehmen muss, die durch den Umgang mit dem Kind entstehen - etwa für Unterkunft oder Verpflegung. Hier sei der Kläger aber nur für wenige Tage im Jahr zu seinen Eltern gefahren, so dass es sich nur um Besuche und nicht um eine temporäre Bedarfsgemeinschaft gehandelt habe, urteilte das LSG. Höhere Sozialhilfeleistungen könnten deshalb nicht verlangt werden.

Da die Eltern für den Kläger im Jahr 2021 rund 2.000 Euro für Bekleidung aufgewendet hätten, sei allein der im Regelbedarf hierfür vorgesehene Anteil für Bekleidung in Höhe von 33,27 Euro als Naturalleistung und damit als Einkommen anzurechnen. Ein Anspruch auf eine zusätzliche Bekleidungspauschale bestehe nicht. Dies sei gesetzlich nur bei einer Unterbringung in einer stationären Einrichtung vorgesehen. Hier lebe der Kläger aber in einer Wohngruppe, einer besonderen Wohnform der Diakonie. Ein behinderungsbedingter regelmäßiger Mehrbedarf für Bekleidung bestehe auch nicht. Die verschmutzte Kleidung könne einfach gewaschen werden

Der Kläger könne auch keinen Mehrbedarf für Fahrtkosten der Eltern geltend machen. Diese seien von den Eltern und nicht vom Kläger zu tragen. Allerdings könnten die Eltern im Rahmen der Eingliederungshilfe Besuchsbeihilfen beantragen. Mehraufwendungen für Verpflegung wegen der Nahrungsmittelunverträglichkeiten lägen nicht vor. Der Kläger könne die entsprechenden Lebensmittel bei seiner Ernährung einfach weglassen.

Az.: L 7 SO 1332/23 (LSG Stuttgart)

Az.: B 14 AS 50/12 R (BSG)



Oberlandesgericht

Kindswunsch nach Kontaktabbruch zum Vater muss beachtet werden



Frankfurt a.M. (epd). Behörden und Gerichte dürfen den von einem neunjährigen Kind geäußerten Wunsch auf Kontaktabbruch zum Vater nicht ignorieren. Nur weil die Mutter das Kind hierzu beeinflusst hat, darf es deshalb nicht in einem Heim untergebracht werden, um dort den Vater-Kind-Kontakt stabilisieren zu können, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main in einem am 6. Mai bekanntgegebenen unanfechtbaren Beschluss.

Im konkreten Fall ging es um ein neunjähriges Mädchen, das ausschließlich im Haushalt der Mutter aufgewachsen war. Mit dem getrenntlebenden Vater hatte das Kind über viele Jahre regelmäßige und ausgedehnte Umgangskontakte. Im Alter von sieben Jahren verweigerte die Tochter plötzlich jeglichen Umgang.

Tatverdacht sexualisierter Gewalt nicht bestätigt

Die Mutter vermutete, dass „sexuell getönte Vorfälle“ zwischen ihrem Ex-Partner und dem Kind die Ursache gewesen seien. Sie bestärkte das Kind in seiner Umgangsverweigerung. Ein Sachverständiger konnte den Tatverdacht eines Kindesmissbrauchs nicht bestätigen. Vielmehr spreche einiges dafür, dass die Umgangsverweigerung des Mädchens auf die Beeinflussung durch die Mutter zurückzuführen sei, so der Gutachter. Der Vater beantragte daraufhin die Übertragung der elterlichen Sorge.

Das Amtsgericht ordnete nach Empfehlungen des Sachverständigen, des Jugendamts und des Verfahrensbeistands des Kinds im Eilverfahren an, dass dieses in ein Heim untergebracht werden soll. Durch die Heimunterbringung könne das Vater-Kind-Verhältnis unbeeinflusst durch die Mutter stabilisiert und der Wechsel in den Haushalt des Vaters vorbereitet werden.

Das OLG erklärte dies für rechtswidrig. Die Wünsche und Vorstellungen des Kindes dürften nicht völlig ignoriert werden. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass das Kind im Haushalt der Mutter nicht ausreichend versorgt sei. Das Mädchen sei eine sehr gute Schülerin, habe altersgerechten Umgang mit Gleichaltrigen und habe den Abbruch des Umgangs mit dem Vater aktiv gewünscht. Ein Kontaktabbruch zur hauptbetreuenden Mutter sei für das Kind unerträglich. Schließlich sei es „äußerst fraglich“, ob mit der Heimunterbringung tatsächlich das Ziel erreicht werden könne, dass das Kind in den Haushalt des Vaters wechseln wolle.

Az.: 7 UF 46/23



Landessozialgericht

Verschwiegene Verletztenrente führt zur Altersrentenrückzahlung



Darmstadt (epd). Eine Altersrente beziehen und der Rentenversicherung jahrelang eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung verschweigen wird teuer. Denn wird die Rentenversicherung nicht über die Verletztenrente informiert, stellt dies „grob fahrlässiges“ Verhalten dar, so dass die zu viel erhaltene Altersrente wieder zurückgezahlt werden muss, entschied das Hessische Landessozialgericht (LSG) in einem am 29. April bekanntgegebenen Urteil. Erst nach zehn Jahren sind Rückzahlungsansprüche der Rentenversicherung verjährt, erklärten die Darmstädter Richter.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen wird die Verletztenrente einer Unfallversicherung teilweise auf die Altersrente angerechnet. Je höher der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist, desto mehr können Versicherte von ihrer Verletztenrente jedoch behalten.

Kläger war nach Verletztenrente gefragt worden

Im konkreten Fall hatte der aus dem Landkreis Kassel stammende Kläger wegen eines Arbeitsunfalls im Jahr 1967 eine Verletztenrente von der Berufsgenossenschaft erhalten. Als er 2009 seine Altersrente für schwerbehinderte Menschen beantragt hatte, verschwieg er der Rentenversicherung allerdings die Verletztenrente, obwohl er ausdrücklich danach gefragt wurde.

Die Rentenversicherung bewilligte ihm eine Altersrente von zunächst 2.400 Euro monatlich. Gleichzeitig strich der Rentner 1.260 Euro an Verletztenrente ein. Als der Rentner wegen einer Verschlimmerung seiner Gesundheitsbeschwerden eine höhere Verletztenrente beantragt hatte, erhöhte die Berufsgenossenschaft die Rentenzahlung und teilte dies auch der Rentenversicherung mit. Diese erfuhr dadurch zum ersten Mal von der Verletztenrente. Die Rentenversicherung forderte daraufhin über 80.000 Euro an zu viel gezahlter Rente zurück.

Zu Recht, urteilte das LSG. Der Versicherte habe „grob fahrlässig“ die Rentenversicherung nicht über die Verletztenrente informiert. Er habe gewusst oder hätte es zumindest wissen müssen, dass ihm die Altersrente in der bewilligten Höhe nicht zustehe. Da hier grobe Fahrlässigkeit vorliege, verjährten die Rückzahlungsansprüche der Rentenversicherung erst frühestens nach zehn Jahren. Der Rentenversicherungsträger habe die Rückzahlung daher fristgemäß eingefordert.

Az.: L 5 R 121/23



Amtsgericht

GPS-Tracker am Rollator nur mit richterlicher Zustimmung



Bad Iburg (epd). Ein GPS-Tracker am Rollator einer demenzkranken Frau mit Weglauftendenz stellt eine „freiheitsentziehende Maßnahme“ dar. Das Anbringen des Ortungsgeräts muss daher immer gerichtlich genehmigt werden, stellte das Amtsgericht Bad Iburg in einem am 6. Mai bekanntgegebenen Beschluss klar.

Im konkreten Fall ging es um eine in einem Pflegeheim lebende 92-jährige Frau mit mittelschwerer Demenz. Wegen ihrer motorischen Unruhe war sie immer wieder mit ihrem Rollator auch längere Strecken unbeaufsichtigt weggelaufen. Wiederholt hatte sie sich verlaufen, war nachts bei Minustemperaturen unterwegs und musste von der Polizei zurückgebracht werden.

Freiheitsentziehende Maßnahme

Der Vorsorgebevollmächtigte beantragte daraufhin beim Betreuungsgericht, einen GPS-Tracker am Rollator der Frau anzubringen. Verlässt die 92-Jährige das Pflegeheim oder den angrenzenden Park, erhält der Bevollmächtigte über den GPS-Tracker eine Nachricht. Das Pflegepersonal kann dann über den Standort der Frau informiert werden.

Das Betreuungsgericht gab dem Antrag des Vorsorgebevollmächtigten statt. Eine gerichtliche Genehmigung sei auch erforderlich, weil das Anbringen des GPS-Trackers als freiheitsentziehende Maßnahme anzusehen sei, die die verfassungsrechtlich garantierte Fortbewegungsfreiheit eines Menschen einschränke. Jede gezielte Behinderung des Betroffenen in seinem Wunsch, den Aufenthaltsort zu verlassen, sei genehmigungsbedürftig, so das Gericht. Dies gelte auch für pflegebedürftige Menschen in geschlossenen Einrichtungen.

Az.: 11 XVII K 3258




sozial-Köpfe

Diakonie

Ulrike Petermann ist neue Vorständin der Pfeifferschen Stiftungen




Ulrike Petermann
epd-bild/Jens Schlüter/Diakonieverein Bitterfeld-Wolfen-Gräfenhainichen
Der Vorstand der Pfeifferschen Stiftungen ist wieder komplett. Ulrike Petermann ist neue Theologische Vorständin des diakonischen Unternehmens. Sie kehrt vom Diakonieverein Bitterfeld-Wolfen-Gräfenhainichen nach Magdeburg zurück.

Magdeburg (epd). Die Theologin und Gesundheitsökonomin Ulrike Petermann ist neue Theologische Vorständin der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg. Sie nahm zum 1. Mai ihre Tätigkeit auf. Damit ist das Vorstandsteam bei Sachsen-Anhalts größter diakonischer Einrichtung wieder komplett. Petermann leitet gemeinsam mit den Vorständen Michael Saffé und Klaus-Dieter Schinkel die Stiftungen.

Ulrike Petermann ist in Sachsen-Anhalt geboren und aufgewachsen und hat in Halle und Leipzig Theologie sowie Gesundheitsökonomie studiert. Die 49-Jährige war von 2019 bis 2024 Theologische Vorständin im Diakonieverein Bitterfeld-Wolfen-Gräfenhainichen. Zuvor war sie als Leiterin der Unternehmenskommunikation neun Jahre in den Pfeifferschen Stiftungen tätig.

Petermann nannte die Stiftungen eine Visitenkarte für Sachsen-Anhalt. Sie seien von Beginn an ein diakonischer Wegbereiter der regionalen Gesundheits- und Sozialwirtschaft gewesen. Diesen Weg wolle sie mit ihren beiden Vorstandskollegen verantwortungsvoll weiterführen.

Die Pfeifferschen Stiftungen wurden 1889 gegründet. Neben dem großen Klinikum in Magdeburg-Cracau gehören unter anderem die Lungenklinik in Lostau sowie Pflege- und Wohnangebote für Senioren oder Menschen mit Behinderungen zu der Einrichtung. Zuletzt wurde bekannt, dass die Stiftungen ihre Kooperation mit dem Universitätsklinikum Magdeburg (UKMD) ausbauen. Zunächst werde man 25,5 Prozent der Lungenklinik an das UKMD übertragen, hieß es.



Weitere Personalien



Karin Powser, Fotografin, Kolumnistin und Mitbegründerin der niedersächsischen Straßenzeitung „Asphalt“, ist tot. Sie starb im Alter von 76 Jahren in Hannover, wie „Asphalt“, der evangelische Stadtkirchenverband sowie die Diakonie am 6. Mai in Hannover mitteilten. Für ihre Verdienste um das soziale Leben in der Stadt erhielt Karin Powser 2022 das Bundesverdienstkreuz. Powser hatte selbst lange obdachlos auf den Straßen von Hannover gelebt. Das Leben dort hielt die autodidaktisch ausgebildete Fotografin in vielen preisgekrönten Porträt- und Szenefotografien fest. Die eigene Erfahrung inspirierte sie auch zu zahlreichen Kolumnen, die sie bis zuletzt regelmäßig für „Asphalt“ schrieb. Das Magazin hatte sie 1994 gemeinsam mit weiteren Engagierten gegründet.

Evelin Schulz hat die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) übernommen. Sie tritt die Nachfolge von David Hirsch an, der nach dem Abschied von Gerhard Timm und seiner Stellvertreterin Sabina Bombien-Theilmann das Amt interimsmäßig innehatte. Schulz war ab 2017 Geschäftsführerin des Vereins Tafel Deutschland. 2022 wurde sie Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung Morbus Bechterew.

Charlotte Lütke Daldrup (37), Projektleiterin im Bereich Krankenhaus und medizinische Leistungserbringer bei der Boston Consulting Group, leitet seit dem 1. Mai das neue Referat „Medizin“ der Alexianer, einem der größten konfessionellen Träger von Gesundheits- und Sozialwirtschaftseinrichtungen. Die Abteilung solle konzernweit medizinische Angebote koordinieren, vernetzen und damit die Qualität verbessern. Das Referat fasst die Bereiche Psychiatrie, Somatik, Qualitäts- und klinisches Risikomanagement zusammen. Die gebürtige Rheinländerin Lütke Daldrup hat zunächst in Oxford Economics and Management studiert, es folgten Studium und Promotion der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ein Master in Volkswirtschaftslehre. Die Alexianer beschäftigen nach eigenen Angaben derzeit 32.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Susanne Simmler hat für die kommenden sechs Jahre als Landesdirektorin die Leitung des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen in Kassel übernommen. Sie löste Susanne Selbert (beide SPD) ab, die seit 2018 an der Spitze des Verbandes stand. Einen Wechsel gab es auch im Amt des Ersten Beigeordneten. Ulrike Gote (Bündnis 90/Die Grünen) folgt auf ihren Parteifreund Andreas Jürgens. Komplettiert wurde die neu formierte Verbandsspitze durch den hauptamtlichen Beigeordneten und Kämmerer Dieter Schütz (FDP). Selbert und Jürgens treten in den Ruhestand. Simmler kommt aus dem Main-Kinzig-Kreis, dessen Vize-Landrätin sie zehn Jahre lang war. Gote war bis zum April 2023 Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung im Land Berlin.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juni



Mai

14.-15.5. Fulda:

Seminar „Arbeitszeit, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

22.-24.5. Frankfurt a. M.:

Fortbildung „Aufsuchen anstatt Abwarten - Grundlagen Streetwork“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

27.5. Berlin:

Fortbildung „Berufliche Integrationsförderung für Jugendliche - Gelingender Übergang Schule Beruf“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828212

28.5.:

Online-Kurs: „Vielfaltsfähig führen - Einführung“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

Juni

3.6.:

Online-Fachtag „Verhalten, das uns herausfordert ... aber wozu eigentlich? Systemische Ansätze aus Wissenschaft und Praxis“

der Stiftung Liebenau

Tel.: 0 7542/10-5300

3.6. Berlin:

Veranstaltung „Netzwerktreffen für kommunale Beauftragte für Menschen mit Behinderungen“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-419

12.-13.6. Weimar:

Tagung „Läuft’s im Betreuungsrecht?“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-419

21.6. Hamburg:

Seminar „Rote Zahlen in der stationären Altenhilfe“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-519