Berlin (epd). Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will per Gesetz eine neue „stambulante“ Versorgung schaffen - und hat damit für reichlich Verwirrung in der Pflegebranche gesorgt. Geregelt werde der neue Ansatz laut Minister im Pflegekompetenzgesetz, das bis zum Sommer vorliegen solle. Die neue Versorgungsform werde eine Mischung aus stationärer und ambulanter Pflege, die bislang in Deutschland fehle, sagte Lauterbach.
Menschen, die weder in ein Pflegeheim ziehen möchten, noch in der Lage sind, alleine ohne Hilfe zu Hause zu bleiben, sollen laut dem Minister in speziell ausgerüsteten Wohnungen rund um die Uhr betreut werden, so dass auch bei höheren Pflegegraden ein selbstständiges Leben möglich werde. Wenn der rechtliche Rahmen dafür geschaffen sei, könnte zum Beispiel die eine oder andere Seniorenresidenz solche Angebote mit Pflegediensten zusammen aufbauen, so Lauterbach.
Eher irritiert reagierten die Fachverbände sowie Pflegeforschende auf die für sie überraschende Ankündigung. Noch sei völlig unklar, wie die gesetzlichen Regelungen dazu ausfallen. Die Ruhrgebietskonferenz Pflege ging umgehend auf Abstand zu den Plänen. Es sei Unfug zu sagen, dass ein solches Angebot in Deutschland fehle: „Es ist eine Versorgungsform, die Parallelen zu ambulant betreuten Wohngemeinschaften und sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen aufweist“, sagte ein Sprecher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Warum die neue Regelung Teil des Pflegekompetenzgesetzes werden soll, „hat uns der Minister noch nicht offenbart“. Die Pflegebranche sei „mit einem ungelegten Ei in Aufruhr versetzt worden“.
Seit Jahren gibt es ein Projekt, das für Lauterbachs Pläne eine Blaupause sein könnte: Die BeneVit Gruppe in Wyhl in Baden-Württemberg praktiziert im Haus Rheinaue seit 2016 stambulante Pflege. Sie hebt das tradierte Verständnis von „stationär“ und „ambulant“ in der Altenhilfe auf und versucht, beide Sektoren intelligent miteinander zu verbinden. Inhaber Kaspar Pfister kämpft seit Jahren ohne Erfolg dafür, dass dieser Versuch, der nach Paragraf 45f SGB XI zur Weiterentwicklung der stationären Altenpflege initiiert wurde, in die Regelversorgung aufgenommen wird. Ende 2023 gab es stattdessen eine erneute Verlängerung und das Projekt ging in das achte Jahr seiner Modellphase - weil es trotz aller positiven Evaluierungen noch keine gesetzliche Verankerung gibt.
In Wyhl sind ähnlich wie in vollstationären Einrichtungen mit der Überlassung von Wohnraum pflegerische Leistungen verbunden, allerdings nur bis zu einem gewissen Umfang (sogenannte Grundleistung). Weitergehende Hilfen und Dienste werden ambulant hinzugebucht oder können alternativ auch von Angehörigen übernommen werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses Rheinaue leben in einem Hausgemeinschaftskonzept in Wohngruppen von bis zu 15 Personen zusammen und übernehmen auch Arbeiten wie Wäsche waschen oder Zimmerreinigung selbst. Und auch das lässt aufhorchen: Dort fallen deutlich geringere Eigenanteile im Vergleich zu stationären Pflegeheimen an: um bis zu 1.000 Euro weniger pro Monat.
Der Träger wirbt auf seiner Homepage für ein „Mitmach-Pflegeheim“, wie es sich Bewohnende und Angehörige wünschten. „Pflegebedürftigkeit steht nicht im Vordergrund: Eine lebensbejahende, fröhliche Grundhaltung trägt die Gemeinschaft.“ Alltag werde als Therapie gelebt. Und weiter: „Stationäre Sicherheit, kombiniert mit ambulanter Vielfalt, bedeutet, Wahlmöglichkeiten zu haben: Unterkunft, Betreuung und Pflege können durch unterschiedliche Leistungen ergänzt werden. Daraus entsteht ein individualisiertes Betreuungspaket nach den Bedürfnissen des pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen und seiner Angehörigen.“
Im Evaluationsgutachten des GKV-Spitzenverbandes aus dem Jahr 2023 heißt es: „Die stambulante Versorgung stellt den Versuch dar, das Beste aus zwei Welten in einem Angebot zu kombinieren. Die sehr viele Aspekte und Beteiligte einbeziehenden Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Anspruch eingelöst wird.“
„Das Modell zeigt als ein Beispiel neuer Wohnformen, wie Versorgungsgrenzen im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner aufgehoben werden und Selbstbestimmung sowie Sicherheit gefördert werden können“, erklärte Christian Heerdt vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA). Dass nun ein gesetzlicher Rahmen dafür geschaffen werden solle, sei ein Schritt in die richtige Richtung und zugleich „eine Chance für alle alternativen Wohnangebote“, so Heerdt. Deshalb gehe es bei der anstehenden Gesetzesreform eben nicht darum, eine weitere zum Stambulant-Modell passende Säule einzuziehen, sondern den rechtlichen Rahmen dafür zu schaffen, die Vielfalt der Wohnformen möglich zu machen und die künstlichen Grenzen aufzuheben.
Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang wies den Vorschlag Lauterbachs dagegen ebenfalls zurück. Das sei „gut gemeint, aber im Ergebnis schädlich und sogar gefährlich“, sagte er dem epd. Die Problemanalyse sei zwar absolut nachvollziehbar. Aber dafür mit der „stambulanten“ Pflege einen neuen Sektor zu schaffen, sei rückwärtsgewandt.
Der Forscher befürchtet eine große Zahl an Abgrenzungsproblemen, die unter anderem mit Blick auf die Vergütung von Leistungen eine Flut juristischer Streitfälle auslösen könnten. Hinweise darauf gebe es schon jetzt, beispielsweise in betreuten Wohnformen und in der teilstationären Tagespflege. „Im Moment haben wir zwischen der ambulanten und der stationären Pflege eine Grenze, an der es schon knirscht. Künftig haben wir zwei Grenzen, da wird es doppelt knirschen“, so Rothgang.
Die Lösung sei aus seiner Sicht eine sektorfreie Versorgung, bei der jeder Mensch wohnen könne, wie er wolle, „die Pflege kommt unabhängig von der Wohnform modular als Leistung dazu und wird nach einheitlichen Regeln abgerechnet“. Die Umsetzung dieses Konzeptes sei auch nicht einfach, „aber zukunftsweisend“.
Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung zeigte sich auf Anfrage des epd ebenfalls skeptisch. Das werde kein großer Wurf, „der die aktuellen und vor allem zukünftigen Anforderungen substanziell neu sortieren kann“. Solange man den Fokus auf Versorgung und auf professionelle Sektoren lege, werde man an einer Grenze immer scheitern: „Diese heißt der Fachkraftmangel professionell Pflegender, der jüngst im DAK-Pflegereport noch einmal nachdrücklich mit Zahlen untermauert wurde“, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende. „Insgesamt braucht es eine deutlichere Hinwendung zu präventiven Ansätzen und zu Ideen, die jenseits der bestehenden Sektoren der Versorgung gedacht werden können.“
Der Bundesverband „wir pflegen“ begrüßt zwar grundsätzlich alle Bemühungen, die Entlastungsangebote und Wahlmöglichkeiten für pflegebedürftige Menschen zu erweitern. „Allerdings sehen wir den Zeitpunkt und die Folgen der potenziellen Umsetzung stambulanter Versorgung sehr kritisch“, sagte Sprecherin Lisa Thelen dem epd: „Der Gesundheitsminister sollte zuerst die Pflichtaufgaben erledigen, denn die häusliche und stationäre Pflege stehen unter extremem Druck. Pflegende Angehörige zu Hause leiden an Überlastung, krasse Bürokratie behindert nach wie vor eine Flexibilisierung der Leistungen, und die Praxis der Pflege-Triage greift immer mehr um sich.“
Zudem bestehe bei der Umsetzung neuer Initiativen die akute Gefahr, dass sie der häuslichen und stationären Pflege weiteres Fachpersonal und Mittel zur Finanzierung abgraben. Man befürchte eine Politik des „Verschiebebahnhofs“, so Thelen. Angesichts des Personalmangels, mangelnder Investitionen und weiterer Haushaltskürzungen drohe eine stambulante Entwicklung, die keineswegs billig sein werde. Bei fehlenden Investitionen in allen Pflegebereichen muss das unabdingbar dazu führen, dass letztlich bereits völlig überlastete An- und Zugehörige weitere Pflegeverantwortung schultern müssten. Ohne wichtige Investitionen in alle Pflegebereiche werde stambulante Pflege den Notstand nicht verringern. Im Gegenteil.
Dagegen will sich der baden-württembergische Sozialminister Manne Lucha (Grüne) für mehr stambulante Modelle in der Praxis einsetzen - wohl auch, weil sein Ministerium an dem Modellprojekt in Wyhl mittelbar beteiligt ist. Aus seiner Sicht entspricht es dem Wunsch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen nach mehr Flexibilität und der Möglichkeit, sich auch selbst an der Versorgung zu beteiligen.
Die AOK Baden-Württemberg war an der Ausgestaltung des Konzepts im Haus Rheinaue ebenfalls beteiligt und hat dort nach eigenen Angaben sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Konzeption ermögliche es den Pflegebedürftigen, ein Leben wie zu Hause zu führen und gleichzeitig von der Gesellschaft einer häuslichen Gemeinschaft zu profitieren. „Eine Verschmelzung der Sektoren ermöglicht eine neue Lebensqualität für Pflegebedürftige, aber auch für deren Angehörige“, sagte Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Mit neuen Leistungskombinationen könnten individuelle Bedürfnisse besser berücksichtigt werden.