Berlin (epd). Der BKK Dachverband hat am 6. Mai sechs Thesen zum künftigen Reformbedarf in der sozialen Pflegeversicherung vorgestellt, die andernfalls auf eine Pleite zusteuere: „In der Pflege ist es bereits fünf nach zwölf. Die Pflegebeiträge steigen ungebremst, ebenso die Eigenanteile Pflegebedürftiger in den Heimen. Die Pflegeversicherung muss dringend völlig neu ausgerichtet werden“, sagte Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Bundesverbandes, in Berlin. Es brauche einen grundlegenden Umbau der Pflegeversorgung: „Die Flickschusterei der vergangenen Jahre muss beendet werden.“
Sie verwies auf Hochrechnungen, nach denen die Pflegekasse bereits in diesem Jahr auf ein Defizit von gut einer Milliarde Euro zulaufe, das in den nächsten Jahren wegen des demografischen Wandels noch deutlich ansteigen werde.
Schon heute seien die Daten besorgniserregend: 2023 stieg die Zahl der Neuanträge auf Pflegeleistungen um zehn Prozent. „Nichtstun würde uns alle finanziell, aber auch mit Blick auf die Versorgung teuer zu stehen kommen“, warnte Klemm, die unter dem Titel „Darüber staunt der Laie und die Fachwelt wundert sich: Der Zustand der pflegerischen Versorgung 2024 in Deutschland“ sechs Thesen vorstellte, in welche Richtung sich die soziale Pflegeversicherung künftig entwickeln müsse. Man wolle auch aufzeigen, mit welchen Mitteln der Gesetzgeber dem drohenden Kollaps der Pflegekasse entgegenwirken könne.
Die Betriebskrankenkassen sehen die Finanzierung der Pflegeversicherung als nicht gesichert an. „Pflegebedürftige haben zwar Anspruch auf Leistungen, aber keine Angebote vor Ort. Die meisten werden von Angehörigen gepflegt, doch immer mehr Menschen leben allein. Und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt weiter und weiter“, wird die aktuelle Lage in dem Papier beschrieben. Angesichts dieser Herausforderungen stellten sich drängende Fragen: Wie können wir zukünftig eine angemessene pflegerische Versorgung überhaupt noch gewährleisten? Und ist das unter den derzeitigen Rahmenbedingungen überhaupt möglich?
Ja, so der Befund. Aber: Die dringend notwendige Neuausrichtung der Pflege müsse schnell vorangetrieben werden. Nur dann könne man die Pflegeversorgung von morgen gewährleisten. Das Thema betreffe Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, so die Vorständin. Die wüssten um die Brisanz der Lage: In einer Umfrage der ARD hätten 78 Prozent der Befragten angegeben, der Staat dürfe in Pflege nicht sparen.
„Die Versorgungsstrukturen in der Pflege sind zu lange vernachlässigt worden. Dabei haben wir gute Voraussetzungen, noch umzusteuern, wenn wir die Mittel effizient einsetzen“, so Klemm. Man habe im europäischen Vergleich auch genug Pflegekräfte, aber sie seien falsch verteilt. Auch hier müsse man ansetzen, lokale Bedarfe analysieren und eine schlüssige Personalplanung vornehmen.
Die aktuellen Finanzprobleme seien zum Teil hausgemacht. So habe der Staat etwa die Kosten der Pandemie im Bereich der Pflege nicht übernommen. Und: „Würden die Zusagen aus dem Koalitionsvertrag eingehalten und versicherungsfremde Leistungen aus Steuermitteln finanziert, müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung nicht das zweite Jahr in Folge angehoben werden“, sagte Klemm. Es müsse eine verlässliche finanzielle Unterstützung für die Pflegekasse geben: „Steuerzuschüsse nach Haushaltslage sind keine Lösung.“ Bund und Länder müssten aufhören, ihre Zahlungsverpflichtungen auf die Pflegeversicherung abzuwälzen.
Doch es gehe bei den erhofften Reformen nicht nur ums Geld. „Wir brauchen vor allem eine Erneuerung der Versorgungsstrukturen.“ Auch müsse mehr Geld in die Prävention und die ambulante Versorgung Pflegebedürftiger fließen, so der Dachverband.
Von rund fünf Millionen Betroffenen werden nach Klemms Angaben nur 700.000 Personen in Heimen versorgt. Deshalb müssten künftig vor allem pflegende Familienmitglieder noch viel stärker vor allem finanziell unterstützt werden, so Klemm, die dazu die Einführung eines Pflegegeldes für Angehörige nach dem Vorbild Österreichs vorschlug. Ambulante Angebote wie Tagespflegen müssten ausgebaut und der Zugang zu diesen Hilfen erleichtert werden. Weitere Themen im Reformdiskurs seien der zügige Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen und die Sicherung von Pflegefachkräften.
Peter Rempel, Referent Finanzen beim BKK Dachverband, verwies darauf, dass schon 2023 die Ausgaben der Pflegeversicherung Corona-bereinigt über ihren Einnahmen lagen. Bereits im ersten Quartal dieses Jahres seien die Ausgaben der Kasse um rund zehn Prozent gestiegen. Das, so die Prognosen, werde sich in den kommenden Jahren bis 2027 fortsetzen.
Auch an anderer Stelle zeige sich, dass das Geld knapp werde. Die Kommunen zahlten 2022 - neuere Daten lägen nicht vor - 1,2 Milliarden Euro an Hilfe zur Pflege (Sozialhilfe). Das sei ein Anstieg pro Kopf um 6,6 Prozent. Kritik übte der Fachmann auch an den Entlastungszuschlägen der Pflegekassen für langjährige Heimbewohner. Hier werde viel Geld ausgegeben, doch der Nutzen sei gering, denn die Eigenanteile der Heimbewohner stiegen mit jeder Tariferhöhung der Pflegekräfte. Zudem brächten diese hohen Summen keinen Nutzen für die ambulante Pflege: „Im häuslichen Umfeld werden aber 85 Prozent der Pflegebedürftigen betreut. Darauf muss künftig der Fokus liegen.“
Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt, sagte am 7. Mai: „Um eine Pleite der Pflegeversicherung kurzfristig abzuwenden, sollten den Pflegekassen zunächst die Pandemiekosten von 5,5 Milliarden Euro aus Steuermitteln zurückgezahlt werden.“ Das könne aber nur eine kurzfristige Feuerwehrlösung sein. „Für eine nachhaltige und zukunftsfeste Finanzierung braucht es, neben der weiteren Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen, eine größere Einnahmebasis und die Kosten für Pflegebedürftige müssen gedeckelt werden“, so die Präsidentin: „Ohne eine echte Reform hat die Pflegeversicherung keine Zukunft.“