Hannover (epd). Der Umgang mit den Beschäftigten in der Pflege während der Corona-Pandemie hat nach Ansicht des Theologen Hans-Peter Daub nachhaltig Spuren hinterlassen. Vor allem die zeitweilig geltende Impfpflicht habe für Verletzungen gesorgt, die nachwirkten, sagt der Vorsitzende der Dachstiftung Diakonie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Dachstiftung als einer der größten Träger der Altenhilfe in Niedersachsen arbeite bis heute daran, die Folgen wieder zu mildern. Die Fragen stellte Karen Miether.
epd sozial: Herr Daub, Sie standen der zwischen Mitte März und Ende 2022 geltenden Impfpflicht in der Pflege von Anfang an kritisch gegenüber. Wie bewerten Sie das heute?
Hans-Peter Daub: Das ist im Nachgang immer noch ein Skandal und dieser wirkt sich bis heute in verschiedener Hinsicht aus. Damals war ja die allgemeine Corona-Impfpflicht gescheitert, weil gesagt wurde, das ist ein zu großer Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Was folgte, war die tiefe Verletzung eines Berufsstandes, der sich politisch dagegen nicht wehren konnte. Diese Gruppe musste dann exemplarisch retten, was Herr Lauterbach für die Gesamtgesellschaft nicht durchgesetzt hatte.
epd: Jetzt werden gut ein Jahr nach dem Ende der letzten Corona-Maßnahmen verschiedentlich Rufe nach einer Aufarbeitung laut. Wäre das für den Bereich Pflege wünschenswert?
Daub: Ich würde das sehr begrüßen, wenn eine Enquete-Kommission aus politisch Verantwortlichen und wissenschaftlicher Expertise aufarbeitet, wie das erlebt wurde. Eine repräsentative Befragung von Pflegekräften könnte ich mir sehr gut vorstellen. Mit dem Ziel, daraus zu lernen. Einen Untersuchungsausschuss, wie er den AfD-Leuten vorschwebt, in dem man schön schimpfen kann und eine Bühne hat, fände ich jedoch ganz falsch. Wichtig wäre die Fachlichkeit, die aber eine Verbindung zur Politik herstellt. Dafür ist eine Enquete-Kommission genau das richtige Mittel.
epd: Hat es die denn in der Krise aus Ihrer Sicht nicht gegeben?
Daub: Eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik war in der Corona-Krise ja einer der Ansprüche. Aber wenn man jetzt genau nachliest, etwa in den Protokollen des RKI, hat ein wahrer Dialog oft gar nicht stattgefunden. Die einen haben Dinge in irgendwelchen Talk-Sendungen verkündet, die anderen auch. Und dann haben sie genommen, was sie voneinander verstanden haben.
Die Langzeitpflege und auch die Pflegewissenschaft wurden in der Corona-Politik ohnehin wenig gehört und einbezogen. Als es dann die ersten 100-Jährigen gab, die Corona überstanden hatten, wollte das erst niemand hören. Es blieb einfach immer bei dem gleichen Verdikt, wir müssen die Vulnerablen schützen. Bei denen, die ihnen am nächsten waren, da wurde dann keine Rücksicht genommen auf elementare Bürgerrechte, die mussten geimpft werden. Dabei hatten wir im Bereich der Pflege bereits in kurzer Zeit auf freiwilliger Basis eine Impfquote von 85 bis 90 Prozent.
Die Impfung hat ganz bestimmt das Virus entschärft. Was die Krankenquoten in der Mitarbeiterschaft angeht, hat uns die Impfung jedoch nichts gebracht. Deshalb hat sich an diesem Punkt die Politik wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Mit der Scheinplausibilität, es gehe um die besonders gefährdeten Gruppen, ging es eigentlich darum, dem „Team Vorsicht“ einen Knochen hinzuwerfen.
epd: Wer sich nicht impfen ließ, musste mit Konsequenzen bis zum Betätigungsverbot rechnen. Wie sah dies in der Dachstiftung aus?
Daub: Wir haben als Unternehmen extrem dagegen angearbeitet. Wir haben gesagt, wenn wir Betretungsverbote kriegen, werden wir für euch Lösungen finden. Tatsächlich haben wir zwei oder drei Betretungsverbote gehabt und haben für diese Kolleginnen etwas anderes gesucht. Wir haben aber in dieser Phase auch Leute verloren, die von sich aus gesagt haben: Das ist nicht mehr meine Arbeitswelt!
Und wir haben weitere Mitarbeitende verloren, wegen des enormen Stresses, wegen Überforderung. Wenn wir Corona-Fälle gehabt haben, mussten Leute auch schon mal 20 Stunden am Stück arbeiten. Hinzu kam das entsetzliche Regime der zugeschlossenen Heime. Das war im Grunde ein Skandal, über Monate das Zuhause von Menschen abzuschließen und ihre Freizügigkeit mit Eingangskontrollen zu unterlaufen. Das hat die Lebensfreude in den Einrichtungen nachhaltig beschädigt.
epd: Was tun Sie, um das wieder aufzufangen?
Daub: Wir engagieren uns in der Diakonie für die Verbesserung der Rahmenbedingungen und haben ja auch einiges erreicht. Es sind zusätzliche Betreuungskräfte wie zum Beispiel Betreuungsassistenten in die Pflege gekommen. Jetzt setzen wir das Personalbemessungssystem um, das der Bremer Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang entwickelt hat. Dadurch kommen auch mehr Kolleginnen und Kollegen in die Pflege. Wir haben auch tariflich etwas verbessert. Aber es ist wie ein trockener Schwamm. Das ist etwas, das uns ratlos macht. Es verbessern sich die Rahmenbedingungen, aber das Grundgefühl, in der Pflege nicht genug respektiert zu werden, das kriegen wir im Moment noch nicht weg.
epd: Woran liegt das und was ließe sich tun?
Daub: Wir haben jetzt nach Corona unter anderem ein schönes, europäisch gefördertes Projekt aufgesetzt - „Rückenwind, selbstbewusst für eine neue Kultur in der Pflege“. Da versuchen wir jetzt den Teams mehr Zeit zu geben, um über ihre eigene Arbeit zu reflektieren. Sie können gemeinsam an Standards arbeiten, um auch einen eigenen Beitrag dazu zu leisten, ihren Arbeitsalltag zu verbessern. Zu oft sind es Kommissionen weit weg von der Pflege, die planen, wie zukünftig gepflegt werden soll.
Große Themen sind auch versteckte Ressourcen und das Delegieren mancher Aufgaben. Die Pflege ist ja so verrechtlicht, dass der gesunde Menschenverstand an vielen Stellen an seine Grenzen kommt. Das versuchen wir, aufzuweichen, wo es sinnvoll erscheint.
epd: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Daub: Wenn zum Beispiel eine Bewohnerin stürzt. Dann muss eine Pflegefachkraft kommen und begutachten, ob sie sich dabei etwas getan hat. Stellen Sie sich vor, in einem großen Haus bei uns in der Nacht stürzt die Frau und zwei erfahrene Pflegehelferinnen sind ganz in der Nähe. Dann dürfen sie ihr nicht aufhelfen, sondern müssen warten, bis die Fachpflegekraft vom anderen Ende des Hauses herbeigelaufen kommt.
Oder: Eine Bewohnerin stirbt am Abend. Die Tochter hatte sie erst kurz vorher verlassen und gebeten, informiert zu werden, wenn etwas passiert. Doch die Pflegerinnen können sie nicht anrufen, denn den Tod kann nur ein Arzt feststellen. Die Ärztin hat aber hat noch tausend andere Dinge zu tun und kommt erst am Ende ihrer Tour. Die Tochter erfährt erst am nächsten Morgen, dass ihre Mutter zwölf Stunden zuvor gestorben ist, weil man der Pflegefachkraft nicht zutraut, ihr dies vorher auf eigene Verantwortung zu sagen.
Natürlich kann ich mir einen theoretischen Fall vorstellen, in dem vielleicht die Vitalfunktionen so verändert sind, dass sich eine erfahrene Pflegekraft irrt. Aber daraus generell die Botschaft abzuleiten, ihr dürft das nicht, das kränkt. Das ist widersinnig. Das verhindert auch eine gute Pflege, eine gute Nähe.