sozial-Branche

Bürgergeld

Gastbeitrag

Caritas: Verzerrtes Bild der Bedürftigen




Annette Holuscha-Uhlenbrock
epd-bild/Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart
Die Caritas rügt die öffentliche Debatte über das Bürgergeld. "Für uns ist es inakzeptabel, dass über die Beziehenden derart schlecht gesprochen wird", schreibt Annette Holuscha-Uhlenbrock, Direktorin des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart, im Gastbeitrag für epd sozial. Sie lehnt schärfere Sanktionen ab und setzt auf bessere Förderung und Vermittlung.

Die aktuelle Debatte zum Umbau des Bürgergelds vermittelt ein völlig verzerrtes Bild der Menschen, die Bürgergeld beziehen und ignoriert deren tatsächliche Lebensumstände. Den Menschen wird pauschal Unwillen unterstellt. Im Unterton schwingt häufig mit, sie hätten ihre Not selbst verschuldet. Für uns als Caritas ist es inakzeptabel, dass über das Bürgergeld und die Beziehenden derart schlecht gesprochen wird.

Unter den Beziehenden von Bürgergeld sind etwa 33 Prozent Kinder unter 18 Jahren. Andere Leistungsberechtigte befinden sich in Weiterbildung oder pflegen Angehörige. Zu den Bürgergeld-Beziehenden gehören auch viele Mütter und Väter, die kein ausreichendes Einkommen zum Unterhalt ihrer Familie erwirtschaften können, weil sie in Teilzeit arbeiten oder in atypischen Beschäftigungsverhältnissen stecken. Das Bürgergeld erhalten sie aufstockend und als Ergänzung zu ihrem geringen Arbeitslohn.

Stabilisieren und Hemmnisse überwinden

Nur etwa ein Drittel der Bürgergeldbeziehenden ist tatsächlich arbeitslos. Davon ist ein überwiegender Anteil langzeitarbeitslos. Die Menschen bringen multiple Vermittlungshemmnisse mit und haben etwa gesundheitliche Einschränkungen oder aufgrund fehlender Berufserfahrung geringe Chancen am Arbeitsmarkt. Sie sind häufig seit langem abgehängt und kämpfen um Anschluss. Als Caritasverband Rottenburg-Stuttgart arbeiten wir gemeinsam mit den Betroffenen daran, ihre Lebenslage zu stabilisieren, Bewältigungsstrategien zu entwickeln und ihre Kompetenzen zu aktivieren und zu stärken. Wir sehen: Diese Menschen brauchen ein sicheres Existenzminimum sowie Qualifikation und verlässliche Beratung anstatt mehr Druck.

Als das Bürgergeld eingeführt wurde, war das proklamierte Ziel, in der Beratung und Arbeitsvermittlung konsequent auf Hilfe und Ermutigung statt auf Sanktionen zu setzen. Denn es ist hinlänglich bekannt, dass im Hartz-IV-System geringqualifizierte und/oder langzeitarbeitslose Menschen meist nicht auf Dauer in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse vermittelt werden konnten. An die Reform haben auch wir als Caritasverband Rottenburg-Stuttgart die Erwartung geknüpft, dass das System besser auf die Bedarfe der betroffenen Menschen nach umfassender Beratung und Begleitung sowie Förderung abgestimmt wird.

Bürgergeld brachte auch Verbesserungen

Bei aller angebrachten Kritik brachte das neue Bürgergeld auch Verbesserungen. Positiv hervorzuheben ist, dass der sogenannte Vermittlungsvorrang gestrichen wurde, bei dem die Vermittlung in Jobs auch ohne dauerhafte Perspektive im Vordergrund stand und bisher häufig einen Drehtür-Effekt bewirkte.

Berücksichtigt ist auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das eine weniger restriktive und Existenz gefährdende Sanktionspraxis anmahnte. Zudem wird die berufliche Weiterbildung gezielt gefördert. Doch nach der schrittweisen Einführung 2023 dauerte es keine zwölf Monate, ehe Teile der Reform im Zuge der Verhandlungen des Bundeshaushalts zurückgenommen wurden. Es entfachte sich eine öffentliche Debatte, die Vorurteile und Ressentiments gegen Menschen im Bürgergeldbezug transportierte, die von den Betroffenen selbst vielfach als demütigend erlebt wurde.

Im Ergebnis wurde Anfang 2024 der Bürgergeld-Bonus gestrichen. Seitdem besteht auch wieder die Möglichkeit, die Regelsätze im vollen Umfang zu kürzen. Es gibt auch aus juristischer Sicht berechtigte Zweifel an der praktischen und rechtssicheren Durchsetzung voller Leistungskürzungen.

Kampf mit vielschichtigen Problemen

Indes haben die Änderungen nicht dazu beigetragen, die Debatte zu versachlichen oder zu befrieden. Vielmehr werden weiterhin und - mit Blick auf die Bundestagswahlen 2025 - vermeintliche Fehlanreize im Bürgergeld und Extrembeispiele wie sogenannte „Totalverweigerer“ aufgebauscht. Das geht zulasten der gesamten Gruppe. Wir sehen eine verzerrende Diskussion zum Bürgergeld. Es wird ignoriert, dass viele anspruchsberechtigte Menschen mit vielschichtigen Problemen zu kämpfen haben. Arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, wie beispielsweise Lösungen für langzeitarbeitslose Menschen, geraten aus dem Blick.

Damit langzeitarbeitslose Menschen in Arbeit kommen, müssen sie Zugang zu geeigneten Maßnahmen bekommen. Auch die Übergänge in ein normales Arbeitsverhältnis müssen flexibler werden. Wie eine erfolgreiche Begleitung langzeitarbeitsloser Menschen beim Übergang in Arbeit gelingen kann, verdeutlicht etwa das Caritas-Projekt NIL (Nachhaltige Integration langzeitarbeitsloser Menschen). Hier werden langzeitarbeitslose Menschen in Arbeit vermittelt und am neuen Arbeitsplatz begleitet, vor allem während der kritischen Phase nach der Arbeitsaufnahme. Klar ist, dass nicht alle gefördert Beschäftigten ihre Fähigkeiten so weiterentwickeln können, dass der allgemeine Arbeitsmarkt sie aufnimmt. Auch sie sollten soziale Teilhabe durch Erwerbsarbeit erfahren dürfen. Für sie braucht es eine unbefristete, geförderte Beschäftigung.

„Debatte geht an Problemen der Menschen vorbei“

Nach unseren Erfahrungswerten geht die parteipolitisch geprägte Debatte an den Problemen der Menschen vorbei. Die Beziehenden von Bürgergeld sind in aller Regel bemüht, mit den Jobcentern zu kooperieren und ihren Alltag zu stemmen. Eine restriktive Sanktionspraxis wird der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht gerecht. Verkannt wird auch, dass Sanktionen überwiegend wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen werden, die auf tieferliegende Probleme der Empfängerinnen und Empfänger hindeuten. Eine verschärfte Sanktionspraxis ist hier nicht die angebrachte Antwort. Vielmehr besteht die Gefahr, dass sich bestehende Probleme wie Isolation, psychische Erkrankung oder eine Sucht verschärfen. Die beharrliche Weigerung, ein Jobangebot anzunehmen oder die Beschäftigung fortzuführen, trifft nur für eine sehr kleine Minderheit zu. Expertinnen und Experten beziffern ihren Anteil auf ein bis zwei Prozent.

Die Debatte entzündet sich ganz wesentlich auch an der Leistungshöhe des Bürgergeldes. Hier ist festzustellen: Es hat keinen statistisch erkennbaren Anstieg der Übergänge aus Erwerbstätigkeit in das Bürgergeld gegeben. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass der Mindestlohn im Vergleichszeitraum stärker angestiegen ist als die Regelsätze. Erwerbstätigkeit lohnt sich auch nach der Einführung des Bürgergelds und der Anhebung der Regelsätze finanziell sowie aus Gründen der sozialen Teilhabe.

Zum anderen weisen wir darauf hin, dass die Regelsätze im Bürgergeld nicht willkürlich festgelegt werden, sondern auf Basis eines anerkannten Berechnungsverfahrens, das das soziokulturelle Existenzminimum und damit ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe gewährleisten sollen. Die Regelsätze wurden dementsprechend der allgemeinen Preissteigerung um rund 60 Euro angepasst. Im engeren Sinne handelt es sich dabei um einen Ausgleich realer Einbußen in den zurückliegenden Jahren.

Annette Holuscha-Uhlenbrock ist Direktorin des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart.