sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

seit das Parlament der Europäischen Union im September die 28 EU-Mitgliedstaaten aufgefordert hat, Freier von Prostituierten für den Kauf von Sex zu bestrafen, kommt in Deutschland Bewegung in die kontroverse Debatte. Mit einer überraschenden politischen Lagerbildung: Die Unionsfraktion im Bundestag fordert nun ein Sexkaufverbot und die Schließung von Bordellen, die grüne Frauenministerin Paus ist dagegen. Amnesty International sieht im sogenannten Nordischen Modell eine Gefahr für die Prostituierten.

Beim Migrationsgipfel am 6. November hat Bundeskanzler Scholz zugesagt, den Kommunen mehr Geld zu geben für die Betreuung und Unterbringung von Flüchtlingen. Einen Teil der Kosten für die zugesagte Jahrespauschale pro neuem Asylbewerber in Höhe von 7.500 Euro will der Bund über die Kürzung von Sozialleistungen für Flüchtlinge wieder hereinholen. So sollen Asylbewerber im laufenden Verfahren und Menschen mit einem Duldungsstatus bis zu 36 Monate Asylbewerberleistungen erhalten. Bislang beziehen sie bereits nach 18 Monaten das höhere Bürgergeld. Pro Asyl bezeichnete die Pläne als „politischen Tritt nach unten“.

Die Wohlfahrtsverbände haben am 8. November auf einer Kundgebung in Berlin gegen die geplanten Kürzungen der Ampel-Regierung im Sozialsektor protestiert. Wenige Tage vor der entscheidenden Sitzung des Haushaltsausschusses gingen sie auf die Straßen, um drastische Einschnitte ins soziale Netz abzuwenden. AWO-Chef Michael Groß warnte, die geplanten Einsparungen von 235 Millionen Euro richteten „maximalen Schaden“ an. Diakoniepräsident Lilie forderte angesichts der aktuellen Krisenzeiten eine Aufstockung der Mittel für die Angebote der Sozialbranche.

Eine im Pflegebereich tätige Arbeitnehmerin darf wegen ihres Hinweises auf eine bevorstehende ärztliche Operation nicht bei der Dienstplanerstellung benachteiligt werden. Liegt bei der Einteilung in die Schichten eine unzulässige Umgehung des Rechts auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vor, steht der betroffenen Mitarbeiterin nach einem Gerichtsurteil eine Entschädigung zu.

Lesen Sie täglich auf dem epd-sozial-Account des Internetdienstes X, vormals Twitter, Nachrichten aus der Sozialpolitik und der Sozialbranche. Auf dem Kanal können Sie mitreden, Ihren Kommentar abgeben und auf neue Entwicklungen hinweisen. Gern antworte ich auch auf Ihre E-Mail.

Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Prostitution

Sexkaufverbot: Schutz für Frauen oder Weg in die Illegalität?




Protestplakat gegen Zwangsprostitution (Archivbild)
Geht es um Prostitution, wird in Deutschland oft der Ruf nach dem "Nordischen Modell" laut, nach dem Freier bestraft werden. Das funktioniert nicht, sagen Kritiker. Denn um ihre Kunden zu schützen, müssten sich dann auch die Prostituierten verstecken.

Frankfurt a. M. (epd). „Ich fühle mich wohl mit dem, was ich tue“, sagt Ella Bizarr. Die 42-jährige Prostituierte aus Leipzig verdient ihr Geld mit Sadomasochismus.

„Ich habe über zehn Jahre als Pflegehelferin in einer Demenzstation Dauernachtwache gemacht. Ich habe drei Jahre bei der Deutschen Bahn als Schaffnerin gearbeitet. Ich habe so viele Jobs in meinem Leben gemacht. Jetzt habe ich einen Job, wo ich wirklich sage, ich entscheide, wann ich wohin fahre, in welchem Studio ich arbeiten möchte und welchen Kunden ich annehme“, sagt sie. Diese Entscheidung habe sie in einem „normalen Job“ nicht.

Gegen Ausbeutung und Menschenhandel

Geht es nach den Plänen der Europäischen Union, muss sich die Prostituierte, die sich Ella Bizarr nennt, bald etwas anderes suchen. Im September hat sich das EU-Parlament für die Einführung des sogenannten Nordischen Modells in den Mitgliedstaaten ausgesprochen. Mit diesem Konzept wird der Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe gestellt. So wollen die Politikerinnen und Politiker Ausbeutung und Menschenhandel den Boden entziehen.

Die Unionsfraktion im Bundestag hat am 7. November beschlossen, sich für ein Sexkaufverbot in Deutschland einzusetzen. Danach sollen Freier für den Kauf von Sex bestraft werden. Prostitutionsstätten wie Bordelle und Laufhäuser müssten nach dem Willen der Union schließen. Verboten werden soll auch die Vermietung von Wohnungen zur Prostitution. Prostituierte sollen keinen Sanktionen unterliegen.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) lehnte es indes ab, die Gesetzgebung zur Prostitution zu verschärfen. „Es gibt gegenwärtig keinen Grund dafür, das Gesetz anzufassen“, sagte Paus am 8. November bei der Regierungsbefragung in Berlin im Bundestag.

Das Nordische Modell hat viele Namen, manchmal ist auch die Rede vom „Sexkaufverbot“ oder vom Schwedischen Modell, letzteres benannt nach dem ersten Land, das dieses Konzept 1999 eingeführt hat. Seitdem sind andere Länder nachgezogen, darunter Norwegen 2009, Frankreich 2016, Irland 2017 und Israel 2020. Kern des Konzepts ist die Bestrafung der Freier: Damit verstößt der Kauf sexueller Dienstleistungen gegen geltendes Recht, die Prostituierten sollen aber straffrei bleiben. Außerdem sind Beratungs- und Aufklärungsangebote vorgesehen.

„Ich mache das selbstbestimmt“

Ella Bizarr macht die Entscheidung des EU-Parlaments wütend. „Im Grunde wird mir dadurch meine Lebensgrundlage kaputt gemacht“, sagt sie. Sie glaubt nicht, dass das Nordische Modell Prostituierte schützt: „Was ist das für ein Schutz, wenn alles wieder in der Versenkung verschwindet?“, fragt sie rhetorisch und meint die Illegalität. „Ich selber gehöre nicht zu den Leuten, die beschützt werden müssen. Ich mache das selbstbestimmt. Aber natürlich weiß ich, dass es auch Personen gibt, die es nicht aus freien Stücken machen.“

Ella Bizarr ist Vorstandsmitglied beim Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen BesD, nach eigenen Angaben ein ausschließlich von Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen organisierter Zusammenschluss. Die Organisation vertrete derzeit rund 800 Mitglieder aus unterschiedlichen Bereichen, sagt Ella.

Wie viele Prostituierte es in Deutschland gibt, lässt sich nicht seriös beziffern. Sicher ist, dass Ende 2022 rund 28.280 Prostituierte bei den deutschen Behörden gemeldet waren. Doch längst nicht alle, die hauptberuflich, gelegentlich oder vorübergehend Geld mit Prostitution verdienen, melden sich auch an.

„Eine Form von Gewalt“

Ob es ein Gesetz für alle Prostituierten überhaupt geben kann? „Das wird schwierig“, meint Ella Bizarr. „Nicht unmöglich, aber es wird schwierig.“ Denn zur Sexarbeit gehöre ja nicht nur die Straßenprostitution, sondern auch Tantra-Massagen, Escortdamen oder die Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderung." Letztere bietet auch Ella an - und auch die wäre dann vorbei, sagt sie.

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert das Sexkaufverbot: „Das Nordische Modell behauptet, Sexarbeitende zu schützen, tut es aber nicht“, erklärt Katharina Masoud, bei Amnesty Referentin für Frauenrechte, die Haltung der Organisation: „Sexarbeitende müssen höhere Risiken eingehen, um ihre Kunden vor der Entdeckung durch die Polizei zu schützen“, sagt sie.

Für Inge Kleine, die sich in der Münchner Frauenberatungsstelle Kofra engagiert, ist Prostitution Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheiten. „Und sie ist eine Form von Gewalt“, sagt die Pädagogin. Diese sei „besonders problematisch, weil es eine Form von sexueller Gewalt ist“.

Einzelnen Frauen möchte Kleine nicht absprechen, freiwillig in der Prostitution zu sein, sagt sie. Ihr gehe es jedoch um die Haltung der Gesellschaft. „In dem Fall, wo das eben nicht freiwillig ist, weil die Frau Geld braucht, ist es ein ganz intimer Zugang, der gekauft wird. Sex, der nicht gewollt ist.“ Sie stellt sich gegen eine „Art Infrastruktur für Männer zur sexuellen Benutzung von Frauen gegen eine Gebühr“.

Anna Schmid


Prostitution

Hintergrund

Prostitution in Deutschland



Berlin (epd). Prostitution ist in Deutschland seit 2002 nicht mehr sittenwidrig. Seit einer Gesetzesreform der rot-grünen Bundesregierung haben Prostituierte Zugang zur Sozialversicherung und das Recht, ihren Lohn einzuklagen. Kritikerinnen sagen, dass diese Änderung Prostituierte nicht bessergestellt, sondern dem organisierten Verbrechen und dem Menschenhandel Vorschub geleistet habe.

Verlagerung in Wohnungen und Hotels

Im Jahr 2022 gab es nach dem „Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung“ des Bundeskriminalamts (BKA) 346 Verfahren wegen „sexueller Ausbeutung“ mit 476 erwachsenen Opfern. Jedes dritte Opfer, dessen Alter ermittelt werden konnte, war jünger als 21 Jahre. Zur sexuellen Ausbeutung gehören die Straftatbestände Zwangsprostitution und Menschenhandel. Die Prostitution habe sich von der Straße und Bordellen weiter in Wohnungen und Hotels verlagert, heißt es im Bericht des BKA.

Wie viele Menschen in Deutschland sich unter Zwang prostituieren, lässt sich nicht sagen. Ebenso wenig weiß man, wie viele Menschen in Deutschland überhaupt Geld mit Prostitution verdienen. Zwar müssen sie sich nach dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 bei den Behörden anmelden, das machen aber längst nicht alle.

Sicher ist, dass Ende 2022 rund 28.280 Prostituierte bei den deutschen Behörden gemeldet waren. Die meisten von ihnen waren zwischen 21 und 44 Jahre alt, 5.870 von ihnen 45 Jahre und älter, 1.050 waren zwischen 18 und 20 alt. 35 Prozent der gemeldeten Prostituierten hatten die rumänische Staatsbürgerschaft, elf Prozent die bulgarische.

„Sklaverei im eigenen Land“

Ziel des Prostituiertenschutzgesetzes ist es, die Menschen vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen. Die Sexarbeitenden müssen sich nicht nur anmelden, sondern auch zu gesundheitlichen Themen beraten lassen. Der Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen BesD lehnt die Maßnahmen als stigmatisierend und ineffektiv ab.

Prostitution ist umstritten: Während die einen von Sexarbeit als Dienstleistung sprechen und selbstbestimmte Prostitution klar von Zwangsprostitution trennen, fordern andere die Abschaffung der Prostitution. Sie fordern ein Sexkaufverbot und Strafen für Freier, die sexuelle Dienstleistungen käuflich erwerben.

Elke Mack, Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität und Autorin einer kürzlich veröffentlichten Studie zum Thema, spricht von Prostitution als „Sklaverei im eigenen Land“. Die meisten Prostituierten seien ausländische, bildungsarme Frauen, die bis zu 20 Freier am Tag bedienen müssten. Viele von ihnen würden erpresst.

Schwere gesundheitliche Folgen

Von den gesundheitlichen Folgen der Prostitution berichtet Frauenärztin und Prostitutionsgegnerin Liane Bissinger. Sie hat zwischen 1996 und 2000 in einer Hamburger Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten Menschen in der Prostitution beraten. Zu den gesundheitlichen Folgen gehören nach ihren Angaben Einrisse und Verletzungen durch Überdehnung oder gezielte Verletzungen im Unterleib.

Blasenentzündungen seien weit verbreitet. Sie habe junge Frauen gesehen, die Probleme hatten, Urin oder Stuhlgang zu halten, weil ihr Beckenboden Schaden genommen hatte. Prostituierte litten unter Ekzemen, Schmerzen am ganzen Körper und Schlafstörungen, viele konsumierten Drogen und Alkohol, um ihren Alltag zu ertragen. Im Vergleich zu den körperlichen Schäden seien die Auswirkungen auf die Psyche noch tiefer und nachhaltiger, sagt Bissinger.

Für eine Schweizer Studie aus dem Jahr 2010 wurden 193 weibliche Prostituierte in Zürich befragt. Danach litten nicht-europäische Frauen, die wenig soziale Unterstützung hatten, unter hohem Druck standen und viel Gewalt ausgesetzt waren, zu 90 Prozent unter Depressionen, Ängsten oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Von den Frauen, die soziale Unterstützung hatten, nicht unter Druck standen und wenig Gewalt erlebten, hatten 19 Prozent eine psychische Erkrankung.

Anna Schmid


Prostitution

Interview

Amnesty-Expertin: Sexkaufverbot schützt Prostituierte nicht




Katharina Masoud
epd-bild/Amnesty/Sarah Eick
Das EU-Parlament will das sogenannte Nordische Modell einführen, um Prostitution und Menschenhandel zu bekämpfen. Es bestraft die Kunden von Prostituierten. Katharina Masoud von Amnesty erklärt, warum die Menschenrechtsorganisation das Konzept ablehnt.

Berlin (epd). „Das Nordische Modell behauptet, Sexarbeitende zu schützen, tut es aber nicht“, sagt Menschenrechtsexpertin Katharina Masoud von Amnesty International zu den Plänen des EU-Parlaments, die Kunden von Prostituierten strafrechtlich zu belangen. Im Interview erklärt sie, warum Amnesty davon überzeugt ist, dass das Nordische Modell die Lage der Prostituierten eher verschlechtern würde. Mit ihr sprach Anna Schmid.

epd sozial: Frau Masoud, worum geht es beim Nordischen Modell?

Katharina Masoud: Das Nordische Modell stellt den Kauf von Sexarbeit unter Strafe und kommt in mehreren Ländern zum Einsatz. Amnesty International hat dokumentiert, was es für Menschen bedeutet, unter diesen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu arbeiten. Wir haben dazu mehrere Recherchen gemacht, die jüngste 2022 in Irland. Außerdem haben wir Erkenntnisse aus Argentinien, der Dominikanischen Republik, Hongkong, Norwegen oder Papua-Neuguinea.

epd: Was ist bei den Recherchen herausgekommen?

Masoud: Das Nordische Modell behauptet, Sexarbeitende zu schützen, tut es aber nicht. Es bedroht ihre Sicherheit und ihre Menschenrechte und setzt sie einem höheren Risiko von Missbrauch und Gewalt aus. Sexarbeitende müssen stärkere Risiken eingehen, um ihre Kunden vor der Entdeckung durch die Polizei zu schützen. Das Modell sieht zudem vor, dass Sexarbeitende bestraft werden, wenn sie sich zu ihrer eigenen Sicherheit organisieren und zusammenarbeiten. Bordelle sind verboten.

Die Menschen können auch Schwierigkeiten bekommen, eine Unterkunft zu finden, weil auch die Vermietung an Sexarbeitende strafbar ist. Dies kann dazu führen, dass Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter aus ihren Wohnungen zwangsgeräumt werden. Außerdem verdeckt der Fokus auf das Verbot des Kaufs von Sexarbeit die Tatsache, dass es meist noch viele andere Gesetze gibt, die die Organisation und Förderung von Sexarbeit kriminalisieren und die weiterhin bestehen bleiben.

epd: Lässt sich denn eine einheitliche Aussage für all die untersuchten Länder treffen?

Masoud: In den untersuchten Ländern gab es unterschiedliche gesetzliche Voraussetzungen - nicht alle hatten das Nordische Modell. Was aber flächendeckend sichtbar war und deshalb ein allgemeines Fazit ist: Die Kriminalisierung von Sexarbeit zwingt die Menschen dazu, im Verborgenen zu arbeiten. Das gefährdet ihre Sicherheit und hindert sie daran, Unterstützung oder Schutz bei Behörden zu suchen. Täter gehen straffrei aus, da sich Sexarbeitende oft fürchten, ein Verbrechen bei der Polizei anzuzeigen. Das nutzen teilweise auch die Behörden aus: Nicht selten vergewaltigen Polizisten Sexarbeitende. Diese Polizisten wissen, dass die Betroffenen die Tat nicht anzeigen können, weil sie sonst offenlegen müssten, dass sie Sexarbeitende sind.

epd: Was glauben Sie denn, was die Befürworter des Nordischen Modells motiviert?

Masoud: Ich denke, viele sind überzeugt, dass sie den Menschen damit etwas Gutes tun. Aber man spricht ihnen damit ab, selbstgewählte Entscheidungen treffen zu können. Das ist eine Form der Bevormundung, die problematisch ist.

epd: In der Öffentlichkeit gibt es das Bild der selbstbestimmten Unternehmerin ebenso wie das der ausgebeuteten Zwangsprostituierten. Wie ist denn die Situation der Menschen, die sexuelle Dienste anbieten?

Masoud: Wir bei Amnesty International definieren Sexarbeit als den einvernehmlichen Austausch sexueller Dienstleistungen zwischen Erwachsenen gegen eine Vergütung. Das trennen wir klar von Verbrechen wie Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Menschenhandel ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die Staaten kriminalisieren und bekämpfen müssen. Dazu werden sie von internationalen Menschenrechtsnormen und -standards verpflichtet.

Im Gegensatz dazu ist Sexarbeit ausdrücklich einvernehmlich. Das Bild der Sexarbeitenden ist häufig sehr schablonenhaft. Für viele Menschen ist diese Arbeit eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Kinder zu ernähren oder ihr Studium zu finanzieren. Anderen bietet diese Arbeit eine Flexibilität, die sie in ihrem Leben brauchen. Wieder andere machen es zusätzlich zu ihrer Arbeit. Unabhängig von den Gründen haben Sexarbeitende ein Recht auf Sicherheit und verdienen es, mit Würde und Respekt behandelt zu werden.

epd: Kann es denn selbstgewählt sein, wenn sich eine Frau prostituiert, um so etwas gegen ihre Armut zu unternehmen?

Masoud: Das ist generell die Frage bei Entscheidungen. Warum gehen wir arbeiten, ist das selbstgewählt oder nicht? Wenn Menschen nicht weiterhin in Armut leben sollen, müssen die Ursachen angegangen werden und nicht Maßnahmen ergriffen werden, die ihnen ihre materielle Lebensgrundlage entziehen. Stattdessen sind die Staaten in der Pflicht, wirtschaftliche und soziale Rechte zu garantieren.

epd: Könnte es denn überhaupt eine Lösung für alle geben?

Masoud: Viele Leute, die das Nordische Modell befürworten, wollen eigentlich das Problem der Zwangsprostitution angehen. Aber die Verwechslung von Zwangsprostitution und Menschenhandel mit Sexarbeit schadet den Sexarbeitenden. Menschenhandel ist eine Menschenrechtsverletzung, die verboten werden muss. Im Gegensatz dazu steht die frei gewählte Sexarbeit, die nicht kriminalisiert werden sollte. Staaten müssen ermöglichen, dass Menschen, die dieser Arbeit nachgehen, nicht in Unsicherheit leben müssen.



Prostitution

SPD-Politikerin: Unions-Beschluss für Sexkaufverbot ist richtig



Berlin (epd). Die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier begrüßt den Beschluss der Unionsfraktion für ein Sexkaufverbot. Breymaier, die sich seit Jahren für die Einführung des sogenannten Nordischen Modells in Deutschland einsetzt, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Bisher gibt es keine einzige Fraktion oder Partei, die das Nordische Modell'- also Sexkaufverbot, Entkriminalisierung der Frauen, Freier-Bestrafung, Aufklärung und Ausstiegshilfen - gefordert hat. Dass eine große Partei wie die Union das jetzt tut, ist wirklich ein riesiger Schritt in die richtige Richtung“, sagte Breymaier.

Wende der Unionsfraktion

Das Nordische Modell ist benannt nach der Einführung eines Sexkaufverbots in Schweden 1999 und zehn Jahre später in Norwegen. Danach werden Freier bestraft, nicht aber Prostituierte. Im Idealfall werden zudem Ausstiegshilfen und Beratungsangebote ausgebaut. Bis 2020 haben sechs weitere Länder ein Sexkaufverbot eingeführt, darunter Israel und Frankreich. Breymaier wies darauf hin, dass zudem das Europäische Parlament den Mitgliedsländern die Einführung des „Nordischen Modells“ empfohlen hat.

Die Unionsfraktion aus CDU und CSU hat am 7. November eine Wende in der Prostitutionspolitik gefordert. Sie will ein Sexkaufverbot für Freier und Verbote für den Betrieb von Bordellen. Prostituierte sollen straffrei bleiben. Die Gesetzesverschärfungen sollen von mehr Ausstiegshilfen begleitet werden. Einen Gesetzentwurf legte die Fraktion nicht vor, beabsichtigt aber nach Angaben einer Sprecherin, das Thema in den Bundestag zu bringen.

„Das bringt die Debatte nach vorn“

Breymaier äußerte sich zuversichtlich, dass ihre Kampagne neuen Schwung erhält. Verschiedene Studien und Gutachten unterstützten den Befund, dass Deutschland viel zu wenig tue, um Prostituierte zu schützen, sagte sie: „Dies alles zusammen bringt die Debatte ein weiteres Stück nach vorn.“ Wer sich ernsthaft mit der Situation der Frauen in der Prostitution beschäftige, wisse längst: „So wie es ist, kann es nicht bleiben.“

Von ihrer eigenen Fraktion erwarte sie mehr Offenheit für eine neue Positionsbestimmung, sagte Breymaier. Sie habe den Eindruck, dass die Zahl derer steige, die für ein Sexkaufverbot eintreten. Die SPD dürfe nicht auf die Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes warten, forderte sie. Die Ergebnisse sollen erst im Sommer 2025 vorliegen, kurz vor der nächsten Bundestagswahl.

Bettina Markmeyer


Migration

Bund und Länder wollen Sozialleistungen für Flüchtlinge einschränken




Ein Asylbewerber aus Syrien in einer Erstaufnahmeeinrichtung (Archiv)
epd-bild/Detlef Heese
Der große Jubel bleibt nach dem Bund-Länder-Beschluss zur Flüchtlingspolitik aus. Die Länder begrüßen, dass der Bund mehr gibt als bislang, wirklich zufrieden sind sie aber nicht. Sozialverbände kritisieren die geplanten Leistungskürzungen scharf.

Berlin (epd). Nach monatelangem Streit hat der Bund den Ländern mehr Geld für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen versprochen. Zugleich will er bei den Leistungen für Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge sparen. Darauf einigte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei einer stundenlangen Beratung mit den Ministerpräsidenten in der Nacht zum 7. November in Berlin. Viele Länder und Kommunen machten danach deutlich, dass aus ihrer Sicht eine höhere Summe als zugesagt gebraucht werde. Sozialverbände kritisierten die geplanten Einschränkungen bei den Sozialleistungen deutlich.

„Ernüchterndes Ergebnis“

Scholz verabredete mit den Ländern, dass der Bund ab 2024 pro Schutzsuchendem künftig eine Pauschale von 7.500 Euro im Jahr zahlen wird. Der finanzielle Beitrag wird damit abhängig von der Zahl der Flüchtlinge. Das hatten die Länder zuvor gefordert, wollten allerdings einen höheren Betrag. Es gebe nun ein „atmendes System“, aber auf einer zu niedrigeren Basis, sagte etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in Berlin. Er sprach von einem „ernüchternden Ergebnis“. Kritik kam auch von den Kommunen. Der Betrag von 7.500 Euro berücksichtige die notwendigen Integrationsleistungen vor Ort nicht, sagte Städtetagspräsident Markus Lewe (CDU).

Die Ministerpräsidenten von CDU und CSU hatten vor dem Treffen mit Scholz für eine Verzögerung der länderinternen Beratungen gesorgt, weil sie erneut auf drastischere Maßnahmen zur Fluchtzuwanderung nach Deutschland drangen. Nur Teile der Forderungen fanden letztlich Eingang ins Papier. Entsprechend enttäuscht äußerten sich Unionspolitiker. Die „notwendige Asylwende“ sei dies nicht, sagte die stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz (CSU). Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) drang darauf, dass die beschlossenen Sozialleistungseinschränkungen für Flüchtlinge schnell als Gesetz umgesetzt werden. Dafür warb auch der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Johannes Vogel.

Leistungen unter Sozialhilfeniveau

Geplant ist laut Bund-Länder-Beschluss, dass Asylbewerber im laufenden Verfahren, die bislang nach 18 Monaten Anspruch auf Bürgergeld haben, künftig doppelt so lange, nämlich 36 Monate, nur die niedrigeren Asylbewerberleistungen erhalten. Zudem sollen anerkannte Schutzberechtigte, darunter Flüchtlinge aus der Ukraine und Geduldete, nach Ablauf dieser Zeit künftig zur Verpflegung „nur diejenigen Leistungen erhalten, die sie wirklich benötigen“, wenn sie in Einrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegung untergebracht sind. Der Bund rechnet durch diese Änderungen mit Einsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro für Länder und Kommunen.

Bei Sozialverbänden und Flüchtlingsorganisationen stoßen diese Pläne auf heftige Kritik. Asylbewerbern erst nach drei Jahren eine Leistung wenigstens auf Sozialhilfeniveau zu gewähren, sei „inhuman und unvernünftig“, erklärte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte, es sei ein Trugschluss, dass niedrigere Leistungen oder Bezahlkarten Menschen davon abhalten, Schutz zu suchen. Pro Asyl bezeichnete die Pläne drastisch als „politischen Tritt nach unten“.

Begrüßt wurde von der Diakonie das im Beschluss festgehaltene Vorhaben der Bundesregierung, zu „Fragen der Steuerung der Migration und besseren Integration“ eine Kommission unter Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen einzurichten. Dieses „Erfolgsmodell“ habe schon 2015 funktioniert, sagte Lilie: „Nur im Zusammenschluss von Politik und Zivilgesellschaft werden wir überzeugende Lösungen finden können.“

Corinna Buschow


Migration

Hintergrund

So will die Bundesregierung bei Flüchtlingen Geld sparen



Berlin (epd). Die Kommunen ächzten unter den Kosten für Flüchtlinge, die Länder drangen beim Bund auf Unterstützung - nach vielen Monaten mit Erfolg. In einer erneuten Nachtsitzung sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Ländern mehr Geld für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen zu. Zusätzlich will die Bundesregierung die Sozialleistungen für Flüchtlinge reduzieren. Damit soll zumindest ein Teil des Betrags, der Länder und Kommunen entlasten soll, bei den Betroffenen selbst eingespart werden.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Politik das Asylbewerberleistungsgesetz ändert, weil sie sich dadurch eine Wirkung auf das Migrationsgeschehen erhofft. Diesmal ist geplant, nicht die Höhe, sondern die Bezugsdauer dieses absoluten Existenzminimums zu ändern. Asylbewerber im laufenden Verfahren und Menschen mit einem Duldungsstatus, die also nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden, gleichzeitig aber auch nicht abgeschoben werden können, sollen bis zu 36 Monate die abgesenkten Leistungen erhalten. Sie beziehen bislang nach 18 Monaten Bürgergeld. Ein „mittlerer dreistelliger Millionenbetrag“ solle dadurch pro Jahr eingespart werden, heißt es im Beschlusspapier des jüngsten Bund-Länder-Treffens.

Maximal 410 Euro pro Monat

Ist jemand als Flüchtling anerkannt, steht ihm Bürgergeld zu. Aber auch da wollen Bund und Länder kürzen. Bei einer Unterbringung in einer Einrichtung mit Gemeinschaftsverpflegung sollen die Leistungen nach dem auf dem Migrationsgipfel gefassten Beschluss reduziert werden. Damit würden „Doppelzahlungen etwa für Verpflegung und Strom vermieden“, hieß es.

Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind geringer als im Bürgergeld: Derzeit erhalten alleinstehende oder alleinerziehende Asylbewerber 410 Euro pro Monat, bei Unterbringung in einer Sammelunterkunft 369 Euro, Kinder bis sechs Jahre 278 Euro pro Monat. Medizinische Hilfe gibt es nur im Notfall. Wechseln die Betroffenen, wie beschlossen, später in die Grundsicherung, „kommt es auch bei den Gesundheitsleistungen zu zusätzlichen Einsparungen der Länder und Kommunen im dreistelligen Millionenbereich“, heißt es im Bund-Länder-Beschluss. Insgesamt gaben die Länder 2022 nach Daten des Statistischen Bundesamts netto rund 6,2 Milliarden Euro für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aus.

„In verfassungsrechtlicher Hinsicht fraglich“, bewertet Pro Asyl die geplante Kürzung. Sie schließe Geflüchtete von Maßnahmen oder Leistungen aus, die für ihr Leben essenziell seien, kritisiert die Organisation.

„Evident unzureichend“

Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht der Politik Vorgaben gemacht, die eine Grenze bei der Reduzierung der Sozialleistungen für Flüchtlinge setzt. Im Jahr 2012 entschied Karlsruhe, dass Leistungen nicht „evident unzureichend“ sein dürfen. Die Leistungen lagen damals bis zu 40 Prozent unterhalb der Grundsicherung, heute sind es nach Berechnungen des Mediendienstes Integration rund 18 Prozent weniger.

Zur Bezugsdauer sagte das Bundesverfassungsgericht damals nichts. Dennoch reduzierte der Gesetzgeber bei der Reform auch die maximale Bezugsdauer von damals 48 auf 15 Monate. Die große Koalition setzte die Bezugsdauer in der vergangenen Legislaturperiode auf die aktuellen 18 Monate herauf.

Das heißt aber nicht, dass automatisch bei jedem derzeit nach 18 Monaten Schluss mit den abgesenkten Leistungen ist. In den normalen Sozialleistungsbezug wechseln laut Asylbewerberleistungsgesetz nur diejenigen, die „die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben“.

Bereits heute beziehen viele Asylbewerber deutlich länger die abgesenkten Leistungen, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen. Von den knapp 400.000 Empfängerinnen und Empfängern von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen rund 182.000 die Leistungen bereits seit mehr als zwei Jahren, fast 142.000 sogar seit drei Jahren.

Corinna Buschow


Migration

Forscher Oltmer: Niedrigere Leistungen halten Asylbewerber nicht ab



Osnabrück (epd). Die von Bund und Ländern beschlossenen Leistungskürzungen werden nach Ansicht des Osnabrücker Migrationsforschers Jochen Oltmer nicht dazu führen, dass weniger Asylbewerber nach Deutschland kommen. „Migration und Fluchtbewegungen sind viel komplizierter. Mit solchen Einzelmaßnahmen, die auf die Kürzung von Sozialleistungen zielen, kann man keinen echten Effekt erreichen“, sagte er am 7. November dem Evangelischen Pressedienst (epd).

In der Nacht hatten sich Bund und Länder in Berlin unter anderem darauf geeinigt, die Sozialleistungen für Flüchtlinge zu reduzieren. Asylbewerber im laufenden Verfahren, die bislang nach 18 Monaten Anspruch auf Bürgergeld haben, sollen künftig 36 Monate lang nur die niedrigeren Asylbewerberleistungen erhalten. Mit einer Bezahlkarte soll zudem die Verfügung über Bargeld eingeschränkt werden.

„Menschen lassen sich nicht einfach irgendwohin lenken“

Oltmer wies darauf hin, dass das Asylbewerberleistungsgesetz 1993 schon mit dem Ziel beschlossen worden sei, die Attraktivität Deutschlands für Schutzsuchende möglichst niedrig zu halten. Eben deshalb seien die Leistungen dieses Gesetzes so knapp bemessen. „Das hat bislang nicht den gewünschten Effekt erzielt. Warum sollte das jetzt plötzlich funktionieren?“, fragte er.

Auch mit der Einschränkung des Familiennachzugs sei erfolglos versucht worden, Menschen von der Flucht nach Deutschland abzuhalten. „Die Politik verkennt die Hintergründe der Migrations- und Fluchtbewegungen. Sie verkennt, dass sich Menschen nicht einfach irgendwohin lenken lassen“, sagte Oltmer.

Andere Faktoren seien für die Entscheidung, warum Menschen nach Deutschland flüchten, viel entscheidender, sagte der Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Dazu gehörten etwa bestehende migrantische Netzwerke. Geflüchtete gingen also dorthin, wo sie schon Verwandte und Freunde hätten.

Auch dass Deutschland ein Rechtsstaat und eine stabile Demokratie mit funktionierender Wirtschaft sei und Asylverfahren nach rechtsstaatlichen Regeln durchführe, mache das Land attraktiv. „Daran ändert man aber nichts mit der Einführung einer Bezahlkarte. Und daran will ja auch niemand ernsthaft etwas ändern“, betonte Oltmer.

Martina Schwager


Migration

Interview

Städtebund: 7.500 Euro für Asylbewerber bei weitem nicht genug




Marc Elxnat
epd-bild/Farbtonwerk/Bernhardt Link
Marc Elxnat vom Städte- und Gemeindebund hält die Zusage des Bundes, 7.500 Euro jährlich pro untergebrachtem Asylbewerber zu erstatten, für zu niedrig. Die Diskussion über die Finanzierung der Aufnahme und Betreuung von Asylbewerbern werde weitergehen.

Berlin (epd). Das Ziel der Bundesländer, die Unterkunftskosten vollständig vom Bund übernehmen zu lassen, ist beim Migrationsgipfel am 6. November gescheitert. Was die neu vereinbarte Finanzierungszusage des Bundes für die Kommunen bedeutet, erläutert Marc Elxnat, Referatsleiter beim Deutschen Städte- und Gemeindebund. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Elxnat, nach langen Verhandlungen beim Flüchtlingsgipfel sieht das „atmende System“ künftig nun vor, 7.500 Euro pro untergebrachtem Asylbewerber zu zahlen. Vorher standen weit höhere Forderungen im Raum. Wie ist das zu bewerten?

Marc Elxnat: Der Beschluss sieht 7.500 Euro für neue Asylerstanträge ab 2024 vor. Das ist bei weitem nicht genug für die Ausgaben, die bei den Kommunen für Unterbringung und Integration anfallen. Es braucht zusätzlich wenigstens die vollstände Übernahme der Unterkunftskosten durch den Bund.

epd: Das Geld wird also nicht reichen?

Elxnat: Aus unserer Sicht ist absehbar, dass das Geld 2024 nicht reichen wird und wir im kommenden Jahr wieder die Diskussion über die Finanzierung der flüchtlingsinduzierten Mehrkosten führen werden.

epd: Die Debatte wird weitergehen, in der Hoffnung auf höhere Zahlungen?

Elxnat: Ja. Das zeigen auch die Äußerungen der Ministerpräsidenten im Nachgang der Ministerpräsidentenkonferenz. Wir brauchen hier eine dauerhaft tragfähige Lösung zur Finanzierung, etwa eine Gemeinschaftsaufgabe Migration im Grundgesetz. Damit könnte ein finanzielle Lastenteilung zwischen Bund und Ländern sowie auch mehr Planungssicherheit für die Kommunen erreicht werden. Hierfür braucht es eine breite Allianz von Regierung, Opposition und Bundesländern.

epd: Umstritten ist die Kürzung der Asylbewerberleistungen beziehungsweise die Verlängerung des Bezuges, bevor der Wechsel ins Bürgergeld möglich ist. Wie fällt da Ihre Bewertung aus?

Elxnat: Hier geht es darum, dass mögliche Pull-Faktoren ausgeschlossen werden. Daher sehen wir das als eine sinnvolle Maßnahme an. Gleichzeitig müssen die Möglichkeiten für Geflüchtete mit Bleibeperspektive zur schnellen Arbeitsaufnahme aus unserer Sicht verbessert werden, um gute Bedingungen für eine zügige Integration zu schaffen.

epd: Es sollen vermehrt Bezahlkarten eingeführt werden. Da hieß es seitens der Kommunen immer, auch das sei aufwändig für die Verwaltung. Warum sollen sie nun doch kommen?

Elxnat: Die Bezahlkarte kann, wenn sie gut umgesetzt wird, einen Beitrag zur Reduzierung des Verwaltungsaufwandes der Kommunen leisten. Dafür ist es wichtig, dass es eine bundeseinheitliche Lösung gibt, die flächendeckend, flexibel und mit möglichst geringen Aufwand genutzt werden kann.

epd: Was sind da die Bedingungen?

Elxnat: Dazu muss sichergestellt werden, dass die Bezahlkarte den Erwerb von allen Gütern des täglichen Bedarfs und eine freie Auswahl der Händler ermöglicht. Perspektivisch ist die Bezahlkarte aus unserer Sicht jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg hin zu einem digitalen Flüchtlingsausweis, der auch weitere Informationen zum Asylverfahren und zur Identität enthält. So könnte auch bei einem Wechsel des Aufenthaltsstatus die Bezahlfunktion der Karte anpasst werden.



Flüchtlinge

Dauer von Asylverfahren an Gerichten gesunken



An den Verwaltungsgerichten ist zwar die Dauer von Asylprozessen gesunken. Von dem Ziel, insbesondere für Angehörige von Staaten mit geringer Anerkennungsquote nur drei Monate Zeit zu brauchen, sind die Gerichte aber mehrheitlich weit entfernt.

Hannover (epd). Den deutschen Verwaltungsgerichten gelingt es zunehmend, die Dauer von Asylprozessen zu verkürzen. Das ergab eine Befragung des Deutschen Richterbundes unter allen deutschen Verwaltungsgerichten und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Nach den Daten, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegen, ist die Laufzeit der erstinstanzlichen Asylklagen im bundesweiten Durchschnitt von 20 Monaten im Jahr 2022 auf inzwischen rund 17 Monate gefallen.

Bearbeitungszeiten zwischen 3,5 Monaten und drei Jahren

Vom Ziel der Ministerpräsidentenkonferenz, die Prozessdauer zumindest für Angehörige von Staaten mit geringer Anerkennungsquote auf maximal drei Monate zu senken, sind die Gerichte allerdings noch weit entfernt. Insgesamt lagen die Bearbeitungszeiten zwischen 3,5 Monaten in Trier und drei Jahren in Cottbus.

Auf Platz zwei liegt bundesweit das Verwaltungsgericht Saarlouis, das seine Asylverfahren im ersten Halbjahr 2023 in 9,8 Monaten abgeschlossen hat, nachdem die Verfahrensdauer 2022 bei durchschnittlich 12,2 Monaten lag. Schlusslicht ist bundesweit Brandenburg, wo die Verwaltungsgerichte aktuell im Schnitt 35,3 Monate für die Erledigung eines Verfahrens benötigen (2022: 37,6 Monate). In Hessen dauern Gerichtsverfahren in Asylsachen 30,1 Monate. (2022: 30,7).

Gerichte tragen Aktenberge ab

Der Richterbund sieht die Politik in der Pflicht. „Die Bundesländer müssen der politischen Ankündigung schnellerer Asylverfahren rasch Taten folgen lassen. Ohne personelle Verstärkungen für die Verwaltungsgerichte wird es nicht gehen“, sagte sein Geschäftsführer Sven Rebehn. Zahlreiche Gerichte trügen noch immer die Aktenberge ab, die zwischen 2016 und 2018 aufgelaufen seien.

Das seit diesem Jahr geltende Gesetz zur Beschleunigung von Asylgerichtsverfahren trage nach Ansicht vieler befragter Gerichte dagegen kaum zu schnelleren Verfahren bei, erläuterte Rebehn. „Die neu geschaffene Möglichkeit schriftlicher Entscheidungen zum Beispiel läuft häufig leer, weil zumeist direkt bei der Klageerhebung ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wird.“

Karen Miether


Familie

Beratung im Bundestag: Kindergrundsicherung in der Kritik



Bei der Kindergrundsicherung zeichnen sich schwierige Beratungen ab. Der Zeitplan für die Einführung ist ins Rutschen gekommen, und die Kritik an dem Gesetzentwurf ist breit. Union und Linke werfen der Ampel-Koalition Versagen vor.

Berlin (epd). Bei der ersten Beratung ist der Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung im Bundestag am 9. November in Berlin auf heftige Kritik der Opposition gestoßen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) verteidigte das Vorhaben. Die FDP nannte Bedingungen für den Erfolg der Reform.

Der Gesetzentwurf von Paus sieht vor, dass in der Kindergrundsicherung das heutige Kindergeld, der Kinderzuschlag für Familien mit wenig Einkommen und das Bürgergeld für Kinder zusammengefasst werden. Ziel ist es, die Leistungen schneller und einfacher zu gewähren und mehr bedürftige Familien zu erreichen.

Verwaltungskosten von 400 Millionen Euro

Die familienpolitische Sprecherin der Unions-Fraktion, Silvia Breher (CDU), sagte, die Kindergrundsicherung verursache allein Verwaltungskosten von 400 Millionen Euro im Jahr, die die Regierung besser direkt den Kindern und Jugendlichen zukommen lassen solle. Anders als versprochen, werde die Reform nicht dazu führen, dass Familien künftig nur noch eine Anlaufstelle hätten. Breher forderte die Ampel-Koalition zudem auf, Verschlechterungen auszuschließen. Sie drohten etwa ausgerechnet den besonders armutsgefährdeten Alleinerziehenden, wenn die Kinder ins Schulalter kommen.

Paus verteidigte den Entwurf und appellierte an die Bundesländer, die Reform zu unterstützen. Der Bundesrat muss dem Gesetz zustimmen, hat aber zahlreiche Einwendungen - ebenso wie Kommunen, Sozialverbände und Sachverständige, die der Bundestag am 13. November anhören will.

Paus bekräftigte, die Kindergrundsicherung bedeute einen Systemwechsel von der Holschuld der Bürger zur Bringschuld des Staates und sei der Einstieg in die Bekämpfung der Kinderarmut. In Deutschland lebt jedes fünfte Kind an der Armutsgrenze oder darunter. Auf die drohende Verzögerung der Anfang 2025 geplanten Einführung ging Paus nicht ein. Die Bundesagentur für Arbeit (BA), die die Familienservicestellen aufbauen und die Regelungen umsetzen muss, schließt inzwischen aus, dass das Gesetz zur Kindergrundsicherung zum 1. Januar 2025 in Kraft treten kann und plädiert für einen schrittweisen Einstieg ab Mitte 2025.

„Dschungel der Sozialleistungen“

Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Sönke Rix erklärte, die Reform werde dazu führen, dass bedürftige Kinder die Leistungen erhielten, auf die sie einen Anspruch hätten. Bisher wird etwa der Kinderzuschlag für einkommensarme Familien nur von gut einem Drittel der Familien auch beantragt.

Der FDP-Familienpolitiker Martin Gassner-Herz sagte, seine Fraktion werde bei den nun anstehenden Beratungen des Gesetzes darauf achten, dass der „Dschungel der Sozialleistungen“ für bedürftige Familien wirklich gelichtet werde. „So kann ein Staat nicht mit seinen Bürgern umgehen.“ Die Kindergrundsicherung müsse die Verwaltung verbessern, werde aber auch mehr sein als eine Verwaltungsreform.

Die Linke sagte der Ampel-Koalition voraus, auch sie werde, wie schon vorherige Regierungen, bei der Bekämpfung der Kinderarmut versagen. Die kinder- und jugendpolitische Sprecherin Heidi Reichinnek erklärte, arme Kinder bekämen nicht mehr Geld, sondern bestenfalls einen Inflationsausgleich.

Im Einführungsjahr 2025 stehen für die Kindergrundsicherung 2,4 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung, bis 2028 sollen die Ausgaben bis auf rund sechs Milliarden Euro steigen. Von der Reform sollen laut Gesetzentwurf 5,6 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene profitieren, davon knapp zwei Millionen Kinder, die heute Bürgergeld beziehen.

Bettina Markmeyer



sozial-Branche

Bundeshaushalt

Wohlfahrtsverbände wollen Einschnitte in den Sozialsektor verhindern




Proteste gegen Sozialkürzungen
epd-bild/Christian Ditsch
Eine Woche vor der entscheidenden Sitzung des Haushaltsausschusses im Bundestag haben sich die großen Wohlfahrtsverbände gegen Einschnitte ins soziale Netz gewandt. In Krisen müssten die Mittel aufgestockt und nicht gekappt werden, forderten sie auf einer Kundgebung in Berlin.

Berlin (epd). Gemeinsam fordern die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege von der Ampel-Koalition, die geplanten Sozialkürzungen zurückzunehmen. Die Verbände warnten auf einer Kundgebung am 8. November in Berlin, die Einschnitte im Bundeshaushalt 2024 gefährdeten viele ihrer Dienste. Die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt, nannte die Kürzungspläne „unsozial“. Sie forderte Regierung und Parlament auf: „Zerstört nicht die Grundfeste unseres Sozialstaats.“

„Maximaler Schaden“

So solle etwa die Migrationsberatung ausgerechnet in Zeiten steigender Zuwanderung auf ein Drittel der bisherigen Bundesmittel verzichten, kritisierte Hasselfeldt. „Sachgerecht wäre dagegen, diesen Bereich auszubauen“, forderte die frühere CSU-Bundesministerin. Mitte November will der Haushaltsausschuss des Bundestags abschließend über den Bundeshaushalt beraten. Bisher sind Einsparungen von im Durchschnitt rund 25 Prozent bei den Angeboten der Wohlfahrtsverbände vorgesehen.

Der AWO-Bundesvorsitzende Michael Groß sagte, „minimale Einsparungen“ - 235 Millionen Euro gemessen an einem Bundeshaushalt von rund 446 Milliarden Euro - richteten „maximalen Schaden“ an. Die Mittelkürzungen bedeuteten für viele AWO-Einrichtungen Einschnitte bis hin zur Schließung und träfen die ärmsten und bedürftigsten Menschen in der Bevölkerung, sagte Groß, der auch Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) ist.

Der Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, Aron Schuster, warnte vor den politischen Folgen von Sozialkürzungen. Krisen würden von Populisten missbraucht, sagte er, deshalb brauche es gerade dann die soziale Arbeit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die jüdische Wohlfahrtspflege stehe gegenwärtig besonders unter Druck, um die Auswirkungen der Krise in Nahost auf die Menschen aufzufangen.

Kürzungen für Langzeitarbeitslose

Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, sagte, die Bundesregierung handele gegen ihre Zusagen. Die Ampel-Koalition habe angekündigt, die Freiwilligendienste zu stärken. „Die Kürzungen stehen dazu in klarem Widerspruch und dürfen auf keinen Fall beschlossen werden“, forderte der Diakonie-Chef. Würden sie umgesetzt wie geplant, führe dies zum Wegfall von 30.000 Freiwilligenstellen. Notwendig sei vielmehr eine Aufstockung der Mittel, forderte Lilie, auch weil viele Freiwillige später soziale Berufe ergriffen. Rund 100.000 Menschen leisten jedes Jahr einen Freiwilligendienst.

Kürzungen sind auch in der Jugendarbeit oder bei Projekten für Langzeitarbeitslose geplant. Die Förderung digitaler Angebote mit Bundesmitteln von bisher 3,5 Millionen Euro soll ganz beendet werden. Die Präsidentin des Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, sagte, wo Menschen digital abgehängt würden, wachse die Kluft zwischen Arm und Reich. Beratungsstellen müssten persönlich und in einer zunehmend digitalen Welt auch online erreichbar sein.

Die sechs Spitzenverbände der Wohlfahrt sind die Diakonie, die Caritas, die AWO, der Paritätische Gesamtverband, das Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sie haben sich in der BAGFW zusammengeschlossen und vertreten nach eigenen Angaben 118.000 Einrichtungen mit knapp zwei Millionen Beschäftigten.

Bettina Markmeyer


Bundeshaushalt

Kürzungen im Sozialsektor



Berlin (epd). Insgesamt sind nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) im Bundeshaushalt 2024 Kürzungen bei den Angeboten der Wohlfahrtsverbände im Umfang von 25 Prozent vorgesehen. Bei den Freiwilligendiensten (Freiwilliges Soziales Jahr und Bundesfreiwilligendienst) droht eine Reduzierung der Mittel um rund ein Drittel oder 113 Millionen Euro in den kommenden beiden Jahren. Dadurch könnte bei den Trägern bundesweit jeder vierte der jährlich rund 100.000 Freiwilligenplätze wegfallen.

Migrationsberatungsstellen für Erwachsene sollen 30 Prozent ihrer Mittel einsparen. Die vom Bund geförderte unabhängige Asylverfahrensberatung soll nur noch halb so viel Geld bekommen. Das Programm „Respekt Coaches“ gegen Extremismus und Antisemitismus an mehreren hundert Schulen steht auf der Kippe.

700 Millionen Euro sollen die Jobcenter einsparen. Das trifft auch Projekte der Sozialverbände für Menschen, die schwer in einen regulären Job zu vermitteln sind, wie beispielsweise Sozialkaufhäuser. Einzelne Jobcenter müssten ihre Programme für Langzeitarbeitslose um 20 bis 40 Prozent zurückfahren, warnt die Chefin der Bundesarbeitsagentur für Arbeit, Andrea Nahles.



Bundeshaushalt

Jede vierte Freiwilligenstelle könnte wegfallen




Bundesfreiwilligendienst bei den Johannitern
Bei den Freiwilligendiensten plant die Bundesregierung massive Einsparungen. 2024 sollen die Mittel um etwa 25 Prozent gekürzt werden. Das könnte dazu führen, dass 25.000 Plätze wegfallen - mit erheblichen Folgen für Träger und Gesellschaft.

Stuttgart, Karlsruhe (epd). Die Zeichen stehen auf Sparen beim Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ), den Bundesfreiwilligendiensten (BFD) sowie dem Internationalen Freiwilligendienst. In diesem Jahr liegen die Bundesmittel für diese Dienste noch bei 326 Millionen Euro. 2024 sollen es laut Planungen der Bundesregierung 78 Millionen Euro weniger sein. Fast ein Viertel der Förderung durch den Bund würde ausbleiben.

Aber: Noch ist nichts entschieden. Belastbare Aussagen zu zukünftig finanzierbaren Platzzahlen in den Freiwilligendiensten seien frühestens „zur Mitte des Herbstes“ möglich, teilte die Bundesregierung jüngst auf eine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ eher vage mit. Über den Bundeshaushalt für 2024 wird der Bundestag voraussichtlich im Dezember entscheiden.

„Einrichtungen würden schwer getroffen“

Dennoch: Die Sozialverbände sind alarmiert. „Bundesweit würde damit künftig bis zu 35.000 jungen Menschen eine bewährte Chance auf Erprobung, Kompetenzerwerb und gesellschaftliches Engagement verwehrt“, heißt es beim Bundesarbeitskreis FSJ. „Auch die Einrichtungen würden schwer getroffen“, sagte der Geschäftsführer der Evangelischen Freiwilligendienste, Martin Schulze. Die Freiwilligen erledigten wichtige Hilfstätigkeiten, um die hauptamtlichen Beschäftigten zu entlasten.

Wenn es weniger Menschen in Freiwilligendiensten gäbe, könnten zum Beispiel Altenheime keine Ausflüge mehr anbieten, und in Sportvereinen werde das Angebot für junge Kinder eingeschränkt, sagt der Fachmann. Betroffen wären zudem Kitas. Zahlen des Familienministeriums zufolge sind über 10.000 Freiwillige in der Kinderbetreuung aktiv.

Zahlen der Freiwilligen gehen zurück

Jedes Jahr machen mehr als 80.000 junge Menschen einen Freiwilligendienst in Deutschland. Die Zahlen sind seit 2020 rückläufig. 2021 absolvierten noch knapp 90.000 Menschen einen freiwilligen Dienst. Das gilt auch für den BFD, der im September 2023 knapp 35.000 Teilnehmende zählte. 2017 lag deren Zahl noch bei über 40.000.

„Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie die Freiwilligendienste bedarfsgerecht ausbauen und stärken will. Die jetzt angekündigten Kürzungen stehen dazu in klarem Widerspruch. Wer heute kürzt, zahlt morgen drauf!“, rügt Diakonie-Sozialvorständin Maria Loheide. Die Trägergruppe der Evangelischen Freiwilligendienste ist einer der größten Anbieter. Jährlich treten rund 13.600 Freiwillige in der Evangelischen Trägergruppe ihren Freiwilligendienst im In- und Ausland an.

Allein in Baden-Württemberg engagieren sich jährlich rund 18.000 Freiwillige. Sollten die Kürzungen wie angekündigt umgesetzt werden, würde das im Südwesten den Verlust von 4.500 Plätzen bedeuten. Der Landesarbeitskreis FSJ Baden-Württemberg - ein Zusammenschluss der 38 baden-württembergischen FSJ-Träger - spricht sich vehement gegen die Streichungen im Freiwilligendienst aus.

„Dienste sind schon jetzt unterfinanziert“

Dessen Vorsitzender Dietrich Hartlieb erklärte dem epd: „Freiwilligendienste sind bereits unterfinanziert, und nicht jeder Platz wird angemessen gefördert. Die Sparmaßnahmen gefährden unsere Bemühungen, den Freiwilligendienst auszubauen und attraktiver zu gestalten.“

Hartlieb ist auch Abteilungsleiter Freiwilligendienste bei der Diakonie Baden. Diese vermittelt jährlich rund 900 Freiwillige in ihre Einsatzstellen und Einrichtungen. Sollte es zu den geplanten Kürzungen der Bundesregierung kommen, gehe er davon aus, dass die Diakonie die Zahl auf etwa 600 im Jahr 2024/2025 reduzieren müsste, sagt Hartlieb. Das stünde im Widerspruch zur Aussage der Politik, dass sich junge Menschen mehr sozial engagieren sollen, findet er.

Eine Kürzung der Freiwilligendienste würde zudem zu einer weiteren Verschärfung des Fachkräftemangels im sozialen Bereich, insbesondere in der Pflege und in Kitas, beitragen. „Die Folgen sind bereits jetzt in unseren Einsatzstellen spürbar“, sagt Hartlieb. Die helfenden Hände der Freiwilligen fehlten zum Beispiel in den Kitas beim Spielen, in den Seniorenheimen beim Vorlesen, in den Krankenhäusern bei der Essensausgabe und in den Behindertenheimen beim Ankleiden.

Caritas sieht „katastrophales Zeichen“

Als „katastrophales Zeichen“ beurteilt man die Kürzungspläne beim katholischen Caritasverband für Stuttgart. Irgendwann würden soziale Einrichtungen eher auf geringfügig Beschäftigte zurückgreifen als auf Freiwillige, sagt die Leiterin des Freiwilligenzentrums Caleidoskop, Ulrike Holch. Denn die seien verfügbar - und zudem preiswerter.

Beim Paritätischen Baden-Württemberg würden von den derzeit rund 2.800 Plätzen in den Freiwilligendiensten etwa 700 entfallen, sollten die Pläne der Bundesregierung umgesetzt werden. Unmittelbar zu spüren bekämen das die Klienten der Einrichtungen, sagt Uta-Micaela Dürig, Vorstand Sozialpolitik des Paritätischen. Das ohnehin schon belastete Fachpersonal in den Einrichtungen müsste mit weniger Unterstützung bei Tätigkeiten auskommen, die keine fachliche Qualifikation, aber Zeit erfordern - wie Spielen oder Spazierengehen.

Weitaus größer und nachhaltiger seien die Auswirkungen der Kürzungspläne auf die gesamte Gesellschaft. „Wir befürchten, dass dadurch weniger junge Menschen einen sozialen Beruf ergreifen, was den Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft massiv verstärken würde“, sagt Dürig. 70 Prozent der Freiwilligen könnten sich nach einem freiwilligen Jahr vorstellen, in der Sozialen Arbeit oder im Gesundheitswesen zu arbeiten.

Matthias Pankau, Dirk Baas


Finanzen

Finanzielle Schieflagen bei Sozialträgern nehmen zu



Die wirtschaftliche Lage bei den Sozialträgern spitzt sich zu. Zum ersten Mal hat nun ein Diakonisches Werk in Bayern Insolvenz in Eigenverwaltung angemeldet. Es könnten weitere folgen.

Passau (epd). Im Sommer dieses Jahres läutete die Diakonie Bayern die Alarmglocke. Nun ist die Prognose zum ersten Mal Realität geworden: Das Diakonische Werk Passau mit 75 Beschäftigten hat beim Amtsgericht Passau eine Insolvenz in Eigenverwaltung eingeleitet. Das Amtsgericht Passau habe das Verfahren bereits stattgegeben, sagte die geschäftsführende Vorständin Sabine Aschenbrenner dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 8. November.

Die Gründe seien vielfältig: In den vergangenen Jahren seien in den Arbeitsbereichen steigende Ausgaben auf die Diakonie zugekommen, „die oft nicht von den Zuschussgebern refinanziert wurden“, erläuterte sie. Darunter fielen vor allem steigende Kosten im Personalbereich, Energiepreispauschalen und sonstige Zuschüsse, die den Mitarbeitenden zu zahlen waren.

Unzureichende Finanzierung

Zudem habe die Diakonie Passau „große Summen an Eigenmitteln“ für Aufgaben ausgegeben, die der Staat an den Sozialträger delegiert habe, „ohne diese auszugleichen“, sagte Aschenbrenner weiter. Das Diakonische Werk Passau ist der erste Träger innerhalb der Diakonie-Landschaft in Bayern, der ein Insolvenzverfahren einleitet. Weitere könnten folgen.

Auch mehrere andere Sozialwerke stünden vor einer „wirtschaftlich extrem schweren Situation“, sagte Daniel Wagner, Sprecher der Diakonie Bayern. Die Werke hätten nicht nur mit gestiegenen Kosten im Energiebereich und steigender Inflation zu kämpfen. Auch die Betriebs- und Investitionskosten liefen weiter, während zugleich die Zuschüsse wegen Personalmangels ausblieben. Die Träger versuchten, sich den neuen Herausforderungen zu stellen: „In vielen Fällen wird eine Sanierung auch gelingen, aber nicht in allen.“

Umstrukturierung und Sanierung

Die Diakonie Passau will den Angaben zufolge ihren Betrieb retten. „Das sind wir unseren Klienten und Patienten schuldig“, sagte die geschäftsführende Diakonie-Vorständin. Zigtausende Menschen werden demnach pro Jahr mit Beratungen, Pflege und Gesprächen versorgt. Deshalb sei der Weg der Insolvenz in Eigenverwaltung eingeschlagen worden, um ein Sanierungsverfahren einzuleiten, sagte Aschenbrenner, die während des Verfahrens im Amt bleibt. Eine externe Beratungsfirma unterstützte den Träger bei den Umstrukturierungsmaßnahmen. Mittlerweile liege auch ein erster Sanierungsplan vor, der in den kommenden Monaten zügig umgesetzt werden soll.

Die Chancen stünden „sehr gut, aus dieser Krise wieder gestärkt hervorzugehen“, sagte der beauftragte Sanierungsexperte Klaus Ziegler. Auch der evangelische Passauer Dekan, Jochen Wilde, der zugleich Diakonie-Aufsichtsratsvorsitzender ist, zeigte sich angesichts der Insolvenz optimistisch: „Kirche und Diakonie wollen gemeinsam für die Menschen da sein - dies wird auch in Zukunft gelingen.“

Das Diakonische Werk Passau unterhält unter anderem soziale und ambulante Pflegedienste, Schuldner- und Insolvenzberatung, Eheberatungsstellen, einen sozialpsychiatrischen Dienst sowie Flüchtlingsberatungsstellen. Rund 3,7 Millionen Euro beträgt das jährliche Haushaltsvolumen. Das evangelische Werk betreibt Außenstellen in Hauzenberg, Vilshofen, Pocking, Simbach und Eggenfelden. Das Tätigkeitsgebiet umfasst den Dekanatsbezirk Passau zwischen Grafenau im Bayerischen Wald und Gangkofen im Rottal.

Gabriele Ingenthron


Wohnen

Wohnungslosenhilfe: Mehr als eine halbe Million ohne Unterkunft




Obdachloser am S-Bahnhof Alexanderplatz
epd-bild/Rolf Zöllner
Ukrainische Familien, die keine Wohnung finden, Männer auf Matratzen unter Brücken: Die Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter. Jedes Jahr rechnet die Wohnungslosenhilfe aus, wie viele Menschen in Deutschland ohne eigene Unterkunft leben.

Berlin (epd). Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland ist 2022 deutlich gestiegen. Nach den jüngsten Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) lag sie im vorigen Jahr bei 607.000 gegenüber 383.000 im Jahr 2021. Die Bundesarbeitsgemeinschaft veröffentlichte die Zahlen am 7. November in Berlin. Rund 50.000 Menschen lebten danach ganz ohne Unterkunft als Obdachlose auf der Straße.

411.000 Ausländer ohne eigene Wohnung

Die starke Zunahme ist vor allem auf den Zuzug von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zurückzuführen sowie auf die insgesamt steigende Zahl Geflüchteter im Land. Den Angaben der BAG W zufolge stieg die Zahl der Wohnungslosen unter den Deutschen um fünf Prozent und unter den Ausländerinnen und Ausländern um 118 Prozent. Der Hochrechnung für 2022 zufolge hatten 196.000 Wohnungslose einen deutschen Pass, 411.000 waren Ausländerinnen und Ausländer.

In den Jahren 2017 und 2018, nach der großen Zuwanderungsbewegung von 2015, waren die Zahlen noch höher. Der Anteil der Geflüchteten lag in diesen Jahren bei 417.000 von 651.000 Menschen beziehungsweise 441.000 von insgesamt 678.000 Menschen.

BAG W-Geschäftsführerin Werena Rosenke sagte, zwar seien die meisten der rund eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer - vorwiegend kamen Frauen und Kinder - in Wohnungen untergekommen. Doch befänden sich rund 130.000 Ukrainer weiterhin in Gemeinschaftsunterkünften. Rund sechs Prozent der Wohnungslosen sind EU-Bürger, vorwiegend aus osteuropäischen Ländern.

„Fehlender bezahlbarer Wohnraum“

Wohnungslose mit deutschem Pass sind zu fast drei Vierteln alleinstehende Männer. Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld oder eine Scheidung sind Hauptgründe für den Wohnungsverlust. Rosenke betonte, neben Alleinstehenden seien vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Paare gefährdet. Steigende Mieten und die Inflation belasteten arme Haushalte zusätzlich: „Fehlender bezahlbarer Wohnraum bleibt der Hauptgrund für die Wohnungsnot in Deutschland“, sagte Rosenke und kritisierte falsche Schuldzuweisungen: „Zu sagen, wenn es die Zuwanderung nicht gäbe, gäbe es auch keine Obdachlosigkeit, treibt einen weiteren Keil in die Gesellschaft.“

Rosenke wies auch auf die anhaltende Gewalt gegen Obdachlose hin. Die Fallzahlen schwankten zwar von Jahr zu Jahr, gingen aber nicht zurück, erklärte sie. Seit 1989 hat die BAGW 626 Fälle dokumentiert, in denen Wohnungslose gewaltvoll zu Tode kamen. Im gleichen Zeitraum habe es zudem mindestens 2.350 Fälle schwerer Körperverletzung gegeben. Die Dunkelziffer sei aber vermutlich viel höher, sagte Rosenke. Die BAG W erfasse die Gewalttaten allein durch Medienbeobachtung, etwa aus Berichten in den Lokalzeitungen.

Vorübergehend bei Freunden und Bekannten

Die Hochrechnungen der BAG W weichen von den Zahlen des Statistischen Bundesamts ab. Die Unterschiede zu den seit 2022 erfolgenden jährlichen Erhebungen des Bundesamts ergeben sich daraus, dass die Wiesbadener Behörde nur die staatlich untergebrachten Wohnungslosen ermittelt. Die BAG W bezieht nach eigenen Angaben auch Menschen ohne Wohnung ein, die vorübergehend bei Freunden oder Bekannten unterkommen und jene, die auf der Straße leben.

Die Hochrechnungen erfolgen auf Basis der schon seit Jahren erhobenen Wohnungslosen-Zahlen in Nordrhein-Westfalen und beziehen sich auf das gesamte jeweilige Jahr. Zusätzlich gibt die BAG W auch Wohnungslosenzahlen zu einem Stichtag Mitte des Jahres an.

Demgegenüber misst das Statistische Bundesamt die Wohnungslosigkeit seit 2022 zum Stichtag 31. Januar. Es gab die Zahl der Wohnungslosen zum Stichtag 31. Januar 2023 mit 372.000 an.

Bettina Markmeyer


Geschichte

Der Kalmenhof als Tatort der Kindereuthanasie




Der Kalmenhof um 1930
epd-bild/LWV Hessen
Frankfurter Bürger gründeten einst den Kalmenhof in Idstein. Im Nationalsozialismus lieferte die Heilerziehungsanstalt Menschen der Tötungsanstalt Hadamar aus. Einige Ärzte und Oberschwestern dehnten das Mordprogramm sogar aus. Jetzt sollen historische Akten restauriert werden.

Idstein, Kassel (epd). Im Nationalsozialismus war die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein im Taunus ein Tatort der „Kindereuthanasie“. Jetzt hat das Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen Geld bekommen, um die historischen Akten aus der wechselvollen Geschichte zwischen 1900 und 1970 zu restaurieren.

„Die Akten enthalten neben Aufnahmebögen, Krankengeschichten und Berichten in der Regel auch Fotografien, Briefe, Gewichtstabellen und Fragebögen“, teilte der LWV auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) mit. Entdeckt wurde das Material bereits Mitte der 1980er Jahre bei Recherchen zum 100-jährigen Jubiläum des Kalmenhofs. Die Akten zeigten unter anderem die „deutschlandweite Verstrickung“ der Einrichtung in die nationalsozialistische Kindereuthanasie, also die systematische Ermordung geistig und körperlich behinderter Kinder.

Vereinsgründung führte zum Kauf des Hofes

1888 gründeten Frankfurter Bürger den „Verein für die Idiotenanstalt zu Idstein“. Der Verein erwarb den Gutshof Kalmenhof, bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme stand die Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen im Vordergrund.

Doch nach 1933 richtete sich auch die Heilerziehungsanstalt nach nationalsozialistischen Vorstellungen aus. In der überfüllten Einrichtung wurden die Kinder nur noch verwahrt, unzureichend betreut, viele von ihnen zwangssterilisiert. Ab 1941 diente der Kalmenhof als sogenannte Zwischenanstalt, von wo aus die Menschen in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht wurden. Zwischen Januar und Juli 1941 deportierten die Verantwortlichen mehr als 700 Menschen von und über Idstein nach Hadamar, wo sie ermordet wurden.

Tatort im Kindermordprogramm

Vermutlich Ende 1941, so berichtete der LWV weiter, diente der Kalmenhof selbst als Tatort der Kindereuthanasie: Kurz vor Kriegsbeginn hatte das Reichsministerium des Innern in Berlin einen vertraulichen Erlass versandt, nach dem Hebammen sowie Ärztinnen und Ärzte verpflichtet waren, den Gesundheitsämtern Säuglinge und Kleinkinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu melden.

Amtsärzte prüften anschließend die Anzeigen, füllten Meldebögen aus und sandten diese Papiere an ärztliche Gutachter. „Ohne die betroffenen Kinder gesehen zu haben, urteilten sie über ihr Leben“, konstatierte der LMV. Kinder, deren Tötung beschlossen war, brachte man in eine der etwa 30 „Kinderfachabteilungen“ in Kliniken, Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches. Eine davon bestand auf dem Kalmenhof.

700 Opfer sind nachgewiesen

Zu den Täterinnen und Tätern gehörten laut LWV die Ärztin Mathilde Weber und später der Arzt Hermann Wesse. Zusammen mit den Oberschwestern Frieda Windmüller, Maria Müller und Änne Wrona töteten sie rund 700 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Spritzen, Medikamenten sowie durch unterlassene medizinische Hilfeleistung.

Es sei sogar zu einer eigenständigen Ausdehnung der Euthanasie-Verbrechen gekommen: Die Verantwortlichen selektierten bestimmte „Zöglinge“, die anstaltsinterne Abläufe störten - etwa weil sie einen höheren Pflegeaufwand benötigten: „Die Menschen wurden regelmäßig unter einem Vorwand in das Krankenhaus bestellt und dort mit Medikamenten getötet.“

1953 übernahm der LWV die Trägerschaft des Kalmenhofs, 1988 gingen die Akten an sein Archiv. Bereits damals seien sie „in einem denkbar schlechten Zustand“ gewesen, weil ein Hochwasser in den 1960er Jahren große Teile des Bestandes schädigte.

Knapp 200.000 Euro für Restaurierung der Akten

Jetzt erhält das Archiv rund 191.000 Euro aus einem Sonderprogramm der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien sowie vom hessischen Wissenschaftsministerium, um das Material zu reinigen, von Metall zu befreien und archivgerecht zu verpacken. Damit sollen die Akten für die Zukunft gesichert und der Forschung besser zugänglich gemacht werden.

Heute hat die Vitos Teilhabe gGmbH, ein Unternehmen des LWV, ihren Hauptsitz auf dem Gelände in Idstein. Derzeit erarbeitet der Verband ein Konzept für einen Gedenk- und Lernort Kalmenhof. Es wird aus zwei Ausstellungen bestehen: Ein Rundgang soll über das Gelände des Kalmenhofs führen und die Geschichte von der Gründung 1888 bis Ende der 1960er Jahren aufgreifen. Eine zweite Ausstellung im Dachgeschoss des ehemaligen Krankenhauses - einem der Haupttatorte - fokussiert sich auf die NS-Kindereuthanasie.

Stefanie Walter


Pflege

Gastbeitrag

Telepflege - Chance oder weit entfernte Hilfen?




Dietmar Wolff
epd-bild/Finsoz
Im ärztlichen Bereich sind telemedizinische Behandlungen vielerorts Standard. Dietmar Wolff, Vorstand des Digitalverbandes FINSOZ, ist davon überzeugt, dass die Telepflege ähnlich erfolgreich werden kann. Im Gastbeitrag für epd sozial erklärt er, warum.

Modellprojekte zur Erprobung der Telepflege können der Start in eine neue Pflegezukunft sein. Nicht erst mit der anstehenden Verpflichtung zum Anschluss der Pflege an die Telematikinfrastruktur (TI) - wenn auch durch das geplante Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz - DigiG) jetzt auf das Jahr 2026 verschoben - ist das Thema „Digitalisierung der Pflege“ omnipräsent. Ich bin der festen Überzeugung, dass ohne eine weitere Digitalisierung - neben mehr Fachkräften und einem effizienteren Arbeiten etwa mit den neuen Wegen des Personalbemessungsverfahrens - dem Fachkräftemangel künftig nicht Herr zu werden ist.

Großes Potenzial

Daher passt es gerade jetzt, dass mit dem Modellprogramm gemäß Paragraf 125a SGB XI zur Erprobung der Telepflege ein Vorhaben vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) umgesetzt wird, das neue Arbeitsformen und Digitalisierung ideal kombiniert. Die Telepflege, das heißt die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien, um Pflegekräfte untereinander oder mit Ärzten, Pflegebedürftigen und Angehörigen über räumliche Grenzen hinweg zu verbinden, hat das Potenzial, das Arbeiten in der Pflege umzukrempeln.

Im Modellprogramm werden laut Gesetz für eine wissenschaftlich gestützte Erprobung von Telepflege zur Verbesserung der pflegerischen Versorgung von Pflegebedürftigen aus Mitteln des Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung zehn Millionen Euro im Zeitraum von 2022 bis 2025 zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, herauszufinden, ob durch die Nutzung von Videodiensten die Pflegebedürftigen, deren An- und Zugehörige und das Pflegepersonal entlastet werden. Dabei gilt es zu untersuchen, welche pflegerischen Arbeiten für den Einsatz telepflegerischer Lösungen besonders geeignet sind.

Auswahl eines Videodienstanbieters

Grundsätzlich ist der TI-Messenger (TIM) für die Videokommunikation über die TI in Zukunft vorgesehen. Weil hier die Entwicklungen jedoch noch nicht so weit fortgeschritten sind, dass eine Videolösung und insbesondere auch für die Kommunikation mit dem Leistungsempfänger zur Verfügung steht, hat der GKV-SV im Modellprogramm die Nutzung eines zertifizierten Videodienstanbieters nach Paragraf 365 Abs. 1 SGB V zur Bedingung gemacht. Damit betreten die meisten Pflegeeinrichtungen Neuland und werden vor ein komplexes Problem gestellt.

Der GKV-SV listet auf seinen Seiten 86 zertifizierte Produkte von 48 Anbietern auf, die sich bereits in den Grundfunktionen - neben dem, dass sie alle eine Videoverbindung zur Verfügung stellen - deutlich unterscheiden: in der Ausrichtung auf verschiedene Gesundheitsberufegruppen, in der Anzahl der möglichen Teilnehmenden, in der Nutzung über einen Webbrowser oder als zu installierende Lösung und auch in der Lizenzierung. Noch größer werden die Unterschiede bei Betrachtung der enthaltenen Zusatzfunktionen wie etwa einer Kalenderfunktion, der online-Terminvereinbarung, dem gemeinsamen Zugriff auf Dokumente oder Chatfunktionen. Und mit jeder weiteren Software droht die Gefahr, die oft schon große Heterogenität der Softwarelandschaft einer Pflegeeinrichtung noch zu vergrößern, wenn diese Lösung sich nicht in die bestehende Umgebung integrieren lässt.

Daher ist die Interoperabilität der Videolösungen mit den Pflegesoftwaresystemen für mich ein zentrales Kriterium bei der Auswahl der Programme. Doch selbst wenn die Videolösung sich integriert, bleibt die Frage nach der Offenheit ihrer Pflegesoftware: Kann diese Termine mit anderen Programmen austauschen, externe Personen einladen, aus diesen Terminen die Videositzung aufrufen oder Dokumente aus der elektronischen Patientenakte mit anderen Programmen teilen?

FINSOZ fühlt den Softwareanbietern auf den Zahn

Diesen Fragen ist unser Verband in zwei Umfragen, die gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stattfanden, nachgegangen. Zunächst wurden die zertifizierten Videodienstanbieter nach ihrem Interesse am Pflegemarkt und der Bereitschaft zur Teilnahme an der Erprobung sowie der Integration in Pflegesoftwaresysteme befragt. Die große Mehrheit (88 Prozent) der 17 antwortenden Anbieter sieht in der Pflege einen attraktiven Markt. Keines der teilnehmenden Unternehmen hat sich gegen diesen Markt ausgesprochen.

Etwas mehr Zurückhaltung zeigten die Unternehmen jedoch bei der Frage nach der Bereitschaft zur Beteiligung an der Ausschreibung zur Erprobung: Nur 65 Prozent gaben dazu ein klares Bekenntnis ab, bei 35 Prozent bestehen noch Zweifel. Die aus meiner Sicht unerlässliche Anpassung der Videolösungen an den Pflegebereich ist noch nicht weit fortgeschritten: 38 Prozent der interviewten Firmen sagen, dass sie mit programmtechnischen Adaptionen begonnen haben. Zurückhaltung zeigt man außerdem bei der Einbindung der Lösungen in die Pflegeinformationssysteme: erst drei Anbieter haben eine solche realisiert, weitere zwölf sagen, dies sei „denkbar“, werden ihre Entscheidung aber aufgrund der künftigen Nachfrage treffen. Zusammenfassend sehe ich von Seiten der Videodienstanbieter eine hohe Bereitschaft zum Eintritt in den Pflegemarkt.

Zurückhaltung bei den Softwareanbietern

Aus meiner Sicht ernüchternder war indes das Ergebnis einer Umfrage unter den Pflegesoftwareanbietern. Auch hier wurden die Bereitschaft zur Teilnahme an der Erprobung und der Integration von Videodiensten abgefragt. Die Hersteller von Pflegesoftware sind deutlich zurückhaltender als die Videodienstanbieter: Nur 19 Prozent sagten eindeutig „Ja“ zur Teilnahme, 57 Prozent werden sich nur beteiligen, „wenn die Rahmenbedingungen stimmen“, weitere 19 Prozent haben sich noch nicht entschieden und immerhin zehn Prozent sagen „Nein“ zu einer Teilnahme an der Erprobung.

Von einzelnen Anbietern wird die zögerliche Haltung hinsichtlich der Erprobung damit begründet, dass bei den TI-Projekten immer noch zu medizinisch gedacht werde. Ebenso befürchtet man einen hohen Aufwand bei der Klärung von Fragen - und damit ein Missverhältnis von Kosten und Nutzen. Etwas positiver ist die Einstellung zu einer Kooperation mit einem zertifizierten Videodienstanbieter: 88 Prozent der Pflegesoftwarenbieter halten das für denkbar, ein Hersteller hat eine solche bereits geplant und zwei haben sie bereits realisiert. Positiv ist auch: Die Integration mit der eigenen Software ist für 76 Prozent grundsätzlich denkbar, 18 Prozent planen eine solche schon konkret, und immerhin sechs Prozent haben sie bereits realisiert.

Trotz der in Teilen Zurückhaltung signalisierenden Befragungsergebnisse gehe ich davon aus, dass ein großer Markt für Videolösungen zur Realisierung einer Telepflege gegeben ist und sich daher eine Vielzahl interessanter Integrationslösungen zwischen diesen und den Pflegesoftwaresystemen entwickeln werden. Genauso überzeugt bin ich vom Nutzen der Telepflege: höhere Kontinuität in der pflegerischen Versorgung, neue Möglichkeiten der kollegialen Anleitung, Verbesserung des Informationsaustauschs, Vermeidung von langen Anfahrtswegen sowie bessere Einbindung der An- und Zugehörigen.

Dietmar Wolff ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Vizepräsident Lehre und Leiter der Forschungsgruppe "Innovative Gesundheitsversorgung" an der Hochschule Hof.


Auszeichnungen

Diakonie Stetten ist "Arbeitgeber der Zukunft"



Kernen (epd). Die Diakonie Stetten ist mit dem Siegel „Arbeitgeber der Zukunft“ des Deutschen Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung ausgezeichnet worden. Dieses Siegel geht laut einer Pressemitteilung vom 3. November an innovative Unternehmen mit einer klaren Digitalisierungs-Strategie, die Nachhaltigkeitsziele verfolgen und attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Dabei sollen moderne Führung und Mitarbeiterfreundlichkeit im Mittelpunkt stehen.

Wie Dietmar Prexl, stellvertretender Vorstandsvorsitzende des Sozialwerks, erläuterte, arbeite die Diakonie Stetten aktiv an der Entwicklung von modernen Arbeitszeit-Modellen und Themen wie Gesundheit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Die Auszeichnung als „Arbeitgeber der Zukunft“ sei Bestätigung und Ansporn, diesen Weg konsequent weiterzugehen.

Die Diakonie Stetten gehört mit rund 4.000 Mitarbeitenden zu den großen Trägern sozialer Dienstleistungen in Baden-Württemberg. Neben dem Stammsitz in Kernen-Stetten ist das Diakoniewerk mit seinen sozialen Angeboten, Einrichtungen und Hilfsleistungen an 35 weiteren Orten aktiv.




sozial-Recht

Landesarbeitsgericht

Betrieb darf mit Dienstplan nicht Recht auf Lohnfortzahlung umgehen




Fahrzeug eines DRK-Pflegedienstes
epd-bild/Meike Böschemeyer
Der Hinweis einer Beschäftigten im Pflegebereich über einen bevorstehenden OP-Termin hilft bei der Dienstplanerstellung. Arbeitgeber dürfen dies aber bei ihrer Planung nicht zur Umgehung der Entgeltfortzahlung nutzen, urteilte das Landesarbeitsgericht Chemnitz.

Chemnitz, Berlin (epd). Eine im Pflegebereich tätige Arbeitnehmerin darf wegen ihres Hinweises auf eine bevorstehende Operation nicht bei der Dienstplanerstellung benachteiligt werden. Hat der Arbeitgeber die Beschäftigte nach einem entsprechenden Hinweis nicht in die sonst üblichen Schichten eingeteilt, kann eine unzulässige Umgehung des Rechts auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vorliegen, entschied das Sächsische Landesarbeitsgericht (LAG) in Chemnitz in einem am 30. Oktober veröffentlichten Urteil. Habe der Arbeitgeber den Dienstplan nicht nach „billigem Ermessen“ erstellt, könne die Arbeitnehmerin Schadensersatz für die entgangene Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verlangen.

Nicht in Schichten eingeteilt

Die Klägerin arbeitete im Schichtdienst im Bereich der ambulanten Pflege und Betreuung und übernahm dort Fahrdienste. Laut Arbeitsvertrag betrug die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden. Die jeweiligen Einsatzzeiten wurden in den vom Arbeitgeber erstellten Dienst- und Einsatzplänen bestimmt. Für ihre Arbeit erhielt die Frau eine Grundvergütung von 1.901 Euro pro Monat. Hierfür wurde ein monatliches Stundensoll von 173,17 Stunden zugrunde gelegt. Arbeitete sie in den monatlich eingeteilten Schichten mehr, konnte sie ihre Vergütung entsprechend aufstocken.

Anfang Mai 2021 teilte die Klägerin ihrem Arbeitgeber mit, dass sie wegen einer Zahnoperation voraussichtlich vom 20. bis 26. Mai 2021 arbeitsunfähig sein werde. Für diese Zeit wurde sie daher im Dienstplan mit dem Vermerk „wunschfrei“ nicht in Schichten eingeteilt. Die Frau war darüber hinaus auch am 27. und 28. Mai 2021 arbeitsunfähig erkrankt und konnte an diesen beiden Tagen ihre eingeplanten Dienste nicht antreten.

Für diese zwei Tage erhielt sie vom Arbeitgeber Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, nicht aber für die Zeit davor, bei der im Dienstplan der Vermerk „wunschfrei“ enthalten war. Im Ergebnis hatte die Klägerin im Monat Mai nur etwas mehr als die vereinbarte Grundvergütung erhalten.

Die Frau verlangte für den gesamten Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Nur weil sie Rücksicht auf die Dienstplanung genommen und den Arbeitgeber über die voraussichtliche Krankschreibung informiert habe, dürfe sie nicht mit einer unterbliebenen Entgeltfortzahlung bestraft werden.

Zustimmung des Betriebsrates

Der Arbeitgeber verwies darauf, dass die Klägerin trotz der Arbeitsunfähigkeit ihr monatliches Stundensoll sogar übererfüllt habe. Dies sei auch vergütet worden. Dass sie nun auch noch für nicht eingeteilte Schichten eine Entgeltfortzahlung erhalten solle, würde zu einer Überzahlung führen. Schließlich sei der Dienstplan mit Zustimmung des Betriebsrats erfolgt und habe daher so vom Arbeitgeber angewiesen werden dürfen.

So hatte bereits das LAG Berlin mit Beschluss vom 12. Juli 2019 klargestellt, dass Krankenhausbetreiber Dienstpläne für das Pflegepersonal nicht am Betriebsrat vorbei anordnen dürfen. Stimme der Betriebsrat den Dienstplänen nicht zu, könne der Arbeitgeber nur die Errichtung einer Einigungsstelle verlangen, die dann darüber entscheidet, so damals die Berliner Richter.

Im aktuellen Fall gab das Arbeitsgericht Bautzen der Klägerin in vollem Umfang recht. Vor dem LAG Sachsen hatte die Klage aber nur teilweise Erfolg. Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall stehe der Klägerin nicht zu. Dieser Anspruch bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur, wenn die Arbeitsunfähigkeit die alleinige Ursache für den Ausfall der Arbeitsleistung sei (BAG-Urteil vom 28. Januar 2004, Az.: 5 AZR 58/03). Hier sei die Erbringung der Arbeitsleistung aber wegen des Dienstplans nicht nötig gewesen.

Wirtschaftliche Interessen

Allerdings habe der Arbeitgeber den Dienstplan nicht, wie in der Gewerbeordnung vorgeschrieben, nach „billigem Ermessen“ erstellt. Er wollte mit der unterbliebenen Einsatzplanung im streitigen Zeitraum letztlich die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall umgehen. Dafür spreche die Tatsache, dass die Klägerin direkt nach der angekündigten voraussichtlichen Arbeitsunfähigkeit wieder eingeplant wurde.

Zwar habe die Klägerin keinen Anspruch auf eine bestimmte Planung. Die bisherige Handhabung, sie im Durchschnitt an drei Tagen pro Woche einzusetzen, dürfe aber nicht unberücksichtigt bleiben. Der Arbeitgeber habe bei der Dienstplanerstellung allein seine eigenen betrieblichen und wirtschaftlichen Interessen verfolgt. „Das Interesse der Klägerin, durch ihr vertragstreues Verhalten nicht schlechter gestellt zu werden, fand bei der Dienstplanung dagegen keinerlei Berücksichtigung“, kritisierte das LAG.

Im Durchschnitt wäre die Klägerin an drei Tagen pro Woche in Schichten eingeteilt gewesen. Da sie in der Woche der angekündigten voraussichtlichen Krankschreibung an nur einem Tag eine Schicht übernommen hatte, stehe ihr wegen der unterbliebenen Einteilung für zwei weitere Schichten während ihrer Krankschreibung und der entgangenen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Schadenersatz in Höhe von insgesamt 246,77 Euro zu.

Az.: 2 Sa 197/22 (Landesarbeitsgericht Chemnitz)

Az.: 2 TaBV 908/19 (Landesarbeitsgericht Berlin)

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Kassenzuzahlung bei Heimunterbringung geklärt



Karlsruhe (epd). Gesetzliche Krankenkassen dürfen Bewohner von Pflegeheimen mit Zuzahlungen für Krankenkassenleistungen nicht über Gebühr belasten. Müssen die Versicherten ihre Rente für die Heimkosten einsetzen und übernimmt die Sozialhilfe den Rest, darf sich die Höhe der Zuzahlung nur nach der Sozialhilferegelleistung für Alleinstehende berechnen, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 3. November in Karlsruhe veröffentlichten Beschluss. Wenn Versicherte eine Rente erhalten, die über dem Sozialhilfesatz liegt, falle damit nicht auch die Zuzahlung zu den Krankenkassenleistungen höher aus.

Im Streitfall ging es um eine 1938 geborene Frau, die seit Juli 2021 in einem Pflegeheim lebt. Sie bezieht eine Altersrente von 1.100 Euro monatlich. Der Sozialhilfeträger entschied, dass die Frau ihre Rente fast vollständig für die Heimkosten einsetzen muss. Die Sozialhilfe übernahm die restlichen Heimkosten.

Zuzahlung orientiert sich am Sozialhilfesatz

Nach dem Gesetz müssen Versicherte zwei Prozent ihres jährlichen Bruttoeinkommens für erhaltene Krankenkassenleistungen wie etwa Medikamente selbst tragen. Bei chronisch Kranken - wie im Streitfall - liegt die Belastungsgrenze bei einem Prozent.

Die Krankenkasse berechnete die Zuzahlung der Heimbewohnerin nach der Höhe ihrer Rente, obwohl die Frau diese für die Heimkosten weitgehend ganz verwenden muss. Das Sozialgericht Osnabrück stimmte dem zu. Zwar sei gesetzlich geregelt, dass die Zuzahlungen sich nur nach der Höhe des Sozialhilfesatzes richten. Voraussetzung hierfür sei, dass die Sozialhilfe Unterkunft und Verpflegung als „Hilfe zum Lebensunterhalt“ zahlt. Hier habe die Klägerin aber nur „Hilfe zur Pflege“ erhalten.

Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die Frau habe Anspruch darauf, dass sich die Zuzahlung für Krankenkassenleistungen nach dem Sozialhilferegelsatz für Alleinstehende berechnet, entschied das Bundesverfassungsgericht. Das gelte auch, wenn die Heimunterbringungskosten als „Hilfe zur Pflege“ übernommen werden. Die Verfassungsrichter verwiesen den Fall an das Sozialgericht zurück.

Az.: 1 BvR 422/23



Bundesverwaltungsgericht

Kauf von Arznei zur Selbsttötung abgelehnt



Leipzig (epd). Sterbewillige, schwerst kranke Menschen dürfen nicht vorsorglich privat Arzneimittel für einen gewünschten Suizid kaufen. Der mit dem Verbot verbundene Eingriff in das Grundrecht, selbstbestimmt über die Beendigung seines Lebens entscheiden zu können, ist gerechtfertigt und soll den „Miss- und Fehlgebrauch von tödlich wirkenden Betäubungsmitteln“ verhindern, wie das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 7. November in zwei Grundsatzurteilen entschied. Damit scheiterten zwei Patienten aus dem Landkreis Lüneburg und aus Rheinland-Pfalz, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit Sitz in Nordrhein-Westfalen erfolglos die Genehmigung zum Kauf des tödlichen Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital beantragt hatten.

Besonders bösartige Krebsform

Einer der Kläger leidet an einer arteriellen Hypertonie, einer koronaren Herzkrankheit und einem Burkitt-Lymphom, einer besonders bösartigen Krebsform. Der Krebs konnte zwar nach einer Chemotherapie vollständig zurückgedrängt werden. Falls er jedoch erneut daran erkranke, wolle er mit dem Natrium-Pentobarbital die Möglichkeit haben, sein Leben ein Ende zu setzen, erklärte der Kläger. Der zweite Kläger an einer schweren Form der Multiplen Sklerose. Auch er wollte mit assistierter Hilfe sein Leben beenden können.

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen hatte mit Urteilen von Anfang Februar 2022 den Erwerb des tödlichen Arzneimittels abgelehnt. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht Ende Februar 2020 entschieden, dass nach dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein „Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben“ gewährt werden müsse. Dieses Recht bedeute aber nicht, dass der Staat einem Suizidwilligen die Selbsttötung in der gewünschten Art und Weise ermöglichen soll, stellte das OVG fest.

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte dies. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Genehmigung zum Kauf der tödlichen Arznei. Nach dem Gesetz könne zur „notwendigen medizinischen Versorgung“ die Genehmigung zum Kauf von Betäubungsmitteln erteilt werden. „Eine solche therapeutische Zielrichtung hat die Beendigung des eigenen Lebens grundsätzlich nicht“, urteilten die Leipziger Richter.

Miss- und Fehlgebrauch

Das generelle Verbot, Betäubungsmittel zum Zweck der Selbsttötung zu erwerben, habe zudem „das legitime Ziel, Miss- und Fehlgebrauch von tödlich wirkenden Betäubungsmitteln zu verhindern“. Gefahren eines Fehlgebrauchs könnten bereits durch die Aufbewahrung des Mittels entstehen, mahnte das Gericht.

Der mit dem Verbot verbundene Eingriff in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben sei daher gerechtfertigt. Es bestehe für die Kläger zudem die alternative Möglichkeit, „ein Arzneimittel intravenös einzusetzen, das hinsichtlich Wirkweise und Risiken keine wesentlichen Unterschiede zu Natrium-Pentobarbital aufweist“. In diesem Fall wären die Kläger allerdings auf die Hilfe eines Arztes oder von Sterbehilfeorganisationen angewiesen. Eine „extreme Notlage“, welche die sofortige Abgabe der Arznei begründet, gebe es nicht.

Az.: 3 C 8.22 und 3 C 9.22 (Bundesverwaltungsgericht)

Az.: 9 A 148/21 und 9 A 146/21 (Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen)

Az.: 2 BvR 2347/15 und weitere (Bundesverfassungsgericht)



Landessozialgericht

Nicht angezeigter Umzug kann Landesblindengeldrückzahlung begründen



Stuttgart (epd). Blinde und sehbehinderte Menschen müssen bei einem nicht oder zu spät mitgeteilten Umzug in ein anderes Bundesland das seitdem erhaltene Landesblindengeld wieder zurückzahlen. Es reicht nicht aus, dass der blinde Mensch allein beim Ordnungsamt seinen Umzug anzeigt, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 27. Oktober veröffentlichten Urteil.

Im Streitfall ging es um eine blinde Frau, die bis Ende Juni 2018 von Sachsen nach Baden-Württemberg umzog. In Sachsen hatte sie ein monatliches Landesblindengeld in Höhe von monatlich 350 Euro erhalten. In dem entsprechenden Bescheid der zuständigen Kommune wurde sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie einen Umzug in ein anderes Bundesland „unverzüglich“ mitteilen müsse, da dann kein Anspruch auf das sächsische Landesblindengeld mehr bestehe. Andernfalls müsse das wegen des Wohnortwechsels zu Unrecht erhaltene Landesblindengeld zurückgezahlt werden.

Pflicht grob fahrlässig verletzt

Die blinde Frau und ihr Sohn, dem sie eine Generalvollmacht erteilt hatten, setzten sich über diese Klausel hinweg. Als die sächsische Kommune von dem nicht mitgeteilten Umzug nach rund zehn Monaten erfuhr, forderte sie unrechtmäßig erhaltenes Landesblindengeld in Höhe von 3.500 Euro zurück.

Zu Recht, befand das LSG. Die Klägerin habe ihre Pflicht grob fahrlässig verletzt, ihren Umzug unverzüglich anzuzeigen. Es komme für die Rückerstattung auch nicht darauf an, ob sie die Mitteilungspflicht hätte zur Kenntnis nehmen müssen. Denn sie habe ihren Sohn bevollmächtigt, ihre Behördenangelegenheiten wahrzunehmen. Dieser habe ausdrücklich erklärt, den Bescheid vollständig zur Kenntnis genommen zu haben. Die daraufhin von ihm nicht erfolgte Mitteilung des Umzugs in ein anderes Bundesland müsse sich die Klägerin zurechnen lassen.

Es reiche auch nicht aus, dass sie den Umzug dem Ordnungsamt mitgeteilt habe. Erforderlich sei vielmehr die Mitteilung an die zuständige Behörde.

Dass die Klägerin nur über eine Rente von 1.100 Euro monatlich verfüge, stelle auch keine atypische Härte dar, „wenn die Überzahlung ... durch eine grobe Pflichtwidrigkeit verursacht worden ist“, urteilten die Stuttgarter Richter.

Az.: L 7 BL 2488/20




sozial-Köpfe

Kirchen

Udo Langenbacher wird Vorstand Finanzen der Diakonissen Speyer




Udo Langenbacher
epd-bild/Ad Lumina/Ralf Ziegler
Udo Langenbacher übernimmt zum 1. Mai 2024 die Vorstandsfunktion Finanzen bei den Diakonissen Speyer. Der Volkswirt wurde vom Verwaltungsrat gewählt.

Speyer (epd). Udo Langenbacher (57) tritt im Mai nächsten Jahres die Nachfolge von Karlheinz Burger im Vorstand an, der nach 25-jähriger Tätigkeit bei den Diakonissen Speyer zum 30. April 2024 ausscheidet.

Langenbacher studierte Volkswirtschaftslehre und Statistik mit dem Schwerpunkt Öffentliche Wirtschaft und Gesundheitsökonomik, sammelte in seiner Berufslaufbahn bereits an verschiedenen Stellen Führungserfahrung und verfügt über Fachwissen im akutmedizinischen sowie rehabilitativen Bereich der Krankenhausfinanzierung und des Krankenhausrechts. „Ich bin zuversichtlich, dass wir mit Udo Langenbacher eine Führungspersönlichkeit gefunden haben, die Ökonomie und Diakonie konstruktiv aufeinander zu beziehen vermag, was angesichts der vielfältigen Herausforderungen im Gesundheits- und Sozialbereich unverzichtbar ist“, sagte der Verwaltungsratsvorsitzende, Oberkirchenrat i. R. Manfred Sutter, in Speyer.

Langenbacher ist Geschäftsführer der DRK-Trägergesellschaft Süd-West mit elf Krankenhäusern und vier Altenpflegeeinrichtungen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Zuvor trug er bereits mehr als 20 Jahre Führungsverantwortung, unter anderem als Kaufmännischer Bereichsdirektor der Lahn-Dill-Kliniken und als Verwaltungsdirektor des Kreiskrankenhauses Grünstadt.

Neben seiner Tätigkeit als Krankenhausmanager engagiert sich Langenbacher als Vorstand der Krankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz und setzt sich als Vorsitzender des Entgelt- und Pflegesatzausschusses für eine betriebswirtschaftlich auskömmliche und nachhaltige Krankenhausfinanzierung ein.

Die Evangelische Diakonissenanstalt hat ihren Sitz in Speyer. Das Unternehmen bietet Hilfeangebote für Senioren, Menschen mit Behinderung sowie Kinder und Jugendliche. Außerdem betreiben die Diakonissen Speyer Krankenhäuser und Hospizeinrichtungen.



Weitere Personalien



Jens Leutner (53) ist vom Aufsichtsrat der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf zum Personalvorstand berufen worden. Der Manager kommt von der Frankfurter Volksbank Rhein-Main, wo er zuletzt das Personaldezernat leitete. In der Graf Recke Stiftung wird er die Vorstandsgeschäfte künftig gleichberechtigt mit Finanzvorständin Petra Skodzig führen. Mit dem neuen Personalvorstand wolle die Stiftung „die große Herausforderung der Personalbindung und -gewinnung angehen“, erklärte Wolfgang Nockelmann, Präses des Kuratoriums der Graf Recke Stiftung. Die 1822 gegründete Graf Recke Stiftung ist eine der ältesten diakonischen Einrichtungen Deutschlands.

Sascha John und Christian von Klitzing gehören seit Anfang November der Hauptgeschäftsführung der Alexianer an. Das Unternehmen mit Sitz in Münster ist einer der bundesweit größten konfessionellen Träger in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Die beiden Krankenhaus-Manager, die beide bisher in verantwortlicher Position bei der Sana Kliniken AG tätig waren, bilden zusammen mit Andreas Barthold und Erika Tertilt das vierköpfige Leitungsgremium der Alexianer Gruppe.

Peter Lysy ist in sein Amt als Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (kda) Bayern eingeführt worden. Lysy war nach Theologiestudium und Vikariat zunächst im Rahmen eines Wirtschaftsvikariats bei der BMW Group tätig. Von 2005 bis 2008 arbeitete er als evangelischer Pfarrer in den Landkreisen Dachau und Pfaffenhofen. Auf weiteren beruflichen Stationen bei der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und bei der AOK Bayern sammelte er viele Jahre Erfahrungen in der Wirtschaft. Für den kda Bayern war Lysy bereits von 2008 bis 2009 und seit 2016 in verschiedenen Funktionen, zuletzt als stellvertretender Leiter, tätig.

Judith Gerlach (37), bisher Digitalministerin in Bayern, ist neue Landesministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention. Die CSU-Politikerin folgt auf Klaus Holetschek, der seit einigen Wochen Chef der CSU-Landtagsfraktion ist. Die Juristin gehört seit Oktober 2013 gehört dem Bayerischen Landtag an.

Martin Estelmann ist zum Vorsitzenden Richter am Bundessozialgericht (BSG) ernannt worden. Er übernimmt den Vorsitz des Senats, der für das Bürgergeld/die Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Arbeitslosenversicherung zuständig ist. Der Jurist ist seit Juni 2011 Richter am BSG. Er ist seitdem Mitglied des 1. Senats und seit Juni 2017 dessen stellvertretender Vorsitzender.

Regine Bresler (62) wird zur ersten Präsidentin des Hessischen Landesamts für Gesundheit und Pflege (HLfGP). Dafür wechselt sie vom Gesundheitsamt Region Kassel, das sie seit Mai 2020 leitet, nach Wiesbaden. Das HLfGP ist eine dem hessischen Sozialministerium nachgeordnete Behörden. Sie wurde Anfang des Jahres gegründet und soll die Gesundheitsverwaltung durch das Bündeln verschiedener Aufgaben stärken. Bresler ist Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin und öffentliches Gesundheitswesen mit der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin.

Christina Rau erhält den Comenius-Preis 2023. Damit würdigt die gemeinnützige Johann-Amos-Comenius-Stiftung aus Essen ihr nachhaltiges Eintreten für die Würde, die Rechte und das Wohl von Kindern und jungen Menschen. In vielfältigen Ehrenämtern, so die Begründung, hat sich die Ehefrau des früheren Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten Johannes Rau unter anderem für Bildungsprojekte, Aidswaisen, ehemalige Kindersoldaten, Straßenkinder sowie Kinder und Jugendliche mit Behinderung eingesetzt, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Wolfgang Brünker ist mit dem Deutschen Kinderhospizpreis 2023 des Deutschen Kinderhospizvereins (DKHV) ausgezeichnet worden. Er ist seit 2008 ehrenamtlicher Mitarbeiter und treibende Kraft des Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes Düsseldorf sowie der Deutschen Kinderhospizakademie. Außerdem ist Brünker langjähriges Mitglied des Ehrenamtsrates und war auch dessen Sprecher.

Verena Körber, Biologin am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, erhält für ihre Forschung zu Krebs bei Kindern den Kind-Philipp-Preis 2023. Damit würdigt die Kind-Philipp-Stiftung die Forschungsergebnisse der Wissenschaftlerin, wonach seltene Tumoren bei Babys und Kleinkindern, unabhängig vom späteren klinischen Verlauf, bereits im ersten Trimester der Schwangerschaft entstehen, teilte das Krebsforschungszentrum mit. Ihre Erkenntnisse könnten helfen, die richtige Therapieentscheidung für betroffene Kinder zu treffen. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung wird jährlich an Forscher vergeben, die sich mit Krebs im Kindesalter auseinandersetzen.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Dezember



November

16.11.:

Online-Seminar „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

16.-17.11. Würzburg:

Jahreskongress der Deutschen Stiftung Organtransplantation

Tel.: 069/6773289-400

21.11. Essen:

der Diözesan-Caritasverbände Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn

Tel.: 0201/81028-0

22.11.:

Online-Kurs „In der Krise den Überblick behalten - Krisenkommunikation (nicht nur) in caritativen Organisationen“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

23.11.:

Online-Veranstaltung „Krisenkonzept für ambulante Dienste“

der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege

Email: tagung@bag-wohlfahrt.de

27.11. Nürnberg:

Fachtag „Demenz und Sterben“

der Rummelsberger Diakonie und mehrerer Partner

Tel.: 0911/891205-30

27.-29.11. Berlin:

Seminar „Gesunde Führung - Fehlzeiten reduzieren und Mitarbeitende motivieren“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

27.-29.11. Loccum:

Tagung „Zuwanderung von Fachkräften in den Gesundheits- und Pflegeberufen“

der Evangelischen Akademie Loccum

Tel.: 05766/81-103

Dezember

4.12.:

Fachtagung „Stand und Weiterentwicklung von Housing First in den Wohnungsnotfallhilfen“

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980-606