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Geschichte

Der Kalmenhof als Tatort der Kindereuthanasie




Der Kalmenhof um 1930
epd-bild/LWV Hessen
Frankfurter Bürger gründeten einst den Kalmenhof in Idstein. Im Nationalsozialismus lieferte die Heilerziehungsanstalt Menschen der Tötungsanstalt Hadamar aus. Einige Ärzte und Oberschwestern dehnten das Mordprogramm sogar aus. Jetzt sollen historische Akten restauriert werden.

Idstein, Kassel (epd). Im Nationalsozialismus war die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein im Taunus ein Tatort der „Kindereuthanasie“. Jetzt hat das Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen Geld bekommen, um die historischen Akten aus der wechselvollen Geschichte zwischen 1900 und 1970 zu restaurieren.

„Die Akten enthalten neben Aufnahmebögen, Krankengeschichten und Berichten in der Regel auch Fotografien, Briefe, Gewichtstabellen und Fragebögen“, teilte der LWV auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) mit. Entdeckt wurde das Material bereits Mitte der 1980er Jahre bei Recherchen zum 100-jährigen Jubiläum des Kalmenhofs. Die Akten zeigten unter anderem die „deutschlandweite Verstrickung“ der Einrichtung in die nationalsozialistische Kindereuthanasie, also die systematische Ermordung geistig und körperlich behinderter Kinder.

Vereinsgründung führte zum Kauf des Hofes

1888 gründeten Frankfurter Bürger den „Verein für die Idiotenanstalt zu Idstein“. Der Verein erwarb den Gutshof Kalmenhof, bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme stand die Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen im Vordergrund.

Doch nach 1933 richtete sich auch die Heilerziehungsanstalt nach nationalsozialistischen Vorstellungen aus. In der überfüllten Einrichtung wurden die Kinder nur noch verwahrt, unzureichend betreut, viele von ihnen zwangssterilisiert. Ab 1941 diente der Kalmenhof als sogenannte Zwischenanstalt, von wo aus die Menschen in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht wurden. Zwischen Januar und Juli 1941 deportierten die Verantwortlichen mehr als 700 Menschen von und über Idstein nach Hadamar, wo sie ermordet wurden.

Tatort im Kindermordprogramm

Vermutlich Ende 1941, so berichtete der LWV weiter, diente der Kalmenhof selbst als Tatort der Kindereuthanasie: Kurz vor Kriegsbeginn hatte das Reichsministerium des Innern in Berlin einen vertraulichen Erlass versandt, nach dem Hebammen sowie Ärztinnen und Ärzte verpflichtet waren, den Gesundheitsämtern Säuglinge und Kleinkinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu melden.

Amtsärzte prüften anschließend die Anzeigen, füllten Meldebögen aus und sandten diese Papiere an ärztliche Gutachter. „Ohne die betroffenen Kinder gesehen zu haben, urteilten sie über ihr Leben“, konstatierte der LMV. Kinder, deren Tötung beschlossen war, brachte man in eine der etwa 30 „Kinderfachabteilungen“ in Kliniken, Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches. Eine davon bestand auf dem Kalmenhof.

700 Opfer sind nachgewiesen

Zu den Täterinnen und Tätern gehörten laut LWV die Ärztin Mathilde Weber und später der Arzt Hermann Wesse. Zusammen mit den Oberschwestern Frieda Windmüller, Maria Müller und Änne Wrona töteten sie rund 700 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Spritzen, Medikamenten sowie durch unterlassene medizinische Hilfeleistung.

Es sei sogar zu einer eigenständigen Ausdehnung der Euthanasie-Verbrechen gekommen: Die Verantwortlichen selektierten bestimmte „Zöglinge“, die anstaltsinterne Abläufe störten - etwa weil sie einen höheren Pflegeaufwand benötigten: „Die Menschen wurden regelmäßig unter einem Vorwand in das Krankenhaus bestellt und dort mit Medikamenten getötet.“

1953 übernahm der LWV die Trägerschaft des Kalmenhofs, 1988 gingen die Akten an sein Archiv. Bereits damals seien sie „in einem denkbar schlechten Zustand“ gewesen, weil ein Hochwasser in den 1960er Jahren große Teile des Bestandes schädigte.

Knapp 200.000 Euro für Restaurierung der Akten

Jetzt erhält das Archiv rund 191.000 Euro aus einem Sonderprogramm der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien sowie vom hessischen Wissenschaftsministerium, um das Material zu reinigen, von Metall zu befreien und archivgerecht zu verpacken. Damit sollen die Akten für die Zukunft gesichert und der Forschung besser zugänglich gemacht werden.

Heute hat die Vitos Teilhabe gGmbH, ein Unternehmen des LWV, ihren Hauptsitz auf dem Gelände in Idstein. Derzeit erarbeitet der Verband ein Konzept für einen Gedenk- und Lernort Kalmenhof. Es wird aus zwei Ausstellungen bestehen: Ein Rundgang soll über das Gelände des Kalmenhofs führen und die Geschichte von der Gründung 1888 bis Ende der 1960er Jahren aufgreifen. Eine zweite Ausstellung im Dachgeschoss des ehemaligen Krankenhauses - einem der Haupttatorte - fokussiert sich auf die NS-Kindereuthanasie.

Stefanie Walter