sozial-Editorial

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Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

nach intensiven Gesprächen haben sich Bund und Länder auf ständige Gremien zur besseren Abstimmung in der Flüchtlingsbetreuung verständigt. Erstmals seien feste Arbeitsstrukturen in diesem Bereich vereinbart worden, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach den Beratungen. Doch ein heikles Thema wurde ausgelassen: die Forderung der Länder nach mehr Geld.

Über eine Million Menschen sind seit Kriegsbeginn vor einem Jahr aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Darunter sind sehr viele Mütter mit Kindern. Sie leben in ständiger Angst um ihre Angehörigen daheim, bangen besonders um ihre Männer an der Front. Mit dieser familiären Zerrissenheit klarzukommen, sei schwer, berichten Betroffene: „Doch ich muss stark sein“, sagt Antonina Volhina, die mit Kind und Schwiegermutter Aufnahme gefunden hat. Pat Christ hat sich die Sorgen und Nöte von vier Müttern angehört.

„Niemand sollte wegen Miet- oder Energieschulden seine Wohnung verlieren“, sagt Claudia Engelmann vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIM). Um Wohnungsverluste wegen Überschuldung grundsätzlich zu vermeiden, helfe nur ein gesetzliches Kündigungsmoratorium, sagt sie im Gespräch mit epd sozial. Aus den Beratungsstellen sei zu hören, dass die steigenden Energiepreise immer mehr Menschen in Existenznöte bringen. Die Politik sei gefordert, so Engelmann.

Gesundheitsminister Lauterbach will die Krankenhäuser reformieren. Seine Pläne werden heiß diskutiert, denn viele Kliniken würden diesen Strukturwandel wohl nicht überleben. Auch deshalb macht die Deutsche Krankenhausgesellschaft eigene Vorschläge, um die Kliniken in eine sichere Zukunft zu führen. Christoph Radbruch, der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV), warnt in seinem Gastbeitrag vor einem Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft.

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Ihr Dirk Baas




sozial-Politik

Krieg in der Ukraine

Flüchtlinge: Bund und Länder vereinbaren neue Arbeitsstruktur




Die ukrainische Chorleiterin Elena Petrikova hat in der Braunschweiger Domsingschule eine neue Aufgabe gefunden.
epd-bild/Andreas Greiner-Napp
In der Flüchtlingspolitik bleibt es zwischen dem Bund auf der einen sowie Ländern und Kommunen auf der anderen Seite auch nach einem Spitzentreffen bei mehr Streit als Einigkeit. Einziger gemeinsamer Nenner sind neue Arbeitsstrukturen.

Berlin (epd). Im Streit um die Lasten- und Kostenaufteilung in der Flüchtlingspolitik haben sich Bund und Länder auf ständige Gremien zur besseren Abstimmung verständigt. Erstmals seien feste Arbeitsstrukturen in diesem Bereich vereinbart worden, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am 16. Februar nach Beratungen mit den Innenministerinnen und -ministern der Länder sowie Vertretern der kommunalen Spitzenverbände. Insgesamt soll es vier Arbeitsgruppen geben. Ergebnisse aus diesen Runden sollen Faeser zufolge bis Ostern vorgelegt werden.

Eine Gruppe soll sich den Angaben zufolge mit Fragen von Unterbringung und Finanzen, eine zweite mit der Entlastung von Ausländerbehörden und eine dritte mit Integration befassen. In einer vierten Arbeitsgruppe soll es um die Bekämpfung sogenannter irregulärer Migration und Rückführungen gehen. Ständige Abstimmungen zwischen Bund und Ländern gibt es schon bislang. Über die Arbeitsgruppen werden nun aber auch die Kommunen eingebunden.

Alle Daten über Flüchtlinge werden zusammengeführt

Faeser erklärte weiter, dass es künftig ein Dashboard mit aktuellen Daten zur Flüchtlingssituation bis auf Ebene der Kommunen geben soll. Zudem solle zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden. Faeser zufolge geht es um die Bereitstellung von Flächen, auf denen in serieller Bauweise Wohnungen entstehen sollen. Das Spitzengespräch zwischen Bund, Ländern und Kommunen dauerte vier Stunden, veranschlagt war deutlich weniger Zeit.

Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), äußerte sich danach nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Er kritisierte erneut, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an dem Treffen nicht teilgenommen hat und es nicht um Finanzen gegangen sei. Der Druck auf die Kommunen werde von Woche zu Woche größer, sagte er. Auch deshalb war im Vorfeld des Treffens die Forderung nach mehr Geld des Bundes für die Flüchtlingsunerbringung immer lauter geworden.

Zahlungen des Bundes bleiben weiter umstritten

Die Bundesregierung hatte den Ländern im November zugesagt, sich ab diesem Jahr mit 2,75 Milliarden Euro jährlich an den Kosten für Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen zu beteiligen. Dies könne man auch nicht ständig neu verhandeln, sagte der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD). Die Aufteilung der Kosten wird Grote und Faeser zufolge aber Thema der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz. Das nächste Treffen der Regierungschefinnen und -chefs der Länder ist für Mitte März geplant.

Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) forderte von der Bundesregierung, mehr für eine Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland zu unternehmen. Dies müsse Priorität haben, sagte er. Dazu werde ein wirksamer EU-Außengrenzschutz benötigt, sagte er.

Nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine waren im vergangenen Jahr rund 1,1 Millionen Flüchtlinge aus dem Land nach Deutschland gekommen, von denen knapp eine Million geblieben sind. Nach den Jahren der Corona-Pandemie war 2022 zudem auch die Zahl Schutzsuchender aus anderen Ländern wieder gestiegen. Rund 218.000 Erstanträge auf Asyl wurden im vergangenen Jahr gestellt.

Corinna Buschow


Krieg in der Ukraine

Jeder fünfte Flüchtling ist berufstätig




Tetiana und Viktoria (v.l.) aus Odessa bereiten das Frühstück für die Gäste des Cocoon Hotels in München vor.
epd-bild/Matthias Balk

Berlin (epd). Die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter ukrainischen Kriegsflüchtlingen sind am 16. Februar in Berlin vorgestellt worden. Das Forschungsprojekt „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ gibt auch Auskunft über die Arbeitsmarktchancen der Menschen und die Unterstützung, die sie benötigen, um sich eine eigene Existenz aufzubauen.

Ukrainerinnen und Ukrainer, die als Kriegsflüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis haben, erhalten Bürgergeld, können sich eine Arbeit suchen und Integrations- und Sprachkurse besuchen. Allgemein bringen sie selbst gute Voraussetzungen mit, um in Deutschland Fuß zu fassen. Die Hälfte der Erwachsenen sind jünger als 40 Jahre. 72 Prozent haben einen hohen, meist akademischen Bildungs- oder Ausbildungsabschluss.

Qualifikationen müssen erst anerkannt werden

Wie gut die Arbeitsaufnahme in Deutschland gelingt, hängt der Studie zufolge stark davon ab, wie schnell die Qualifikationen anerkannt werden. Eine weitere Herausforderung sind die Sprachkenntnisse. 80 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer gaben bei der Befragung an, dass sie nur wenig oder kein Deutsch sprechen. 50 Prozent besuchen einen Sprachkurs.

Die große Mehrheit (97 Prozent) ging in der Ukraine einer qualifizierten oder hochqualifizierten Tätigkeit nach. In Deutschland fand sich zunächst fast jede/r fünfte Geflüchtete in einem Helferjob wieder. Zugleich zeichnet sich eine Polarisierung ab: 21 Prozent der Menschen arbeiten in Jobs in der Gastronomie, Zustellung und Lagerwirtschaft mit niedrigem Qualifikationsniveau. Auf der anderen Seite finden sich aber 23 Prozent in Lehr- und Forschungsberufen, Werbung, Marketing und in der IT-Branche wieder. Mittlere Berufe wie Bürojobs sind hingegen selten.

Kinder behindern oft Aufnahme von Arbeit

Unterschiede gibt es auch zwischen Frauen und Männern: Sechs Monate nach der Ankunft waren 24 Prozent der Männer berufstätig, aber nur 16 Prozent der Frauen. Vor der Flucht waren hingegen 85 Prozent aller erwerbsfähigen Geflüchteten berufstätig, Frauen und Männer zu gleichen Anteilen. „Kinder wirken sich, insbesondere wenn sie keine Betreuungseinrichtungen besuchen, negativ auf die Erwerbstätigkeitswahrscheinlichkeit von Frauen aus, während Kinder bei Männern hier keinen signifikanten Effekt haben“, bilanzieren die Studienautoren und raten dringend zu ausreichenden Betreuungsangeboten: 79 Prozent der Ukrainerinnen in Deutschland wollen arbeiten.

Insgesamt war im Oktober 2022 knapp jede/r fünfte (17 Prozent) ukrainische Geflüchtete erwerbstätig. Mehr als drei Viertel gaben an, eine Arbeit aufnehmen zu wollen. Welche Entscheidungen getroffen werden, hängt damit zusammen, wie die Menschen ihre Zukunft sehen. Der Befragung zufolge ist die Wahrscheinlichkeit einer schnellen Arbeitsaufnahme höher bei Geflüchteten, die nicht lange bleiben wollen. Wer länger in Deutschland leben will, nimmt häufiger zunächst an Integrations- und Deutschkursen teil. Die Befragung ergab, dass 37 Prozent der Geflüchteten für immer oder mehrere Jahre bleiben wollen, 34 Prozent bis zum Kriegsende, zwei Prozent noch ein Jahr und 27 Prozent es nicht sagen können.

11.700 Flüchtlinge befragt

Für das Forschungsprojekt „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ wurden im vergangenen Jahr von August bis Oktober 11.700 Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit befragt, die zwischen dem 24. Februar und Anfang Juni 2022 nach Deutschland eingereist waren. Themen waren die Unterbringung, der Arbeitsmarkt, die Lebenssituation der Kinder, soziale Integration und die Gesundheit der Geflüchteten.

An dem Forschungsprojekt sind das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beteiligt.

Bettina Markmeyer


Krieg in der Ukraine

Zerrissene Familien




Liudmyla Stetsenko mit ihrem Sohn Denys in Quakenbrück
epd-bild/Detlef Heese
Seit fast einem Jahr fliehen ukrainische Mütter mit ihren Kindern vor dem Krieg. "Ich habe ständig Angst um meinen Mann", sagt eine von ihnen. Die Kinder entwickeln depressive Störungen. Der elfjährige Denys hat monatelang nur Panzer gemalt.

Frankfurt a.M. (epd). Wann sie zuletzt gut geschlafen hat? „Ich weiß es nicht“, sagt Antonina Volhina. Es mag ein Jahr her sein. Seit dem Ausbruch des Krieges am 24. Februar 2022 schläft die Ukrainerin nachts nur noch fünf Stunden. Oft liegt sie wach und denkt an ihren Mann: „Ich habe ständig Angst um ihn.“ Sie selbst floh Mitte März mit ihrer heute drei Jahre alten Tochter und ihrer Schwiegermutter nach Würzburg. Mit ihrem Mann hat die 30-Jährige nur etwa jeden dritten Tag kurz über Telegram Kontakt.

Wie Volhina geht es vielen Frauen, die vor dem russischen Angriffskrieg aus ihrem Land geflohen sind. Sie kamen mit ihren Kindern, manche noch mit ihren Eltern. Die jüngeren männlichen Verwandten blieben nahezu ausnahmslos zurück. Mit dieser familiären Zerrissenheit klarzukommen, sagt Volhina, ist schwer: „Doch ich muss stark sein.“ Ihre Schwiegermutter leidet: „Sie weint oft.“ Die kleine Tochter fragt dauernd nach ihrem Papa. Hört die Dreijährige Schüsse im Fernsehen, interpretiert das Mädchen sie als Donner: „Sie glaubt, dass uns Papa vor Donner beschützt.“

Letztes Treffen im Dezember in einer Klinik

Im Dezember sah Volhina ihren Mann zum letzten Mal. Er lag verwundet in einer ukrainischen Klinik. „Ich fuhr für zwei Tage zu ihm.“ Mehr Zeit war nicht. Seitdem hat das Ehepaar wieder nur zwei- oder dreimal in der Woche über Telegram Kontakt. Höchstens zweimal im Monat sind Telefonate möglich. Volhina will über ihre Lage nicht zu viel nachdenken. Dank eines Sprachkurses spricht sie inzwischen gut Deutsch. Die studierte Ökonomin fand in einem Hotel einen Job als Reinigungskraft.

Olena Hryhorieva floh im März mit ihrem heute 16 Jahre alten Sohn von Kiew nach Stuttgart. Die 39-Jährige ist geschieden. Aber sie will mit ihrem Ex-Mann in Verbindung bleiben: „Er ist immer noch der Vater meines Sohns.“ Die in Russland geborene Ukrainerin engagiert sich im evangelischen Asylbüro in Stuttgart. Dort bietet sie Strick- und Kochkurse für Frauen aus der Ukraine an. „Es ist wichtig für uns Frauen, dass wir unsere Gefühle teilen können“, sagt Hryhorieva.

Qualvolles Warten auf Lebenszeichen

Anna Dudka kam schon vor dem Krieg, im Jahr 2017, nach Deutschland. Die 33-Jährige studiert Psychologie in Frankfurt am Main. Daneben arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft in der Psychosozialen Beratungsstelle für Flüchtlinge der Uni. Auch ihre Familie ist zerrissen. „Ich habe einen Bruder in der Ukraine, der noch nicht eingezogen wurde“, erzählt sie. Die ganze Familie stehe unter Anspannung, weil der Einberufungsbescheid jederzeit zugestellt werden könne.

Zum qualvollen Warten auf das nächste Lebenszeichen kommen handfeste Probleme in Deutschland hinzu, mit denen die Frauen weitgehend alleine zurechtkommen müssen. Dudka beriet zum Beispiel eine Ukrainerin, deren Sohn seit drei Monaten die Schule verweigert. Er kommt mit der deutschen Sprache nicht klar. Und er vermisst seine Freunde. Er will nur eines: wieder nach Hause. Dudka sagt, sie sehe häufig depressive Störungen und Angstzustände.

„Versuchen, nicht über den Krieg zu sprechen“

Liudmyla Stetsenko, die im März mit ihrem heute elfjährigen Sohn Denys von Sumy in der Nordostukraine nach Quakenbrück im Kreis Osnabrück floh, hatte einmal drei Wochen lang keinerlei Kontakt zu ihrem Mann. „Auszuhalten, dass man nie weiß, was ist und was wird, ist schwer“, sagt die 48-Jährige. Stetsenkos' Mann ist Berufssoldat: „Eigentlich war er in Frührente.“ Doch das nützte nichts. Er wurde eingezogen. Hin und wieder sehen sich die beiden per Video: „Wir versuchen, nicht über den Krieg zu sprechen.“ Das gelingt nicht immer. Manchmal erzählt Stetsenkos' Mann von jungen Kameraden, die gestorben sind.

In den ersten Monaten in Deutschland wirkte Sohn Denys psychisch schwer belastet: Denys malte Panzer und andere Kriegsfahrzeuge. Das hat sich später gelegt: „Nun malt er wieder Tiere und Menschen.“ Denys vermisst seinen Vater, seinen Onkel, die Oma. Letztere ist über 80 und pflegebedürftig. Liudmyla Stetsenkos' Bruder kümmert sich um sie. Die Familie hofft, dass er nicht eingezogen wird.

Pat Christ


Ernährung

Geschenkte Lebensmittel aus der "Goldenen Tonne"




Guido Gartmann kniet neben der "Goldenen Tonne".
epd-bild/Detlef Heese
Abgelaufene Lebensmittel wandern in Supermärkten meist in die Mülltonne. Wer sie rausholt, macht sich strafbar. Das wollen zwei Minister ändern. Ein Osnabrücker hat eine andere Idee: Er stellt die Tonne vor seine Läden, und jeder darf sich bedienen.

Georgsmarienhütte (epd). Verschenken statt Containern lautet das Motto von Lebensmittel-Einzelhändler Guido Gartmann. Seit zwei Jahren stehen vor oder in seinen 14 Supermärkten im südlichen Landkreis Osnabrück „Goldene Tonnen“: In den seitlich aufgeschnittenen Müllcontainern liegen abgelaufene, aber noch genießbare Lebensmittel ordentlich in Kisten, Regalen und sogar einem eingebauten Kühlschrank. Brot, Wurst, Quark oder Obst - alles direkt hinter der Kasse oder draußen am Ausgang und einfach so zum Mitnehmen, kostenlos: „Wir bemühen uns schon immer, möglichst nichts wegzuwerfen. Deshalb haben wir auch kein Problem mit dem Containern“, sagt Gartmann.

„Die Waren sind ruckzuck weg“

Die Idee hatte seine Tochter. Sophie Gartmann (23) studiert in München und containert selbst, sucht also noch genießbare Lebensmittel aus den Mülltonnen der Supermärkte, wie der Vater erzählt. Das ist zwar bislang offiziell verboten. Doch vor allem junge Menschen versuchen auf diese Weise, Lebensmittel zu retten. Die Bundesminister Cem Özdemir (Agrar, Grüne) und Marco Buschmann (Justiz, FDP) wollen solche Aktionen allerdings künftig erlauben - solange nicht Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch im Spiel sind.

Germanistik-Studentin Sophie hat für die Aktion ihres Vaters auch gleich ein Plakat entworfen mit der Aufschrift: „In Deutschland werden pro Jahr 12 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Wir machen da nicht mit!“ Gut sichtbar prangt es auf der Goldenen Tonne im Supermarkt in Georgsmarienhütte-Oesede. Der Erfolg gibt den Gartmanns recht. „Die Waren sind ruckzuck weg, die Tonnen fast immer leer“, sagt der Unternehmer.

Silva Ceponiene freut sich, wenn sie etwas aus der „Goldenen Tonne“ mitnehmen kann. „Ich verdiene nicht so viel. Deshalb ist das ein gutes Angebot“, sagt die 57-Jährige, senkt die Augenlider und lächelt. Sie war gerade in Gartmanns Markt in Oesede einkaufen und inspiziert nun die Waren in der Tonne. Eine Packung Aufback-Baguettes und eine Salami-Wurst wandern in ihren Einkaufstrolley.

Ausgabestelle für Bedürftige im Kloster

Auch Monika Thiele nimmt sich gelegentlich etwas aus der Tonne. „Bei den Preisen kann man sich schon mal bedienen“, sagt sie. Dass Gartmann abgelaufene Lebensmittel verschenkt, findet die 56-Jährige super. „Ist doch besser, als sie wegzuschmeißen.“ Auszubildende Laetitia Mushimiyimana (19) sitzt an der Kasse und pflichtet ihr bei. Die Tonne werde sehr gut angenommen. Und, ja, auch sie nehme sich manchmal etwas daraus mit nach Hause.

Lebensmittel wegzuwerfen sei in seiner Familie schon immer verpönt gewesen, sagt Guido Gartmann. „Meine Oma hat früher altes Brot zu Brotsuppe verarbeitet.“ Verschenkt hat er abgelaufene Lebensmittel in seinen Märkten schon immer - nur eben nicht so prominent platziert, sondern einfach aus einer Kiste heraus. Zudem stehen in jedem Laden „Verschwende-nix-Boxen“, in denen Ware kurz vor dem Verfallsdatum zum halben Preis angeboten werde. Auch eine „Hasen-Kiste“ für Grünzeug, das sich noch als Futter für Haustiere eignet, gibt es.

Außerdem verschenke er nicht mehr zu verkaufende Lebensmittel an das Benediktinerinnen-Kloster in Osnabrück, das eine Ausgabestelle für Bedürftige betreibt. Der in erreichbarer Nähe gelegene Osnabrücker Zoo nehme gerne unansehnliches Obst und Gemüse. Die Tafel bekomme nennenswerte Übermengen und dürfe zu einem festen Sonderrabatt das ganze Jahr über in seinen Läden einkaufen. „Ich würde sagen, bis auf Frischfleisch und Fisch können wir wirklich alles retten.“

Martina Schwager


Armut

Interview

Menschenrechtsinstitut: Moratorium kann Zwangsräumungen stoppen




Claudia Engelmann
DIMR/Barbara Dietl
Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) pocht in der Energiekrise auf ein Kündigungsmoratorium. "Niemand sollte wegen Miet- oder Energieschulden seine Wohnung verlieren", sagte die wissenschaftliche Mitarbeiterin Claudia Engelmann im Gespräch mit epd sozial. Und: "Wir brauchen für Menschen mit Mietschulden langfristig finanzierte Beratungsstrukturen vor Ort."

Berlin (epd). Claudia Engelmann verweist im Interview zudem auf ein grundlegendes Problem: Es fehle an bundesweiten Daten über die Zahl der Räumungen: „Leider wissen wir insgesamt sehr wenig über das Thema.“ Teilweise würden zwar Zahlen erhoben, aber nicht flächendeckend über tatsächlich vollzogene Räumungen. Auch lägen nicht für alle Bundesländer Daten vor, beklagt die stellvertretende Abteilungsleiterin für Menschenrechtspolitik Inland/Europa. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die Vermutung liegt nahe, dass in Zeiten von Inflation und hohen Energiepreisen die Zahl der Zwangsräumung von Wohnungen zunimmt. Doch es fehlt an belastbaren Daten. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?

Claudia Engelmann: Gerade erst haben Beratungsstellen berichtet, dass die steigenden Energiepreise viele Menschen in Existenznöte bringen. Laut Angaben der Caritas suchen aktuell viele Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal in ihrem Leben eine Sozial- oder Schuldnerberatung auf. Die Gefahr, dass mehr Menschen ihre Wohnung verlieren werden, ist also real.

epd: Gibt es Zahlen, die zeigen, wie viele Betroffene von Räumungen tatsächlich anschließend wohnungslos sind?

Engelmann: Nein, leider wissen wir insgesamt sehr wenig über das Thema: Wie viele Menschen sind jedes Jahr tatsächlich von Räumungen betroffen? Wie viele Familien, wie viele Kinder? Was passiert mit den Menschen danach? Auf all diese Fragen findet man keine Antworten. Teilweise werden zwar Zahlen erhoben, etwa die angeordneten Räumungen, aber nicht flächendeckend die tatsächlich vollzogenen Räumungen. Auch liegen nicht für alle Bundesländer Daten vor. Weil Räumungen einen massiven Eingriff in die Grund- und Menschenrechte der Betroffenen bedeuten, braucht es hier dringend mehr Transparenz und mehr Forschung, um die Datenlücken zu schließen.

epd: Es gibt auch keine klare Definition, welches Schicksal sich an eine Räumung anschließt.

Engelmann: Ja, denn wohnungslos zu sein, kann vieles bedeuten: Die Menschen schlafen erstmal bei Freunden oder Bekannten auf dem Sofa, sie müssen vorübergehend in einer Notunterkunft leben oder im Auto oder auf der Straße. Aus der Wohnungslosenstatistik des Bundes wissen wir immerhin, dass das im vergangenenJahr rund 262.600 Menschen in Deutschland betraf. Gründe sind nicht nur Mietschulden, sondern auch Trennungen von Paaren oder der Fakt, dass Menschen teilweise direkt aus der Jugendhilfe, der Haftanstalt oder dem Krankenhaus auf die Straße entlassen werden.

epd: Sie beklagen, dass es vom Staat etliche finanzielle Hilfen gibt, um auch Schulden bei Miete und Energiekosten zu verhindern. Doch die sind oft noch nicht bei den Betroffenen angekommen. Was hätte aus Ihrer Sicht anders, also besser gemacht werden müssen?

Engelmann: Zunächst die Feststellung: Die Energiepauschale und auch die Wohngeldreform sind definitiv zu begrüßen. Allerdings dauert es viel zu lange, bis das Geld bei den Empfängern ankommt.

epd: Was sind die Gründe?

Engelmann: Die sind vielfältig. Die zuständigen Ämter arbeiten am Limit. Und viele Menschen wissen nach wie vor nicht, dass sie antragsberechtigt wären. Letztlich ist aber auch die Wohngeldreform nur ein Rumdoktern an den Fehlern des Systems. Bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und den bestehenden Wohnraum bezahlbar zu halten, dazu ist der Staat rechtlich verpflichtet, unter anderem durch die Ratifikation des UN-Sozialpakts. Der Überprüfungsausschuss zu diesem Vertrag hat Deutschland schon 2018 dafür kritisiert, dass es zu wenig Anstrengungen gibt, bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen. Hier muss dringend etwas passieren.

epd: Kommen wir noch mal auf die Zwangsräumungen zurück. Laut Koalitionsvertrag soll der Kündigungsschutz ausgeweitet werden. Das hilft den derzeit Betroffenen mit Mietschulden kaum weiter. Was muss sofort geregelt werden?

Engelmann: Es braucht unbedingt ein Kündigungsmoratorium. Niemand sollte wegen Miet- oder Energieschulden seine Wohnung verlieren müssen. Einige Bundesländer haben Härtefallfonds aufgelegt. Aber auch das ist eine kurzfristige Lösung. Mittelfristig brauchen wir für Menschen mit Mietschulden auskömmlich und langfristig finanzierte Beratungsstrukturen vor Ort. In der Praxis hat sich das Modell einer Fachstelle bewährt. In der werden alle kommunalen Wohnungsnotfallhilfen gebündelt, etwa Mietschuldenübernahme, präventive Beratung, Notunterbringung und dauerhafte Wohnungsversorgung. So bekommen die Menschen rechtzeitig die Unterstützung, die sie brauchen, um eine Räumung vielleicht noch abzuwenden. Die Kommunen sollten rasch in solche Fachstellen investieren.

epd: Blicken wir auf die Praxis: Laut UN-Sozialpakt sind Zwangsräumungen nur möglich, wenn etliche Kriterien erfüllt sind. Würden die alle eingehalten, dann wären Räumungen fast unmöglich. Doch die Praxis sieht anders aus. Was hören Sie aus den Beratungsstellen?

Engelmann: Aus der Beratungspraxis und aus Studien wissen wir, dass die Prävention vielerorts nicht funktioniert. Wenn ein Wohnungsnotfall eintritt, also etwa Menschen die Räumung direkt bevorsteht, greifen vielerorts die Unterstützungsstrukturen nicht ausreichend. Vor Ort gibt es ja teilweise Stellen, etwa das Jobcenter, das Sozialamt, und die Beratungsstellen, die bei drohender Wohnungslosigkeit die Räumung noch abwenden können. Aber diese Stellen erfahren häufig gar nicht oder zu spät von der Räumung. Der Grund ist, dass der Infofluss vom Amtsgericht über anhängige Räumungen oder vom Gerichtsvollzieher über anstehende Räumungstermine zu ihnen nicht funktioniert. Und dann müssen die Menschen ihre Wohnung verlassen, obwohl das mit rechtzeitiger Unterstützung hätte verhindert werden können. Diese eigentlich sehr simple Erkenntnis ist schwer zu ertragen. Denn wer einmal wohnungslos ist, hat es in Deutschland unglaublich schwer, wieder eine Wohnung zu finden.



Sucht

"Haus der Versuchungen": Neues Projekt gegen Drogen



Abhängigkeit kann vielfältige Formen annehmen. Nicht nur Heroin und Kokain, sondern auch Alkohol und Internet können süchtig machen. Ein neues Ausstellungshaus in Erfurt will Prävention im Zusammenspiel zwischen Forschung und Kunst erproben.

Erfurt (epd). Wissenschaft und Kunst wollen beim Thema Suchtprävention neue Wege in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt gehen. Geplant ist der Aufbau eines „Hauses der Versuchungen“ als Schnittstelle von Forschungsvorhaben- und Ausstellungsfläche rund um das Thema Abhängigkeiten, sagte die Vorständin der Stiftung „Welt der Versuchungen“, Susanne Rockweiler. Dabei solle Aufklärung betrieben werden, ohne den Rausch zu tabuisieren, fügte sie am 13. Februar in Erfurt hinzu.

„Strahlkraft über die Landesgrenzen hinaus“

Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) äußerte die Hoffnung, dass die geplante Wissens- und Erlebniswelt im Bereich der Aufklärung und Suchtprävention „Strahlkraft über die Landesgrenzen hinaus entwickeln wird“. Das Projekt sei deutschlandweit einzigartig. Der Freistaat Thüringen unterstützt den Aufbau der Stiftung mit 2,9 Millionen Euro. Das sei „gut angelegtes Geld, welches nicht nur in Thüringen, sondern bundesweit eine wirksame Diskussion zur Qualität von Suchtprävention ermöglichen wird“.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), betonte, das Projekt werde sowohl die Kulturszene als auch die landesweite Gesundheitsförderung bereichern. Es bringe Investitionen und Innovationen nach Thüringen.

Ziel des Konzepts ist, dass sich Gäste des Hauses über die Ausstellung mit ihren eigenen Abhängigkeiten beziehungsweise Suchtgefahren auseinandersetzen. Laut Stiftungsvorständin Rockweiler greift die Einrichtung dabei auf die aktuellen Ergebnisse der Hirnforschung zurück. „Je emotionaler meine Erfahrung ist, desto präsenter wird dieses Erlebnis im Langzeitgedächtnis verankert“, sagte Rockweiler. Daher setze die Ausstellung in der Präventionsarbeit auf Emotionalität und außergewöhnliche Wissensvermittlung.

Pädagogische Angebote für Schulklassen

Die Eröffnung des Hauses ist für 2026 geplant. Mit der Zustimmung des Erfurter Stadtrates zum Bauvorhaben am Rande der Altstadt kann laut Rockweiler nun der Architektenwettbewerb für den Museumsneubau gestartet werden.

Das Haus soll auf dem ehemaligen Augustinerparkplatz der evangelischen Kirche am Huttenplatz entstehen. Erste Ausstellungen sind laut Rockweiler bereits im Herbst 2023 in einem Übergangsquartier auf dem Erfurter Petersberg vorgesehen. Wesentlicher Bestandteil des Konzeptes sollen laut Stiftungsvorständin pädagogische Angebote für Schulklassen sein. Ziel sind demnach jeweils ganztägige Besuche, die über mehrere Schuljahre wiederholt werden.

Der Bau des Ausstellungshauses wird mit 15 Millionen Euro vom Deutschen Bundestag gefördert. Das Vorhaben entsteht in Zusammenarbeit mit der Suchthilfe in Thüringen.

Bettina Gabbe


Hochschulen

Studentische Beschäftigte wollen mit Streiks Tarifvertrag durchsetzen



Göttingen (epd). Die studentischen Beschäftigten an den deutschen Universitäten wollen mit einem koordinierten Streik bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Bei einer Konferenz in Göttingen vom 24. bis 26. Februar solle eine bundesweite Streikbewegung vorbereitet werden, teilten die Gewerkschaften ver.di und GEW sowie studentische Organisationen am 15. Februar mit. Zentrales Ziel sei es, einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte, den TVStud, durchzusetzen.

An den Hochschulen und Forschungseinrichtungen arbeiteten mehr als 300.000 Studierende auf Basis von Mini- und Midijob-Verträgen neben ihrem Studium als studentische oder wissenschaftliche Hilfskräfte, Assistenten und Tutoren, schreiben die Organisatoren im Konferenzaufruf. Seit mehr als drei Jahrzehnten drückten sich die Landesregierungen mit Ausnahme von Berlin jedoch darum, diese Studierenden tariflich zu beschäftigen. Das sei ein „sozialpolitischer Skandal“.

Studentische Beschäftigte arbeiteten mit Vertragslaufzeiten von durchschnittlich gerade einmal knapp sechs Monaten, hieß es. Rund 40 Prozent seien mindestens zum dritten Mal auf ein und derselben Stelle in Folge beschäftigt - „ein System von Kettenbefristungen, das Studierende gegenüber den Professoren in hoher Abhängigkeit hält“.



Bayern

Beratungsstelle für Menschen mit Heimerfahrung geht an den Start



München (epd). Für Menschen, die ihre Kindheit und Jugend in Heimen verbracht haben, ist eine dauerhafte Beratungsstelle am Bayerischen Landesjugendamt errichtet worden. Wie das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) am 14. Februar in München mitteilte, berate diese Menschen, die einstigen Heimkinder, die heute keinen Anspruch mehr auf Jugendhilfeleistungen haben.

„Viele der sogenannten Verschickungskinder haben Schlimmes erlebt und brauchen unsere Unterstützung“, sagte Bayerns Familienministerin Ulrike Scharf (CSU) laut Mitteilung. Die neue Beratungsstelle sei bundesweit einzigartig und diene Menschen mit Heimerfahrungen aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, den psychiatrischen Einrichtungen und den ehemaligen Erholungs- und Kurheimen.

Zudem könnten sich auch Menschen, die nach 1975 in einer institutionellen Einrichtung waren, an die neue Beratungsstelle wenden. Das ZBFS hat nach eigenen Angaben im Rahmen der bisherigen Arbeit der Anlauf- und Beratungsstellen über 7.000 Menschen erreicht und insgesamt 60 Millionen Euro an finanziellen Leistungen an die Betroffenen ausgezahlt. Künftig solle die Beratung der Betroffenen im Vordergrund stehen.




sozial-Branche

Gesundheit

Analyse benennt mögliche Auswirkungen der Klinikreform




OP-Schwestern und ihre Instrumente
epd-bild/Heike Lyding
Die geplante Krankenhausreform könnte die Schließung vieler Klinikstandorte und den Verlust von Personal bedeuten, sagt die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Sie macht eigene Vorschläge zur Reform.

Berlin (epd). Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat am 13. Februar in Berlin eine datengestützte Analyse der Auswirkungen der geplanten Klinikreform vorgestellt. DKG und Landkreistag warnten vor möglichen Folgen. Der AOK-Bundesverband sieht hingegen nicht so hohe Risiken. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) legte unterdessen weitere Reformpläne vor.

Die Analyse der DKG kommt zu dem Ergebnis, dass die Reform zu deutlich mehr Kliniken der höchsten Versorgungsstufe führen könnte. Fusionen und Zusammenlegung von Fachbereichen könnten zu diesem Ergebnis führen, dies würde aber mit dem Verlust vieler Krankenhausstandorte erkauft, sagte Boris Augurzky, Geschäftsführer der Forschungseinrichtung Institute for Health Care Business. Das Institut hat im Auftrag der DKG die Analyse erstellt.

Mehr schlagkräftigere Einheiten

„Es wird weniger Krankenhausstandorte geben, aber mehr schlagkräftigere Einheiten“, sagte DKG-Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß. Die zentrale Herausforderung der Reform sei, möglichst wenig Personal zu verlieren, weil die Beschäftigten ihren Arbeitsort verlagern müssten. „Die Bereitschaft, über weite Strecken hinweg zu pendeln, ist in der Pflege geringer als im ärztlichen Dienst“, warnte Gaß.

Die DKG brachte eigene Vorschläge in den Reformprozess ein. So müsse die Vorhaltung von medizinischer Infrastruktur in der Notfallversorgung besser finanziert werden, denn diese sei mit hohen Kosten verbunden, sagte Gaß. Außerdem könne es mehr ambulante Versorgung in Krankenhäusern geben. Dazu könnten Kliniken und Kassenärztliche Vereinigungen kooperieren. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte könnten demnach in Kliniken behandeln.

Wichtiger Diskussionsbeitrag

Bundesgesundheitsminister Lauterbach stellte am 13. Februar Pläne zur Reform der Notfallversorgung vor. Auch Lauterbach griff eine künftige Kooperation von Kliniken und niedergelassenen Ärzten auf. Seinen Vorstellungen zufolge sollen an Krankenhäusern Integrierte Notfallzentren (INZ) Patientenströme steuern. Diese INZ sollen aus der Notaufnahme des Krankenhauses, einer kassenärztlichen Praxis sowie einer zentralen Entscheidungsstelle bestehen. Hilfesuchende, die in die Kliniken kommen, sollen künftig an dieser Entscheidungsstelle je nach Schwere ihrer Erkrankung oder Verletzung entweder in die Notaufnahme oder in die Praxis weitergeleitet werden.

Frank Flake vom Bündnis pro Rettungsdienst sagte am 15. Februar dazu: „Eine grundlegende Reform der Notfallversorgung ist notwendig. Es ist gut, dass Karl Lauterbach das nun angehen will. Es ist jedoch dringend, auch den Rettungsdienst neu zu organisieren. Diese Gelegenheit muss die Politik jetzt nutzen und die Akteure des Rettungsdienstes bei der Reform beteiligen.“

Landkreistag: Zielrichtung stimmt

Der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager (CDU), bewertete den Vorschlag der DKG als wichtigen Diskussionsbeitrag. Dessen Zielrichtung stimme, auch wenn noch unklar sei, ob damit alle Probleme gelöst würden. „Ziel kann und darf nicht sein, dass viele Standorte in ihrer Existenz bedroht wären“, mahnte Sager. Es brauche eine belastbare Versorgung in der Fläche, es gehe dabei auch um gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland. Zudem müsse die Krankenhausplanung in der Hoheit der Länder bleiben.

Laut der Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbands, Carola Reimann kann von einem Kahlschlag der Krankenhauslandschaft durch die Reform keine Rede sein. Die Vorschläge der DKG zur Vorhaltefinanzierung seien unnötig kompliziert und schüfen zusätzliche Bürokratie. Zudem werde nicht deutlich, wie die DKG den medizinisch nicht begründeten Anstieg der Fallzahlen eindämmen wolle.

Nils Sandrisser


Gesundheit

Gastbeitrag

Umbau einer differenzierten Kliniklandschaft muss gestaltet werden




Christoph Radbruch
epd-bild/DEKV e.V.
Die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach geplante große Krankenhausreform alarmiert die Branche. Grundsätzliche Zustimmung paart sich mit düsteren Szenarien. Christoph Radbruch, der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV), warnt vor einem Kahlschlag.

Mit der dritten Stellungnahme der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung liegt die Grundlage für die von der Bundesregierung geplante große Krankenhausreform vor. Die Regierungskommission schlägt eine von Fallzahlen unabhängige Vorhaltefinanzierung verbunden mit einer Krankenhausplanung vor, die auf unterschiedlichen Versorgungsstufen und Leistungsgruppen basiert. Bis zum Sommer 2023 wollen das Bundesgesundheitsministerium, die Länder und die Fraktionen der Regierungskoalition die Vorschläge zu Eckpunkten weiterentwickeln. Daran anschließen soll sich der Gesetzgebungsprozess im Bundestag.

Klinikstandorte werden zusammengelegt

Im Vorschlag der Regierungskommission wird das Fallpauschalen-System nicht wie angekündigt abgeschafft. Vielmehr bleiben sie Teil eines Zwei-Säulen-Systems: 40 Prozent der Betriebskosten sollen durch Vorhaltepauschalen und 60 Prozent weiter über Fallpauschalen abgerechnet werden. Fraglich ist, ob dieses Modell das gesteckte Ziel erreicht, dass die Krankenhäuser ihre Fallzahlen nicht mehr steigern müssen, um die nicht refinanzierten Personalkosten oder Investitionen zu bezahlen. Solange zum Beispiel die Inflationskosten nicht ausgeglichen werden, gehen Finanzierungsexperten davon aus, dass sich das Hamsterrad noch schneller drehen muss, weil nur noch 60 Prozent der Erlöse zur Verfügung stehen. Völlig offen ist, wie die notwendigen Investitionen finanziert werden sollen, wenn Klinikstandorte zusammengelegt werden.

Motiviert sind die Reformbemühungen durch die aus Sicht der Reformkommission hohen Kosten im Gesundheitswesen, die weder politisch noch wirtschaftlich tragbar seien. Das Herzstück der Reform ist eine bundeseinheitliche Krankenhausplanung mit Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Sie sollen dazu führen, dass sich die vorhandenen Finanzmittel auf weniger Krankenhäuser verteilen.

Künftig sollen bundeseinheitlich Versorgungsstufen (Level) vorgegeben werden: Level-1-Krankenhäuser sind Krankenhäuser der Grundversorgung, Level-2-Krankenhäuser erbringen die Regel- und Schwerpunktversorgung und Level-3-Krankenhäuser übernehmen die Maximalversorgung. Für jeden Level werden Mindestanforderungen formuliert, die ein Krankenhaus erfüllen muss. Daneben werden 128 Leistungsgruppen bestimmt. Sie ersetzen die bisherigen Fachabteilungen (z.B. Innere Medizin) durch genauere Leistungsgruppen (z.B. Kardiologie) und legen fest, welche Leistungen ein Krankenhaus erbringen darf.

Das Ende für viele Geburtsabteilungen

Die Leistungsgruppen werden darüber hinaus mit einer Versorgungsstufe verknüpft: Ein Krankenhaus darf nur die Leistungen erbringen, die seiner Versorgungsstufe zugeordnet sind. Dies gilt auch, wenn das Krankenhaus die Qualitätsanforderungen der Leistungsgruppe erreicht. Konkret wird beispielsweise festgelegt, dass eine Geburtsabteilung nur in einem Level-2-Haus vorhanden sein darf. Voraussetzung für die Eingruppierung in Level 2 ist das Vorhandensein einer Stroke Unit. Somit kann nur ein Krankenhaus, das eine Stroke Unit hat, auch eine Geburtsabteilung betreiben.

Diese Festlegung ist nicht durch eine medizinische Notwendigkeit begründet und würde zum Beispiel dazu führen, dass eine der größten Geburtsabteilungen in Nordrhein-Westfalen in der Kaiserwerther Diakonie schließen müsste. In der Region Aachen würden das Luisenhospital und das Marienhospital sowie die Krankenhäuser in Stolberg und Simmerath die Geburtshilfe abgeben. Dadurch müssten von den 5.000 Geburten im Einzugsbereich mehr als 4.000 zusätzliche an das Universitätsklinikum verlagert werden.

Eine Auswertung im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeigt, dass bundesweit von bisher 593 Standorten, die relevante Versorger in der Geburtshilfe sind, noch 227 Standorte verbleiben würden. Wenn die Kriterien der Regierungskommission streng angewendet werden, müssten sich 52 Prozent aller werdenden Mütter einen neuen Standort für die Geburt suchen. In anderen Fachgebieten gibt es ähnliche Ergebnisse: So müssten 56 Prozent der Patientinnen und Patienten in der interventionellen Kardiologie das Krankenhaus wechseln.

Gravierende Auswirkung hat auch der Vorschlag, dass ein Haus der Grundversorgung 30 Kilometer von einem Level-2- oder Level-3-Haus entfernt sein muss. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, dürfen nur noch die Leistungen eines integrierten Gesundheitszentrums erbracht werden. Rund die Hälfte der bisherigen Krankenhausstandorte würden dadurch zu integrierten ambulant-stationären Versorgungszentren (Level 1/integriert). Diese Einrichtungen sollen ganz aus der bisherigen Krankenhausfinanzierung herausgenommen werden und keine ärztliche Leitung mehr haben.

Längere Wartezeiten

Die Strukturierung der Leistungsgruppen und ihre Zuordnung zu den Versorgungsstufen haben eine enorme Relevanz für die Versorgungslandschaft. Wird auch das Kleingedruckte im Kommissionsvorschlag berücksichtigt, ist die Gefahr deutlich, dass Krankenhäuser, die heute einen wesentlichen Teil der qualitativ hochwertigen Krankenversorgung leisten, aufgegeben werden, ohne dass die von der Strukturänderung gewollten Großkrankenhäuser die zusätzlichen Patienten versorgen können. Genau betrachtet verbirgt sich hinter den Vorschlägen der Regierungskommission eine deutliche Kapazitäts- und Standortreduktion. Diese wird definitiv zu längeren Wartezeiten führen und den Zugang der Patientinnen und Patienten zur Versorgung verschlechtern.

Bei den Zielen der Krankenhausreform besteht ein breiter Konsens: Es gilt den wirtschaftlichen Druck in den Krankenhäusern zu überwinden und die Patientenströme und -behandlung durch die abgestimmte Zuordnung von Versorgungsaufgaben zu verbessern. Die angekündigten Maßnahmen können aber als Nebenwirkung eine deutliche Verschlechterung der Patientenversorgung zur Folge haben.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat bei der Vorstellung der Reformvorschläge von einer Revolution gesprochen. Bleibt zu hoffen, dass die Beratungen der Bund-Länder-Kommission nicht bei der revolutionären Zerstörung der bestehenden Strukturen stehen bleiben, sondern den Umbau einer sehr differenzierten Krankenhauslandschaft gestalten. Die Pluralität einer gewachsenen und teilweise hochspezialisierten Krankenhauslandschaft kann in bundesweiten, starren Leveln nicht abgebildet werden. Auch kann aus der Größe eines Krankenhauses keine Versorgungsqualität abgeleitet werden. Vielmehr reicht in den Leistungsgruppen die Zahl der behandelten Patienten aus, um Rückschlüsse auf die Expertise zu ziehen.

Christoph Radbruch ist Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes.


Gesundheit

Diagnose Blutkrebs und die Chance auf ein zweites Leben




Marion Wangerin und Bernd Haseborg
epd-bild/privat
Alle zwölf Minuten erhält in Deutschland ein Mensch die Diagnose Blutkrebs. Marion Wangerin war eine von ihnen. Sie bekam jedoch durch eine Knochenmarkspende die Chance auf ein zweites Leben. Mit dem Spender entstand eine Freundschaft fürs Leben.

Darmstadt (epd). Marion Wangerin erinnert sich noch gut an den 7. Juli 2001. „Ich war gerade in der Küche, als mir plötzlich unglaublich schlecht wurde“, sagt die 55-jährige Darmstädterin. Schon in den Wochen zuvor fühlte sie sich müde und erschöpft, hatte kaum noch Kraft, zur Arbeit zu gehen. „Das war ungewöhnlich für mich“, sagt Wangerin. Sie schob es auf den Stress.

Ihre Schwester fuhr sie ins Krankenhaus. In der Klinik in Hanau erhielt die junge Frau die Schockdiagnose: Blutkrebs. Nach Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft erkranken jährlich rund 13.700 Menschen an Leukämie, besser bekannt als Blutkrebs.

Gute Nachrichten nach wenigen Wochen des Wartens

Die alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter musste sich einer Chemotherapie und Bestrahlungen unterziehen. Um vollständig gesund zu werden, war sie auf eine Knochenmarkspende angewiesen. Wenige Wochen nach ihrer Registrierung bei der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) bekam sie die erlösende Nachricht: Ein passender Spender sei für sie gefunden: Bernd Haseborg. „Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk.“

Haseborg ist seit 1992 bei der DKMS registriert. Zehn Jahre später, am 29. Januar 2002, hatte der damals 45-Jährige die Gelegenheit, ein Leben zu retten. „Ich wurde mit dem Ostfriesischen Lufttransport ins Krankenhaus geflogen.“

Wangerin schrieb ihrem Lebensretter bereits in der Uniklinik Frankfurt einen ersten anonymen Dankesbrief. „Bernd ist nicht nur mein genetischer Zwilling. Für mich war er auch mein rettender Engel“, sagt sie. Ihre größte Leidenschaft ist von jeher der Gesang. Sie sang das Lied „Angel“ von Lionel Richie und nahm es für ihn auf. „Das rührte mich zutiefst“, sagt Haseborg.

Bestimmte Erkrankungen schließen Spenden aus

Spender darf grundsätzlich jeder werden, der zwischen 18 und 55 Jahre alt ist. Menschen mit einer Autoimmunerkrankung oder Nieren-, Lungen- und Herzkreislauferkrankungen sind von einer Spende in der Regel ausgeschlossen.

„Viele haben Angst vor einer möglichen Knochenmarkentnahme“, sagt Wangerin. Angst hatte der Land- und Energiewirt Haseborg nach eigener Aussage nicht. „Blutkrebs kann jeden treffen. Man muss sich seiner Verantwortung bewusst sein“, sagt der 66-Jährige.

Die erste Blutstammzellspende in Deutschland erfolgte im Jahr 1992. Damals gab es nur ein einziges Verfahren: eine Entnahme des Knochenmarks aus dem Beckenkamm durch einen kleinen operativen Eingriff. In den späten 90er Jahren kam die periphere Stammzellentnahme hinzu.

Periphere Entnahme wird bevorzugt

Thilo Mengling, Direktor für Internationale Medizinische Wissenschaft bei der DKMS, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Die behandelnden Ärzte entscheiden über das Entnahmeverfahren. Für uns stehen die Sicherheit und medizinische Eignung des Spenders im Vordergrund, aber wir respektieren auch den Wunsch des Spenders. 90 Prozent der Spenden erfolgen heute durch die periphere Entnahme.“

Bei dieser Methode werden die Stammzellen aus dem Blut gewonnen. Der Spender erhält fünf Tage lang das Medikament G-CSF. Dieses mobilisiert die Stammzellen und erhöht ihre Anzahl im Blut. „Die Nebenwirkungen sind ähnlich wie bei einer Grippe. Langzeitfolgen gibt es keine. Das können wir mit gutem Gewissen sagen“, betont Mengling.

Die Vor- und Nachsorge habe höchste Priorität für die DKMS. Bis zu einem Jahrzehnt nach der Entnahme beantwortet der Spender einmal im Jahr einen Fragebogen. „Wir bleiben mit den Spendern in Kontakt“, erklärt Mengling. Auch bei Haseborg wurde eine periphere Blutstammzellenentnahme vorgenommen. Schon nach wenigen Tagen hatte er sich davon erholt.

Wangerin und Haseborg stehen seit 20 Jahren in Kontakt. „Ich war zu Gast auf Bernd und Wilmas Silberhochzeit. Wir telefonieren mehrmals im Jahr“, sagt Wangerin. Auf ein weiteres Treffen im Sommer im rund 550 Kilometer entfernten niedersächsischen Dornumersiel beim Ehepaar Haseborg freut sie sich schon jetzt.

Stefanie Unbehauen


Kinder

"Respect-Training" vermittelt Grundschülern soziale Kompetenzen




Die Grundschülerinnen Jule und Josie (li.) im Verhaltenstraining mit Milutin Susnica
epd-bild/Jens Schulze
Beleidigung, Mobbing und Ausgrenzung erfahren viele Schüler. Der Kölner Verein "!Respect" schult sie darin, Konflikte im Dialog zu lösen. In einer vierten Klasse in der niedersächsischen Stadt Peine lernen Kinder so, sich friedlich zu behaupten.

Peine/Köln (epd). So langsam wird Jule sauer. Die Zehnjährige strafft ihren Rücken, ihre Augen funkeln. „Nein“, ruft sie: „Keinen Schritt weiter!“ Milutin Susnica, der eben noch drohend auf das Mädchen zuging, weicht einen Schritt zurück und lächelt. „Super, Jule“, lobt er. „Das war deutlich, du hast mich überzeugt.“

Wer geärgert wird, sagt: „Stopp, hör auf“

Susnica ist Sportlehrer, Karate-Experte und Trainer bei dem Verein „Respect“ aus Köln. Der 43-Jährige steht an diesem Morgen in der Sporthalle der Grundschule „Unterm Regenbogen“ in der niedersächsischen Stadt Peine und begrüßt die Klasse 4a. Die Kinder kennen Susnica und das „Respect“-Training seit der ersten Klasse. Heute wird das Erlernte aufgefrischt.

Etwa die Stopp-Regeln: Wer geärgert wird, sagt: „Stopp, hör auf.“ Nützt das nichts, kommt die nächste Stufe: „Wenn Du nicht aufhörst, hole ich mir Hilfe.“ Erst wenn das alles nichts bringt, kommt Stopp-Regel drei: „Es reicht, jetzt gehe ich zu meinem Lehrer.“

Die Schüler müssten lernen, ihre Konflikte selbst zu lösen und nicht immer gleich zu einer Lehrkraft zu rennen, sagt Susnica. „Es geht darum, Streitereien, wo es geht, zu vermeiden, sich zu einigen, aber auch sich wehren zu können.“ Wie wichtig diese Fähigkeiten sind, zeigt eine Befragung der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019. Der Studie zufolge erfahren 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in der Schule Ausgrenzung, Hänseleien oder sogar körperliche Gewalt.

Der Verein „Respect“ schult seit 2016 bundesweit Grundschüler im wertschätzenden Umgang miteinander, um so frühzeitig Mobbing und Schikane einen Riegel vorzuschieben. Die Kinder sollen lernen, Konflikte friedlich auszutragen, Rücksicht zu nehmen, sich in andere hineinzuversetzen, Impulse wie Wut zu kontrollieren und auch die Mitschüler, die sie nicht mögen, zu achten.

Mobbing und Gewalt an Schulen

2022 hat „Respect“ nach eigenen Angaben 12.200 Kinder sowie 1.100 Lehrer an 59 Schulen fortgebildet. „Die Nachfrage nimmt zu“, sagt Geschäftsführer Jan Lindert. Das läge auch an Corona, denn die sozial-emotionalen Kompetenzen hätten durch den Lockdown gelitten. „Wie sollen Kinder im Homelearning auch den Umgang mit anderen, das Verhalten in einer Gruppe trainieren?“

Dass die Coronabeschränkungen für junge Menschen herausfordernd waren, dass Frustration zugenommen und soziale Kompetenzen abgenommen haben, weiß auch die Bundesregierung. Sie hat Sondermittel für Kinder und Jugendliche zur Bewältigung der Pandemie-Folgen zur Verfügung gestellt. In Niedersachsen heißt das Aktionsprogramm „Startklar in die Zukunft“. Schulen, die das „Respect“-Training oder vergleichbare Programme anbieten wollen, können auf diese Gelder zugreifen.

Das niedersächsische Kultusministerium betont, dass es eine große Anzahl an „Strukturen, Vereinen, Handreichungen, Fortbildungen und Programmen“ gebe, um Mobbing und Gewalt an Schulen einzudämmen. Dazu zählten die Schulsozialarbeit, die Schulpsychologie, Beratungslehrkräfte und das Mobbing-Interventionsteam.

Sozialtraining fest im Stundenplan verankert

Mobbing, also systematische, regelmäßig wiederkehrende psychische Gewalt gegen einen Schüler, habe sie an ihrer Schule noch nicht erlebt, sagt Andrea Eisenhardt, die seit 26 Jahren an der Schule „Unterm Regenbogen“ tätig ist und sie seit 2011 leitet. Dass das so ist, liege sicher unter anderem auch daran, dass die Grundschule das Sozialtraining fest im Stundenplan verankert hat.

Bereits seit neun Jahren kommen die „Respect“-Trainer nach Peine. Jeder Jahrgang wird trainiert, eine Stunde pro Woche arbeitet darüber hinaus Schulsozialarbeiter Florian Kauschke mit den Kindern, damit sich das Gelernte verfestigt. „Dass wir das schon so lange machen, merkt man den Schülern an“, sagt der 50-Jährige. Und auch Sebastian Tanneberger, Klassenlehrer der 4a, ist überzeugt: „Wir haben einen Erziehungsauftrag, und der besteht nicht nur darin, Kindern lesen, schreiben und rechnen beizubringen.“

Julia Pennigsdorf


Familie

Wenn Hilfebedürftige Teil der Familie sind




Familie Schad mit Karin Mayländer-Friedrich (re.) vom Hilfsverein
epd-bild/Uta Rohrmann
Der Hilfsverein für psychisch Kranke Rems-Murr vermittelt chronisch psychisch Kranke in Familien. Wenn "die Chemie stimmt", ist es ein Gewinn für alle Beteiligten.

Aspach (epd). Familie Schad hat ein großes Haus, ein großes Herz und einen langen Esstisch. In dritter Generation gehen im Aspacher Karlshof nicht nur viele Gäste ein und aus, sondern haben auch Menschen ein Zuhause gefunden, denen Familienanschluss und Unterstützung in der Tagesstrukturierung gut tut. „Bei uns ist immer was los“, freut sich die 14-jährige Lotte. Sie war damals drei, als der erste Mitbewohner einzog und ihre Schwester Lene ein halbes Jahr. „Unsere Kinder kennen es nicht anders“, sagt Tobias Schad.

Offenes Verhältnis zur Familie

Angefangen hatte alles mit einem neuen Mitbewohner: Als der Langzeitarbeitslose mit einigen körperlichen Einschränkungen seinerzeit aus einer therapeutischen Wohngemeinschaft auszog und zu Schads kam, war er gleich mittendrin im vollen Leben: Lenes Taufe wurde gefeiert und das Haus war voller Gäste. „Wir haben uns von Anfang an sehr gut verstanden“, sagt der gebürtige Rostocker, der sich „der Gemeinschaft wegen“ für das Mitleben bei den Schads entschied. Besonders schätzt er das offene Verhältnis zu der Familie: „Über Probleme wird gesprochen.“ Dass es mitunter turbulent zugeht, macht ihm nichts aus: „Das sind Kinder - ist normal“, sagt er verständnisvoll.

Vor knapp acht Jahren kam noch eine Mitbewohnerin dazu, die wie er durch den Hilfsverein für psychisch Kranke Rems-Murr vermittelt wurde und die ebenfalls ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Auch ihr gefällt das Leben bei Familie Schad sehr gut, obwohl sie als Alleinlebende zuvor an Ruhe gewohnt war und sich Hanne-Rose Schad zuweilen wegen der Schreiphasen ihres Jüngsten Gedanken machte. Doch die ruhige, freundliche Schwäbin wird gerade von dem heute Fünfjährigen sehr geschätzt. „Lorenz will immer mit ihr spielen“, sagt seine Mutter.

Die Chemie stimmt

Gemeinsame Mahlzeiten und der Austausch am großen Esstisch verbinden die Hausgemeinschaft ebenso wie die morgendliche Autofahrt nach Backnang zur Schule und zur Werkstatt der Paulinenpflege. Und beim Tischdecken und anderen Arbeiten, die im und ums Haus anfallen, packt jeder mal mit an. Die Chemie zwischen den Hausbewohnern stimmt. „Wir hatten echt Glück miteinander“, sagt Hanne-Rose Schad, die als studierte Sozialpädagogin früher in einer Einrichtung für psychisch Kranke gearbeitet hat.

Dennoch gibt es auch Rückzugsmöglichkeiten. Die Wohnbereiche verteilen sich auf drei Stockwerke - von der Familie scherzhaft als Oberhaus, Unterhaus und Mittelhaus bezeichnet. Die Bewohner mit Handicap haben beide ein eigenes Zimmer und teilen sich Bad und Küchenzeile. Auch Urlaub und Zeiten, die die Familie ganz für sich allein hat, sind möglich. Während dieser 28 Tage im Jahr gibt es auch für die Gäste Tapetenwechsel - daher seien auch Kurzzeit-Gastgeber gefragt, erklärt Karin Mayländer-Friedrich vom Fachbereich Betreutes Wohnen in Familien des 1975 gegründeten Hilfsvereins.

Fachkenntnisse nicht nötig

„Nicht nur Familien, sondern auch Paare und Einzelpersonen können sich bei uns melden, wenn sie sich vorstellen können, eine Person mit chronisch psychischer Erkrankung, deren akute Krankheitsphase abgeklungen ist, bei sich aufzunehmen“, sagt sie. Dazu brauche es keinerlei Fachkenntnisse, sondern neben einem eigenen Zimmer von mindestens 16 Quadratmetern vor allem Offenheit für die Gäste. „Die Mitbewohner erleben den ganz normalen Alltag ihrer Gastgeber mit und können sich an diese Struktur anlehnen wie an ein Geländer“, sagt Mayländer-Friedrich.

Zu den Vorteilen gegenüber ambulant betreutem Wohnen gehöre auch, dass in der Familie Dinge gleich besprochen werden könnten - man müsse nicht warten, bis ein Sozialarbeiter kommt, der ein offenes Ohr hat. Die „gelebte Inklusion“ sei eine Bereicherung für alle Beteiligten.

Uta Rohrmann


Armut

Tafel-Chefin: "Wir sind nicht der Büttel des Berliner Senats"




Sabine Werth
epd-bild/Rolf Zöllner
An der Spitze der Berliner Tafel steht als Vorstandsvorsitzende Sabine Werth, die vor 30 Jahren die Tafel gegründet hat. Im Interview schaut sie zurück und spricht über Lebensmittelverschwendung, Containern und die Tafeln als Lückenbüßer.

Berlin (epd). Die Berliner Tafel ging vor 30 Jahren an den Start: Gründungsdatum war der 21. Februar 1993. Es war die erste Tafel Deutschlands. Heute unterstützt sie mit 2.700 Ehrenamtlichen wöchentlich bis zu 80.000 Menschen mit gespendeten Lebensmitteln. Hinzu kommen 400 soziale Einrichtungen. An der Spitze der Berliner Tafel steht als Vorstandsvorsitzende weiterhin Sabine Werth, die Gründerin. Mit ihr sprach Lukas Philippi.

epd sozial: Im Schnelldurchlauf, was hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten verändert?

Sabine Werth: Wir wollten damals in einer Gruppe von Berliner Frauen, in der ich Mitglied war, ein Obdachlosen-Projekt starten. Wir haben es „Berliner Tafel“ genannt, aber es bezog sich nur auf Obdachlose. Das ist der erste Unterschied zu heute. Heute unterstützen wir mehr als 400 soziale Einrichtungen mit Lebensmitteln. Dann habe ich gemerkt, dass die Mädels nur kamen, wenn die Presse kam, ansonsten war ich alleine. Da habe ich gedacht, das kann ich auch anders. Aber der Name „Berliner Tafel“ war gesetzt. Wir wollten denjenigen in dieser Stadt eine Tafel decken, die es sich selbst nicht leisten können. Und das ist der Grundsatz bis heute.

epd: Wie kamen Sie auf die Idee?

Werth: Die Idee hatten wir von der Initiative „City Harvest New York“. Eine aus unserer Gruppe kam mit einem Zeitungsartikel. Darin stand, dass sie in New York abends nach Empfängen Buffets absammeln und das Essen zu den Obdachlosen auf die Straße bringen. Da dachten wir, das können wir auch. Wir haben dann 23 Obdachlosen-Einrichtungen eingeladen und ihnen die Idee vorgestellt. 21 fanden die Idee toll. Zwei sagten, das sei politisch vollkommen unkorrekt. Der Senat habe für die Finanzierung von Obdachlosen-Projekten zu sorgen. Sie wollten nicht, dass so ein Haufen wild gewordener Weiber ihre politischen Strategien kaputt machen.

epd: Die Zahlen haben sich seitdem verändert, wie auch die Rahmenbedingungen.

Werth: Damals gab es diese 23 existierenden Obdachlosen-Einrichtungen plus einer gewissen Kältehilfe im Winter mit Notübernachtungen in verschiedenen Kirchengemeinden. Das waren aber nicht viele. Das gesamte Hilfesystem für Obdachlose war bei Weitem noch nicht so ausgebaut wie heute. Insofern waren die 21 Einrichtungen eine überschaubare Sache für uns.

epd: Die Debatte, ob Tafeln eigentlich den Job des Sozialstaats übernehmen und als Lückenbüßer agieren, gibt es ja bis heute. Sie stehen zwischen staatlichen Einrichtungen und freien Trägern der Wohlfahrtspflege.

Werth: Natürlich sind wir in gewisser Weise Lückenbüßer. Und zwar da, wo die Politik versagt. Menschen haben durch Arbeitslosenunterstützung oder durch das neue Bürgergeld kein ausreichendes Auskommen. Damit lässt sich das Leben nicht annähernd sorgenlos gestalten. Dann versagt die Politik beim Thema Lebensmittelverschwendung. Es werden immer noch viel zu viele Lebensmittel weggeschmissen. Dabei verschwindet übrigens der größte Teil der Lebensmittel in den Privathaushalten im Müll.

epd: Wie kann das sein?

Werth: Meines Erachtens ist die Information über Lebensmittel unterirdisch. Die Leute glauben immer noch, das Mindesthaltbarkeitsdatum ist das Wegwerfdatum. Und so lange das geglaubt wird, freut sich der Handel. Die Leute schmeißen ihren Joghurt mit abgelaufenem MHD in den Eimer und laufen los, um das gleiche sofort wieder zu kaufen.

epd: Was halten Sie eigentlich vom „Containern“, also dem „Retten“ von Lebensmitteln aus den Müllcontainern von Lebensmitteldiscountern?

Werth: Das „Containern“ muss meines Erachtens so lange straffrei sein, wie das Wegwerfen von Lebensmitteln straffrei ist. Entweder beide Seiten werden bestraft oder keine. Aber solange einfach so Lebensmittel in Containern landen können, muss auch jede Form von Lebensmittelrettung legal sein. Wir sind bei 1.400 Stellen in der Woche - bei allen Filialen von Lidl, Aldi, einfach bei allen, die uns wollen. Deshalb begreife ich nicht, dass noch Lebensmittel weggeworfen werden.

epd: Der Bundesverband der Tafeln fordert immer wieder eine Grundfinanzierung der Tafeln durch den Staat - wie stehen Sie dazu?

Werth: Ich bin grundsätzlich gegen eine staatliche Finanzierung der Tafeln als Dauerförderung. Dann sind wir wirklich die Lückenbüßer. Dann sind wir in der Pflicht: In dem Augenblick, in dem wir staatliche Gelder bekommen, müssen wir leisten. Wir haben den Tafel-Grundsatz, dass wir gespendete Lebensmittel verteilen. Wenn wir vom Staat Geld für die Versorgung von Menschen bekämen, dann müssen wir das übernehmen. Und wenn wir dann nicht genügend Lebensmittel gespendet bekommen, müssten wir zusätzliche Lebensmittel kaufen. Unser Grundsatz lautet aber: Gespendete Lebensmittel. Wir müssten also unsere Grundsätze infrage stellen und könnten die Politik dann auch nicht mehr kritisieren. Die Hand, die mich füttert, beiße ich nicht!

epd: Haben Sie denn Bedenken bei der Zusammenarbeit mit großen Konzernen, denen die Tafeln etwa die Entsorgungskosten abnehmen?

Werth: Wir haben grundsätzlich keine roten Linien beim Beziehen der Lebensmittel, solange die Firma auf der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung arbeitet. Wenn also ein Unternehmen etwa wegen des Umgangs mit dem Personal in der Kritik steht, dann muss das intern geklärt werden. Wir sind nicht die Moralapostel. Solange eine Firma nicht verurteilt worden ist, arbeiten wir mit ihr zusammen.

epd: Im vergangenen Jahr sind immer mehr Menschen zu den Ausgabestellen der Tafeln gekommen.

Werth: Vor Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 haben wir etwa 40.000 Menschen in der Woche mit Lebensmitteln über die Ausgabestellen von „Laib und Seele“ unterstützt. Heute sind es 80.000 Menschen. Diese Steigerung um 100 Prozent macht sich natürlich bemerkbar. Es gibt weniger für den Einzelnen. Wir haben ja nicht zwangsläufig mehr Lebensmittel. Im Gegenteil, zwischendurch war es richtig schlecht. Inzwischen sind wir selbst gewaltig in die Akquise gegangen und bekommen jetzt große Bestände, nicht unbedingt nur an Lebensmitteln, sondern etwa Windeln. In den Ausgabestellen verteilen wir jetzt eine bunte Mischung.

epd: Wie viele Ausgabestellen haben Sie aktuell?

Werth: Wir haben 2005 mit unseren ersten Ausgabestellen von „Laib und Seele“ begonnen. Das ist eine Aktion der Berliner Tafel, der Kirchen und des RBB. Jetzt haben wir 46 Ausgabestellen in den Kirchengemeinden. Mit drei weiteren Gemeinden verhandeln wir gerade. Wir gehen davon aus, dass wir mit 50 Ausgabestellen klarkommen. Außerdem haben wir noch acht sogenannte Pop-ups. Dort gibt es jetzt in der Notsituation einmal in der Woche Lebensmittel. Die Orte geben wir nicht bekannt. Wer in einer Ausgabestelle nichts mehr bekommt, bekommt einen Zettel mit der nächstgelegenen Pop-Up-Adresse.

epd: 2018 sorgte die Essener Tafel für Aufregung, weil angeblich Menschen mit nicht-deutschem Pass keine Lebensmittel bekommen sollten. Erleben Sie Verteilungskämpfe?

Werth: Natürlich müssen auch unsere Ausgabestellen vorübergehende Aufnahmestopps verhängen. Die beziehen sich dann aber auf alle Menschen und nicht auf einzelne Personengruppen. Zu bestimmten Zeiten werden keine neuen Kundinnen und Kunden aufgenommen. Da ist der Pass, der dahintersteckt, völlig egal. Wir verteilen alles, was wir gesammelt haben. Und wenn es alle ist, ist alle. Auch hier gilt: Wir sind nicht der Büttel des Berliner Senats. Da müssen leider unsere Ehrenamtlichen durch. Die sind dann in der Situation, den notleidenden Menschen zu erklären, dass es nichts mehr gibt.



Bayern

Zusätzliche Urlaubstage für Erzieherinnen bei evangelischer Kirche



Nürnberg (epd). Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen und Kinderpfleger im Dienst der evangelischen Kirche in Bayern erhalten ab 1. Juli Zulagen von bis zu 180 Euro im Monat und zwei zusätzliche Urlaubstage zur Regeneration. Mit dem Beschluss wolle die Kirche ihre Attraktivität als Arbeitgeber in den Sozial- und Erziehungsdiensten steigern, teilte der Vorsitzende der Fachgruppe Kirche in der Arbeitsrechtlichen Kommission (ARK), Klaus Klemm, am 13. Februar in Nürnberg mit.

Die Leistungen würden jenen des öffentlichen Dienstes entsprechen, hieß es. Zusätzlich zum regulären Urlaub von 30 Tagen haben die Beschäftigten nun die beiden Regenerationstage sowie am Buß- und Bettag, Heiligabend und Silvester frei.

Die ARK Bayern ist das oberste Tarifgremium für die evangelisch-lutherische Kirche und die Diakonie in Bayern. Nach eigenen Angaben betreffen ihre Entscheidungen rund 117.000 Mitarbeitende. Die Kommission besteht aus 16 unabhängigen Mitgliedern, Vertreterinnen und Vertretern der Mitarbeitenden im kirchlichen Dienst, der Mitarbeitenden im diakonischen Dienst, der kirchlichen Körperschaften und der Träger diakonischer Einrichtungen.



Baden-Württemberg

Wohlfahrtsverbände fordern: Ökologisch und sozial verbinden



Karlsruhe, Stuttgart (epd). Die Wohlfahrtsverbände der Kirchen in Baden-Württemberg haben anlässlich des Welttags der sozialen Gerechtigkeit am 20. Februar auf die Belastung armer Menschen durch den Klimawandel hingewiesen. In einem am 16. Februar gemeinsam veröffentlichten Appell rufen Caritas und Diakonie die Landesregierung auf, ärmere und sozial benachteiligte Menschen bei der ökologischen Wende stärker zu berücksichtigen.

„Ökologisch“ und „Sozial“ müsse „stärker zusammen gedacht“ und in dieser Verbindung im politischen Handeln berücksichtigt werden, hieß es in der Mitteilung. Menschen, die sozial benachteiligt sind, erlebten die hohen Kosten für Energie oder Mobilität als existenzielle Frage. Am Klimaschutz entscheide sich maßgeblich mit, ob sich die soziale Schieflage weiter verstärke.

Die Diakonischen Werke Baden und Württemberg und die Caritasverbände der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Erzdiözese Freiburg fordern im Detail mehr energetische Sanierungen von Sozialwohnungen und die Schaffung und Förderung von energieeffizientem Wohnraum für Menschen mit wenig Geld. Und ärmere Menschen brauchten ein Sozialticket anstelle des 49-Euro-Tickets, das für viele von ihnen immer noch zu teuer sei. Zudem müssten öffentliche Verkehrsmittel auch im ländlichen Raum schneller ausgebaut werden.




sozial-Recht

Europäischer Gerichtshof

Datenschutzbeauftragter muss unbeeinflusst arbeiten können




Beim Datenschutz in Unternehmen kann es durchaus zu Konflikten kommen, etwa, wenn der Datenschutzbeauftragte sich selbst überwachen soll.
epd-bild/Norbert Neetz
Ein betrieblicher Datenschutzbeauftragter muss sein Amt unbeeinflusst ausüben können. Ist das wegen innerbetrieblicher Interessenskonflikte nicht möglich, kann die Abberufung von seinem Posten begründet sein, urteilte der Europäische Gerichtshof.

Luxemburg (epd). Ein als betrieblicher Datenschutzbeauftragter tätiger Arbeitnehmer kann bei beruflichen Interessenskonflikten von seinem Amt abberufen werden. Ist er vom Arbeitgeber damit betraut worden, personenbezogene Daten, etwa von Kunden, zu verarbeiten oder legt er selbst den Zweck der Datenverarbeitung fest, kann das seiner neutralen Tätigkeit als Datenschutzbeauftragter entgegenstehen, urteilte am 9. Februar der Europäische Gerichtshof (EuGH). Die Abberufung von dem Posten könne dann nach EU-Recht erforderlich sein, so die Luxemburger Richter.

Nach dem Bundesdatenschutzgesetz und der EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) müssen Unternehmen einen Beauftragten vorweisen, wenn sich in der Regel mindestens 20 Mitarbeitende ständig mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten beschäftigen. Das kann etwa in einer Personalabteilung oder bei der Verarbeitung von Kundendaten der Fall sein. Arbeitgeber müssen dann einen internen oder externen Datenschutzbeauftragten beauftragen, der die Einhaltung des Datenschutzes gewährleistet.

Deutsches Recht ist restriktiver

Damit der betriebliche Datenschutzbeauftragte sein Amt auch ohne Einflussnahme ausüben kann, ist seine Abberufung nach deutschem Recht indes nur „aus wichtigem Grund“ zulässig. Das EU-Recht ist hier weniger streng.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte dem EuGH zwei Verfahren zur Prüfung vorgelegt. Im ersten Fall hatte der Kommunale Zweckverband für Informationsverarbeitung Sachsen (KISA) seinen Datenschutzbeauftragten abberufen. Denn der sei selbst mit der Verarbeitung personenbezogener Daten befasst. Es könne daher ein Interessenkonflikt bestehen, wenn er selbst seine eigene Tätigkeit überwachen müsste.

Im zweiten Fall ging es um einen Betriebsratsvorsitzenden des Halbleiterherstellers X-Fab in Dresden, der gleichzeitig Datenschutzbeauftragter der Firma war. Auf Ersuchen des für Sachsen eigentlich nicht zuständigen Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit berief der Arbeitgeber den Mann mit sofortiger Wirkung von seinem Amt ab. Begründung auch hier: Er könne als Betriebsratsvorsitzender nicht unabhängig seine Datenschutztätigkeiten ausüben.

BAG wollte Klärung vor dem Hintergrund des EU-Rechtes

Das BAG wollte nun wissen, ob EU-Recht der Abberufung der Datenschutzbeauftragten entgegensteht und wie es sich sich zum strengeren deutschen Recht verhält.

Der EuGH urteilte, dass nationale Vorschriften durchaus strengere Voraussetzungen für die Abberufung eines Datenschutzbeauftragten vorsehen dürfen. Allerdings müsse gewährleistet sein, dass dieser die in der DSGVO vorgeschriebenen Datenschutzaufgaben unabhängig erfüllen kann. Sei er neben seiner Tätigkeit als Datenschutzbeauftragter selbst im Auftrag des Arbeitgebers mit der Verarbeitung personenbezogener Daten betraut, könne in der Tat ein Interessenkonflikt vorliegen. Die Abberufung als Datenschutzbeauftragter könne dann gerechtfertigt sein.

Das nationale Gericht müsse daher alle relevanten Umstände prüfen, die einen Interessenskonflikt begründen könnten. Es müsse gewährleistet sein, dass der Datenschutzbeauftragte die für die Erfüllung seiner Aufgaben erforderliche berufliche Qualifikation besitzt und seine Aufgaben im Sinne der DSGVO erfüllt. Nach diesen Vorgaben muss nun das BAG über die zwei Verfahren entscheiden.

BAG-Urteil sichert Job

Bereits am 25. August 2022 hatte das BAG geurteilt, dass Deutschland für betriebliche Datenschutzbeauftragte einen Sonderkündigungsschutz ähnlich wie bei Betriebsratsmitgliedern vorsehen darf. Es verstoße weder gegen EU-Recht noch gegen die im Grundgesetz verankerte Berufsfreiheit, wenn Arbeitgeber einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten nicht ordentlich kündigen können, so die Erfurter Richter auf Grundlage einer vorherigen Anrufung des EuGH.

„Die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses wird dem Arbeitgeber genommen, selbst wenn der Kündigungssachverhalt nichts mit der Tätigkeit als Datenschutzbeauftragter zu tun hat“, heißt es in dem BAG-Urteil.

Das stelle zwar einen Eingriff in die Berufsfreiheit des Arbeitgebers dar. Dem stünden aber „als besonders wichtig angesehene Ziele des Datenschutzes gegenüber“. Denn „durch den Sonderkündigungsschutz wird der Datenschutzbeauftragte vor einem Arbeitsplatzverlust bewahrt, der ihm - und sei es in verschleierter Form - wegen der Ausübung seiner Tätigkeit drohen kann“.

Az.: C-560/21 (EuGH KISA)

Az.: C-453/21 (EuGH Betriebsratsvorsitzender)

Az.: 2 AZR 225/20 (Bundesarbeitsgericht Sonderkündigungsschutz)

Frank Leth


Bundesgerichtshof

Keine automatische Bedenkzeit bei OP-Einwilligung



Karlsruhe (epd). Eine nach einem ärztlichen Aufklärungsgespräch einmal vom Patienten gegebene Einwilligung zu einem medizinischen Eingriff gilt ohne Einschränkungen. Kommt es nach einer Operation zu einem Gesundheitsschaden, kann der Patient nicht beanstanden, dass der Arzt ihm nicht von sich aus eine Bedenkzeit für die Operation eingeräumt hat, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 8. Februar veröffentlichten Urteil. Das Gesetz kenne keine „Sperrfrist“, die vom Zeitpunkt der ärztlichen Aufklärung bis zur Einwilligung des Patienten für den medizinischen Eingriff einzuhalten wäre, so die Begründung.

Im verhandelten Fall litt der Kläger an chronisch wiederkehrenden Ohrenentzündungen. Der Arzt riet zu einer Operation an Nase und Nebenhöhlen. In einem Aufklärungsgespräch wurde der Mann über den Ablauf und die Risiken des Eingriffs unterrichtet - und er gab per Unterschrift unmittelbar danach seine Einwilligung zu dem Eingriff.

Schäden bei Eingriff verursacht

Doch wurde bei der Operation die äußere Hirnhaut und die vordere Hirnschlagader verletzt und ein Riechnerv durchtrennt. Der Kläger verlangte daraufhin Schadensersatz und machte unter anderem eine unzureichende Aufklärung des behandelnden Mediziners geltend.

Das Oberlandesgericht Bremen entschied noch, dass die Einwilligung des Patienten unwirksam war, da ihm nach dem Aufklärungsgespräch keine Bedenkzeit eingeräumt wurde.

Doch das ist nicht generell erforderlich, urteilte nun der BGH. Die Aufklärung müsse nach dem Gesetz „so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann“. Eine „Sperrfrist“ zwischen Aufklärungsgespräch und Einwilligung gebe es nicht, befand das Gericht.

Bedenkzeit muss ermöglicht werden

Es müsse, sofern medizinisch möglich, das Aufklärungsgespräch rechtzeitig stattfinden, damit eine Bedenkzeit möglich ist. Allerdings dürfe es für den Patienten auch keine Drucksituation vor dem Eingriff geben.

„Sieht er sich bereits nach dem Aufklärungsgespräch zu einer wohlüberlegten Entscheidung in der Lage, ist es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Wünscht er dagegen noch eine Bedenkzeit, so kann von ihm grundsätzlich erwartet werden, dass er dies gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringt und von der Erteilung einer - etwa im Anschluss an das Gespräch erbetenen - Einwilligung zunächst absieht“, heißt es in dem Urteil. Äußerten Patienten keinen Wunsch nach einer Bedenkzeit, könnten Ärzte regelmäßig davon ausgehen, dass sie auch nicht nötig sei.

Das OLG muss nun neu über den Fall entscheiden und mögliche Behandlungsfehler prüfen.

Az.: VI ZR 375/21



Bundessozialgericht

Ehepaare können auch bei Asylbewerberleistungen sparen



Kassel (epd). Eine Ehefrau muss den geringeren Sozialleistungssatz für Verheiratete auch dann hinnehmen, wenn ihr Ehemann nur niedrigere Leistungen für Asylbewerber bezieht. Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel urteilte am 15. Februar im Fall einer Frau, die seit August 2015 zusammen mit ihren vier minderjährigen Kindern Grundsicherungsleistungen bezog.

Weil der älteste Sohn Arbeitslosengeld II erhielt, stand der erwerbsgeminderten Mutter vom Jobcenter Sozialgeld zu. Als ihr Ehemann im Januar 2017 in den Haushalt einzog, zahlte das Jobcenter Berlin-Lichtenberg ihr nicht mehr Sozialgeld für Alleinstehende, sondern die um zehn Prozent abgesenkte Hilfeleistung für Paare. Konkret hatte die Frau dadurch 50 Euro im Monat weniger als zuvor. Sie wandte dagegen ein, dass ihr Ehemann bereits abgesenkte Asylbewerberleistungen erhalten habe. Mit der nun auch abgesenkten Sozialgeld-Zahlung bekämen sie weniger als ein Ehepaar, bei dem beide Partner Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II beziehen.

Ehepaare können Einsparmöglichkeiten nutzen

Die Klage hatte vor dem BSG jedoch keinen Erfolg. Weil Ehepaare aus einem gemeinsamen Topf wirtschaften könnten und so Einsparpotenziale hätten, könne der höhere Sozialgeldsatz für Alleinstehende nicht mehr beansprucht werden. Das gelte auch bei sogenannten gemischten Bedarfsgemeinschaften, bei denen unterschiedliche Sozialleistungen - hier Sozialgeld und Asylbewerberleistungen - gewährt werden.

Zwar fielen Asylbewerbergrundleistungen geringer als das Sozialgeld aus, weil darin keine Bedarfe für Freizeit und Kultur berücksichtigt werden. Dennoch bestünden Einsparpotenziale. Denn bei beiden Sozialleistungen seien die Bedarfe für Verbrauchsgüter, Energie und Telekommunikation annähernd gleich groß. Gerade hier bestehe aber die Möglichkeit, „aus einem Topf zu wirtschaften“. Der für Eheleute abgesenkte Sozialgeldsatz sei damit gerechtfertigt sei. Aus formalen Gründen verwies das BSG das Verfahren an die Vorinstanz zurück.

Az.: B 4 AS 2/22 R



Bundessozialgericht

Bei Rentenrückforderungen haften Kinder für verstorbene Eltern



Kassel (epd). Kinder müssen als Erben ihrer verstorbenen Eltern bei einer zu viel ausgezahlten Rente für Rückforderungen der Rentenversicherung haften. Allerdings darf der Rentenversicherungsträger nicht wahllos irgendein Kind zur Begleichung der Rückforderung heranziehen, urteilte am 8. Februar das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Im Streit stand die Rückforderung einer überzahlten Rente. Die Stiefmutter der Klägerin hatte 5.230 Euro zu viel an Rente erhalten. Der Rentenversicherungsträger forderte das Geld zurück. Als die Frau während des Klageverfahrens starb, sollte der Ehemann als Erbe die überzahlte Rente erstatten. Doch auch dieser starb vorzeitig, so dass die gemeinsame Tochter des verstorbenen Paares sowie die Klägerin, die Tochter des verstorbenen Vaters, dafür als Erbinnen und „Gesamtschuldner“ eintreten sollten.

Weder verwandt noch verschwägert

Die gemeinsame Tochter hatte die Hälfte der überzahlten Renten an die Rentenversicherung überwiesen. Die andere Tochter dachte aber nicht daran, für die andere Hälfte der überzahlten Rente ihrer Stiefmutter in Höhe von 2.615 Euro aufzukommen. Sie sei mit der Verstorbenen weder verwandt noch verschwägert. Sie sei allenfalls gesetzliche Erbin in Höhe von einem Viertel des Nachlasses ihres Vaters. Außerdem habe ihr verstorbener Vater ihr keinen Unterhalt gezahlt, so dass sie nicht einsehe, nun für dessen Schulden aufkommen zu müssen. Die Rentenversicherung habe daher zu Unrecht auch von ihr pauschal die Hälfte der überzahlten Rente verlangt.

Das BSG urteilte, dass Kinder als Erben ihrer verstorbenen Eltern auch für Rückforderungen der Rentenversicherung haften. Diese seien Teil des Nachlasses. Daher dürfe die Rentenversicherung nach dem Tod eines Versicherten die Erben „grundsätzlich auf Zahlung der gegen die Versicherte festgesetzten Rückforderung in Anspruch nehmen“.

Einwände der Klägerin zu wenig berücksichtigt

Hier gebe es allerdings zwei Erbinnen. In solchen Fällen habe die Rentenversicherung ein „Auswahlermessen“, von wem sie welchen Anteil verlange. Die Gründe für diese Auswahlentscheidung müssten in den Rückforderungsbescheiden deutlich werden. Die Rentenversicherung müsse im Bescheid auch auf die vom Erben vorgebrachten Gesichtspunkte eingehen, forderte das BSG.

Hier sei die Rentenversicherung nicht ausreichend auf die Einwände der Klägerin eingegangen. Sie habe sich bei der Rückforderung nur auf die Erbquoten gestützt. Das allein reiche als Begründung nicht aus. Der von der nichtehelichen Tochter angefochtene Rückforderungsbescheid sei daher rechtswidrig, urteilte das BSG.

Az.: B 5 R 2/22 R



Landessozialgericht

Volle Asylleistungen trotz passivem Widerstand gegen Abschiebung



Celle (epd). Auch nach passivem Widerstand gegen eine Abschiebung dürfen einem Flüchtling nicht ohne Weiteres Asylbewerberleistungen verwehrt werden. Scheitert die Abschiebung, weil der Flüchtling erklärt hat, dass diese gegen seinen Willen geschehe, hat er damit nicht „rechtsmissbräuchlich“ seinen Aufenthalt in Deutschland beeinflusst, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in einem am 6. Februar veröffentlichten Urteil. Gleiches gelte, wenn der Asylbewerber sich in ein offenes Kirchenasyl begeben habe, entschieden die Celler Richter.

Der aus dem Iran stammende Kläger war im Oktober 2015 über Kroatien nach Deutschland gereist. Sein Asylantrag wurde als unzulässig abgelehnt, da Kroatien sich für das Asylverfahren als zuständig erklärt hatte.

Kein richterlicher Beschluss

Als er am 25. Januar 2017 dorthin abgeschoben werden sollte, erklärte der Flüchtling gegenüber der Bundespolizei, dass er nicht fliegen werde. Da für eine Zwangsanwendung kein richterlicher Beschluss vorlag, wurde die Abschiebung abgebrochen.

Der Mann suchte schließlich Schutz in einem Kirchenasyl. Dabei hatte die Kirchengemeinde den zuständigen Ausländerbehörden den Aufenthaltsort des Flüchtlings mitgeteilt. Da die deutschen Behörden den Mann nicht fristgemäß nach Kroatien überstellen konnten, wurde Deutschland für den Mann zuständig. Er erhielt eine Duldung.

Beim Landkreis beantragte er schließlich höhere Asylbewerberleistungen auf Sozialhilfeniveau. Diese können Flüchtlinge nach einer Wartezeit von 18 Monaten beanspruchen, vorausgesetzt, sie haben die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland nicht „rechtsmissbräuchlich“ beeinflusst. Bis August 2019 galt - wie im Streitfall - noch eine Wartezeit von 15 Monaten.

Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe

Der Landkreis lehnte höhere Sozialleistungen ab. Mit dem passiven Widerstand gegen seine Abschiebung habe er seinen Aufenthalt „rechtsmissbräuchlich“ verlängert. Gleiches gelte mit der Flucht ins offene Kirchenasyl.

Doch das LSG sprach dem Kläger Sozialleistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe zu. Allein passives Verhalten und die wahrheitsgemäße Erklärung, nicht ausreisen zu wollen, sei nicht rechtsmissbräuchlich. Anders verhalte es sich, wenn er sich aktiv der Abschiebung entziehe.

Auch das offene Kirchenasyl stelle keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthalts dar. Die Behörden hätten ja, anders als bei einem Untertauchen, gewusst, wo sich der Flüchtling aufhält. Sie hätten wegen des Kirchenasyls auf eine Abschiebung verzichtet.

Az.: L 8 AY 55/21



Landgericht

Klage wegen behauptetem Impfschaden abgewiesen



Heilbronn (epd). Einer ehemaligen Pflegeheim-Mitarbeiterin steht wegen eines behaupteten Impfschadens nach zwei Covid-19-Impfungen keine Entschädigung zu. Die erste Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn habe die Klage gegen eine Impfärztin abgewiesen, teilte das Gericht am 14. Februar mit.

Die Klägerin habe in einem Pflegeheim eine Ausbildung zur Kranken- und Altenpflegerin absolviert, im Januar und Februar 2021 habe sie dort einen der neuen mRNA-Impfstoffe erhalten. Nach der zweiten Impfung wurde sie mit Verdacht auf eine Impfreaktion in einem Heilbronner Klinikum einige Tage stationär behandelt.

Klägerin sah sich nicht über Risiken aufgeklärt

Nach Ansicht der Klägerin wurde sie von der Impfärztin nicht über die Risiken der Impfung aufgeklärt. Für einen von ihr behaupteten neurologischen Dauerschaden, der auf die Impfung zurückzuführen sei, hafte daher die Beklagte. Folglich stehe ihr ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 Euro sowie der Ersatz ihres Haushaltsführungs- und Erwerbsausfallschadens zu.

Die Kammer sah es jedoch als erwiesen an, dass die Klägerin ordnungsgemäß über die Risiken aufgeklärt wurde. Sie habe ein Aufklärungsmerkblatt mit den Risiken und Nebenwirkungen erhalten und habe Gelegenheit gehabt, Fragen an die Impfärztin zu stellen. Daher habe die Klage keine Aussicht auf Erfolg. Zu der strittigen Frage, ob ein Impfschaden vorliegt, hat die Kammer daher keinen Beweis mehr erhoben.

Az.: Wo 1 O 65/22



Verwaltungsgericht

Langzeitstudentin steht kein Wohngeld zu



Berlin (epd). Bei einer überlangen Studiendauer können Studierende ihren Wohngeldanspruch verlieren. Dies gilt zumindest dann, wenn eine Studentin ihr Studium nicht ernsthaft betreibt und ihr eine reguläre Vollzeitbeschäftigung zuzumuten ist, entschied das Verwaltungsgericht Berlin in einem am 7. Februar bekanntgegebenen Urteil.

Im konkreten Fall ging es um eine Studentin, die für ein Bachelor-Studium im Studiengang Bauingenieurwesen eingeschrieben war. Sie befand sich bereits im 20. Hochschulsemester. Darin waren vier Urlaubssemester und zwei Semester eines Erststudiums enthalten. Sie hält sich mit studentischen Nebenjobs über Wasser und bezieht seit mehreren Jahren Wohngeld.

„Unangemessen und sozialwidrig“

Als die Frau die Fortzahlung des Wohngeldes beantragt hatte, lehnte das Bezirksamt Berlin-Zehlendorf dies nun ab. Zu Recht, befand das Verwaltungsgericht. Wohngeld dürfe nicht gewährt werden, wenn dies „unangemessen und sozialwidrig“ sei und in diesem Zusammenhang gegen das „Gebot einer sparsamen und effektiven Verwendung staatlicher Mittel“ verstoßen werde. So könne von einer erwerbsfähigen Person erwartet werden, dass sie eine zumutbare Arbeitstätigkeit aufnimmt.

Die Klägerin habe ihr Studium nicht mehr ernsthaft betrieben. Sie habe sich im Zweitstudium im 14. Fachsemester und damit mehr als dem Doppelten der Regelstudienzeit befunden. Auch habe sie nur etwas mehr als die Hälfte aller erforderlichen Klausuren bestanden. Der Wohngeldantrag sei wegen der überlangen Studiendauer daher als „missbräuchlich“ anzusehen. Eine Verdoppelung der Regelstudienzeit wegen behaupteter studentischer Nebentätigkeit komme ebenso wenig in Betracht wie eine Herausrechnung von vier „Corona-Semestern“. Der Frau sei eine Vollzeitbeschäftigung zuzumuten, um eine Wohngeldzahlung zu vermeiden.

Az.: VG 21 K 144/22




sozial-Köpfe

Diakonie

Tanja Sappok neue Klinikdirektorin für inklusive Medizin in Bethel




Tanja Sappok
epd-bild/privat
Die Neurologin Tanja Sappok (52) ist als neue Klinikdirektorin im Krankenhaus Mara in Bielefeld-Bethel begrüßt worden. Sie ist die bundesweit einzige Professorin für Medizin für Menschen mit Behinderung und lehrt an der Universität Bielefeld.

Bielefeld (epd). Tanja Sappok sagte zu ihrem Amtsanritt, das deutsche Gesundheitssystem sei alles andere als inklusiv. Normalerweise müssten sich die Menschen an dieses System anpassen. „Im Krankenhaus Mara passen wir uns den Bedarfen der Menschen mit Behinderung an“, sagte die Fachärztin laut einer Mitteilung vom 10. Februar. Mit ihrer Berufung stehe nun die Medizin für Menschen mit Behinderung ganz weit oben auf dem Lehrplan angehender Ärztinnen und Ärzte, hieß es.

Sappok war zuvor im Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefärztin des Behandlungszentrums für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen gewesen. Im Juni 2022 war sie zur Universitätsprofessorin der neuen Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld berufen worden - ein Novum in ganz Deutschland.

Teilhabe und die Medizin für Menschen mit Beeinträchtigungen seien Forschungsschwerpunkte der medizinischen Fakultät an der Universität Bielefeld, so die neue Direktorin. Ihr Ziel sei es, von Anfang an für die Behandlung von Menschen mit kognitiver oder schwerer Mehrfachbehinderung zu sensibilisieren, erklärte Sappok. Bei der Lehre wolle sie Menschen mit Behinderung direkt einbeziehen.

Der Vorsitzende Geschäftsführer des Krankenhauses Mara, Matthias Ernst, würdigte die Neubesetzung als einen „wegweisender Meilenstein“ für das Krankenhaus Mara, das Evangelische Klinikum Bethel und die gesamten v. Bodelschwinghschen Stiftungen. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und Aufsichtsratsvorsitzender des Klinikums, Rainer Norden, erklärte, Sappok entspreche mit ihrer Kompetenz „voll und ganz dem, was sich die Medizinische Fakultät der Universität Bielefeld auf ihre Fahne geschrieben hat“.

Das Bethel-Krankenhaus Mara in Bielefeld ist gemeinsam mit seinem Verbundkrankenhaus, dem Evangelischen Klinikum Bethel, Teil des Universitätsklinikums OWL. Schwerpunkte sind die Epileptologie und die Behindertenmedizin. Weitere Träger des Universitätsklinikums sind das Klinikum Bielefeld und das Klinikum Lippe.



Weitere Personalien



Shari und André Dietz erhalten in diesem Jahr den Medienpreis „Bobby“ der Lebenshilfe. Das aus den Medien bekannte Ehepaar hat eine Tochter mit Angelman-Syndrom. Das Paar bringt laut Lebenshilfe ihr Familienleben mit einem Kind mit komplexer Behinderung einem großen Publikum nahe und macht so anderen Menschen Mut. Mit ihrem Buch „Alles Liebe. Familienleben mit einem Gendefekt“ gewähren Shari und André Dietz einen Einblick in den Alltag und den damit verbundenen Herausforderungen. Ihre neun Jahre alte Tochter Mari braucht rund um die Uhr Unterstützung. Die undotierte Auszeichnung soll am 29. September in Marburg überreicht werden.

Rainer Schmidt (57) wird Anfang April neuer theologischer Vorstand der Diakonie Michaelshoven. Der Pfarrer hat die letzten Jahre als freiberuflicher Referent und Moderator gearbeitet. Von 2005 bis 2015 war Schmidt Dozent am Pädagogisch-Theologischen Institut in Bonn. Schmidt hat einen Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt und Evangelische Theologie in Wuppertal und Heidelberg studiert. Nach dem Studium war er als Vikar in Köln-Stammheim und Pfarrer in Schildgen tätig. Er ist ehrenamtliches Mitglied im Kuratorium der Diakonie Michaelshoven und seit 2012 Fair Play Botschafter des Bundesinnenministeriums.

Oliver Klose ist neuer Pressesprecher des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Der BAG-Richter und bisherige stellvertretende Pressesprecher trat die Nachfolge von Stephanie Rachor, Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht (BAG), an. Stellvertretende Pressesprecherin ist nun die BAG-Richterin Saskia Klug.

Rebecca Neuburger-Hees (42) verstärkt die seit Jahresbeginn die Geschäftsführung der Lebenshilfe Gießen. Die promovierte Pädagogin ist seit 2010 für die Lebenshilfe Gießen tätig. Vor rund zehn Jahren hat sie dort die Leitung des Bereichs Kindertagesstätten und Kinder- und Familienzentren übernommen, die sie zunächst beibehalten wird. Neuburger-Hees soll perspektivisch die Geschäftsführung für den Bereich Personal- und Organisationsentwicklung von Ursel Seifert übernehmen, die Ende des Jahres 2023 in den Ruhestand gehen wird. Der Geschäftsführung gehören zudem der Vorsitzende Dirk Oßwald sowie Linda Hauk an.

Sebastian Spottke (39) ist neuer Vorsitzende der Geschäftsführung der Marienhaus-Gruppe mit Sitz in Waldbreitbach. Er tritt die Nachfolge von Jochen Messemer an, der aus gesundheitlichen Gründen im Januar seine Tätigkeit beendet hat. Spottke ist seit 2005 bei der Marienhaus-Gruppe tätig und trägt in der Geschäftsführung bereits die Verantwortung für die Bereiche Personal, Recht, Bildung, Hospize und Kinder- und Jugendhilfe. Neu in die Geschäftsführung berufen wurden Sabine Anspach (41), Alexander Schuhler (52) und Christoph Wagner (54). Anspach verantwortet den Geschäftsbereich Kliniken, Silvia Kühlem bleibt Teil des Führungsteams und wird weiterhin den Finanzbereich verantworten. Schuhler ist die Altenhilfe zuständig, Wagner für die Dienstleistungssparte.

Hanna-Lena Neuser (42) ist neue Direktorin der Evangelischen Akademie Frankfurt. Sie hatte das Haus zwei Jahre übergangsweise geleitet, nachdem Thorsten Latzel seinen Posten als Akademiedirektor im März 2021 aufgegeben hatte, um Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland zu werden. Neuser ist Politik- und Erziehungswissenschaftlerin. Ihr Vertrag läuft bis 2026. Sie stammt gebürtig aus Frankfurt am Main. Sie ist seit November 2015 an der Evangelischen Akademie beschäftigt, wo sie das Nachwuchsprogramm Junge Akademie für 18- bis 30-Jährige aufbaute. Zuvor war sie unter anderem Studienleiterin des Jungen Forums an der Evangelischen Akademie Tutzing sowie Studienmanagerin an der Bayerischen Akademie für Werbung und Marketing.

Andrea Sawatzki, Schauspielerin und Autorin, hat die Schirmherrschaft der Deutschen Alzheimer Gesellschaft übernommen. Welche Herausforderungen auf Familien zukommen, wenn ein Elternteil an einer Demenz erkrankt, weiß Sawatzki aus eigener Erfahrung. In ihrem 2022 veröffentlichten autofiktionalen Roman „Brunnenstraße“ hat sie darüber geschrieben, wie sie als Kind die Alzheimer-Erkrankung ihres Vaters erlebt hat. Sie wolle dazu beitragen, das Thema noch stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. Vorsitzende Monika Kaus sprach von einem „großartigen Zeichen der Solidarität.“ In Deutschland leben heute etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Rund zwei Drittel davon werden in der häuslichen Umgebung von Angehörigen betreut und gepflegt.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Februar

21.2. Hamburg:

Fachtagung „Qualifikationsmix neu denken: Aufgabenumverteilung im Gesundheitswesen“

des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege

Tel: 030/83001-277

24.2.:

Online-Seminar „Aktuelle Auswirkungen des Urteils zum Verfall von Urlaubstagen“

der Verlag Dashöfer GmbH

Tel.: 040/413321-0

27.-28.2.:

Online-Seminar „Den Menschen im Blick. Kompetenzen gegen Diskriminierung im Alltag und Beruf“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

März

1.3.:

Online-Fortbildung „Soziale Arbeit über Grenzen hinweg - Kinderschutzfälle mit Auslandsbezug und grenzüberschreitende Unterbringung“

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980605

1.-2.3.:

Online-Seminar: „Change-Management für Führungskräfte - mit positiver Führung Veränderungen erfolgreich begleiten“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030275828215

2.-3.3.:

Online-Seminar „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

2.3. München:

Seminar „So sichern Krankenhäuser ihre Erlöse“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 089/480080

2.-9.3.:

Online-Kurs „Digitale Öffentlichkeitsarbeit und Social Media für soziale Einrichtungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

13.-15.3. Berlin:

Fortbildung „Erfolgreiche Lobbyarbeit im politischen Raum“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200 1700

15.3. München:

Seminar „Neues vom Bundesarbeitsgericht“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 089/24220

17.-19.3.:

Online-Seminar „Konflikte souverän online beraten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-170

22.-23.3. Essen:

Seminar „Psychiatrische Krankheitsbilder - Grundlagen“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-476

23.3. Freiburg:

Seminar „Die Änderung und Beendigung von Arbeitsverhältnissen“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0761/38510

23.3. Berlin:

Seminar „Asyl- und Aufenthaltsrecht für junge Geflüchtete“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

23.-24.3.:

Digital-Seminar „Handlungsfelder für eine zukunftsorientierte kommunale Wohnungspolitik“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980 419

27.3.:

Online-Seminar „Flucht und Behinderung - Rechtliche Möglichkeiten in der Flüchtlings- und Behindertenhilfe“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

30.-31.3. Berlin:

Seminar „Grundlagen der Sprachmittlung in der Sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen - Verständigungshindernisse professionell überwinden“

der Fortbildungsakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-476