

Berlin (epd). Claudia Engelmann verweist im Interview zudem auf ein grundlegendes Problem: Es fehle an bundesweiten Daten über die Zahl der Räumungen: „Leider wissen wir insgesamt sehr wenig über das Thema.“ Teilweise würden zwar Zahlen erhoben, aber nicht flächendeckend über tatsächlich vollzogene Räumungen. Auch lägen nicht für alle Bundesländer Daten vor, beklagt die stellvertretende Abteilungsleiterin für Menschenrechtspolitik Inland/Europa. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Die Vermutung liegt nahe, dass in Zeiten von Inflation und hohen Energiepreisen die Zahl der Zwangsräumung von Wohnungen zunimmt. Doch es fehlt an belastbaren Daten. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Claudia Engelmann: Gerade erst haben Beratungsstellen berichtet, dass die steigenden Energiepreise viele Menschen in Existenznöte bringen. Laut Angaben der Caritas suchen aktuell viele Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal in ihrem Leben eine Sozial- oder Schuldnerberatung auf. Die Gefahr, dass mehr Menschen ihre Wohnung verlieren werden, ist also real.
epd: Gibt es Zahlen, die zeigen, wie viele Betroffene von Räumungen tatsächlich anschließend wohnungslos sind?
Engelmann: Nein, leider wissen wir insgesamt sehr wenig über das Thema: Wie viele Menschen sind jedes Jahr tatsächlich von Räumungen betroffen? Wie viele Familien, wie viele Kinder? Was passiert mit den Menschen danach? Auf all diese Fragen findet man keine Antworten. Teilweise werden zwar Zahlen erhoben, etwa die angeordneten Räumungen, aber nicht flächendeckend die tatsächlich vollzogenen Räumungen. Auch liegen nicht für alle Bundesländer Daten vor. Weil Räumungen einen massiven Eingriff in die Grund- und Menschenrechte der Betroffenen bedeuten, braucht es hier dringend mehr Transparenz und mehr Forschung, um die Datenlücken zu schließen.
epd: Es gibt auch keine klare Definition, welches Schicksal sich an eine Räumung anschließt.
Engelmann: Ja, denn wohnungslos zu sein, kann vieles bedeuten: Die Menschen schlafen erstmal bei Freunden oder Bekannten auf dem Sofa, sie müssen vorübergehend in einer Notunterkunft leben oder im Auto oder auf der Straße. Aus der Wohnungslosenstatistik des Bundes wissen wir immerhin, dass das im vergangenenJahr rund 262.600 Menschen in Deutschland betraf. Gründe sind nicht nur Mietschulden, sondern auch Trennungen von Paaren oder der Fakt, dass Menschen teilweise direkt aus der Jugendhilfe, der Haftanstalt oder dem Krankenhaus auf die Straße entlassen werden.
epd: Sie beklagen, dass es vom Staat etliche finanzielle Hilfen gibt, um auch Schulden bei Miete und Energiekosten zu verhindern. Doch die sind oft noch nicht bei den Betroffenen angekommen. Was hätte aus Ihrer Sicht anders, also besser gemacht werden müssen?
Engelmann: Zunächst die Feststellung: Die Energiepauschale und auch die Wohngeldreform sind definitiv zu begrüßen. Allerdings dauert es viel zu lange, bis das Geld bei den Empfängern ankommt.
epd: Was sind die Gründe?
Engelmann: Die sind vielfältig. Die zuständigen Ämter arbeiten am Limit. Und viele Menschen wissen nach wie vor nicht, dass sie antragsberechtigt wären. Letztlich ist aber auch die Wohngeldreform nur ein Rumdoktern an den Fehlern des Systems. Bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und den bestehenden Wohnraum bezahlbar zu halten, dazu ist der Staat rechtlich verpflichtet, unter anderem durch die Ratifikation des UN-Sozialpakts. Der Überprüfungsausschuss zu diesem Vertrag hat Deutschland schon 2018 dafür kritisiert, dass es zu wenig Anstrengungen gibt, bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen. Hier muss dringend etwas passieren.
epd: Kommen wir noch mal auf die Zwangsräumungen zurück. Laut Koalitionsvertrag soll der Kündigungsschutz ausgeweitet werden. Das hilft den derzeit Betroffenen mit Mietschulden kaum weiter. Was muss sofort geregelt werden?
Engelmann: Es braucht unbedingt ein Kündigungsmoratorium. Niemand sollte wegen Miet- oder Energieschulden seine Wohnung verlieren müssen. Einige Bundesländer haben Härtefallfonds aufgelegt. Aber auch das ist eine kurzfristige Lösung. Mittelfristig brauchen wir für Menschen mit Mietschulden auskömmlich und langfristig finanzierte Beratungsstrukturen vor Ort. In der Praxis hat sich das Modell einer Fachstelle bewährt. In der werden alle kommunalen Wohnungsnotfallhilfen gebündelt, etwa Mietschuldenübernahme, präventive Beratung, Notunterbringung und dauerhafte Wohnungsversorgung. So bekommen die Menschen rechtzeitig die Unterstützung, die sie brauchen, um eine Räumung vielleicht noch abzuwenden. Die Kommunen sollten rasch in solche Fachstellen investieren.
epd: Blicken wir auf die Praxis: Laut UN-Sozialpakt sind Zwangsräumungen nur möglich, wenn etliche Kriterien erfüllt sind. Würden die alle eingehalten, dann wären Räumungen fast unmöglich. Doch die Praxis sieht anders aus. Was hören Sie aus den Beratungsstellen?
Engelmann: Aus der Beratungspraxis und aus Studien wissen wir, dass die Prävention vielerorts nicht funktioniert. Wenn ein Wohnungsnotfall eintritt, also etwa Menschen die Räumung direkt bevorsteht, greifen vielerorts die Unterstützungsstrukturen nicht ausreichend. Vor Ort gibt es ja teilweise Stellen, etwa das Jobcenter, das Sozialamt, und die Beratungsstellen, die bei drohender Wohnungslosigkeit die Räumung noch abwenden können. Aber diese Stellen erfahren häufig gar nicht oder zu spät von der Räumung. Der Grund ist, dass der Infofluss vom Amtsgericht über anhängige Räumungen oder vom Gerichtsvollzieher über anstehende Räumungstermine zu ihnen nicht funktioniert. Und dann müssen die Menschen ihre Wohnung verlassen, obwohl das mit rechtzeitiger Unterstützung hätte verhindert werden können. Diese eigentlich sehr simple Erkenntnis ist schwer zu ertragen. Denn wer einmal wohnungslos ist, hat es in Deutschland unglaublich schwer, wieder eine Wohnung zu finden.