sozial-Editorial

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Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

unzählige Familien und Bürgerinnen und Bürger mit wenig Geld suchen unter Hochdruck nach einer größeren und zugleich bezahlbaren Wohnung. Doch die zu finden, ist wie ein Sechser im Lotto - zumindest in größeren Städten. Pat Christ hat sich in Bayern umgehört - und viel Frust und Wut erlebt. Die Mietpreise bringen auch Hartz-IV-Bezieher in große Bedrängnis. Denn das Jobcenter übernimmt nur „angemessene“ Unterkunftskosten. „Das bedeutet: Hartz-IV-Empfänger müssen vom Existenzminimum oft noch etwas für die Miete abzwacken“, sagt Bernd Eckhardt, Sozialberater im Ökumenischen Arbeitslosenzentrum Nürnberg.

400.000 Ehrenamtler haben seit 2011 den Bundesfreiwilligendienst durchlaufen. Nach anfänglicher Skepsis der Sozialverbände gibt es heute nur noch Kritik an Details zu dessen Weiterentwicklung. Auch in der Pandemie ist das Interesse an dem Dienst ungebrochen. Zwar ist er grundsätzlich auch für Ältere offen, doch die Zahlen zeigen: Der ganz überwiegende Teil der Absolventen ist jünger als 27 Jahre - eine Bestandsaufnahme.

Die Euthanasie in der NS-Zeit ist und bleibt ein finsteres Kapitel, auch für die Kirchen, aus deren Einrichtungen heraus das Morden geschah. Die Johannes-Diakonie in Mosbach stellt sich ihrer Geschichte auf eine neue Art. Mit einem Gedenkpfad erinnert der Träger stellvertretend für andere Opfer an die ermordete Maria Zeitler.

Krankenhäuser haben nach einem Gerichtsurteil eine besondere Beratungspflicht. Sie müssen bei einer drohenden Pflegebedürftigkeit eines Patienten frühzeitig über einen möglichen Anspruch von Pflegeleistungen aufklären. Dabei geht es auch um Pflegegeld. Unterbleibt die Information, so bestehen rückwirkende Ansprüche auf Zahlung vom Eintritt der Pflegebedürftigkeit an.

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Dirk Baas





sozial-Politik

Wohnen

Zu fünft in zwei Zimmern




Sozialarbeiterin Vera Skruzny vom Würzburger Sozialkaufhaus "Brauchbar" im Gespräch mit Mohammad B..
epd-bild/Pat Christ
Der Immobilienmarkt boomt. Und es wird viel gebaut. Doch noch immer fehlen Wohnungen für Menschen mit wenig Geld. Über die zermürbende Suche nach einer größeren Wohnung und Frust und Wut, die sich dabei unweigerlich anstauen.

Frankfurt a.M. (epd). In manchen Momenten scheint es ihr zwecklos, noch länger zu suchen: Auf mehr als 20 Wohnungen hat sich Gitta Namborg (Name geändert) seit September 2020 beworben. Es hagelt Absagen. „Das frustriert mich “, sagt die 42-Jährige aus dem Landkreis Würzburg. Gitta Namborg will mit Partner und Tochter umziehen, um näher an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Sie fährt eine halbe Stunde mit dem Zug zum Job. Aber oft hat die Bahn Verspätung. Manchmal fährt sie auch gar nicht: „Zum Beispiel, wenn Äste auf den Schienen liegen.“

Der Immobilienmarkt boomt. Es wird viel gebaut. Doch zu wenig für Menschen mit wenig Geld. Das erfahren auch Gitta Namborg und ihr Partner. Er arbeitet 35 Stunden in der Woche in der Reinigungsbranche. Sie hat einen Ein-Euro-Job im Sozialkaufhaus „Brauchbar“. Die dreiköpfige Familie bezieht als „Aufstocker“ Hartz IV. Das bedeutet für sie: Das Jobcenter übernimmt die Miete nur, wenn die Wohnung nicht mehr als 800 Euro kostet. Freie Drei-Zimmer-Wohnungen für diesen Mietpreis gibt es in Würzburg aber kaum, sagt Vera Skruzny, Sozialarbeiterin im Sozialkaufhaus „Brauchbar“, die Gitta Namborg unterstützt.

Enge ist oft nicht auszuhalten

Eine Wohnung zu finden, das ist ein dringendes Anliegen vieler „Brauchbar“-Mitarbeiter, die sich an Vera Skruzny wenden. Die Sozialarbeiterin hilft auch Mohammad B.. Der 49-jährige Syrer lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Im Februar 2020 kam seine Familie nach. Seitdem wohnt er mit seiner Frau und seinen drei zehn, elf und zwölf Jahre alten Kindern in zwei Zimmern einer Flüchtlingsunterkunft. Ohne Küche und ohne eigenes Bad. Die Enge ist an manchen Tagen schier nicht auszuhalten. Besonders fertig macht Mohammad B. der Lärm im Haus: „Es ist laut, immer laut und immer schmutzig.“ Mehr als 25 Mal bewarb sich der Syrer mittlerweile auf eine Wohnung.

Dass er immer noch keine Wohnung bekommen hat, macht ihn an manchen Tagen richtig wütend. Mohammad B., der einen sicheren Aufenthaltsstatus hat, will sich integrieren. Deshalb nahm er einen Ein-Euro-Job im Sozialkaufhaus an. Dass es jedes Mal, wenn er sich auf eine Wohnung bewirbt, am Ende: „Nein“ heißt, kann er nicht verstehen. Immerhin erhielt er kürzlich ein erstes Angebot von der Stadt, die ihn, der einen Wohnberechtigungsschein hat, ganz oben auf die Prioritätenliste der bei ihr registrierten Wohnungssuchenden setzte.

Ob in Würzburg, Bamberg oder Nürnberg, ob in Bayern oder Nordrhein-Westfalen: Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum treibt die Menschen um. Wobei die Problematik in Bayern besonders groß ist. Laut der Bundestagsfraktion der Linken liegen von den aktuell zehn teuersten Kommunen sieben im Freistaat: Es sind die Städte München und Erlangen sowie die Landkreise München, Dachau, Ebersberg, Fürstenfeldbruck und Starnberg. Überall rangieren die Mieten hier weit über dem Durchschnitt. In München kostet der Quadratmeter derzeit 18,60 Euro. Damit liegt der Mietpreis rund 230 Prozent über dem bundesdeutschen Mittel.

Studie: 1,5 Millionen Wohnungen fehlen

Dass dringend etwas gegen die Wohnungsnot unternommen werden muss, geht aus einer soeben veröffentlichten Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung hervor. Demnach fehlen bundesweit mehr als 1,5 Millionen „leistbare und angemessene“ Wohnungen.

Längst sind nicht nur die Düsseldorfer oder die Münchner City teure Pflaster. Überall wird von Vermieterseite zugegriffen. Mehr als jeder vierte Haushalt in den 77 deutschen Großstädten muss der Studie zufolge 40 Prozent seines Einkommens für Wohnkosten aufwenden. Das betreffe knapp 3,1 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Zwölf Prozent oder fast eine Million Haushalte geben sogar mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aus. Bei Experten gilt eine Mietbelastungsquote oberhalb von 30 Prozent des Haushaltseinkommens als problematisch.

Die Wohnungsnot ist eine tickende Zeitbombe in den Augen von Sozialwissenschaftlern. Gelöst werden kann sie nur mehrgleisig, sagt der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm, der an der Studie mitgearbeitet hat. Es brauche bessere mietrechtliche Instrumente. Die Belegungsbindung für Haushalte mit geringen Einkommen müsste ausgebaut werden. Der soziale und gemeinnützige Wohnungsbau ist Holm zufolge mit möglichst dauerhaften Mietbindungen zu stärken. Vor allem aber müsste die Einkommenssituation der Mieterinnen und Mieter verbessert werden. Holm wünscht sich deshalb die Auflösung des weit verbreiteten Niedriglohnsektors.

Mehr Geld für sozialen Wohnungsbau gefordert

Für die Deckung des Wohnraumbedarfs setzt sich auch die Bundesstiftung Baukultur (Potsdam) ein. „Wir brauchen viel mehr durch städtische Wohnungsunternehmen oder gemeinwohlorientierte Genossenschaften getragenen sozialen Wohnungsbau“, sagt Vorstand Reiner Nagel. Das Leben in Kleinstädten und auf dem Land sollten auch als Chance begriffen werden: „für leistbares Wohnen, neues Arbeiten und lokale Nachbarschaften“.

Dass es nur Menschen, die ein sehr gutes Salär beziehen, leicht auf dem Wohnungsmarkt haben, treibt das Bündnis „Soziales Wohnen“ um. Alleinerziehende, Behinderte, Asylsuchende oder auch ehemalige Strafgefangene würden stärker als je zuvor ausgegrenzt. Das Bündnis, dem unter anderen die Caritas, der Deutsche Mieterbund und die Gewerkschaft IG BAU angehören, fordert 6,3 Milliarden Euro pro Jahr für den sozialen Mietwohnungsbau für mindestens zehn Jahre.

Pat Christ


Wohnen

Experte: Die Miete wird vom Mund abgespart



Nürnberg (epd). Die Mietpreise können Hartz-IV-Bezieher laut Sozialexperten in große Bedrängnis bringen. Denn das Jobcenter übernimmt gemäß dem Gesetz nur „angemessene“ Unterkunftskosten. „Das bedeutet: Hartz-IV-Empfänger müssen vom Existenzminimum oft noch etwas für die Miete abzwacken“, sagte Bernd Eckhardt, Sozialberater im Ökumenischen Arbeitslosenzentrum Nürnberg, dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Viele Hartz-IV-Empfänger schaffen es laut Eckhardt nicht, eine Wohnung zu finden, die sich in den Preisgrenzen des „Angemessenen“ bewegt. Darum zahlen sie von dem Geld, das ohnehin oft kaum zum Leben reicht, auch noch einen Betrag für die Miete. Bundesweit legt Eckhardt zufolge jeder fünfte Hartz-IV-Haushalt bei der Miete drauf.

Im Schnitt würden fast 1.000 Euro pro Jahr an Mietkosten zugezahlt. In Berlin sind es rund 1.600 Euro. „Die Betroffenen sparen sich das vom Mund ab“, sagt Eckhardt.

Durch seine Beratungsarbeit im Arbeitslosenzentrum Nürnberg wisse er: „Das kommt täglich vor.“ Sich rechtlich dagegen zu wehren, dass vom Existenzminimum etwas abgeknapst werden muss, um die Miete zu zahlen, sei sehr schwierig: „Die meisten nehmen es schließlich hin.“

„Wohnen ist ein Menschenrecht“

Eckhardt kritisiert, dass in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht auf eine Wohnung nicht verankert wurde. „Dabei ist Wohnen ein Menschenrecht“, sagt der kirchliche Sozialberater. Gerade Deutschland hinke bei der Verwirklichung dieses Rechts hinterher.

Wenn alle Bemühungen um eine bezahlbare Wohnung im Sande verlaufen und die Hoffnung schwindet, jemals fündig zu werden, löse das höchst ungute Gefühle aus. Besonders brisant ist für Eckhardt, dass viele Bezieher von Hartz IV gleich mehrfach Ablehnung und Ausgrenzung erfahren: „Sie sind sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei der Wohnungssuche benachteiligt.“

Schuld an dieser Situation sei nicht zuletzt, dass der Bestand an Sozialwohnungen zwischen 2007 und 2019 von zwei auf 1,4 Millionen gesunken sei. Die Politiker hätten das Problem des fehlenden bezahlbaren Wohnraum „lange verschleppt oder bewusst ignoriert“, sagt Eckhardt.



Wohnen

Keine Entlastung für Mieter beim CO2-Preis



Berlin (epd). Die Bundesregierung konnte sich über die im Mai von Union und SPD in Aussicht gestellte und anschließend von der Unionsfraktion gekippte hälftige Aufteilung der CO2-Kosten auf Vermieter und Mieter nicht einigen. Es bleibt dabei, dass die Mieter den CO2-Zuschlag auf die Heizkosten allein zahlen, wie die Regierungsfraktionen am 23. Juni in Berlin mitteilten.

Der Paritätische Gesamtverband und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) kritisierten das Scheitern eines Kompromisses. Die Koalitions-Beschlüsse zur Energiepolitik hätten eine soziale Schieflage: Keine Entlastung von Mietern, wohl aber sei eine Entlastung von Unternehmen geplant, die durch den CO2-Preis stark benachteiligt würden. „Das ist klimaschädlich und unsozial“, erklärte der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt. Der Linksfraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch sprach von „einer Ohrfeige“ für Mieter und Mieterinnen.

Seit Beginn des Jahres sind in Deutschland 25 Euro pro ausgestoßener Tonne CO2 zu zahlen. Dieser Preis soll jährlich steigen und 2025 bis zu 55 Euro betragen. Als Maßnahme „zur Vermeidung von Carbon-Leakage“ durch den nationalen Emissionshandel soll laut der aktuellen Koalitionsvereinbarung der Staat einen Teil dieser Zusatzkosten für Unternehmen ausgleichen, damit die Firmen nicht ins Ausland gehen.



Wohnen

Firmen-Chef: Wir nehmen von früheren Hausbesitzern faire Mieten




Unternehmer Henryk Seeger
epd-bild/GNIW
Ein Berliner Unternehmen kauft Häuser und Wohnungen von Ruheständlern, die ihre Rente aufstocken wollen oder müssen. Aber: Sie bleiben in ihren Immobilien wohnen und zahlen eine faire Miete. Wie das funktioniert und wo die Vorteile liegen, verrät Gründer Henryk Seeger im Interview mit dem epd.

Berlin (epd). Ruheständlern, die mit dem Verkauf ihres Eigenheims die Rente aufstocken wollen, werden nach der Erfahrung des Immobilienmanagers Henryk Seeger oft fragwürdige Angebote gemacht. „Deshalb habe ich ein Unternehmen gegründet, dem Eigenheimbesitzerinnen und -besitzer ihre Immobilie zum Marktpreis verkaufen können. Und gleichzeitig können sie darin zu einem fairen Mietpreis bis zu ihrem Lebensende wohnen“, sagte Seeger dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die von ihm 2018 gegründete Gesellschaft für Nachhaltige Immobilienwirtschaft (GNIW) habe auch schon Menschen in einer finanziellen Notlage vor einer Zwangsversteigerung ihres Hauses bewahrt.

Der 39-jährige Berliner bezeichnete das Wirken seines Unternehmens als nachhaltig, weil es auf den Werten Transparenz, Fairness und Vertrauen beruhe. „Unsere Kunden bekommen durch die Auszahlung des vollen Verkaufspreises ihres Eigenheims neue finanzielle Spielräume, bei gleichzeitiger Sicherheit bezüglich ihrer Wohnsituation.“ Seeger nimmt ein „steigendes Interesse am GNIW-Geschäftsmodell des Rückmietverkaufs als Alternative zu Modellen wie Leibrente und Teilverkauf wahr“.

Haus verkaufen und trotzdem weiter dort wohnen

Den Anstoß, GNIW zu gründen, gaben auch Erfahrungen im privaten Umfeld, berichtet der Immobilienmanager: Zwei über 80-jährige Tanten mit jeweils einer eigenen Immobilie wollten mehr Geld zur Verfügung haben, ohne aber nach dem Verkauf ihres Eigenheims ausziehen zu müssen. Daraufhin habe er sich mit verschiedenen Konzepten zur Immobilienverrentung beschäftigt und „recht schnell gemerkt“, dass viele Anbieter am Markt nicht fair mit ihren Kunden umgehen. „So gründete ich schließlich die GNIW.“ Ziel des Unternehmens sei, Senioren Sicherheit und Flexibilität zu bieten und zugleich rentabel zu sein.

Das Haus an seine Firma zu verkaufen und als Mieter darin wohnen zu bleiben, könne sich für Menschen lohnen, die eine größere Geldsumme benötigen und keine Erben für ihre Immobilie haben, beschreibt Seeger den Kundenkreis. „Ihnen wird der volle Kaufpreis auf ihr Konto ausgezahlt, während sie jederzeit die Möglichkeit haben, aus der Immobilie auszuziehen.“ Sie könnten zum Beispiel einen Teil des ausgezahlten Geldes sparen, um für eine mögliche Pflegebedürftigkeit vorzusorgen.

Millionen investiert

Das Berliner Immobilienunternehmen beschäftigt nach eigenen Angaben zwölf Mitarbeiter. Es investiere pro Monat bundesweit zwischen zwei und vier Millionen Euro in den Kauf von Immobilien.

Firmenchef Henryk Seeger erlangte größere Bekanntheit durch die von ihm mitbegründete gemeinnützige Initiative „Deutschland rundet auf“. Hier können Kunden im Einzelhandel den Betrag an der Kasse um bis zu zehn Cent aufrunden und damit Projekte für sozial benachteiligte Kinder unterstützen.

Markus Jantzer


Gesundheit

Expertentagung: Ende des Schreckens bei Corona in Sicht




Mit den vermehrten Impfungen werden auch die Corona-Regeln gelockert
epd-bild/Tim Wegner
In der Corona-Krise sehen Gesundheitsexperten einen kräftigen Silberstreif am Horizont, jedoch noch keine Entwarnung. Zuversicht und Vorsicht müssten die Devise sein, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn in der Evangelischen Akademie Tutzing.

Tutzing (epd). Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach haben sich zuversichtlich über ein weiteres Abklingen der Corona-Pandemie geäußert. Voraussichtlich werde es nur noch eine kleine Corona-Welle geben, bei der sich die aggressivere Delta-Variante durchsetzen werde, sagten beide am 19. Juni bei einer Online-Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing. Spahn sagte, er gehe davon aus, dass auch diese Mutation durch niedrige Inzidenz-Werte eingedämmt werden könne. Denn bei einer geringen Größenordnung könnten die Infektionsketten durchbrochen werden.

Für die Schulen mahnte der Gesundheitsminister weiterhin zur Vorsicht. Denn diese könnten Drehscheiben für die Viren hinein in andere Haushalte sein, sagte er bei der Tagung des Politischen Clubs der Akademie. Auch nach den Sommerferien sollten die deshalb Schülerinnen und Schüler noch Masken im Unterricht tragen.

Chancen durch Ausbau der Digitalisierung

Eine Konsequenz aus der Corona-Krise müssten ein Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen und eine bessere Bevorratung mit nötigen medizinischen Hilfsmitteln sein, sagte Spahn. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und in der Verwaltung sei vor der Pandemie auf dem Stand der 90-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen, immerhin seien inzwischen die Faxgeräte aus den Gesundheitsämtern verschwunden.

Ein neues digitales Intensivregister mache einen schnellen Überblick möglich, wie viele Intensivbetten jeweils zur Verfügung stehen. Es fehle jedoch immer noch ein Kommunikationskanal des Bundes, mit dem alle Bürgerinnen und Bürger rasch und einfach informiert werden können, betonte er. Deshalb hätten noch Coupons für Masken verschickt werden müssen - mit einem aufgedruckten Bundesadler als Fälschungsschutz.

Kinder- und Jugendliche schnell impfen

Lauterbach erklärte bei dem Expertenaustausch zum Thema „Nach Corona? Eine Zwischenbilanz in den Zeiten der Pandemie“, der große Schrecken werde in diesem Sommer enden, und ein normales Leben werde wieder möglich sein. Allerdings müssten jetzt dringend Kinder und Jugendliche geimpft werden. Denn es sei zu erwarten, dass es immerhin bei einem Prozent der infizierten Kinder zu einem schwere Krankheitsverlauf mit einer notwendigen Behandlung im Krankenhaus komme. Außerdem seien Ausbrüche der Pandemie in den Schulen zu befürchten, erklärte er.

Der SPD-Gesundheitsexperte warnte zudem vor möglichen gravierenden Auswirkungen der Langzeitfolgen von Covid-19. Denn Corona könne kleine Gefäße in Organen wie Lunge und Herz und auch dem Gehirn angreifen, sagte er. Durch diese Vorschädigungen sei eine Zunahme von Herzinfarkten oder Demenz-Erkrankungen zu befürchten.

Der Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin warnte davor, die „gewaltigen Einschnitte“ in die Grundrechte durch die Maßnahmen gegen die Pandemie zu verharmlosen. Diese Einschnitte, die auch die individuelle Würde zum Beispiel von sterbenden Menschen, verletzt hätten, müssten ein „absoluter Ausnahmefall“ bleiben, sagte er. Auch wenn die Entscheidungen unabdingbar gewesen seien, müsse es klare Kriterien geben, nach denen sie wieder aufgehoben würden.

Achim Schmid


Behinderung

Bayerische Sozialministerin: Gut, dass Assistenz in Kliniken nun kommt



München (epd). Bayerns Sozialministerin Carolina Trautner (CSU) hat am 24. Juni den Beschluss des Bundestages gelobt, im Rahmen einer Gesetzesänderung die Assistenz für Menschen mit Behinderung in Kliniken zu regeln. Bislang war unklar, wer für die Kosten einer vertrauten Person aufkommt, die einen Menschen mit Behinderung ins Krankenhaus begleitet.

Trautner: „Es war mir ein besonderes Anliegen, dass noch in dieser Legislaturperiode ein erster Kompromiss gefunden wird, um die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung zu verbessern.“ Sie sei froh, dass nun Rechtssicherheit herrsche.

Dem Beschluss des Bundestages in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause zufolge trägt künftig die gesetzliche Krankenversicherung den Verdienstausfall für Begleitpersonen aus dem privaten Umfeld. Die Träger der Eingliederungshilfe, in Bayern sind das die Bezirke, finanzieren die Begleitung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Eingliederungshilfe. Zudem sollen die Wirkungen einschließlich der finanziellen Auswirkungen dieser Regelungen vom Bund im Einvernehmen mit den Ländern evaluiert werden.



Nordrhein-Westfalen

Ministerium kündigt 250.000 Euro für junge Wohnungslose an



Düsseldorf (epd). Die nordrhein-westfälische Landesregierung will im Rahmen der Landesinitiative gegen Wohnungslosigkeit „Endlich ein Zuhause!“ drei Modellprojekte für wohnungslose Jugendliche mit zusätzlich 250.000 Euro fördern. „Menschen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren machen mit rund 25 Prozent einen wesentlichen Anteil an den Wohnungslosen aus“, sagte NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) am 18. Juni in Düsseldorf. Bei ihnen bestehe besonders die Gefahr, „dass sich die kritische Lebenssituation verfestigt und sich die Wohnungsnotlage auch negativ auf den Bildungs- und Berufsweg auswirkt“.

Die drei Modellprojekte für wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene sind den Angaben zufolge in Dortmund, Essen und Recklinghausen. Ziel der Projekte sei eine altersspezifische Beratung und Begleitung der wohnungslosen jungen Menschen. „Ihre Lebenssituation soll sich durch Hilfen in den Bereichen Behörden-, Wohnungs- und Familienangelegenheiten, schulische Bildung, Ausbildung und Gesundheit nachhaltig stabilisieren“, hieß es.

Angebote mit verschiedenem Fokus

Dabei hätten die einzelnen Projekte, die in kommunale Strukturen eingebunden seien, unterschiedliche Schwerpunkte. In Dortmund gehe es vor allem um die Unterstützung von wohnungslosen geflüchteten Menschen. Um alternative Wege der Kontaktaufnahme zur Beratung via Messenger-Diensten und digitalen Anwendungen kümmere sich das Projekt in Essen. Recklinghausen setze wiederum auf präventive Ansätze wie beispielswiese einem Auszugsmanagement zur Vermeidung ungeregelter Auszüge aus dem Elternhaus.

Mit der Landesinitiative werden den Angaben zufolge seit mittlerweile zwei Jahren sogenannte Kümmerer-Projekte in 22 besonders stark von Wohnungslosigkeit betroffenen Kreisen und kreisfreien Städten mit jährlich rund drei Millionen Euro gefördert. In den Projekten unterstützen etwa Sozialarbeiter und Immobilienfachleute Menschen ohne Wohnung bei der Suche nach Wohnraum. Die drei Modellprojekte aus Dortmund, Essen und Recklinghausen kämen nun zusätzlich dazu, um besonders junge wohnungslose Menschen zu unterstützen.




sozial-Branche

Bundesfreiwilligendienst: Feste Größe im Ehrenamtsportfolio




Jugendliche im Bundesfreiwilligendienst für das Reformationsjubiläum 2017
epd-bild/Dieter Sell
Anfangs kritisch beäugt, heute etabliert: Der Bundesfreiwilligendienst (BFD) besteht seit zehn Jahren. Kritik der Sozialverbände an dem "Konkurrenzprodukt" zu FSJ und FÖJ ist kaum noch zu hören, auch weil Freiwillige heute kaum einen Unterschied bei den verschiedenen Formaten der Ehrenamtseinsätze spüren. 400.000 Personen haben den BFD bis heute durchlaufen.

Berlin (epd). Als die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) den Bundesfreiwilligendienst (BFD) fünf Jahre nach dessen Start als Erfolgsmodell bezeichnete, regte sich kaum noch Widerspruch. Der Dienst hatte sich etabliert, die Startschwierigkeiten waren fast vergessen. Und auch der anfangs massive Widerstand der Sozialverbände gegen das „Konkurrenzprodukt“ zum Freiwilligen oder Ökologischen Sozialen Jahr (FSJ, FÖJ) war pulverisiert. Jetzt besteht der BFD zehn Jahre und hat sich als feste Größe im Ehrenamtsportfolio etabliert.

2011 wurde der Bundesfreiwilligendienst nach dem Aussetzen der Wehrpflicht und des Zivildienstes als Neuheit ins Leben gerufen. Dabei ist er grundsätzlich keine neue Erfindung. Das FSJ und das FÖJ blickten damals bereits auf eine jahrzehntelange zivilgesellschaftliche Tradition zurück, weshalb Reibungen zwischen Politik und Trägern unvermeidlich waren.

Politik wollte behördliche Strukturen erhalten

Ein anderer Weg wäre der Ausbau der bewährten Jugendfreiwilligendienste gewesen. Politischer Wille der damaligen Bundesregierung war aber der Erhalt der behördlichen Strukturen hinter dem Zivildienst, vor allem im Bereich der vorgeschriebenen Kursangebote zur politischen Bildung. Das bedeute für die ausführenden Organisationen einen nicht unerheblichen Mehraufwand, wie immer wieder zu hören ist.

„Die Einführung dieses weiteren Dienstformates neben den etablierten Freiwilligendiensten warf von Beginn an bürokratische Hürden und Fragen der politischen Bildung auf, die die Umsetzung bis heute erschweren“, bilanziert Martin Schulze, Geschäftsführer der Evangelische Freiwilligendienste gGmbH, gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Schon im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung habe die Evangelische Trägergruppe deutliche Schwächen des BFD gegenüber den Jugendfreiwilligendiensten identifiziert: „So hat der BFD die Verwaltungslogik des Zivildienstes übernommen und ist nach wie vor deutlich bürokratischer aufgebaut. Das ist ein Hindernis in der kurzfristigen Vermittlung von Freiwilligen an Einsatzstellen“, urteilt Schulze. Er betont aber auch, dass die Dienste heute weitestgehend identisch angeboten würden, so dass das Dienstformat für die Freiwilligen keinen Unterschied mache.

Mit mehr Geld könnte der Ausbau der Dienste gelingen

Von der großen Dynamik des BFD nach dem Start sind die Verbände positiv überrascht. Schnell können die zur Verfügung stehenden Plätze besetzt werden. Oft, und dieses Problem besteht bis heute, gibt es deutlich mehr Interessentinnen und Interessenten als verfügbare Plätze - auch weil der Bund nicht mehr mehr Gelder für den Ausbau des BFD bereitstellt.

Der freiwillige Einsatz kommt gut an - auch in Zeiten der Pandemie: Bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) sind 20 Prozent mehr Jugendliche in FSJ und BFD als vor der Krise, berichtete der Verband im Juli 2020. Corona habe das Interesse junger Menschen an sozialen Berufen gestärkt. Vorstand Thomas Oelker: „Gerade in den unsicheren Zeiten der Pandemie nutzen mehr junge Leute unseren Freiwilligendienst, um sich in den sozialen Berufen auszuprobieren, weil sie sich für eine Ausbildung oder ein Studium in diesem Bereich interessieren.“ Weitere Gründen könnten sein, dass die stärkere gesellschaftliche Wertschätzung für die Pflege oder Kindertagesbetreuung Interessentinnen und Interessenten anlockt, ebenso aber auch die schwierige Situation auf dem Ausbildungsmarkt.

„In der Gesellschaft angekommen“

„Der Bundesfreiwilligendienst ist entgegen einiger skeptischer Stimmen, die es in der Anfangszeit auch gab, sehr schnell in der Gesellschaft angekommen und zu einer wichtigen Säule im Gefüge der Freiwilligendienste geworden“, sagt Antje Mäder, Pressesprecherin des für den BFD zuständigen Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln. In den vergangenen zehn Jahren haben nach ihren Angaben rund 400.000 Personen einen Bundesfreiwilligendienst absolviert, im Jahresdurchschnitt also um die 40.000. Egal, wo sie eingesetzt würden, junge Menschen könnten praktische Erfahrungen und Kenntnisse sammeln und erhalten erste Einblicke in die Berufswelt.

Das bestätigen Teilnehmer des BFD, deren positive Stimmen sich zuhauf im Internet finden. „Ich empfehle eigentlich jedem, der nach der Schule sich nicht zu 100 Prozent sicher ist, wo es hingehen soll, einen Freiwilligendienst zu machen. Man lernt in diesem Jahr mehr, als man glaubt“, sagt Lukas, der seinen Dienst bei der Diakonie an der Evangelischen Schule Frohnau in Brandenburg abgeleistet hat. Hanna, die in einer Krebsberatungsstelle in Osnabrück gearbeitet hat, berichtet, ihr Engagement habe ihr „bei der Persönlichkeitsentwicklung sehr geholfen und ich kann es wirklich jedem empfehlen, der seinen richtigen Weg noch finden muss. Ich möchte diese Zeit nicht missen.“

Mädler bestätigt, dass die Einsatzstellen nicht nur tatkräftige freiwillige Unterstützung erhalten, sondern die Helferinnen und Helfer gleichzeitig auch für soziale Berufe oder ein längerfristiges ehrenamtliches Engagement gewinnen möchten. „Das können wir allerdings nicht zahlenmäßig belegen, da diese Daten nicht erfasst werden.“

Öffnung für Ältere

Eine weitere Stärke des Bundesfreiwilligendienstes sei, dass er - anders als das FSJ, das nur bis zum Alter von 26 Jahren möglich ist - für alle Altersgruppen geöffnet ist. Das sehen auch die Johanniter so: „Eine positive Neuerung, die der BFD mit sich brachte, ist die Öffnung über die Altersgrenze über 27 Jahre hinaus.“ Die Johanniter hätten hier mit neuen Konzepten diese Zielgruppen in die Freiwilligendienste integriert, heißt es auf Anfrage des epd. Der BFD solle dabei speziell für ältere Menschen, zum Beispiel nach einer Familienphase, ein Angebot sein: „Es zeigt sich aber, dass überwiegend Menschen bis zu einem Alter von 27 Jahren das Angebot annehmen.“

Das zeigen auch die offiziellen Daten: Seniorinnen und Senioren sind weiter klar in der Minderheit: Im Mai waren von knapp 37.000 Ehrenamtlern nur rund 630 älter als 65 Jahre. Gut 70 Prozent der Freiwilligen sind unter 27 Jahre alt. Und: Etwa 60 Prozent der Freiwilligen sind weiblich.

Die Caritas nennt den BFD einen Erfolg. Er leiste einen großen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Denn wer sich auf dieser Weise eingebracht hat, schaut ganz anders auf seine Mitmenschen“, heißt es auf Anfrage. Zugleich gebe es aber auch noch viel Verbesserungspotenzial: Die Attraktivität des Dienstes lasse sich noch steigern, etwa durch die kostenlose Nutzung des ÖPNV, durch einen Anspruch auf Wohngeld oder die Befreiung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen von den Rundfunkgebühren. „Auch die Rahmenbedingungen für Freiwillige aus dem Ausland müssten verbessert werden. Und es ist wünschenswert, dass die Zeit im Dienst bei der Bewerbung um ein Studien- oder Ausbildungsplatz besser gewürdigt wird“, so der katholische Wohlfahrtsverband.

Dirk Baas


Behinderung

Johannes-Diakonie steht zu ihrer Geschichte




Pfarrer Richard Lallathin an einer Info-Tafel des Maria-Zeitler-Pfades
epd-bild/Susanne Lohse
Als "lebensunwertes Leben" ermordete das Regime im Nationalsozialismus unzählige Menschen mit Behinderung - oft auch unter den Augen der Kirchen. Und es gab schreckliche medizinische Experimente. In Mosbach erinnert jetzt ein Gedenkpfad an diese Grausamkeiten.

Mosbach (epd). Die Johannes-Diakonie in Mosbach übernimmt Verantwortung. Mit dem kürzlich fertiggestellten Maria-Zeitler-Pfad erinnert die Behinderteneinrichtung an die NS-„Euthanasie“. Das Wort, das aus dem Altgriechischen stammt und ursprünglich einen guten, würdigen Tod meint, verwendeten die Nationalsozialisten für gezielte Morde. Der Gedenkpfad für die von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen mit geistiger, seelischer oder körperlicher Behinderung sei „ein wichtiger Schritt nach außen“, sagt der Projektleiter Pfarrer Richard Lallathin.

Mit rund 3.000 Mitarbeitenden ist die Johannes-Diakonie in Mosbach mit der Außenstelle in Schwarzach die größte Behinderteneinrichtung in Baden-Württemberg. Aus der damaligen „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof“ wurden vor 80 Jahren 263 Menschen in die Vernichtungslager Grafeneck (1940) und Eichberg/Uspringe (1944) abtransportiert. Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten allein im Zuge der so genannten „T4-Aktion“ - benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo sie geplant wurde - rund 70.000 Menschen mit Behinderung.

30 Jahre Forschung über das Unrecht

Bereits in den 1990-er Jahren erforschte der promovierte Historiker Hans-Werner Scheuing die NS-Morde an Mosbacher Heimbewohnern. In seinem Buch „Als Menschenleben gegen Sachwerte gewogen wurden“ (Winter Verlag, Heidelberg) beschreibt er die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt Mosbach/Schwarzacher Hof von 1933 bis 1945. Er recherchierte Namen von Opfern, sammelte Fotos. Das einzige Opfer, das auch in Mosbach geboren wurde, war Maria Zeitler.

Als Kind habe Maria Zeitler vermutlich eine Hirnhautzündung erlitten, erläutert Richard Lallathin den Lebensweg der Mosbacherin. Sie war somit nicht von Geburt an behindert. Im Alter von drei Jahren kam sie in die Heil-und Pflegeanstalt, wo sie bis zu ihrem Tod, einen Tag nach ihrem 29. Geburtstag, lebte.

„Ich bin in Grafeneck aufgewachsen“, sagt Lallathin. Er erinnere sich noch gut an die Erzählungen seiner Eltern und Großeltern, die die grauen Busse, in denen die Todgeweihten antransportiert wurden, kommen und gehen sahen.

Gefälschte Todesurkunden verschickt

Dass Maria Zeitler in Grafeneck umgebracht wurde, verschleierte das NS-Regime. Die Eltern erhielten gefälschte Sterbeurkunden. Bis vor wenigen Jahren kannten Angehörige weder die wahren Todesumstände noch den Ort, wo Maria Zeitler starb. Der Staat selbst hatte seine Bürger gezielt betrogen.

„Sie gibt unserem Gedenken ein Gesicht“, sagte Projektleiter Lallathin mit Blick auf den für rund 300.000 Euro ebenfalls neu gestalteten Maria-Zeitler-Platz vor der Hauptverwaltung der Johannes-Diakonie. Der Erinnerungsort ist die erste von acht Stationen des Maria-Zeitler-Pfades. Der behindertengerechte Weg ist etwa einen Kilometer lang und führt durch das Gelände der Johannes-Diakonie.

Inklusive Lotsen-Tandems mit je einem Lotsen aus den Werkstätten und einem Ehrenamtlichen bieten für den Pfad Führungen an. So zeigt Samantha Endres Besuchern gerne ihren Arbeitsplatz und klärt sie über den Umgang mit „Menschen wie uns“ zwischen 1933 und 1945 auf. Wie sie freut sich auch der für Bauarbeiten zuständige Thomas März, wenn mit dem guten Wetter demnächst wieder Besuchergruppen kommen. „Wir scharren mit den Hufen“, sagt März.

Acht Tafeln machen Geschichte anschaulich

Zielgruppe des pädagogisch-inklusiven Projektes sind vor allem Schüler- und Konfirmandengruppen und Bundesfreiwillige. Auf den acht Tafeln erfahren sie mehr über die Geschichte der NS-„Euthanasie“ unter besonderer Berücksichtigung der Geschehnisse in Mosbach und der Biographie Maria Zeitlers.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist harte Kost für 14-Jährige, wenn sie im Konfirmandenunterricht über den Maria-Zeitler-Pfad gehen. Das Gedenken berührt. „Da redet keiner dazwischen. Da wird es still in der Gruppe“, beobachtet Pfarrer Lallathin, der auch als Religionslehrer unterwegs ist.

Susanne Lohse


Verbände

Paritätischer und BUND: Klimaschutzgesetz ist halbherzig



Berlin (epd). Die von der Großen Koalition vereinbarten Eckpunkte für eine Reform der Klima- und Energiepolitik stoßen auf deutliche Kritik von Paritätischem Wohlfahrtsverband und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Die Vorschläge seien klimapolitisch unambitioniert, zudem fehle jeglicher sozialer Ausgleich. Echter gesellschaftlicher Umbau sei nur möglich, wenn man ökologischen Umbau, Naturschutz, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zusammen denke, heißt es in einer Mitteilung vom 22. Juni.

Ohne soziale Komponenten zur Flankierung eines Klimaschutzgesetzes, von der Grundsicherung bis zum Wohnen, drohe eine neuerliche Vertiefung der sozialen Spaltung in unserem Land, warnten die Verbände.

Soziale Fragen nicht ignorieren

„Es ist schon bezeichnend, dass jedwede sozialpolitische Flankierung fehlt. Natur- und Umweltschutz und eine echte sozial-ökologische Wende funktionieren nur dann, wenn alle Menschen mitgenommen werden und niemand zurückgelassen wird“, rügte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Das sei nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der Vernunft. Ein Klimaschutzgesetz, das soziale Fragen ignoriert, sei von vorneherein zum Scheitern verurteilt, so Schneider: „ Es wird keine Mehrheit in der Bevölkerung finden.“

BUND-Vorsitzender Olaf Bandt: „Auch mit der Eckpunkte-Einigung fehlt es an Maßnahmen, die die neuen Klimaschutzziele erreichbar machen. Diese Bundesregierung überlässt diese Aufgabe der nächsten.“ Damit verliert der Klimaschutz wichtige Monate.

Der Paritätische hat zusammen kürzlich mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) die "Zukunftsagenda für die Vielen” vorgelegt, ein politisches Programm für den konsequenten Aufbruch in eine ökologisch und sozial gerechte Republik.

In dem detaillierten Forderungskatalog fordern die Verbände ein entschlossenes Umsteuern der Politik, um unter anderem das 1,5 Grad-Klimaziel zu erreichen, sowie flankierende Maßnahmen für soziale Sicherheit und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Unter anderem sprechen sie sich etwa für eine Anhebung des CO2-Preises auf zunächst 50 Euro pro Tonne aus bei voller Rückgabe an die Bevölkerung über einen Pro-Kopf-Ökobonus.



Verbände

Einfachere Regelungen zur Grundsicherung vorgelegt



Berlin (epd). Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat Empfehlungen zur Weiterentwicklung und Rechtsvereinfachung im SGB II verabschiedet. Ziel ist es, die Regelungen der Grundsicherung weiter zu vereinfachen und die Integration in den Arbeitsmarkt zu verbessern, wie der Dachverband des Sozialsektors am 22. Juni in Berlin mitteilte.

„Für die Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums brauchen wir transparente, möglichst unbürokratische Verwaltungsverfahren und bedarfsgerechte Leistungen. Das Ziel: Menschen zu befähigen, unabhängig von staatlichen Unterstützungsleistungen leben zu können“, erklärte Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Deutschen Vereins. Dafür liefert der Deutsche Verein in seinen kürzlich verabschiedeten Empfehlungen konkrete Vorschläge für Rechtsänderungen.

Eingliedern in Arbeit verbessern

Diese enthalten Anregungen, wie die Eingliederung in Arbeit besser gelingen kann. Die Kooperation auf Augenhöhe müsse ebenso wie das Fördern gestärkt werden. Zudem sollte das Instrument zur Teilhabe am Arbeitsmarkt fortentwickelt, ein neues Instrument zur Förderung von Grundkompetenz eingeführt und ein Weiterbildungsgeld geschaffen werden, heißt es in den Empfehlungen.

Der Deutsche Verein schlägt vor, den Vermittlungsvorrang neu zu fassen und die Teilnahme an einer Weiterbildung der Vermittlung in Arbeit gleichzustellen. Eine weitere Forderung ist die Einführung eines zentralen Reha-Budgets auf Bundesebene. „Nur so können wir Menschen mit Behinderungen angemessen fördern, ohne zugleich kleinere Jobcenter finanziell zu überfordern“, sagte Stetter-Karp.



Corona

Kinderschutz-Expertin: Hilfe muss leichter zu Familien kommen



Oldenburg (epd). Die Kinderschutzexpertin Mareike van't Zet rechnet mit einer massiven Zunahme von Kindeswohlgefährdungen infolge der Corona-Pandemie. „Wir kennen die Risiko-Faktoren“, sagte die Leiterin des Oldenburger Kinderschutz-Zentrums im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Als Kinderschützerinnen wissen wir: Umso mehr Druck in Familien und ihrem Umfeld herrscht, umso mehr steigen Angst und Verunsicherung. Umso schlechter die Entlastungssysteme wirken können, umso mehr steigt das Risiko gewalttätiger Entladungen bei Erwachsenen, denen die Nerven durchbrennen, weil sie sowieso schon blankliegen.“

Die Isolation im Lockdown habe die Situation für betroffene Kinder und Jugendliche verschärft. „Wir gehen davon aus, dass Kinder derzeit viel weniger in der Lage sind, über Erlebtes zu sprechen“, erläuterte die Kinderschutz-Expertin. Viele soziale Bezüge wie etwa die Schule, in denen sie sonst in Kontakt mit Vertrauenspersonen kommen könnten, seien weggebrochen. Diese Vertrauten könnten die Not in der Familie der Kinder erkennen und sie in Hilfesysteme wie das Kinderschutz-Zentrum weitervermitteln.

Gewaltrisiko wächst durch Isolation

Doch die Isolation betreffe auch die Eltern. Kurzarbeit und insbesondere die Sorge um den Arbeitsplatz und die wirtschaftliche Absicherung spielten eine große Rolle: "Je höher der Grad der Isolation nach außen, desto stärker wächst das Risiko häuslicher Gewalt.” Gerade im Lockdown könne dies vom sozialen Umfeld nicht wahrgenommen werden. Damit steige die Gefahr, dass sich der Prozess verstetige.

Um erschöpften Eltern, „die kurz vor dem Durchbrennen sind“, und betroffenen Kindern schneller helfen zu können, seien mehr niedrigschwellige Angebote nötig. „Wir brauchen dazu mehr Menschen und Ressourcen“, forderte van't Zet: „Denn im Zweifel benötigen Eltern in Not sofort Unterstützung.“

Hilfe per Telefon empfohlen

Die Expertin verwies auf das Hilfsangebot „Nummer gegen Kummer“ unter www.elterntelefon.info und der bundesweiten kostenlosen Telefonnummer 0800/1110550. Diese Nummer sei montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr und dienstags und donnerstags sogar bis 19 Uhr besetzt. „Sich hier in Momenten großer Anspannung Hilfe zu suchen, kann eine Situation erst einmal entlasten“, sagte van't Zet. Für die weitere Suche nach Lösungen in scheinbar ausweglosen Situationen empfehle sie die Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle wie dem Kinderschutz-Zentrum. Hier sei ein Termin zumeist innerhalb einer Woche möglich.

Um leichter mit Jugendlichen in Kontakt zu kommen, seien mehr betreute Aktivitäten in den sozialen Netzen wünschenswert. „Wir brauchen beispielsweise einen Hilfebutton bei Snapchat, TikTok und den anderen sozialen Medien, der die Jugendlichen und Kinder neugierig macht. Aber wenn sie dann auf einen Kontakt klicken, muss ihnen auch ein Mensch antworten.“ Einfach nur ein Link zur nächsten Beratungsstelle reiche nicht aus, sagte die Expertin.

Jörg Nielsen


Corona

Menschenrechtsinstitut: Allen Kinder gleiche Bildungschancen bieten



Berlin (epd). Anlässlich der Debatte um Aufhol- und Unterstützungsprogramme für Schülerinnen und Schüler in den Sommerferien wirbt das Deutsche Institut für Menschenrechte dafür, dass auch Kitas, Kindertreffpunkte und Jugendzentren in die Programme des Aufholpaketes einbezogen werden. Nur so ließen sich gleiche Bildungschancen für alle Kinder nachhaltig verwirklichen, sagte Direktorin Beate Rudolf am 21. Juni in Berlin. Zum Menschenrecht auf Bildung gehörten nicht nur die Entwicklung prüfbarer Kompetenzen, sondern gerade auch die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.

„Die für die Sommerferien und das neue Schuljahr geplanten Aufhol- und Unterstützungsprogramme für Kinder und Jugendliche sollten die psychosoziale, emotionale und körperliche Entwicklung ebenso in den Blick nehmen wie das Aufholen von Lernrückständen“, sagte Rudolf. Kinder hätten zudem ein Recht auf Spiel und Freizeit und müssen sich von den schwierigen Pandemiebedingungen erholen können.

Pandemie hat Bildungsnachteile verstärkt

„Bildungsnachteile existierten bereits vor der Covid-19-Pandemie und wurden durch sie aufgezeigt und verschärft“, so die Expertin. Jetzt sollte die Gelegenheit genutzt werden, um für alle Kinder und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu verwirklichen. Dafür müssten die unterschiedlichen Dimensionen von Diskriminierung in der Bildung angegangen werden, etwa Diskriminierung aufgrund von sozioökonomischen Verhältnissen, fehlenden Sprachkenntnissen, Migrations- und Fluchtgeschichte oder Behinderung.

Um betroffenen Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, müssen laut Rudolf beispielsweise digitale Angebote weiterentwickelt, Unterstützungsangebote wie Förderunterricht, Lernbegleitung und Hausaufgabenhilfen ausgebaut und pädagogische Fachkräfte in Bezug auf Diskriminierungsschutz und Menschenrechtsbildung aus- und weitergebildet werden."



Familien

Verband: Bildungsangebote erreichen Zielgruppe



Berlin (epd). Die evangelische arbeitsgemeinschaft familie (eaf) hat die Ergebnisse einer Studie der Prognos AG im Auftrag des Bundesfamilienministeriums zur Stärkung von Familien begrüßt. Diese zeigten sehr deutlich, dass Familienbildung und Familienberatung eine Vielfalt an Familien in unterschiedlichen Lebenslagen erreichten, heißt es in einer Mitteilung des Verbandes vom 21. Juni. „Der häufig formulierte Vorwurf, dass Familienbildungsangebote nur Mittelschichtsfamilien erreichen, wird dadurch endlich entkräftet“, betonte Präsident Martin Bujard.

Er verwies darauf, dass die Angebote in den für die Studie befragten Einrichtungen ganz überwiegend von Personen mit niedrigem und mittlerem sozialen Status in Anspruch genommen würden. Ein weiterer wichtiger Befund zeige die anhaltende Bedeutung von Kursen und Gruppen, insbesondere der Eltern-Kind-Gruppen für junge Familien.

Gleichzeitig ist laut Bujard eine Zunahme der offenen Angebote in der Familienbildung zu verzeichnen. Um allerdings die Versorgungsbedarfe von allen Familien zu decken, sei ein Ausbau der vielfältigen Angebote notwendig. „Das kann nur gelingen, wenn die Familienbildungsarbeit seitens der Länder und Kommunen mit ausreichend finanziellen Ressourcen ausgestattet und regelfinanziert wird“, so der Präsident. „Dafür ist es unabdingbar, dass Familienbildung und Familienberatung in der kommunalen Planung der Kinder- und Jugendhilfe durch die Jugendämter einbezogen und bedarfsgerecht angeboten werden.“ Die Landesjugendämter seien in der Verantwortung, den Kommunen Instrumente zur Feststellung des Bedarfs an die Hand zu geben.



Gesundheit

Bistum Essen gibt Trägerschaft von Kliniken und Altenheimen ab



Essen (epd). Das Bistum Essen zieht sich aus der Trägerschaft von Krankenhäusern und Altenheimen zurück. Bis Ende 2022 wolle die Diözese alle Beteiligungen an Kliniken, Seniorenheimen, Pflegediensten, Hospizen und anderen sozialen Einrichtungen an die jeweils übrigen Gesellschafter übergeben, kündigte Generalvikar Klaus Pfeffer am 23. Juni in Essen an. „Wir werden nun in jeder Gesellschaft klären, welche der verbleibenden Gesellschafter unsere Anteile übernehmen werden.“ Mit diesem Schritt werde Eigenverantwortung der einzelnen Träger gestärkt.

Am katholischen Profil der Einrichtungen werde sich dadurch aber ebenso wenig ändern wie an der Versorgungssituation in den Städten und Kreisen, versicherte Pfeffer. Die Verwaltung des Ruhrbistums ziehe sich lediglich aus der unternehmerischen Mitgestaltung in Gesellschafterversammlungen und Aufsichtsräten zurück. Bei allen Trägern seien auch künftig katholische Stiftungen oder Kirchengemeinden sowie zahlreiche weitere katholische Organisationen als Gesellschafter vertreten. Die gesetzlich geregelte kirchliche Aufsicht über die Träger bleibe beim Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, betonte der Generalvikar.

Minderheitsbeteiligungen werden beendet

Die Minderheitsbeteiligungen des Bistums an 28 gemeinnützigen Gesellschaften mit 20 Krankenhausstandorten, 27 Altenhilfe- und Pflegeeinrichtungen sowie 51 Gesundheits- und Sozialeinrichtungen wird den Angaben zufolge seit 2017 von der „Beteiligungsgesellschaft des Bistums Essen“ (BBE) organisiert. Diese solle nach der Übertragung aller Anteile an andere Gesellschafter aufgelöst werden, hieß es.

Als Grund für den Rückzug des Bistums nannte Pfeffer schwieriger und komplexer gewordene politische und ökonomische Rahmenbedingen. Ein unternehmerisches Engagement in den verschiedenen sozialen Märkten erfordere eine enorme Fachlichkeit und erheblichen personellen Einsatz. Zudem sei das Bistum aufgrund „eigener finanzieller Engpässe“ nicht mehr in der Lage, die Vielzahl an Minderheitsbeteiligungen angemessen wahrzunehmen.




sozial-Recht

Bundessozialgericht

Klinik muss vor Entlassung über Pflegeleistung informieren




Nach einem Gerichtsurteil sind Kliniken in der Pflicht, vor der Entlassung von Patienten über Pflegeleistungen zu informieren.
epd-bild/Werner Krüper
Kliniken müssen Kranke vor ihrer Entlassung über mögliche Ansprüche auf Pflegeleistungen beraten. Informiert eine Klinik nicht über Pflegegeldleistungen, können Versicherte bei einem verspäteten Antrag rückwirkend Leistungen erhalten, urteilte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). Krankenhäuser müssen bei einer drohenden Pflegebedürftigkeit eines Patienten frühzeitig über einen möglichen Anspruch von Pflegeleistungen aufklären. Zur Beratungspflicht im Rahmen eines Entlassungsmanagements gehört auch der Hinweis auf Pflegegeldansprüche, stellte das Bundessozialgericht (BSG) in einem am 17. Juni verkündeten Urteil klar. Die Kasseler Richter sprachen einem krebskranken Kind rückwirkend Pflegegeld ab Eintritt seiner Pflegebedürftigkeit zu.

Bei dem Kläger wurde im Mai 2013 im Alter von zehn Jahren ein bösartiger Hirntumor festgestellt und operiert. Es folgten Bestrahlungen und Chemotherapie. Zwischen den einzelnen Behandlungsblöcken wurde er Zuhause von seinen Eltern versorgt. Die Krankenkasse bezahlte dem Jungen einen Rollstuhl und gewährte bis September 2014 Leistungen für eine Haushaltshilfe. Erst im November 2014 erfuhren die Eltern im Anschluss an eine Reha-Maßnahme, dass ein Anspruch auf Pflegegeld bestehen könnte, das sie dann auch umgehend beantragten. Pflegebedürftigkeit bestand bereits ab Juli 2013.

Kasse wollte nur ab Zeitpunkt der Antragstellung zahlen

Die Barmer Pflegekasse gewährte zwar Pflegegeld nach der Pflegestufe I, allerdings erst ab dem Monat der Antragstellung. Das sehe das Gesetz so vor, hieß es zur Begründung. Die Eltern des Klägers meinten indes, dass die Pflegekasse rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Pflegebedürftigkeit Pflegeleistungen gewähren muss.

Das BSG urteilte nun, dass Pflegegeld „regelmäßig“ erst ab dem Monat der Antragstellung beansprucht werden kann. Dennoch stehe hier dem Kläger ausnahmsweise ein rückwirkender Anspruch ab Eintritt der Pflegebedürftigkeit zu. Denn das Krankenhaus habe es versäumt, ausreichend über mögliche Leistungen im Pflegefall zu beraten. Das sei gesetzlich aber vorgeschrieben, befand das Gericht.

„Hiernach haben Versicherte Anspruch allgemein auf ein Versorgungsmanagement“, so die Kasseler Richter. Bei der Krankenhausbehandlung im Besonderen umfasse das „ein Entlassungsmanagement zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche beziehungsweise nach der Krankenhausbehandlung“.

Gute Versorgung nach schneller Entlassung

Dass überhaupt ab Mitte der 1990er Jahre das Entlassungsmanagement in den Krankenhäusern eingeführt wurde, geht auf Kostenersparnisgründe zurück. Ziel war und ist, die Verweildauer der Patientinnen und Patienten im Krankenhaus möglichst kurz zu halten. Dafür sollten diese aber nach der Entlassung nicht im Regen stehen, sondern von Beginn an gut ambulant versorgt werden.

Es gebe daher einen „Managementauftrag“, mit dem der Gesetzgeber eine gute Versorgung und einen reibungslosen Übergang zwischen verschiedenen Versorgungsbereichen habe sicherstellen wollen - hier von der Klinik in die häusliche Versorgung, urteilte das BSG. Der Gesetzgeber habe gewollt, dass Versicherte „die Versorgung, auf die sie Anspruch haben, auch tatsächlich erreicht und wirksam wird“.

Ärzte und Krankenhäuser seien verpflichtet, „unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird“. Voraussetzung dafür sei, dass die Versicherten der Benachrichtigung an die Kasse zustimmen.

Kliniken „regelhaft eingebunden“

Der Gesetzgeber habe die Krankenhäuser „in Fällen des Übergangs von der stationären Krankenbehandlung in die pflegerische Versorgung“ regelhaft einbinden wollen. Im jetzt entschiedenen Fall habe das Krankenhaus aber nicht ausreichend über die möglichen Pflegegeldleistungen und den erforderlichen Antrag informiert. Das müsse sich die Pflegekasse „wie eigene Beratungsfehler zurechnen lassen“, urteilte das BSG.

Dem Kläger stehe daher mit Beginn seiner Pflegebedürftigkeit rückwirkend ab Juli 2013 Pflegegeld zu. Ob und welche Folgen eine fehlerhafte oder unzureichende Beratung für das Krankenhaus haben kann, hatte das BSG nicht zu entscheiden.

Az.: B 3 P 5/19 R

Frank Leth


Bundesarbeitsgericht

Christliche DHV-Berufsgewerkschaft ist nicht tariffähig



Kassel (epd). Die im Christlichen Gewerkschaftsbund organisierte „DHV - die Berufsgewerkschaft e. V.“ ist seit dem 21. April 2015 nicht tariffähig. Als Folge davon seien alle seitdem mit der DHV geschlossenen Tarifverträge nichtig, urteilte am 22. Juni das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt. Damit drohen weitere Rechtsstreitigkeiten um die korrekte Lohnhöhe der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die „DHV - die Berufsgewerkschaft“ ist dem Christlichen Gewerkschaftsbund angeschlossen. Mit den beiden großen christlichen Kirchen hat die Gewerkschaft nichts zu tun. Seit ihrer Wiedergründung im Jahr 1950 hat die DHV ihre Zuständigkeit auf immer mehr Branchen mit rund 6,3 Millionen Beschäftigten ausgeweitet. Damit kann sie nach ihrer Auffassung Tarifverträge etwa bei privaten Banken, im Handel, aber auch bei Rettungsdiensten, der Arbeiterwohlfahrt und dem Deutschen Roten Kreuz abschließen. Nach eigenen Angaben verfügt sie über knapp 67.000 Mitgliedern und damit einem Organisationsgrad von etwa einem Prozent.

Schlagkraft ist höchst umstritten

Die Antragsteller, darunter mehrere DGB-Gewerkschaften wie ver.di und die IG Metall, gehen höchstens von 10.000 Mitgliedern aus. Damit fehle es an der gesetzlich vorgegebenen Schlagkraft, um Tarifverträge vereinbaren zu können, argumentieren sie. Die DHV verwies auf ihre langjährige Teilnahme am Tarifgeschehen, so dass eine Tariffähigkeit bestehe.

Das Landesarbeitsgericht Hamburg hatte entschieden, dass die DHV ab dem 21. April 2015 nicht mehr als tariffähig angesehen werden kann und seitdem auch keine Tarifverträge abschließen durfte.

Teilnahme am Tarifgeschehen reicht nicht

Das BAG bestätigte nun die LAG-Entscheidung. Selbst wenn die von der DHV angegebenen Mitgliederzahlen zugrundegelegt werden, fehle es der Gewerkschaft „über die notwendige mitgliedervermittelte Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den sozialen Gegenspielern“. Allein ihre bisherige Teilnahme am Tarifgeschehen sage nichts über ihre soziale Mächtigkeit aus.

Als Folge der BAG-Entscheidung sind alle seit dem 21. April 2015 mit der DHV geschlossenen Tarifverträge nichtig. Beschäftigte - aber auch Arbeitgeber - können sich nicht mehr auf die im DHV-Tarifvertrag vereinbarten Löhne berufen. Welcher Lohn nun gegebenenfalls rückwirkend beansprucht werden kann, hängt vom Arbeitsvertrag oder der sonst ortsüblichen Vergütung sowie von Ausschluss- und Verjährungsfristen ab. Auch Sozialversicherungsträger könnten bei Lohnnachschlägen Beiträge nachfordern.

AZ: 1 ABR 28/20



Bundesarbeitsgericht

Mindestlohnanhebung führt nicht zu höherer Entlohnung für alle



Erfurt (epd). Bei einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes bei unteren Einkommen kann ein Betriebsrat nicht die gleichzeitige Erhöhung der darüberliegenden Löhne verlangen. Zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarte Entlohnungsgrundsätze müssen nach einer Anhebung des Mindestlohnes nicht angepasst werden, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am 21. Juni veröffentlichten Beschluss. Denn der Mindestlohnanspruch sei „ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt“, so das BAG.

Im konkreten Rechtsstreit ging es um einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber, der Einrichtungen für psychisch erkrankte Menschen betreibt. Der Arbeitgeber hatte mit dem Betriebsrat 2018 eine Vereinbarung über die grundsätzliche Entlohnung der Beschäftigten geschlossen und hierfür eine Vergütungstabelle erstellt. Danach richtete sich die Höhe der Grundvergütung des Personals nach den jeweilig zugeordneten 13 Entgeltgruppen sowie nach sechs Lohn-Stufen pro Gruppe.

Hinweis auf Lohnabstandsgebot

Als der Arbeitgeber ab 2019 Beschäftigte der unteren Einkommensgruppen wegen einer entsprechenden Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes statt wie bisher 8,84 Euro nun 9,19 Euro pro Stunde zahlte, pochte der Betriebsrat auf sein Mitbestimmungsrecht. Die Entlohnungsgrundsätze in der Betriebsvereinbarung beinhalteten, dass der Lohnabstand zwischen den unterschiedlichen Einkommensstufen gewahrt werden müsse. Daher müssten auch die Stundenlöhne der besser bezahlten Beschäftigten erhöht werden, meinten die Arbeitnehmervertreter.

Die BAG-Richter erteilten der Forderung des Betriebsrates jedoch eine Absage. Bei einer Erhöhung des Mindestlohnes gebe es kein Anspruch darauf, dass auch höhere, in einer Betriebsvereinbarung festgelegte Einkommen „dynamisch“ angepasst werden müssten. Denn der Mindestlohnanspruch sei „ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt“. Damit könne der Betriebsrat auch nicht im Rahmen seines Mitbestimmungsrechts verlangen, dass die vereinbarten Entlohnungsgrundsätze geändert werden müssten.

Az.: 1 ABR 21/20



Bundesgerichtshof

Zu langer Sorgerechtsstreit um Kleinkind begründet hohe Entschädigung



Karlsruhe (epd). Der Staat muss bei zu langen Gerichtsverfahren zum Umgangsrecht eines Elternteils mit seinen kleinen Kindern höhere Entschädigungszahlungen als üblich leisten. Denn gerade bei sehr jungen Kindern stellt ein verweigerter Umgang eine „schwerwiegende Beeinträchtigung des betroffenen Elternteils“ dar, die mit einem hohen Risiko der Entfremdung zum Kind einhergeht, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 23. Juni veröffentlichten Urteil. Eine höhere Entschädigung als die im Gesetz regelmäßig vorgesehenen 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung sei dann gerechtfertigt.

Im Streitfall hatte sich die aus Rheinland-Pfalz stammende Klägerin von ihrem Partner getrennt. Die zwei gemeinsamen Kleinkinder kamen erst in eine Pflegefamilie. Ein Kind wurde bereits wenige Tage nach der Geburt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen. Die Kinder kamen schließlich zum Vater.

Später Antrag auf Sorgerecht

Gerichtlich beantragte die Mutter ein Jahr später ihr Umgangs- und Sorgerecht. Zu diesem Zeitpunkt waren die Kinder ein Jahr und zehn Monate sowie vier Jahre und vier Monate alt. Das Verfahren zog sich ab er in die Länge. So wurde etwa eine Sachverständige beauftragt, obwohl diese auf ihre hohe Arbeitsbelastung und Verzögerungen beim Gutachten hingewiesen hatte. Erst nach mehr als fünf Jahren wurde ein monatlicher Umgang mit den Kindern geregelt.

Die Mutter verlangte eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer von mindestens 15.000 Euro. Umgangsrechtsverfahren müssten nach dem Gesetz beschleunigt behandelt werden. Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz urteilte, dass das Verfahren 37 Monate zu lang gedauert habe. Damit stehe ihr die gesetzliche Entschädigung von 3.700 Euro zu.

Familienleben erheblich beeinträchtigt

Das ist jedoch zu wenig, befand der BGH. Die Verzögerungen hatten erhebliche Auswirkungen auf das Privat- und Familienleben der Klägerin. Ihr Umgangsrecht sei „durch Zeitablauf praktisch entwertet“ worden. Die überlange Verfahrensdauer und der fehlende Umgang haben zur Entfremdung zur jüngsten Tochter und einer stark belasteten Mutter-Kind-Beziehung geführt.

Nach dem Gesetz könne hier nicht von der üblichen Entschädigung ausgegangen werden. Darüber müsse das OLG neu entscheiden. Als Orientierungsmaßstab verwies der BGH auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der in ähnlichen Fällen Entschädigungen von 10.000 Euro bis 15.000 Euro vorsah.

Az: III ZR 72/20



Landessozialgericht

Rentenbescheid muss nachvollziehbar sein



Essen (epd). Das „Verschlanken“ eines Rentenbescheides darf nicht auf Kosten der Nachvollziehbarkeit der Rentenhöhe gehen. Werden nur die Summen aller Entgeltpunkte ohne die entsprechenden Anlagen zur Berechnung der Rente mitgeteilt, dann hat der Rentenbescheid einen Begründungsmangel und ist für den Versicherten unverständlich, entschied das Landessozialgericht (LSG) Nord-rhein-Westfalen in einem am 14. Juni in Essen bekanntgegebenen Urteil.

Im konkreten Fall hatten sich ein Rentenversicherungsträger und eine Rentnerin über die Erstattung von Kosten eines Widerspruchsverfahrens gestritten. Die Frau hatte mehrere Rentenbescheide erhalten. Diese enthielten auch die Anlagen „Berechnung der Rente“, „Versicherungsverlauf“ und „Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte“. Wie die Berechnung zustande kam, war indes nicht ersichtlich. Die Bescheide führten nur die Summe ihrer Entgeltpunkte auf.

Als die Frau Widerspruch einlegte und um eine nachvollziehbare Berechnungsgrundlage bat, kam der Rentenversicherungsträger dem nach. Die Rentnerin zog daraufhin ihren Widerspruch zurück. Die Kosten des Widerspruchsverfahrens wollte der Rentenversicherungsträger aber nicht übernehmen. Dieser sei ja nicht erfolgreich gewesen, so die Begründung.

„Verschlankung“ Grenzen gesetzt

Doch der Rentenversicherungsträger muss die Kosten des Widerspruchsverfahrens erstatten, urteilte nun das LSG. Er sei zwar gesetzlich verpflichtet, Rentenbescheide persönlicher und verständlicher zu formulieren und diese ansprechender zu gestalten. Eine „Verschlankung“ dürfe aber nicht so weit gehen, dass „man komplexe, für den Laien kaum verständliche Regelungen auf Kosten der Nachvollziehbarkeit“ weglasse.

Ohne wesentliche Angaben zur Berechnung der Rentenhöhe sei der Bescheid mangelhaft begründet. Hier seien lediglich die Summen der Entgeltpunkte mitgeteilt worden. Wegen dieses Fehlers sei der Rentenversicherungsträger zur Erstattung der im Widerspruchsverfahren angefallenen Kosten verpflichtet. Das LSG ließ die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.

Az.: L 18 R 306/20



Oberverwaltungsgericht

Mann wegen Missbrauchs vorbestraft: Tagesmutter erhält Berufsverbot



Münster, Köln (epd). Eine Tagesmutter aus Siegburg, die ihren wegen schweren Kindesmissbrauchs vorbestraften Ehemann mit in die Arbeit eingebunden hatte, darf laut Gericht keine Kinder mehr betreuen. Die Frau besitze nicht mehr die erforderliche Eignung für die Kindertagespflege, heißt es in dem am 23. Juni veröffentlichten Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen in Münster. Denn eine Erlaubnis verlange, dass eine Tagesmutter die von ihr betreuten Kinder auch vor möglichen Schädigungen und Gefährdungen durch Dritte schütze. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte damit einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Köln. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Die Antragstellerin betrieb den Angaben zufolge mit einer weiteren Tagesmutter eine Großtagespflege in Siegburg. Die Stadt Köln entzog ihr die Tagespflegeerlaubnis, nachdem Mitarbeiter des Jugendamtes bei einem unangemeldeten Hausbesuch ihren vorbestraften Ehemann in den Räumlichkeiten angetroffen hatten. Er hatte den Angaben zufolge eine mehrjährige Haftstrafe unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in den Jahren 1997 bis 2005 verbüßt. Ein gegen ihn ausgesprochenes Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen war im Jahr 2017 ausgelaufen.

„Mann war nur Hausmeister“

Die Frau machte vor Gericht geltend, ihr Ehemann habe sich lediglich zu Hausmeistertätigkeiten in der Großtagespflege aufgehalten. Dabei sei eine Überschneidung mit den Betreuungszeiten der Kinder nicht immer vermeidbar gewesen. Gespräche mit Eltern ergaben, dass sie ihn lediglich als ein Teammitglied vorgestellt habe. Er soll sich demnach regelmäßig und nicht nur kurzzeitig etwa zu den Bringzeiten in der Tagespflegestelle aufgehalten haben. Vorübergehend soll sie ihm sogar die Aufsicht über zwei Tageskinder überlassen haben, lautet ein Vorwurf. Die Tagesmutter bestreitet das.

Der 12. Senat des Oberverwaltungsgericht erklärte die Aufhebung der Kindertagespflegerlaubnis für rechtsmäßig. In dem Fall könne die Antragstellerin nicht sicherstellen, dass ihr Ehemann die Hausmeistertätigkeiten außerhalb der Anwesenheitszeiten der Kinder erledige, urteilten die Richterinnen und Richter: „Schon daraus ergibt sich eine drohende Kindeswohlgefährdung.“

Az.: 12 B 910/21



Kirchengerichtshof

Dienstplanänderung nicht ohne die Mitarbeitervertretung



Hannover (epd). Ein diakonisches Krankenhaus darf von der Mitarbeitervertretung (MAV) gebilligte Dienstpläne nicht einseitig wieder ändern. Selbst wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter mit der Dienstplanänderung einverstanden ist oder es sich um Eilfälle handelt, darf der Arbeitgeber die MAV nicht übergehen, entschied der Kirchengerichtshof (KGH) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover in einem am 17. Juni veröffentlichten Beschluss.

Konkret ging es um den Betreiber zweier diakonischer Krankenhäuser an zwei Standorten in Mitteldeutschland. Dort arbeiten unter anderem über 400 Mitarbeitende im Pflegebereich. Der Arbeitgeber hatte sich entsprechend den Vorgaben im Mitarbeitervertretungsgesetz mit der MAV über die Dienstpläne und dem Beginn und Ende der Arbeitszeit geeinigt.

Doch dann änderte er den Dienstplan einseitig für einen bestimmten Dienst. Die MAV wurde lediglich über die Änderungen unterrichtet. Darin sah das Gremium eine Verletzung ihres Mitbestimmungsrechts. Der Arbeitgeber müsse ihr alle Dienstplanänderungen 48 Stunden vorher zur Prüfung vorlegen, lautete die Begründung.

Der Klinikbetreiber lehnte das ab. Gerade bei kurzfristigen Ausfällen von Mitarbeitenden sei solch eine Frist nicht einzuhalten, hieß es. Zur Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zum Pflegepersonal und zur Aufrechterhaltung der Patientenversorgung müsse auch kurzfristig ein Ersatz möglich sein.

Gericht gibt MAV recht

Der KGH gab der MAV jedoch recht. Grundsätzlich sei jede Änderung eines einmal beschlossenen Dienstplans mitbestimmungspflichtig. Das gelte auch für Eilfälle. Nur bei Maßnahmen, die keinen Aufschub duldeten, seien vorläufige Regelungen möglich. Der MAV gegenüber müsse das begründet werden. Es bestehe dabei die Pflicht, dass die Dienststellenleitung „beim Kirchengericht die Duldung der Durchführung des Dienstplans beantragen muss“, so die Hannoveraner Richter.

Die Mitbestimmungspflicht gelte auch dann, „wenn gesetzliche Personaluntergrenzen oder die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der patientenwohlgerechten Versorgung kurzfristig eine Änderung des Dienstplans verlangen“. Selbst wenn ein betroffener Beschäftigter einer Dienstplanänderung zustimmt, dürfe die MAV nicht außen vor bleiben. Denn die Mitbestimmung diene der Festlegung „angemessener Arbeitszeiten“, der Gleichbehandlung von Beschäftigten, sozialen Zwecken und Gesundheitsschutzbelangen, mahnte der KGH.

Az.: I-0124/9-2020



Europäischer Gerichtshof

Abschiebehaft für EU-Bürger muss kürzer sein als für andere



Brüssel, Luxemburg (epd). EU-Bürger, die aus einem anderen EU-Land in ihr Herkunftsland abgeschoben werden sollen, dürfen nicht so lange in Abschiebehaft festgehalten werden wie Abschiebehäftlinge aus Drittländern. Das entschied der Europäische Gerichtshof am 22. Juni in Luxemburg mit Blick auf Belgien, das 2017 für beide Gruppen eine maximale Abschiebehaft von acht Monaten eingeführt hatte. Der Gerichtshof argumentierte, dass Abschiebungen innerhalb der EU wegen der engen Verbindungen untereinander in der Regel viel einfacher seien als in Länder außerhalb der Union.

In dem Fall ging es nicht um eine konkrete Inhaftierung oder Abschiebung, sondern um ein belgisches Gesetz, das Abschiebungen von EU-Ausländern aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erlaubt. Eine Rechtsanwaltskammer und Nichtregierungsorganisationen hatten vor dem belgischen Verfassungsgericht dagegen geklagt.

Der Europäische Gerichtshof urteilte nun, dass EU-Bürger mit Blick auf solche Abschiebungen grundsätzlich denselben Prozeduren wie Ausländer aus anderen Ländern unterworfen werden dürften, etwa der Zuweisung eines bestimmten Aufenthaltsortes und im Extremfall Haft. Zugleich betonte er, dass Unionsbürger „einen Status und Rechte ganz anderer Art genießen“ als Ausländer aus Drittstaaten. Derartige Maßnahmen gegen sie dürften daher nicht ungünstiger sein als Maßnahmen gegen andere Ausländer - und im Fall der Haftdauer müssten sie sogar günstiger sein.

(AZ: C-718/19)




sozial-Köpfe

Verbände

Beate von Miquel ist Vorsitzende des Deutschen Frauenrates




Beate von Miquel
epd-bild/EFiD/Damian Gorczany
Beate von Miquel (53), evangelische Theologin und promovierte Historikerin, ist neue Vorsitzende des Deutschen Frauenrates. Sie wurde am 20. Juni an die Spitze des Verbandes gewählt und folgt auf Mona Küppers, die das Amt seit 2016 innehatte.

Beate von Miquel gehört den Evangelischen Frauen in Deutschland an und ist als Geschäftsführerin am Marie Jahoda Center for International Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum tätig. Lisi Maier (AG Katholische Frauen) und Anja Weusthoff (DGB) wurden für die kommenden vier Jahr zu stellvertretenden Vorsitzenden des Frauenrates gewählt, dem rund 60 Mitgliedsorganisationen angehören.

„Wir freuen uns außerordentlich, dass eine EFiD-Frau nun an der Spitze des größten frauenpolitischen Lobbyverbands wirken wird.“ begrüßt Susanne Kahl-Passoth, Vorsitzende der Evangelischen Frauen in Deutschland die Wahl. Die Evangelischen Frauen in Deutschland, deren Mitglied von Miquel ist, sind einer von 59 Mitgliedsverbänden des Deutschen Frauenrates. Kahl-Passoth kandidierte nach sieben Jahren als stellvertretende Vorsitzende des Frauenrats nicht erneut für dessen Vorstandsarbeit.

Über die Kernthemen des Deutschen Frauenrats hinaus will von Miquel Chancengleichheit im Bildungssektor, in der Wirtschaft, im Care-Sektor und in der Politik vorantreiben. So sei etwa der Anteil der Gründerinnen bei Start-ups im technischen und digitalen Sektor noch vergleichsweise gering und auch in den Parlamenten sei ein Rückgang des Frauenanteils zu beobachten.

Auf seiner Mitgliederversammlung forderte der Verband ein Bekenntnis der demokratischen Parteien zu einer aktiven Gleichstellungspolitik zur Überwindung der Corona-Pandemie. „Die Pandemie hat die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verstärkt. Für die Parteien und die künftige Bundesregierung muss sie Anlass sein, diese Ungleichheiten endlich abzubauen“, sagte Miquel.



Weitere Personalien



Kathrin Sonnenholzner und Michael Groß übernehmen als erste Doppelspitze die Leitung des Präsidiums der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Sie treten die Nachfolge von Wilhelm Schmidt an. Sie wurden von der Bundeskonferenz mit ihren 167 Delegierten gewählt. Sonnenholzner ist Ärztin und saß für die SPD von 2003 bis 2018 im Bayerischen Landtag. 2002 übernahm sie das Amt einer Kreisrätin im Landkreis Fürstenfeldbruck und ist dort seit 2005 Fraktionsvorsitzende. Michael Groß ist seit 2009 SPD-Bundestagsabgeordneter. Dort leitet er als Vorsitzender die AWO-Parlamentariergruppe der Fraktion. Er kommt aus NRW, ist Vermessungstechniker und Diplom-Sozialarbeiter.

Andrea Thiele (52) wird neue Vorständin der St. Elisabeth-Stiftung in Bad Waldsee. Sie übernimmt das Amt am 1. Oktober. Thiele bildet in Zukunft zusammen mit Matthias Ruf den Vorstand der Stiftung. Andrea Thiele leitet derzeit bei der Erzdiözese München und Freising die Hauptabteilung Caritas und Soziales sowie kommissarisch das Ressort Caritas und Beratung. Außerdem ist sie Aufsichtsratsvorsitzende des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising e.V. und Mitglied in Aufsichtsgremien mehrerer katholischer Verbände und Stiftungen. Andrea Thiele hat nach einer kaufmännischen Ausbildung den Studiengang der Religionspädagogik/Kirchliche Bildungsarbeit an der Universität Eichstätt absolviert und „Organization Studies“ in Hildesheim studiert.

Tilmann Haberer (65), evangelischer Leiter der Ökumenischen Krisen- und Lebensberatung „Münchner Insel“, geht in den Ruhestand. Seit 2006 hat der Pfarrer die Beratungsstelle im Marienplatz-Untergrund zusammen mit Sibylle Löw geleitet. Der Gestaltseelsorger und systemischer Berater wurde 20. Juni mit einem Gottesdienst verabschiedet. Sein Nachfolger als Leiter der Münchner Insel wird Norbert Ellinger, der bislang die Telefonseelsorge im Evangelischen Beratungszentrum (ebz) in München verantwortet.

Godula Kosack, Professorin und Vorstandsvorsitzende von Terre des Femmes, hat am 18. Juni in Dresden der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen bekommen. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) würdigte mit ihr tatkräftiges Engagement und ihren Einsatz für das Gemeinwohl und besonders für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Mädchen und Frauen. Kosack, Professorin für Soziologie und Ethnologin, lebt in Leipzig und seit 2015 ist sie im Bundesvorstand von Terre des Femmes. Sie setzt sie sich schwerpunktmäßig gegen weibliche Genitalverstümmelung ein und hielt sich deshalb seit 1985 immer wieder für längere Zeit in Nordkamerun auf.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis August



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Juli

6.-8.7.:

Virtuelle Fachmesse „Altenpflege“

des Vincentz-Verlages

Tel.: 0511/89-30417

7.-8.7.:

Online-Seminar „Haftungsrecht und Gemeinnützigkeit“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

August

5.8.:

Online-Seminar „Die Dublin-III-Verordnung - Eine Einführung“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

12.8.: Berlin:

Seminar „Konfliktmanagement und Mediation in Organisationen - Ziel- und methodensicher mit Konflikten umgehen!“

der Paritätischen Akademie Berlin, bis November

Tel.: 030/275828227

14.-17.8.:

Online-Kurs „Agile Führungsansätze - online Soziale Organisationen für die Zukunft ausrichten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandess

Tel.: 0761/200-1700

23.-27.8. Freiburg:

Fortbildung „Projektmanagement - Effektiv planen und erfolgreich zusammenarbeiten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

26.8. Berlin:

Fortbildung „Veränderung initiieren - wirksame Führungsimpulse setzen“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

31.8.:

Webinar „Einstieg in die Welt der öffentlichen Fördermittel: EU, Bund, Länder und Kommune“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-160

31.8. Berlin:

Seminar „Grundlagen des Arbeitsrechtes in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - Gestaltungsspielräume nutzen“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-160