sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) wirft deutschen Behörden das Outing der sexuellen Neigungen von Asylsuchenden in mehreren Fällen vor. „Vertrauliche Informationen aus Asylverfahren werden an Leute im Heimatland gegeben. Das bedeutet in vielen Fällen das Ende der sozialen Existenz“, sagt LSVD-Vorstandsmitglied Patrick Dörr im Interview.

Nach dem Rücktritt von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (beide SPD) das Familienministerium zusätzlich übernommen. Die SPD-Spitze hatte entschieden, vor der Bundestagswahl am 26. September keine neue Ministerin mehr zu benennen. Giffey gab ihr Ministeramt auf, weil ihr möglicherweise die Aberkennung ihres Doktortitels bevorsteht.

Die Geschäftsführerin des Caritas-Fachverbandes Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP), Janina Bessenich, kritisiert: "Es zeigt sich ein krasses Politikversagen, wenn man sieht, wie die Belange von Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in der Corona-Krise übersehen worden sind." Im Gastbeitrag für epd sozial analysiert sie die Lage für die Betroffenen.

Die hohe Belastung in der Corona-Pandemie birgt für psychisch Erkrankte die Gefahr, dass sie in eine akute Psychose stürzen. Für Notfälle, in denen die Betroffenen nicht ansprechbar sind, tragen manche von ihnen Krisenpässe bei sich. Sie sollen sie vor falscher Medikamentengabe und vor allem Zwangseinweisungen bewahren.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechte von geistig behinderten sowie von psychisch kranken Menschen und ihren Familienangehörigen gestärkt. Ihre Wünsche bei der Betreuung haben hohen Rang, erklärten die Richter. Nach Auffassung des Patientenschützers Eugen Brysch hat die höchstrichterliche Entscheidung auch eine große Bedeutung für die rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland.

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Markus Jantzer





sozial-Politik

Flüchtlinge

Plötzlich geoutet




Zwei homosexuelle Flüchtlinge aus Syrien in Mainz (Archivbild)
epd-bild/Andrea Enderlein
Mehrere Asylsuchende in Deutschland sind möglicherweise durch Aktivitäten deutscher Behörden in ihren Heimatländern geoutet worden. Das Bekanntwerden ihrer homo- oder bisexuellen Orientierung hat fatale Folgen für Betroffene und ihr Umfeld.

Freiburg, Berlin (epd). Der Tag, an dem Saad Khan (Name geändert) seine Familie verlor, war ein heißer Tag im August 2020. Sein Bruder rief ihn aus Pakistan an und fragte Saad Khan mit reservierter Stimme, ob er diesen und jenen Mann oder jene Frau kenne - und ob er eine Beziehung mit diesen Personen gehabt habe. Ein Mann sei im Dorf gewesen, ein Anwalt aus einer fernen Stadt. Er habe wissen wollen, ob Saad bisexuell sei. „Seit diesem Tag meiden meine Familie und ich den Kontakt miteinander. Ich bin ganz allein“, sagt Saad Khan. Heute lebt er in der Nähe von Freiburg und wartet auf die Anerkennung seines Asylantrags.

Vor-Ort-Recherchen eines Vertrauensanwalts

Ob das Gespräch zwischen Anwalt und Bruder genau so stattfand, wie es aus Saad Khans Schilderungen hervorgeht, lässt sich nicht rekonstruieren. Fest steht aber: Der Anwalt war da. Dem Evangelischen Pressedienst (epd) liegt ein Dokument des Auswärtigen Amtes vor, das von Vor-Ort-Recherchen eines Vertrauensanwalts berichtet. Dieser habe mit dem Vater Khans über die Informationen gesprochen, die sein Sohn im Asylverfahren gegeben habe. Der Anwalt habe überprüft, ob es die Personen, die er genannt habe, tatsächlich gibt - und dann habe er wissen wollen, ob es in der Region eine „homosexuelle Szene“ gebe. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) sagt: Das ist ein Zwangsouting. Es habe mindestens ein weiteres gegeben, wahrscheinlich aber viel, viel mehr. Sollte das zutreffen, verstieße das Auswärtige Amt gegen geltendes Recht, erklärt der Verband.

„Es gibt ein Muster bei allen Fällen, die wir bisher kennen“, sagt Patrick Dörr vom LSVD-Bundesvorstand. Bei lesbischen, schwulen und bisexuellen Geflüchteten wolle das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Angaben zur sexuellen Identität oft überprüfen. Dazu werde ein Fragenkatalog an das Auswärtige Amt übersendet, das über die Botschaften wiederum Vertrauensanwälte mit der Recherche beauftrage. „Und spätestens an dieser Stelle passieren die Fehler - und eben die Outings.“

Ein weiteres Beispiel dafür ist die Geschichte eines Geflüchteten aus Nigeria, der sich nach seinem mutmaßlichen Zwangsouting an den LSVD gewandt hat: Dieses geschah, wie aus Dokumenten des Auswärtige Amtes hervorgeht, ebenfalls durch einen Vertrauensanwalt der Behörde - der unter anderem die Ehefrau eines Notars fragte, was sie über ein Dokument wisse, das die Homosexualität des Antragsstellers bescheinige.

Kontakt zur Familie abgebrochen

Sieht man sich diese Fälle näher an, wird der unglückliche Verlauf deutlich: Eine Anfrage eines Fallbearbeiters des Bamf landet auf einem Schreibtisch im Auswärtigen Amt, sie wird weitergeleitet an eine deutsche Botschaft, dann führt im Heimatland des Asylbewerbers ein Anwalt einen Auftrag aus. Und das kann schiefgehen. Die Frage lautet nur: Warum das alles?

„Wenn in einem Asylverfahren die Glaubhaftigkeit des Vortrags angezweifelt wird, gibt es die Möglichkeit, zu einer erneuten Anhörung einzuladen“, sagt LSVD-Sprecher Patrick Dörr. Nachforschungen über eine Person im Heimatland seien ein extremes Mittel. „Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.“ Zudem habe das Bundesverfassungsgericht bereits 2005 geurteilt, dass Menschen nicht durch deutsche Stellen in ihrem Heimatland geoutet werden dürften.

Beim Auswärtigen Amt scheint man sich der Problematik solcher Prüfungen durchaus bewusst zu sein. Man beauftrage in „derartigen Fällen“ nur Anwältinnen und Anwälte, mit denen seit langem eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bestehe, heißt es auf epd-Anfrage. „Diese werden regelmäßig für die besonderen Umstände in solchen Konstellationen sensibilisiert und jährlich ausdrücklich über die geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen belehrt.“ Eine Anfrage an das Bamf, wie oft solche Prüfungen in der Vergangenheit beauftragt wurden, leitete dieses weiter an das übergeordnete Bundesinnenministerium. Dort blieb sie unbeantwortet.

Saad Khan weiß nicht, ob anderen Menschen durch sein Outing Schaden zugefügt wurde, etwa früheren Partnern oder deren Angehörigen - Kontakt zu seiner Familie hat er so gut gar keinen mehr. „Wenn ich nach Pakistan zurück müsste, würde man mich wahrscheinlich umbringen“, sagt er. Er hofft darauf, dass sein Asylantrag anerkannt wird.

Sebastian Stoll


Flüchtlinge

Interview

"Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen"




Patrick Dörr
epd-bild/LSVD/Kadatz
Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland erhebt schwere Vorwürfe gegen das Auswärtige Amt. Vertrauliche Informationen aus Asylverfahren würden weitergegeben und dadurch zu einer Gefahr im Heimatland der Betroffenen.

Berlin (epd). Um die Angaben von Geflüchteten über ihre sexuelle Identität zu überprüfen, beauftragen deutsche Behörden bisweilen Anwälte vor Ort mit Umfeldrecherchen. Das führt laut Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) immer wieder zu Zwangsoutings. LSVD-Vorstandsmitglied Patrick Dörr beklagt im Interview eine fehlende Verhältnismäßigkeit beim Anordnen solcher Prüfungen. Mit ihm sprach Sebastian Stoll.

epd sozial: Herr Dörr, der LSVD hat mehrere Fälle von Zwangsoutings von Geflüchteten in ihren Heimatländern dokumentiert. Gibt es bei hier ein Muster?

Patrick Dörr: Es gibt ein solches Muster bei allen Fällen, die wir bisher kennen: Bei lesbischen, schwulen und bisexuellen Asylantragstellerinnen soll überprüft werden, ob ihre Aussage stimmen - und das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration bittet das Auswärtige Amt, ein paar Fragen zu beantworten. Ein entsprechender Katalog geht dann über das Amt an die Botschaften - und diese beauftragen Vertrauensanwälte damit, Informationen einzuholen. Und spätestens an dieser Stelle passieren die Fehler - und eben die Outings.

epd: Sie haben derzeit zwei Fälle recherchiert, bei einem dritten erhärtet sich Ihren Angaben zufolge der Verdacht. Gibt es Ihrer Ansicht nach eine Dunkelziffer?

Dörr: Das ist natürlich schwer zu beantworten. Aber es spricht momentan nichts dafür, dass es keine weiteren Fälle gibt. In den uns bekannten Fällen hat das Bamf unter den Fragenkatalog den Vermerk gesetzt, dass es keine Einschränkungen gibt für die Einholung der Informationen. Angesichts dessen können wir uns sogar sehr gut vorstellen, dass es weitere Fälle gibt.

epd: Was bedeutet ein Zwangsouting für die Betroffenen?

Dörr: Diese Personen befinden sich zum Zeitpunkt des Outings ja in Deutschland. In einem laufenden Asyl- oder Klageverfahren. Es ist noch gar nicht sichergestellt, dass sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren müssen. Für den Fall eines negativen Asylbescheids wird also ihre Gefährdung erhöht. So oder so bedeutet dieses Outing aber, dass der Datenschutz dieser Menschen mit Füßen getreten wird. Vertrauliche Informationen aus dem Asylverfahren werden an Leute im Heimatland gegeben. Das bedeutet in vielen Fällen das Ende der sozialen Existenz. Wir reden hier von Ländern wie Nigeria oder Pakistan, in denen auf homosexuelle Handlungen Strafen bis hin zur Todesstrafe möglich sind.

epd: Was bedeutet ein Zwangsouting für die Menschen im Umfeld einer betroffenen Person?

Dörr: In der Regel hat eine solche Person in ihrem Herkunftsland Umgang mit anderen schwulen, lesbischen, bisexuellen Personen. Auch diese sind dadurch in Gefahr, geoutet zu werden. In zumindest einem der Fälle scheint das auch passiert zu sein. Zudem sind auch Familienangehörige in Gefahr: Unseren Recherchen zufolge ist die Mutter eines Antragstellers durch die Nachforschungen im Heimatland so sehr in Sorge versetzt worden, dass sie in eine andere Stadt gezogen ist.

epd: Sehen Sie ein strukturelles Problem in der Fallbearbeitung durch das Bamf und das Auswärtige Amt?

Dörr: Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen - denn wenn in einem Asylverfahren die Glaubhaftigkeit des Vortrags angezweifelt wird, gibt es auch die Möglichkeit, zu einer erneuten Anhörung einzuladen. Nachforschungen über eine Person im Heimatland sind ein extremes Mittel. Wo ist da die Verhältnismäßigkeit?

epd: Und falls sich Nachforschungen im Heimatland in einem Fall als unentbehrlich erweisen sollten?

Dörr: Wir sagen nicht grundsätzlich, dass es diese nicht geben darf. Wir können uns Situationen vorstellen, in denen das sinnvoll ist. Das Problem ist, dass dabei ein Outing passiert: Es ist kaum möglich, Fragen zu einer Person zu stellen und dabei Fragen zu Homo- und Bisexualität unterzubringen. Allein durch den Zusammenhang sind diese Fragen ein faktisches Outing.

Ich muss auch sagen, dass wir viele Fälle von Menschen kennen, wo wir sehr sicher sind, dass sie lesbisch, schwul oder bisexuell sind, von denen wir teilweise die Partner und Partnerinnen auch kennen - und von denen wir dann erfahren, dass ihnen im Asylverfahren nicht geglaubt wird.

epd: Woran liegt das?

Dörr: Das Bamf bräuchte eine noch größere Sensibilität bei der Anhörenden von LSBTI-Fällen. Oft treten da sehr stereotypen Vorstellungen zutage. Es kommt etwa vor, dass einer Person nicht geglaubt wird, dass sie zum Beispiel schwul ist, weil sie eine bestimmte Dating-App nicht kennt - oder weil sie wenige Wochen nach der Ankunft in Deutschland noch keinen Geschlechtsverkehr mit einem Mann hatte. Das berichten uns die Beratungsstellen, teilweise kennen wir auch die Bescheide.

epd: Befürchten Sie Auswirkungen auf Ihre Arbeit mit queeren Geflüchteten, wenn sich diese Praxis nicht ändert?

Dörr: Wir werden den Menschen mitteilen müssen, dass ihre Angaben im Asylverfahren möglicherweise nicht mehr vertraulich behandelt werden. Wenn wir ihnen sagen, dass auf ihre Angaben hin jemand in ihr Heimatdorf gehen und recherchieren könnte, wird das natürlich auch ihr Verhalten im Asylverfahren ändern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2005 geurteilt, dass ein Vorgehen, wie wir es hier vom Auswärtigen Amt sehen, verfassungswidrig ist. LSBTI-Geflüchtete dürfen in ihren Herkunftsländern nicht durch deutsche Stellen geoutet werden.



Gesundheit

Was im Notfall gar nicht geht




Eine Patientin im Flur einer psychiatrischen Klinik
epd-bild/Werner Krüper
Wer in eine akute psychische Krise gerät, die ihn geistig verwirrt, kann sich in einem Notfall nicht mehr selbst helfen. Für solche Patienten gibt es Krisenpässe. Die kleinen Aufklärer im Portemonnaie sollen falsche Akutmaßnahmen verhindern.

München (epd). Ein Mensch, der sich in einer akuten Psychose befindet, kann meist nicht mehr deutlich machen, welche Hilfe er gern hätte - und was nun auf gar keinen Fall getan werden sollte. In solchen Notsituationen leisten sogenannte Krisenpässe Aufklärung. Die allerersten Krisenpässe entstanden vor über 30 Jahren in Hannover. In München wurde 1997 ein Krisenpass aus der Selbsthilfe heraus entwickelt. Viele Psychiatrie-Erfahrene haben ihn heute im Geldbeutel stecken.

Ansprechpersonen im Notfall

Seelisch Erkrankte, die sich für den Münchner Krisenpass entscheiden, beschreiben darin, woran sie leiden: etwa an einer Depression, an einer Schizophrenie oder an Phobien. Sie halten fest, wie sie im Notfall behandelt werden wollen. Welche Medikamente sie einnehmen. Welche ihnen bisher in einer Krise gut geholfen haben und mit welchen Arzneien sie in der Vergangenheit in Krisensituationen schlechte Erfahrungen gemacht haben. Der Krisenpass gibt außerdem Auskunft darüber, wer der rechtliche Betreuer ist und von welchem Arzt der Passinhaber derzeit behandelt wird. Ferner werden Personen genannt, die im Notfall benachrichtigt werden können.

Somatisch Erkrankte können frei entscheiden, ob sie sich einer Operation unterziehen wollen oder ob sie ein bestimmtes Medikament einnehmen möchte - zumindest wenn sie bei klarem Verstand sind. „In der Psychiatrie wird der Wille der Patienten nicht immer berücksichtigt“, sagt Mirko Bialas vom Verein Münchner Psychiatrie-Erfahrene (MüPe), der selbst an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt ist. Ärzte täten bis heute teilweise so, als wüssten seelisch Kranke nicht, was für sie gut wäre. Darum komme es noch immer zu Zwangseinweisungen. Er selbst sei einmal „gewaltsam“ in die Klinik „verfrachtet“ worden: „Die Polizisten hatten mich nicht gefragt, ob ich freiwillig mitkommen würde.“

Gefährliche Zwangsbehandlungen

Zwangsweise Behandlungen können große Qualen bei den Betroffenen verursachen. Teilweise sind Zwangsbehandlungen richtig gefährlich, warnt Bialas: „Es gibt zum Beispiel Erkrankte, die auch in einer Krise keinesfalls das Beruhigungsmittel Tavor wollen, da sie davon schon mal abhängig wurden.“ Genau so etwas kann im Krisenpass vermerkt sein. Viele 1.000 Krisenpässe wurden nach Angaben des MüPe-Geschäftsführers inzwischen in der bayerischen Landeshauptstadt ausgegeben. Der Ausweis passt gut ins Portemonnaie: „Er befindet sich also dort, wo man zuerst nachschaut, wenn man die Identität eines Menschen feststellen möchte.“

Bevor es den Krisenpass gab, schrieben Betroffene manchmal auf einem Zettel, wie sie behandelt werden wollen oder nicht. Mirko Bialas ist das Beispiel von Petra L. bekannt, die auf einem Blatt Papier festhielt: „Ich vertrage kein Haldol! Falls ich in einer psychotischen Krise bin, so möchte ich mit Lyogen behandelt werden.“ Ihr Arzt hatte den Zettel abgestempelt.

In Krisenpässen geht es jedoch nicht nur um Arzneien. Auch solche Sätze können in einem Krisenpass zu lesen sein: „Man sollte nicht im Befehlston mit mir sprechen. Das hat eine eskalierende Stimmung zufolge.“ Nicht zuletzt geht es darum, Behandlungen, die als Zwang empfunden werden, zu verhindern.

„Erhebliche Traumatisierungen“

Dass zwangsweise Behandlungen höchst nachteilige Folgen für Patienten haben können, bestätigt Thomas Pollmächer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie könnten „erheblich traumatisieren“, weshalb sie allenfalls als „ultima ratio“ in Frage kämen. „Krisenpässe können, sind sie sorgfältig erstellt und aktuell, ein sehr wirksames Mittel zur Vermeidung solcher Maßnahmen sein“, bestätigt der Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit des Klinikums Ingolstadt.

Nicht alle psychisch Kranken sind jedoch rundum zufrieden damit, wie in der Praxis mit Krisenpässen umgegangen wird. Bei der MüPe trudelte unlängst eine Beschwerde ein. Es seien „zig Gründe“ gefunden worden, warum man in seinem Fall nicht berücksichtigt habe, was im Pass stand, monierte der betroffene Mann. „Dies ist allerdings der einzige Beschwerdefall zum Krisenpass, den ich kenne“, sagt Mirko Bialas, der seit zwei Jahren MüPe-Geschäftsführer ist.

Ein Krisenpass ist ein wirksames Mittel zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts, bestätigt Krankenpflegerin Katharina Molzow, die sich intensiv mit Krisenpässen beschäftigt hat. Doch in vielen Kliniken sei kaum jemand mit dem Thema vertraut: „Somit werden keine Krisenpässe angewandt oder Betroffene darüber informiert.“

Tendenzwende in der Psychiatrie

Krisenpässe seien im Übrigen nicht die einzige Möglichkeit, Behandlungswünsche festzulegen. In ihren Recherchen, die Molzow 2019 an der Bielefelder Fachhochschule der Diakonie vorstellte, fand sie 16 unterschiedliche Instrumente. Neben Krisenpässen gibt es zum Beispiel Behandlungsvereinbarungen.

Nicht überall sind Krisenpässe so stark verbreitet wie im Raum München. Die Nachfrage in ihrer Einrichtung sei sehr gering, berichtet Angelika Koch, Leiterin der Kontakt- und Beratungsstelle des Bochumer Vereins „Brücke“ für seelisch kranke Menschen. Möglicherweise liege dies daran, dass es in Bochum fast keine schlechten Erfahrungen mehr mit der Psychiatrie gebe: „Ich wüsste kaum jemand von unseren Klienten, der in letzter Zeit zwangsbehandelt wurde.“ Früher sei öfter mal ein Patient gegen seinen Willen ins Krankenhaus gekommen, so Koch, die seit 30 Jahren bei der „Brücke“ arbeitet.

Die Frage, was man als Arzt tun und was man lieber nicht tun sollte, um einem Menschen in einer psychischen Krise zu helfen, bleibt für Ingo Ulzhoefer aus Itzehoe ungeachtet dessen essenziell. Ulzhoefer leitet das Projekt „Betroffenenbeteiligung“ im Zentrum für Psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe, außerdem sitzt er dem Landesverband der unabhängigen Beschwerdestellen in Schleswig-Holstein vor. Damit ein psychisch kranker Mensch genesen könne, sollte seine Therapie „verhandelt“ werden, fordert der Psychiatrieerfahrene.

Noch kann Ulzhoefer keine Tendenzwende in der Psychiatrie erkennen. Das Bewusstsein, wie wichtig es ist, dass psychisch Kranke ihre Genesung in die eigenen Hände nehmen, sei noch nicht überall angekommen. Ulzhoefer hält es jedoch „für dringend geboten, dass Behandlungsvereinbarungen zu einem festen therapeutischen Bestandteil der psychiatrischen Behandlung werden“.

Der Krisenpass ist nicht unumstritten. „Er muss dahingehend überarbeitet werden, dass die Ressourcen der Betroffenen, ihres sozialen Umfelds und die positiven Erfahrungen mit Kriseninterventionen und mit Behandlungsmaßnahmen berücksichtigt werden“, sagt Catrin Lagerbauer. Sie ist Psychiatriekoordinatorin der Region Hannover, wo es bereits seit den 1980er Jahren einen „Krisenpass für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung“ gibt. Dieser Pass gilt aus heutiger Sicht als zu defizitorientiert: „Das heißt, er ist zu sehr auf Fragen der psychiatrischen Diagnosen und der pharmakologischen Therapie ausgerichtet.“

Pat Christ


Bundesregierung

Familienministerin Giffey wegen Doktortitel-Affäre zurückgetreten




Bundesfamilienministerin Franziska Giffey
epd-bild/Christian Ditsch
Wenige Monate vor der Bundestagswahl und im Wahlkampf um den Bürgermeister-Posten in Berlin tritt Bundesfamilienministerin Giffey von ihrem Amt zurück. Damit zieht sie vorzeitig die Konsequenz aus der möglichen Aberkennung ihres Doktortitels.

Berlin (epd). Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) tritt wegen einer möglichen Aberkennung ihres Doktortitels zurück. Sie habe Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) um die Entlassung aus ihrem Amt gebeten, teilte Giffey am 19. Mai in Berlin mit. Merkel erklärte, sie habe die Rücktrittsentscheidung „mit großem Respekt und mit ebenso großem Bedauern“ entgegengenommen.

„Belastendes Verfahren“

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) führt nun das Familienministerium zusätzlich zum Justizressort bis zur Einsetzung einer neuen Bundesregierung. Am 26. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Die SPD-Spitze hatte entschieden, keine neue Ministerin mehr zu benennen. Lambrecht wurde am 20. Mai von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusätzlich zur Familienministerin ernannt.

Giffey reagiert mit ihrem Rücktritt auf den bevorstehenden Abschluss eines erneuten Verfahrens an der Freien Universität Berlin zur Überprüfung von Plagiatsvorwürfen gegen ihre Dissertation. Sie ziehe „bereits heute die Konsequenzen aus dem andauernden und belastenden Verfahren“, erklärte Giffey: „Damit stehe ich zu meinem Wort.“ Die Mitglieder der Bundesregierung, ihre Partei und die Öffentlichkeit hätten „Anspruch auf Klarheit und Verbindlichkeit“, schrieb sie in einer persönlichen Erklärung. Die SPD-Politikerin hatte 2019 angekündigt, ihr Amt aufzugeben, wenn ihr der Doktortitel aberkannt werden sollte.

Die stellvertretende Regierungssprecherin Martina Fietz sagte, es gebe noch keine Entscheidung darüber, wer nach dem Rücktritt das Ministerium bis zum Ablauf der Legislaturperiode führen wird.

Nach bestem Wissen und Gewissen

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) reagierte mit persönlichem Bedauern. Er habe Giffeys „optimistische und immer zugewandte Art“ geschätzt und sie als Ministerin „immer sehr engagiert und sachorientiert erlebt“, erklärte er. Die familienpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Ekin Deligöz, kritisierte, es wäre besser gewesen „früher reinen Tisch zu machen und das Amt nachzubesetzen“.

Giffey erklärte, die Freie Universität habe ihr bis Anfang Juni eine Frist zur Stellungnahme zu dem Prüfbericht eingeräumt, die sie wahrnehmen werde. Sollte die Universität zu dem Ergebnis kommen, ihr den Doktortitel abzuerkennen, werde sie die Entscheidung akzeptieren. Sie versicherte erneut, sie habe ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben. Giffey hatte an der Freien Universität 2009 eine Doktorarbeit über die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft eingereicht und war 2010 promoviert worden.

Plakative Titel

Eine erste Überprüfung der Dissertation im Jahr 2019 hatte nicht zur Aberkennung des Doktortitels geführt. 2020 wurde das Verfahren aber erneut aufgerollt. Seit Ende 2020 verzichtet Giffey bereits darauf, ihren Titel zu führen.

Giffey war seit März 2018 Bundesfamilienministerin und hatte sich durch ihre direkte Art einen Namen gemacht. Sie sorgte unter anderem dafür, dass Gesetzentwürfe plakative Titel erhielten wie etwa das „Gute-Kita-Gesetz“. Eines ihrer wichtigsten Anliegen war die gezielte Förderung von benachteiligten Kindern und deren Eltern.

Seit November 2020 ist die 43-Jährige Vorsitzende der SPD Berlin und deren Spitzenkandidatin für das Amt des Regierenden Bürgermeisters.

Bettina Markmeyer


Bundesregierung

Kabinett verabschiedet Pflegebericht



Berlin (epd). Das Bundeskabinett hat am 19. Mai in Berlin den Siebten Pflegebericht verabschiedet. Für den Berichtszeitraum 2016 bis 2019 seien die Leistungen in der Pflegeversicherung ausgeweitet und die Bezahlung der Pflegekräfte verbessert worden, heißt es darin. Trotz anhaltender Kritik an der zu geringen Bezahlung der Fachkräfte und den steigenden Eigenleistungen der Heimbewohner kommt die Regierung zu dem Schluss, dass sowohl Pflegebedürftige als auch Pflegekräfte von den jüngsten Reformen in der Branche „stark profitiert“ hätten. Die Grünen übten Kritik an den gesetzlichen Veränderungen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte: „In den letzten Jahren haben wir wichtige Weichen gestellt. Jetzt geht es darum, den Pflegeberuf langfristig attraktiv zu halten, ohne die Pflegebedürftigen dabei zu überlasten.“

Hochwertige Pflegeausbildung

Der Bericht listet unter anderem positive Folgen der drei Pflegestärkungsgesetze (2015 bis 2017) auf. Ein erheblicher Anstieg der Zahl der Anspruchsberechtigten auf Leistungen der Pflegeversicherung - plus 50 Prozent auf rund vier Millionen von 2015 bis 2019 - geht demnach mit vielfach deutlich höheren Leistungsansprüchen einher. Zudem sei 2017 mit dem Pflegeberufegesetz der Grundstein für eine zukunftsfähige qualitativ hochwertige Pflegeausbildung gelegt worden.

Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz wurde laut Bericht das Sofortprogramm Pflege unter anderem mit zusätzlichen Stellen für Pflegefachkräfte in der vollstationären Pflege umgesetzt.

Auch zur Bezahlung in der Branche sind Angaben enthalten. „Verbesserte Gehälter für Pflegekräfte wurden ... ermöglicht.“ Zudem seien die Pflegemindestlöhne in der Langzeitpflege erhöht worden, erstmals seien differenzierte Vorgaben für Pflegefachkräfte vorgesehen. „Die Pflegelöhne werden dadurch insbesondere in ländlichen Gebieten und in den neuen Bundesländern zum Teil deutlich angehoben.“

Grüne beklagen Versäumnisse

Kordula Schulz-Asche, Sprecherin der Grünen für Alten- und Pflegepolitik im Bundestag, sagte, die Wirklichkeit weiche von dem Bild ab, das die Bundesregierung in ihrem Pflegebericht zeichne. Viele Probleme seien benannt, aber nicht gelöst worden sind.

„Es reicht nicht aus, eine Finanzierung von Pflegestellen in Aussicht zu stellen, denn die Stellen müssen auch besetzt werden“, sagte die Fachpolitikerin. Die Bezahlung spiegele noch immer nicht die gesellschaftliche Relevanz der Pflegearbeit wider. „Wir fordern die Bundesregierung auf, noch vor der Bundestagswahl ernst zu machen mit einer Reform der Pflegeversicherung, mit einer besseren Bezahlung in der Langzeitpflege und mit der Unterstützung von Pflegebedürftigen sowie deren Angehörigen, die mitunter alle zur besonders vulnerablen Gruppe in der Corona-Pandemie gehören.“

Dirk Baas


Pflege

Heil: Tarifbindung in der Pflege nur mit "anständigen Tariflöhnen"



Berlin (epd). Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat die Absicht der Bundesregierung bekräftigt, einen Beschluss zur Verbesserung der Löhne in der Altenpflege zu fassen. Er sagte beim virtuellen Jahresempfang des Deutschen Caritasverbandes am 19. Mai in Berlin, es komme bei den noch laufenden Verhandlungen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) jetzt aufs Detail an. So müsse klar sein, dass es bei der angestrebten Tarifbindung für die Altenpflege um „anständige Tariflöhne“ gehe, sagte Heil.

Geklärt werde müsse außerdem, wie die Kosten refinanziert werden und eine zusätzliche Belastung der Pflegebedürftigen verhindert werde, fügte Heil hinzu. „Wir sind noch nicht durch. Aber ich will, dass wir das schaffen“, betonte er.

Der Präsident des Caritasverbandes, Peter Neher, ging ebenfalls auf den Konflikt um die Pflegelöhne ein. Die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas habe durch ihr Veto dazu beigetragen, dass der Tarifvertrag Altenpflege nicht auf die gesamte Branche habe erstreckt können, räumte Neher ein. Er wies aber überzogene Kritik an seinem Verband zurück und erklärte, Tariftreue gehöre für die Caritas in ein Gesamtpaket für Verbesserungen in der Pflege. Er habe die Hoffnung, dass in den kommenden Wochen eine Lösung gefunden werde, sagte Neher.

In der Bundesregierung werden nach dem Scheitern eines Flächentarifvertrags derzeit gesetzliche Änderungen abgestimmt, die für bessere Löhne in der Altenpflege sorgen sollen. Danach sollen künftig nur noch solche Pflegeeinrichtungen mit den Pflegekassen abrechnen können, die Tariflöhne zahlen. Kommt es zu einem Kabinettsbeschluss, muss der Bundestag die Änderungen im Juni noch in einer der beiden letzten Sitzungswochen vor der Bundestagswahl beschließen. In der Altenpflege arbeiten mehr als eine Million Menschen, überwiegend Frauen. Nur etwa die Hälfte der Pflegekräfte wird nach Tarif bezahlt.



Arbeit

Tarifbindung nimmt in Deutschland weiter ab



Neue Daten zeigen, dass die Tarifbindung deutscher Unternehmen im vergangenen Jahr weiter gesunken ist. Die Opposition sieht dringenden Handlungsbedarf bei der Bundesregierung.

Nürnberg, Berlin (epd). Die Tarifbindung in Deutschland ist einer neuen Erhebung zufolge weiter rückläufig. Im Jahr 2020 arbeiteten 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit einem Branchentarifvertrag, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) am 19. Mai in Nürnberg mitteilte. 2019 lag dieser Wert noch bei rund 46 Prozent. „Der rückläufige Trend setzt sich damit fort“, sagte IAB-Forscherin Susanne Kohaut. Grüne und Linke forderten die Bundesregierung auf, das Tarifsystem politisch zu stützen.

Quote im Osten: 32 Prozent

Die Tarifbindung ist im Westen deutlich höher als im Osten, wie die Daten des IAB-Betriebspanels zeigen, einer jährlichen Befragung von rund 16.000 Betrieben. In rund 45 Prozent der westdeutschen und 32 Prozent der ostdeutschen Firmen galten Branchentarifverträge. Im Osten lag die Quote 2019 noch bei 34 Prozent.

Die Firmen- oder Haustarifverträge blieben den Angaben nach im Vergleich zum Vorjahr weitgehend konstant: Diese Form der Tarifbindung galt für acht Prozent der westdeutschen und für elf Prozent der ostdeutschen Beschäftigten. Die Jobs in 47 Prozent der westdeutschen und 57 Prozent der ostdeutschen Unternehmen hatten keinen Tarifvertrag.

Die Tarifbindung nimmt mit der Betriebsgröße zu, erklärte die Forschungseinrichtung, die zur Bundesagentur für Arbeit (BA) gehört. Besonders hoch ist der Anteil der Beschäftigten, die unter einen Branchentarifvertrag fallen, im Bereich Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung mit 80 Prozent. Besonders gering ist der Anteil im Bereich Information und Kommunikation mit elf Prozent.

Öffentliche Aufträge nur bei Tarifbindung

Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für Arbeitnehmerrechte und aktive Arbeitsmarktpolitik der Grünen, sagte, Tarifverträge garantierten nicht nur bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern führten auch zu einem fairen Wettbewerb. „Wir fordern daher seit langem, dass das Tarifvertragssystem politisch gestützt werden muss.“

Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen sei in einem Bundestariftreuegesetz zu regeln, damit nur Unternehmen zum Zuge kommen, die tarifgebunden sind oder mindestens entsprechende Löhne zahlen, sagte Müller-Gemmeke. Denn heute profitierten von öffentlichen Aufträgen in der Regel die Unternehmen mit den niedrigsten Löhnen.

Pascal Meiser, gewerkschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion, stellte der Regierung ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Stärkung der Gewerkschaften und die Erhöhung der Tarifbindung seien von zentraler Bedeutung, sagte er. Tarifverträge müssten auch gegen den Willen der Arbeitgeberverbände für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

Dirk Baas


Corona

Studie: Sorge vor Infektion am Arbeitsplatz bleibt hoch



Düsseldorf (epd). Trotz sinkender Inzidenz-Zahlen bleibt einer Studie zufolge die Angst unter den deutschen Beschäftigten vor einer Corona-Infektion im Job hoch. In der ersten Maihälfte gaben 32 Prozent der Befragten an, sich Sorgen vor einer Ansteckung am Arbeitsplatz oder auf dem Weg zur Arbeit zu machen, heißt es in einer Mitteilung des Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung vom 19. Mai. Das sei nur ein minimaler Rückgang gegenüber dem Monat April (34 Prozent).

Besonders betroffen sind laut den Forscherinnen und Forschern Beschäftigte mit niedrigen Löhnen. Unter Geringverdienenden im untersten Fünftel der Lohnverteilung gaben in der ersten Maihälfte 43 Prozent der Befragten an, sich Sorgen zu machen - verglichen mit 23 Prozent unter Besserverdienenden im obersten Fünftel. Das sei das Ergebnis einer kontinuierlichen Befragung des Portals Lohnspiegel.de, an der sich seit April 2020 mehr als 51.000 Beschäftigte beteiligt haben.

Ungleiche Gesundheitsrisiken

„Soziale Ungleichheit hat die Corona-Krise in Deutschland stark geprägt“, sagte Aline Zucco, Expertin für Verteilungsfragen am WSI. „Nicht nur die ökonomischen Lasten der Pandemie sind sehr ungleich verteilt, sondern auch die Gesundheitsrisiken.“

Der enge Zusammenhang zwischen Einkommen und Ansteckungsängsten geht ihren Angaben nach auf zwei wesentliche Faktoren zurück. Erstens sind die Löhne in vielen Tätigkeiten mit hoher Kontaktfrequenz oft relativ niedrig. Dazu zählen die Verkaufsberufe sowie Teile des Bereichs Erziehung und Soziales. Beschäftigte mit akademischer Qualifikation und entsprechend höheren Gehältern übten hingegen häufiger Tätigkeiten ohne direkten Kontakt aus und könnten ins Homeoffice ausweichen.

Versäumnisse in Unternehmen

Zweitens beträfen Versäumnisse beim betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz Beschäftigte mit geringem Einkommen offenbar häufiger. So sagten in der ersten Maihälfte 2021 unter den Befragten mit niedrigerem Lohn 17 Prozent, dass ihr Arbeitgeber keine ausreichenden Infektionsschutzmaßnahmen getroffen habe - verglichen mit einem Anteil von neun Prozent unter den Besserverdienenden.

Mit Blick auf den Fortgang der Impfungen sagte Elke Ahlers, die am WSI zu Arbeit und Gesundheit forscht: „Jetzt kommt es darauf an, dass auch alle Beschäftigten aus der Prioritätsgruppe 3 möglichst rasch zum Zuge kommen.“



Corona

Pandemie: Hälfte der jungen Menschen rechnet mit beruflichen Nachteilen



Leverkusen (epd). 51 Prozent der unter 30-Jährigen rechnen einer Befragung zufolge wegen der Pandemie mit Nachteilen im Berufsleben. Wie die am 19. Mai veröffentlichte Erhebung „Generation Corona“ der Krankenversicherung pronova BKK ergibt, wurde bisher jedem vierten 16- bis 29-Jährigen ein Studienplatz, neuer Job oder ein Praktikum durch die Corona-Folgen genommen. Zudem befürchte die Hälfte der Befragten, dass die während der Pandemie gemachten Abschlüsse nicht so anerkannt werden wie die vorherigen, hieß es.

Die Vorfreude auf Gehalt, Karriere oder neue Menschen weiche oftmals einer Resignation, erklärte Gerd Herold, Beratungsarzt bei der pronova BKK. „Die seelischen Folgen für die Generation Corona sind nicht zu unterschätzen.“ Jeder dritte junge Deutsche habe angesichts der Unklarheit die Lust auf Zukunftspläne verloren oder sich ganz von seinen Plänen verabschiedet. 36 Prozent seien unsicher, ob sie ihre Planungen umsetzen können.

Verlust an Orientierung

Jeder achte Befragte gab den Ergebnissen zufolge an, seinen Arbeitsplatz in den vergangenen zwölf Monaten verloren zu haben und nannte als Grund die Corona-Krise. Unter jungen Eltern berichtete jeder Fünfte von einem Jobverlust. Unter den jungen Menschen im freiwilligen sozialen Jahr, im Praktikum oder in der Wartezeit auf eine Ausbildung oder ein Studium gaben sogar 24 Prozent an, ihre Jobs verloren zu haben. Zudem hätten 33 Prozent der Studierenden ihre Arbeit während oder nach dem Studium nicht antreten können.

Auch Orientierungsmöglichkeiten fielen den Angaben zufolge für viele junge Menschen weg: 14 Prozent der Befragten und 25 Prozent der Studierenden hätten vor der Pandemie geplante Auslandsaufenthalte aufgeben müssen. 55 Prozent der Schülerinnen und Schüler bemängelten, dass ihnen durch den Wegfall von Praktika und Schnupperangeboten die Möglichkeit genommen worden sei, sich vor einer Berufswahl zu orientieren.

Die Befragung wurde im März und April 2021 im Auftrag der pronova BKK durchgeführt. Bundesweit wurden den Angaben zufolge 1.000 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 29 Jahren online befragt.



Kirchen

Studie: Flüchtlingshelfer finden im Helfen Sinn



Hannover (epd). Das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI) hat Forschungsergebnisse zum Flüchtlingsengagement vorgestellt. Danach lassen sich Flüchtlingshelfer dem „Wert Offenheit“ zuordnen, heißt es in der von der Wirtschaftspsychologin Christel Kumbruck geleiteten Studie „Zivilgesellschaftliches Engagement: Was bewegt Menschen in Deutschland dazu, sich im Rahmen der Flüchtlingsthematik zu engagieren?“ Zu dem vom Sozialwissenschaftlichen Institut in Hannover geförderten Projekt fand am 17. Mai eine Online-Tagung statt.

Für Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfer sei der Anreiz, Neues zu lernen und neue Kontakte zu knüpfen, ein starker motivationaler Treiber für ihr Engagement, hieß es weiter. „Sie erleben einen großen Mehrwert durch das Engagement mit Flüchtlingen: Beispiele hierfür sind Sinnerfüllung durch das Helfen und neue kulturelle Eindrücke, ohne dafür reisen zu müssen“, erklärte die emeritierte Professorin Kumbruck, die an der Hochschule Osnabrück Wirtschaftspsychologie lehrte, in einem Zeitschriftenbeitrag.

Flüchtlingsskeptikerinnen und Flüchtlingsskeptiker dagegen lassen sich laut Studie dem „Wert Erhaltung“ zuordnen: „Ihnen geht es um die Erhaltung der bestehenden Ordnung und Lage. Angetrieben werden sie von der Sorge, dass die Fremden vermehrte Kriminalität, Nichtachtung der staatlichen Ordnung, aber auch Veränderungen der bisher eher deutsch geprägten Alltagskultur mit sich brächten.“ Mit diesen beiden Werteorientierungen seien unterschiedliche gesellschaftliche Zielvorstellungen verbunden, nämlich eine multikulturelle Gesellschaft im Gegensatz zu einer sogenannten kulturhomogenen Gesellschaft.




sozial-Branche

Corona

Beschwerliches Homeschooling in Flüchtlingsunterkünften




Flüchtlinge in einer Gemeinschaftsküche (Archivbild)
epd-bild/Volker Hoschek
Digitaler Fernunterricht ist für die meisten Schülerinnen und Schüler kein Vergnügen. Doch wie sollen Kinder mit Sprachschwierigkeiten und einem viel zu kleinen Zuhause in einer Flüchtlingsunterkunft damit zurechtkommen?

Eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen droht durch die Corona-Krise zu scheitern. So lautet das Fazit einer Studie der Universität Erlangen-Nürnberg mit dem Titel „Auswirkungen und Szenarien für Migration und Integration während und nach der COVID-19 Pandemie“. Mit ein Grund für die großen Probleme ist der Ausfall des Präsenzunterrichts an Schulen.

Zu fünft in einem Zimmer

„Mangelnde Sprachkenntnisse oder unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen der Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrung erschwerten es vielfach, Kinder im Online-Unterricht zu unterstützen“, ist der Befund der wissenschaftlichen Untersuchung. Beispiel München: Hier leben mehr als 6.000 Flüchtlinge in Asylbewerberheimen, darunter viele Familien mit Kindern. Auch für sie gilt die Schulpflicht und je nach Inzidenzwerten oder Infektionen ist Homeschooling angesagt. Doch wie funktioniert der Fernunterricht mit Laptop, wenn die Familie zu fünft in einem Zimmer lebt?

Nahe dran an den Problemen ist Karlotta Brietzke. Die 33-jährige Sozialarbeiterin ist bei der Diakonie München mit ihren Kolleginnen zuständig für die Betreuung von 900 Flüchtlingskindern und Jugendlichen in 15 verschiedenen Unterkünften. Die Diakonie sorgt für diverse Angebote: Krabbelgruppen und Gesprächsangebote für Mütter und Väter mit Kindern, offene Spielangebote, über die die deutsche Sprache gelernt wird, Mal- und Bastelangebote, Ausflüge, Sport und auch Unterstützung bei den Hausaufgaben für alle Schulkinder.

Und wie geht das mit dem Homeschooling? „Mittlerweile läuft das System in München einigermaßen“, berichtetet die Sozialarbeiterin, „aber es ist sehr anstrengend für alle Beteiligten.“ Immerhin ist der digitale Notstand überwunden, wie er zu Beginn der Pandemie im März vergangenen Jahres herrschte: Es gab kein Wlan, keine Computer und keine Laptops.

Kein funktionsfähiges Wlan

Mittlerweile sind hier die Kinder und Jugendlichen mit Computern versorgt. In anderen Landesteilen Bayerns hapert es hingegen oft noch am Netz. Deshalb fordern 150 Organisationen aus dem Bereich der Flüchtlingshilfe in einem gemeinsamen Appell an den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU), die Unterkünfte so schnell wie möglich mit funktionsfähigem Wlan auszurüsten.

Aber auch wenn Computer und Laptop vorhanden sind, reicht das noch nicht aus, um einen effektiven Fernunterricht zu ermöglichen. „Ohne die notwendige technische Ausstattung ist das sehr schwierig“, sagt Karlotta Brietzke. Damit spricht sie die fehlenden Drucker und Scanner an. Denn die über das Internet zugesandten Hausaufgaben sollten ausgedruckt und ausgefüllt werden und müssen irgendwie auch wieder zurück zur Lehrkraft kommen.

Und dann ist da natürlich noch die generelle Lern- beziehungsweise Wohnsituation: Wenn die Familie zusammen in einem Raum lebt, ist es schwierig, etwa für zwei Kinder den Fernunterricht zu organisieren.

Und was das Lernen in Corona-Zeiten weiter erschwert, ist der Ausfall vieler ehrenamtlicher Helfer. Da es sich bei ihnen meist um ältere Menschen handelt, ist deren Unterstützung wegen der Infektionsgefahr zusammengeschrumpft. „Mehr als die Hälfte der Ehrenamtlichen kommt derzeit nicht“, zieht Sozialarbeiterin Brietzke Bilanz.

Zu diesen Ehrenamtlichen gehört auch Günter Fink. Der pensionierte Grundschullehrer gibt seit Jahren Nachhilfe für Flüchtlingskinder. Zuletzt betreute er einen 16-jährigen Iraker, der eine Berufsschule zur Berufsfindung besucht und einen 20-Jährigen aus Afghanistan, der eine Lehre als Koch macht und in der Berufsschule Berichte schreiben muss. Momentan pausiert Finks Nachhilfeunterricht wegen Corona.

Rudolf Stumberger


Jugendhilfetag

Jugendhilfe: Corona-Pandemie macht mürbe




Wohngruppe mit betreuten Jugendlichen (Archivbild)
Stefan Arend
Der diesjährige Jugendhilfetag richtet seinen Blick auf Kinder in Corona-Zeiten. Die Jugendhilfe fordert ein Krisenmanagement für Kinder und junge Erwachsene.

Essen (epd). Die ehemalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hat - einen Tag vor ihrem Rücktritt am 19. Mai - für eine zügige Rückkehr zu einem normalen Betrieb in Kitas und Schulen geworben. Mit den fortschreitenden Impfungen gegen Corona könne über einen erworbenen Schutz von Kita- und Schulpersonal sowie den Eltern ein „Schutzkokon“ um Kinder und Jugendliche gebildet werden, sagte Giffey auf der Eröffnungsveranstaltung des digitalen Deutschen Kinder- und Jugendhilfetags (DJHT) am 18. Mai in Essen. Das Familienministerium hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) am 20. Mai zusätzlich zu ihrem Ressort übernommen.

„Das Leben auf den Kopf gestellt“

Der Veranstalter des DJHT, die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), erwartet nach Worten ihrer Vorsitzenden Karin Böllert einen „Mutmacher-Gipfel“ gegen einen „mürbe machenden“ Corona-Alltag: „Die Pandemie hat für Kinder und Jugendliche das Leben auf den Kopf gestellt - und zwar gravierender als für viele Erwachsene.“

Der Lockdown habe zu Defiziten beim Lernen geführt, betonte die AGJ-Vorsitzende Karin Böllert. Treffen mit Gleichaltrigen seien unmöglich gemacht worden. Auch für ältere Heranwachsende sei die Lage schwierig. Von den Studierenden etwa sei ein Drittel wieder zu den Eltern zurückgezogen, weil sie ihre Nebenjobs verloren hätten.

Jugendliche nicht eingebunden

Vor diesem Hintergrund kritisierte Böllert eine „demokratisch nicht gerade kluge“ Corona-Politik, die junge Menschen nicht eingebunden habe. Es mache einen großen Unterschied bei der Akzeptanz notwendiger Krisenmaßnahmen, ob man eine starke Gruppe Betroffener bei anstehenden Entscheidungen berücksichtige „oder ihnen das Gefühl gibt, dass sowieso über ihre Köpfe hinweg entschieden wird“.

Böllert plädierte für ein künftiges staatliches Krisenmanagement, das Minderjährigen und Heranwachsenden Einfluss bei einschneidenden Entscheidungen garantiert: „Um künftig Krisen zu bewältigen, muss die Jugend einen festen Platz an jedem Krisentisch haben - und zwar auf allen Ebenen: in den Kommunen, in den Ländern und im Bund.“

Gabriele Fritz


Jugendhilfetag

Jugendhilfe fordert mehr Sozialarbeiter an Schulen



Essen (epd). Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) fordert eine deutliche Ausweitung der Sozialarbeit an Schulen. „Wir brauchen an Deutschlands Schulen eine Grundversorgung mit Sozialarbeitern“, erklärte die AGJ-Vorsitzende Karin Böllert am 20. Mai auf dem Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag in Essen. Es müsse künftig eine „vorgeschriebene Mindestzahl von Sozialprofis pro Schule geben und zwar von der Grundschule bis zum Gymnasium“. Notwendig sei mindestens eine Sozialarbeiterin oder ein Sozialarbeiter für 500 Schülerinnen und Schüler.

Schon vor der Corona-Pandemie habe es im schulischen Normalbetrieb zu wenig Sozialarbeiter gegeben, beklagte Böllert. Der über einjährige Distanz- und Wechselunterricht habe nun zusätzlich deutliche Spuren bei vielen Schülerinnen und Schülern hinterlassen. „Der schulische Krisenmodus wird den Bedarf an sozialer Betreuung und spezieller Förderung jetzt noch einmal enorm steigen lassen“, sagte die Sozialpädagogik-Professorin der Universität Münster.

Schulsozialarbeit müsse an allen Schulen zu Selbstverständlichkeit werden, forderte Böllert zum Abschluss der dreitägigen Veranstaltung. „Das heißt dann aber auch, keine befristeten Arbeitsverträge für die Fachkräfte an Schulen und eine dauerhafte Integration in das Schulgeschehen.“ Der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe gehören die bundesweiten Zusammenschlüsse und Organisationen der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe an.



Jugendhilfetag

Kinder- und Jugendhilfe bietet 4,3 Millionen Betreuungsplätze



Essen (epd). Nach Angaben des Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages (DJHT) gibt es derzeit bundesweit rund 4,3 Millionen Plätze zur Betreuung. 93.858 Einrichtungen böten ihre fachliche Arbeit an, heißt es in einer Mitteilung des DJHT vom 19. Mai. Das Angebot reiche von der Kindertageseinrichtung bis zur Wohngruppe, vom Heim bis zum Bildungszentrum für die Berufsausbildung Jugendlicher. „Insgesamt arbeiten rund 1,1 Millionen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe - und damit etwa ein Drittel mehr als in der gesamten Autoindustrie, einschließlich aller Zulieferfirmen“, hieß es. Die Kinder- und Jugendhilfe sei ausgesprochen weiblich: Der Frauenanteil an den Beschäftigten liegt den Angaben nach bei 87,5 Prozent.

„Die Kinder- und Jugendhilfe ist eine Wachstumsbranche“, sagte die Münsteraner Professorin Karin Böllert, die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, die die digitale Tagung von Essen aus veranstaltet. Wer sich heute für eine Ausbildung zur Erzieherin, Sozialpädagogin oder zum Sozialarbeiter entscheide, habe morgen quasi eine Jobgarantie.

„In den nächsten Jahren wird es an allen Grundschulen den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Klassen geben. Auch dafür werden wir Profis brauchen“, sagte Böllert voraus. Es lohne sich, die „die Kinder- und Jugendhilfe als Zukunftsbranche zu entdecken“. Dabei hat Böllert nicht zuletzt männliche Jugendliche im Auge: „Die Kinder- und Jugendhilfe ist auch für junge Männer ein Arbeitsmarkt mit spannenden Perspektiven.“



Behinderung

Gastbeitrag

Pandemie: Menschen mit Behinderung im Nachteil




Janina Bessenich
epd-bild/Caritas
Ob bei klinischen Behandlungen, fehlenden Finanzhilfen oder bei der Impfpriorität: Menschen mit Behinderungen sind laut Janina Bessenich im Nachteil. In ihrem Gastbeitrag listet die Caritas-Expertin die Probleme auf und fordert schnelle Lösungen.

Berlin (epd). Zu Beginn der Pandemie sagte die Berliner Staatssekretärin, Sawsan Chebli, im April 2020: „Es gibt keine Grenzen, Corona trifft uns alle gleich.“ Diese Aussage ist nicht zutreffend, wenn wir uns das Pandemiegeschehen vor Augen führen und jene Fakten wahrnehmen, die über aktuelle Studien belegt werden. Vor allem zeigt sich, dass das Infektionsrisiko unterschiedlich hoch ist. Vieles ist unter anderem abhängig vom jeweiligen Gesundheitszustand oder von den Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnissen der Menschen.

Weniger Schutz- und Präventionschancen

Wer beispielsweise täglich auf Busse und Bahnen angewiesen ist, unterliegt einem weitaus größeren Infektionsrisiko als jemand, der einen eigenen PKW nutzen kann. Menschen, die beengt leben müssen, haben weitaus weniger Schutz- und Präventionschancen als jene Menschen, die über ausreichend Wohnraum verfügen.

Seit Beginn der Pandemie müssen viele Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in Einrichtungen mit massiven Ausgangsbeschränkungen und Schließungen von tagesstrukturierenden Angeboten zurechtkommen. Bei der Verteilung von Schutzausrüstungen und auch den Finanzierungszusagen wurden Krankenhäuser und Alten- und Pflegeheime bevorzugt. Für sie gab es den Schutzschirm des „Krankenhausentlastungsgesetzes“.

Für die Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt es diesen Schutzschirm bis heute nicht. Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie waren wie auch die Kinder- und Jugendhilfe auf ihre üblichen Kostenträger angewiesen. Schnell zeigte sich ein bundesweiter Wildwuchs: Es gab Kostenträger, die mit Verweis auf die Pandemie bereits vereinbarte Entgelte auf 75 Prozent kürzten und keine Corona-bedingten Mehrkosten zahlten.

Viele Einrichtungen für Menschen mit Behinderung arbeiteten zunächst ohne Schutzausrüstung und waren gezwungen, provisorisch zu handeln. Die Aufrechterhaltung von Leistungen für Menschen mit Behinderung musste häufig aus eigenen Mitteln der Leistungserbringer finanziert werden. Zum Glück hat sich im Verlauf der Pandemie die Situation deutlich gebessert, so dass fast bundesweit zumindest die vereinbarten Regelleistungen erstattet werden. Bei den Corona-bedingten Mehrkosten ist das allerdings nicht der Fall. Und das ist längst nicht das einzige ungelöste Problem.

Gesundheitliche Versorgung im Krankenhaus

Der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) hat als sachverständiger Dritter beim Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme zur Triage abgegeben. Hintergrund ist eine Verfassungsbeschwerde von neun Menschen mit Behinderung, die aufgrund verschiedener Vorerkrankungen und Behinderungen zur Risikogruppe einer Covid-19-Erkrankung mit schweren Krankheitsverläufen gehören. Sie rügen die Untätigkeit des Gesetzgebers. Menschen mit Behinderung befürchten im Fall knapper Behandlungsressourcen, aufgrund ihrer Behinderung schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zu haben oder von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden.

An dem Beispiel Triage wird wie im Brennglas deutlich, mit welchen Formen von struktureller Benachteiligung Menschen mit Behinderung in der gesundheitlichen Versorgung konfrontiert sind. Innerhalb der Caritas kann belegt werden, wie einige Betroffene trotz schwerer Infektion mit Covid-19 nicht ins Krankenhaus aufgenommen wurden, obwohl die Einrichtung keine optimale Versorgung der Covid-19-Erkrankten gewährleisten konnte. Fachleute sprechen hier von einer sogenannten „Triage vor der Triage“, deren Fallzahlen leider aber nicht statistisch erfasst werden.

Bei einer Aufnahme ins Krankenhaus entscheiden die Ärzte, für wen die Kapazitäten vorrangig zur Verfügung gestellt werden. Gerade bei Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen besteht die Gefahr, dass die Mediziner dabei die behinderungsbedingten Herausforderungen und ihre eigenen inneren Einstellungen, Erfahrungen in die Entscheidung bei Kapazitätsengpässen einfließen lassen. Das kann sich diskriminierend auf die medizinische Behandlung bei Kapazitätsengpässen niederschlagen. Erschwerend kommt hinzu, dass es den Ärzten vielfach an fachlichen behinderungsspezifischen Kenntnissen und an Erfahrungen fehlt. Das Triage-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht dauert an.

Zugang zu Impfungen

Die aktuell geltende Impfverordnung hat die Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung und Beschäftigte in Einrichtungen der Behindertenhilfe in die zweite Gruppe „mit hoher Priorität“ und viele andere Menschen mit Behinderung und deren Angehörige teilweise in nachrangige Gruppen eingestuft. Aktuell ist die Impfkampagne soweit gediehen, dass auch viele Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung den Zugang zu Impfungen erhalten. Sie haben aber fast vier Monate gewartet, obwohl ihr Gesundheit und Leben in der Pandemie besonders bedroht war.

Die Corona-Krise bestätigt leider die Sorge, dass Menschen mit Behinderung nach wie vor nicht ausreichend in ihren Bedarfen gesehen und dadurch benachteiligt werden. Der verspätete Zugang zu Impfungen hat zum Tod von vielen Menschen mit Behinderungen geführt. In manchen Bundesländern war es zudem schwierig, dass mobile Impfteams auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe zum Einsatz kamen.

Auch die Gefährdung des Personals in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung wurde in der Impfverordnung zum Teil verkannt. Die Beschäftigten in der Behindertenhilfe sind besonders häufig von Covid-19 betroffen. Eine aktuelle AOK-Studie stuft die Heilerziehungspfleger/innen in Bezug auf die Häufigkeit von COVID-19-Erkrankungen auf Platz 5 der in Corona-Zeiten gefährlichsten Berufe ein.

Finanzierung von Einrichtungen und Diensten

Bund und Länder haben in der Corona-Krise bislang mehr als 1,5 Billionen Euro für direkte Finanzhilfen mobilisiert, die in erster Linie großen Unternehmen zugutekamen. Die Bundesregierung macht sich in diesem Zusammenhang vor allem stark für die Wirtschaft und versteht die Belange der Sozialwirtschaft nur bedingt.

Nicht umsonst war in den Medien viel davon zu hören, dass „klatschen allein nicht reicht“. Gleichzeitig wird aber jetzt in der Pandemie auch über die Zukunft der Sozialwirtschaft entschieden. Bislang gibt es aber kaum politische Zeichen, die darauf hindeuten, dass die Finanzierung aller Teilhabeleistungen, gerechte Entlohnung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch in der Behindertenhilfe und Pflege gesichert sind.

Die Rechtsträger der Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe und Psychiatrie haben die Corona-Herausforderungen angenommen, die Versorgung der Menschen gesichert und die Auflagen der Behörden erfüllt. Die Umgestaltung der Arbeit in Einrichtungen und Diensten hat immense personelle und sachliche Ressourcen (Mehraufwand wegen Schutzausrüstung, wegen Quarantäne-Anordnungen etc.) verschlungen.

Nach mehreren Monaten des Managements der Corona-Pandemie in Einrichtungen und Diensten liegen aber bis heute die schriftlichen Zusagen zur Finanzierung der Mehraufwendungen durch Träger der Eingliederungshilfe (Kostenträger) bundesweit nicht duchgängig vor.

Vielfach beginnen derzeit Verhandlungen, in denen die Details der Mehraufwendungen akribisch verhandelt werden müssen. Notwendig wäre ein bundesweit einheitliches, transparentes und pandemiesicheres Entgeltsystem für die Träger der Eingliederungshilfe. Offenbar ist der individuelle Rechtsanspruch auf Teilhabe, den jeder Mensch mit Behinderung hat, letztendlich durch die unzureichende Finanzierung in Frage gestellt.

Aus der Pandemie lernen

Heute wissen wir, dass die Pandemie uns alle in Risiko- und Prioritätsgruppen aufteilt. Es entstehen neue Randgruppen in der Corona-Zeit. Zu Corona-Randgruppen und Verlierenden zählen leider - trotz aller Inklusionsversprechen - wieder einmal Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung.

Die Pandemie polarisiert derzeit massiv die Gesellschaft. Es zeigt sich ein krasses Politikversagen, wenn man sieht, wie die Belange von Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in der Corona-Krise übersehen worden sind. Die Hoffnung besteht nun aber darin, dass die Politik beginnt, aus der Pandemie zu lernen und alle vulnerablen Personenkreise der Gesellschaft in die Mitte stellt. Niemand darf übersehen und vergessen werden!

Janina Bessenich ist Geschäftsführerin des Caritas-Fachverbandes Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).


Einkommen

Armuts- und Reichtumsbericht: Verbände fordern Umverteilung




Demonstration für bezahlbaren Wohnraum
epd-bild/Christian Ditsch
Der sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt nach Ansicht von Sozialverbänden vor allem eines: Die Politik muss den Mut zur Umverteilung haben, und sie muss deutlich mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen.

Berlin (epd). Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung enthält nach der Auffassung der Nationalen Armutskonferenz (nak) „einen dringenden Handlungsauftrag an die Politik, die Lebenslagen armutserfahrener Menschen spürbar zu verbessern“. Nach den Befunden des vom Bundeskabinett verabschiedeten Berichts sei es angezeigt, dass „der Trend verfestigter Armut und sich verschärfender Ungleichheit gebrochen und eine umfassende Teilhabe von Menschen mit Armutserfahrung organisiert werden muss“, erklärte die nak als Bündnis verschiedener Sozialorganisationen am 12. Mai in Berlin.

„Zusammenhalt nachhaltig gefährdet“

Gerwin Stöcken, Sprecher der nak, kommentierte: „Der wachsende Wohlstand erreicht bei weitem nicht alle Menschen.“ Er sieht aufgrund der sich weiter öffnenden Schere bei Einkommen und Vermögen „den sozialen Zusammenhalt nachhaltig gefährdet“.

Die nak entnimmt dem Armuts- und Reichtumsbericht, dass sich die materielle Lebenswirklichkeit der Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung in den vergangenen 15 Jahren kaum verbessert habe, während in mittleren und oberen Bereichen Zuwächse bei den Einkommen und insbesondere bei den Vermögen zu verzeichnen seien. „Auf Kosten der Mitte der Gesellschaft hat die Polarisierung der Lebenslagen zugenommen“, hält das Sozialbündnis fest.

Die nak fordert höhere Leistungen in der Grundsicherung. „Erst die Abwesenheit von ständiger Knappheit schafft die Voraussetzung für eine Aufwärtsmobilität in andere Lebensbereiche und ein Aufbrechen verfestigter und kumulierter Armutslagen. Das erfordert Mut und entschiedene Schritte zur Umverteilung“, sagte Stöcken.

40 Prozent des Einkommens für die Miete

Die BAG Wohnungslosenhilfe begrüßte, dass der sechste Armuts- und Reichtumsberichts Wohnungslosigkeit ausführlich thematisiert und auch Lösungsstrategien aufzeigt. Die Armutsexperten fordern, eine „umfassenden Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit, die alle politischen Ebenen einbezieht“.

Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum treffe insbesondere Menschen im Niedrigeinkommensbereich, Empfänger von Transferleistungen sowie anerkannte Geflüchtete und prekär beschäftigte Menschen. „Die Mietbelastungsquote ist seit 1990 stark gestiegen; in Deutschland zahlen knapp 14 Prozent der Bevölkerung mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für die Miete“, beklagt die BAG.

Markus Jantzer


Armut

Sozialexperte: Corona-Lockerungen machen soziale Nöte sichtbarer



Hannover (epd). Angesichts fortschreitender Lockerungen der Corona-Maßnahmen hat der Armutsexperte Klaus-Dieter Gleitze davor gewarnt, dass Menschen mit geringem Einkommen weiter ins Abseits geraten könnten. „Gesunde Menschen mit gut bezahlter Arbeit, mit Rücklagen für Notzeiten und ohne Zukunftssorgen können aufatmen und die neuen Freiheiten genießen“, sagte der Geschäftsführer der niedersächsischen Landesarmutskonferenz dem Evangelischen Pressedienst (epd). Menschen die von Arbeitslosigkeit, Armut, überdurchschnittlichen Gesundheitsrisiken und Perspektivlosigkeit bedroht seien, könnten das hingegen nicht. „Ihnen ist das Konsum-Glück im Paradies von Shopping, Restaurantbesuchen und Reisen schon vor der Krise verwehrt gewesen. Das wird es nach der Krise erst recht“, betonte Gleitze.

Die Debatte um Freiheiten für Geimpfte und Genesene sowie mögliche Benachteiligungen gegenüber Ungeimpften bezeichnete Gleitze als „Scheinkonflikt“. „Die reale, gefährliche Spaltung unserer Gesellschaft ist die zwischen Arm und Reich. Sie ist nachhaltig, wird zunehmen und birgt sozialen Sprengstoff“, warnte der Armutsexperte.

Menschen in Armut bräuchten nun die Perspektive, dass sie nicht zu den Hauptleidtragenden der Krise und ihrer Folgen würden. Die „Diskussion, wer die Zeche zahlt“, laufe bereits und werde spätestens nach der Bundestagswahl ganz in den Vordergrund rücken. „Dieses Mal müssen die Profiteure der Krise, Menschen mit großem Vermögen und hohen Einkommen, einen gerechten Beitrag zur Beseitigung der Krisenfolgen und der Stabilisierung unseres Gemeinwesens leisten“, forderte Gleitze.

Arme Menschen hätten als erste ihre ohnehin prekären und schlecht bezahlten Jobs verloren. Um zusätzliche Kosten für Hygienemaßnahmen sowie steigende Preise für Energie, Lebensmittel und Wohnen bewältigen zu können, seien ein einmaliger „Krisen-Konsum-Zuschlag“ in Höhe von 1.000 Euro für Arme und die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf monatlich 600 Euro nötig. „Das würde Armen die Hoffnung geben, dass Staat und Gesellschaft sich, ähnlich wie bei TUI, Lufthansa und anderen Konzernen, auch um sie kümmern“, unterstrich Gleitze.



Behinderung

Fast wie der FC Bayern




Ruben Döring trainiert die Fußballmannschaft des SV Mannschaft für Menschen mit intellektuellen Defiziten.
epd-bild/Stephan Köhnlein
Als erster deutscher Profiverein geht Fußball-Zweitligist Darmstadt 98 mit einer Mannschaft für Menschen mit intellektuellen Defiziten (ID) an den Start. Doch wann wieder trainiert oder gespielt werden kann, hängt vom Verlauf der Corona-Pandemie ab.

Darmstadt (epd). Es gibt kein Abseits und keine Rückpassregel - aber ansonsten spielen Fußball-ID-Mannschaften das Spiel genauso wie Millionen Menschen anderswo auf dieser Welt. ID kommt vom Englischen „intellectual deficit“ und wird ins Deutsche mit „intellektuelle Beeinträchtigung“ übersetzt. Jede und jeder mit einem Intelligenzquotienten unter 75 darf mitspielen. „Wenn wir sagen würden, wir wären eine Behindertenmannschaft, dann würden sich einige der Jungs und Mädels in der Mannschaft vor den Kopf gestoßen fühlen“, sagt Ruben Döring. Der 27-Jährige ist Cheftrainer der Fußball-ID-Mannschaft des SV Darmstadt 98.

Sozial engagierte Vereinskultur

Als erster deutscher Profiverein geht der südhessische Zweitligist mit einer solchen Mannschaft an den Start. Ende März wurde dafür innerhalb des Vereins die Behinderten- und Rehabilitations-Sportabteilung gegründet, an der die ID-Mannschaft angegliedert ist. Zuvor war ein Großteil der Spieler unter Döring für den VSG Darmstadt aufgelaufen, der Sport für Menschen mit und ohne Handicap anbietet. Das lief zuletzt ausgesprochen erfolgreich. „Wir sind amtierender Titelträger des Hessischen Hallenpokals, des Hessenpokals und der Hessenliga“, sagt Döring und fügt lachend an: „Wir sind also quasi der FC Bayern des Fußball-ID in Hessen.“

Mit dem Wechsel zum größeren und bekannteren SV Darmstadt 98 verspricht man sich noch bessere Möglichkeiten und noch mehr Aufmerksamkeit für die Mannschaft. Die Lilien, wie der Verein wegen seines Wappens genannt wird, sehen die ID-Mannschaft als Teil ihrer weltoffenen und sozial engagierten Vereinskultur. So ging man unter anderem auch erst kürzlich eine Kooperation mit Amnesty International Deutschland ein und unterstützt die Organisation bei ihrer Kampagne „Gemeinsam gegen Rassismus in Deutschland!“. Markus Pfitzner, Vizepräsident von Darmstadt 98, betont: „Die Lilien stehen für Offenheit, Toleranz und ein gutes Miteinander. Nun der erste deutsche Profiverein mit einer Mannschaft für intellektuell beeinträchtigte Personen zu sein, erfüllt uns mit Stolz.“

Dass Trainer Döring, hauptberuflich Tanzlehrer, überhaupt zu dem Sport kam, hängt auch mit Darmstadt 98 zusammen. Dort ergab sich am Rande eines Spiels vor sechs Jahren der erste Kontakt zum VSG. Gemeinsam mit einem Freund baute Döring schließlich die Fußball-ID-Mannschaft auf. „Ich erinnere mich noch an das erste Training in der Turnhalle eines Gymnasiums hier in Darmstadt: keine Tore, nur Basketballkörbe, auf der Bühne in der Halle standen dauerhaft Musikinstrumente, da haben wir mit sechs Jungs angefangen. Doch das hat sich entwickelt.“

Feingefühl ist gefragt

Aufwärmen, Pass- und Schusstraining, Zweikämpfe, Beweglichkeit und am Ende immer eine Spielform - das Training hat die gleichen Inhalte wie bei anderen Fußballmannschaften. Etwas mehr Feingefühl ist jedoch bei der Schwierigkeit gefragt. „Die Übungen bauen wir so auf, dass sie nicht zu komplex sind. Sonst steigen die Spieler früher oder später aus“, erklärt Döring. „Teilweise machen wir eine Übung auch erst mit dem Ball in der Hand, bevor wir es mit dem Fuß versuchen. Das ist dann leichter zu lernen.“

Die Corona-Pandemie zwingt die ID-Fußballer seit Herbst zu einer Pause - und das trifft die Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen besonders hart. „Das, was Du Dir über ein Jahr aufbaust, kannst Du in zwei Wochen vergessen“, sagt Döring. Im Moment hofft er, dass das Team im Mai wieder gemeinsam trainieren kann. „Die Jungs und Mädels sind ganz heiß, die wollen unbedingt zurück auf den Platz“, sagt der Trainer. Und er fiebert der Rückkehr ins Training ebenfalls entgegen: „Wenn wir dann als Gruppe auf dem Platz stehen, werde ich mir das eine oder andere Tränchen sicher nicht verkneifen können.“

Stephan Köhnlein


Gesundheit

Petition zugunsten Schwerstbehinderter übergeben



Berlin (epd). Eine Petition mit mehr als 55.000 Unterschriften, in der die bessere Versorgung von schwerstbehinderten Kindern gefordert wird, ist am 19. Mai in Berlin an den zuständigen Ausschuss des Bundestages übergeben worden - herbeigeschafft auf fünf alten Rollstühlen. Die Grünen unterstützen das Vorhaben und warben dafür, den Zugang zu notwendigen Teilhabeleistungen besser zu regeln und das Hilfsmittelrecht zu ändern.

Angestoßen hat die Petition unter dem Titel „Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerstbehinderter Kinder/Erwachsener“ das Ehepaar Carmen und Thomas Lechleuthner aus Pfaffenhofen in Oberbayern, die ein schwerstbehindertes Kind haben, das 2017 mit einem Hirnschaden geboren wurde. Sie beschreiben die oft jahrelangen Auseinandersetzungen mit Krankenkassen um die Bewilligung von Hilfsmitteln wie spezielle Rollstühle, Betten, Laufhilfen, Therapien, Medikamente oder ambulante Pflege als „zähen und ermüdenden Kampf“.

Auf lange Prüfung folgt oft Ablehnung

Die Krankenkassen müssen die Anträge auf Hilfsmittel individuell prüfen, denn sie können nicht per Rezept verordnet werden. Oft werden Gutachten beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) angefordert, die lange dauern können.

„Würde man die UN-Behindertenrechtskonvention ernst nehmen, dürfte es die Probleme gar nicht mehr geben“, sagt Carmen Lechleuthner. Dann würden Kinder mit schweren Behinderungen selbstverständlich das bekommen, was sie nach ärztlichem Attest benötigen. Die UN-Behindertenkonvention wurde von der Bundesregierung 2009 ratifiziert. Unterstützung bekamen die Lechleuthners von Behindertenverbänden, Ärzten, Therapeuten, Kliniken, Verbänden und vielen Betroffenen, die das Anliegen unterstützen.

„Es ist überfällig, dass Verordnungen für die Kostenübernahme neu gefasst werden. Die betroffenen Familien müssen einfachen Zugang zu den Leistungen haben, die ihnen zustehen. Wir hoffen deshalb, dass die Petition zum Anlass genommen wird, den Zugang zu Teilhabeleistungen endlich besser zu regeln“, erklärte Corinna Rüffer für die Grünen.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Selbstbestimmungsrecht betreuter Menschen betont




Ein Mann füllt ein Formular zur Vorsorgevollmacht aus.
epd-bild/Norbert Neetz
Psychisch kranke und behinderte Menschen müssen ihre Familienangehörigen als Betreuer wählen können. Wie das Bundesverfassungsgericht entschied, müssen Gerichte einen solchen Wunsch Betroffener berücksichtigen.

Karlsruhe (epd). Der Wunsch behinderter oder psychisch kranker Menschen nach einer Betreuung durch einen engen Familienangehörigen gehört zu ihrem Selbstbestimmungsrecht und darf nicht übergangen werden. Entsprechend dem im Grundgesetz enthaltenen Schutz der Familie haben betreuungsbedürftige Menschen Anspruch darauf, dass ihre Eltern als Betreuer „bevorzugt berücksichtigt“ werden, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 12. Mai veröffentlichten Beschluss.

Ärzte plädierten für Betreuerwechsel

Konkret ging es um eine 1992 geborene, an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie erkrankten Frau aus dem Raum Neubrandenburg. Ihre Mutter wurde 2014 als Betreuerin für den Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmung eingesetzt. Nach mehreren kurzen Aufenthalten in der Psychiatrie empfahl ein vom Amtsgericht beauftragter Gutachter, eine für mindestens sechs Monate geschlossene Unterbringung. Ein Orts- und Betreuerwechsel solle der Frau nicht zugemutet werden.

Die behandelnden Ärzte sprachen sich jedoch für einen Betreuerwechsel aus - gegen den Wunsch von Tochter und Mutter. Es bestehe eine schädliche „innerfamiliäre Dynamik“.

Das Amtsgericht bestellte daraufhin eine Berufsbetreuerin. Die Tochter kam in eine 120 Kilometer vom Wohnort entfernte psychiatrische Einrichtung.

Die Mutter wehrte sich gegen ihre Entlassung als Betreuerin, scheiterte jedoch vor dem Landgericht Neubrandenburg. Das Bundesverfassungsgericht hob diese Entscheidung auf und verpflichtete das Landgericht, neu über die Betreuung zu entscheiden.

Schutz der Familie

Mit der Entlassung als Betreuerin sei die Mutter in ihrem Familiengrundrecht verletzt worden. „Dem Schutz der Familie ist auch bei der Bestellung einer Betreuerin Rechnung zu tragen“. „Eine bevorzugte Berücksichtigung“ naher Angehöriger sei jedenfalls dann geboten, „wenn eine tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindung besteht“, so die Verfassungsrichter.

Bei der Betreuerwahl sei auch das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu beachten. Laut Gesetz müssten die Gerichte daher eine von der Betroffenen, hier der Tochter, vorgeschlagene Betreuerin bestellen, wenn dies dem Wohl der Betroffenen nicht zuwiderläuft.

Hier habe das Landgericht den Wunsch der Tochter durch ihre Mutter nicht ausreichend gewürdigt. Auch blieb das gerichtlich angeordnete Gutachten, welches sich gegen einen Betreuer- und Ortswechsel ausgesprochen hatte, unberücksichtigt. Selbst bei Zweifeln über die Eignung als Betreuerin müsse vor einer Betreuer-Entlassung geprüft werden, ob konkrete Hilfsangebote gemacht und die Umsetzung des Willens der betreuten Person ermöglicht werden können. Dies sei hier unterblieben.

Sohn vernachlässigt Betreueraufgaben

Nach Auffassung von Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, hat das Urteil auch eine große Bedeutung für die rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland. „Karlsruhe hat damit den Vormundschaftsgerichten ins Stammbuch geschrieben, dass sie nicht so ohne weiteres von innerfamiliären Entscheidungen zur Vormundschaft abweichen dürfen“, so Brysch.

Doch das Selbstbestimmungsrecht betreuungsbedürftiger Menschen hat auch Grenzen. So entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe mit Beschluss vom 13. Mai 2019, dass ein per Vorsorgevollmacht bevollmächtigter Angehöriger seinen Betreuungsaufgaben auch ernsthaft nachkommen muss. Anderenfalls könne das Betreuungsgericht einen Berufsbetreuer bestellen und diesem das Recht einräumen, eine bestehende Vorsorgevollmacht zu widerrufen.

Im Streitfall hatte eine alte Frau ihren psychisch kranken Sohn bevollmächtigt, dass dieser sich um sie kümmert. Weder hatte er sich um die Post und Behördenangelegenheiten gekümmert, noch hatte er vor der Heimunterbringung der Mutter ausreichend nach ihr gesehen. Sie wurde in ihrer Wohnung unterkühlt, dehydriert, eingenässt und fast nackt aufgefunden.

Zweifel an Redlichkeit

Ein Betreuungsgericht kann sich nach einer weiteren BGH-Entscheidung vom 19. Juli 2017 auch gegen eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht stellen, die eine betreuungsbedürftige Frau ihren zwei Töchtern erteilt hat. Denn „sichern“ sich die Töchter bereits während eines laufenden Betreuungsverfahren nahezu das gesamte Vermögen der Mutter, bestünden erhebliche Zweifel „gegen die Eignung und Redlichkeit als Bevollmächtigte“.

Bereits am 17. Februar 2016 entschied der BGH aber auch, dass eine erteilte Vorsorgevollmacht von Betroffenen nicht einfach wieder geändert werden kann, wenn diese mittlerweile an einer Demenz erkrankt sind. Eine schlichte Meinungsänderung eines nicht mehr geschäftsfähigen Betroffenen könne die Wirksamkeit einer in der Vergangenheit erteilten Vorsorgevollmacht nicht beseitigen, so das Gericht.

Az.: 1 BvR 413/20 (Bundesverfassungsgericht, Selbstbestimmungsrecht)

Az.: XII ZB 61/20 (Bundesgerichtshof, Vorsorgevollmacht)

Az.: XII ZB 141/16 (Bundesgerichtshof, charakterliche Eignung)

Az.: XII ZB 498/15 (Bundesgerichtshof, Vorsorgevollmacht Meinungsänderung)

Frank Leth


Bundessozialgericht

Garagenstellplatz ausnahmsweise auf Kosten des Jobcenters



Kassel (epd). Jobcenter dürfen Hartz-IV-Beziehern die Übernahme der Kosten für einen angemieteten Garagenstellplatz nicht pauschal verweigern. Sind die Unterkunftskosten angemessen und ist der Stellplatz untrennbar mit dem Wohnungs-Mietvertrag verbunden, muss das Jobcenter die vollen Mietaufwendungen übernehmen, urteilte am 19. Mai das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Im Streitfall zahlte der klagende Hartz-IV-Bezieher monatlich für seine in Freiburg gelegene Wohnung 500 Euro warm. Darin waren 25,56 Euro für einen Tiefgaragenstellplatz enthalten. Die Unterkunftskosten machte er beim Jobcenter Freiburg geltend.

Die Behörde bewilligte zwar die Übernahme für Unterkunft und Heizung, kam jedoch nicht für die anteiligen Kosten des Tiefgaragenstellplatzes auf. Der Autostellplatz diene nicht dem „unmittelbaren Wohnen“. Außerdem sei dem Arbeitslosen die Untervermietung des Stellplatzes zur Kostensenkung zuzumuten, so die Begründung.

Das BSG gab dem Hartz-IV-Bezieher allerdings recht. Zwar müssten normalerweise die Kosten für einen Garagenstellplatz vom Jobcenter nicht übernommen werden. Pauschal ablehnen dürfe die Behörde die Erstattung aber auch nicht. Sei der Stellplatz untrennbar mit dem Mietvertrag verbunden und eine Teilkündigung nicht möglich und seien die Unterkunftskosten angemessen, müsse das Jobcenter die volle Miete zahlen. Eine Untermietverpflichtung sei bei angemessenen Kosten auch nicht erforderlich.

Az.: B 14 AS 39/20 R



Bundessozialgericht

Bei zu hohen Heizkosten muss Jobcenter zum Einsparen auffordern



Kassel (epd). Hartz-IV-Bezieher müssen bei einem „unwirtschaftlichen Heizverhalten“ über mögliche Kostensenkungen aufgeklärt werden. Lehnt ein Jobcenter die volle Übernahme einer Heizkostennachforderung ab, ist das nur möglich, wenn der Hartz-IV-Bezieher zuvor zur Senkung der Ausgaben aufgefordert wurde, urteilte am 19. Mai das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Konkret ging es vor Gericht um eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern. Die im Hartz-IV-Bezug stehende Familie zog im Januar 2011 mit Zustimmung des Jobcenters Vorpommern-Greifswald Süd von einer größeren in eine kleinere Wohnung. Als der frühere Vermieter von der Familie ab Mai 2011eine üppige Heizkostennachforderung in Höhe von 690 Euro stellte, wollte das Jobcenter von dieser Forderung nur rund 148 Euro übernehmen.

Die Familie habe wegen eines offensichtlich grob unwirtschaftlichen Heizverhaltens diese hohe Heizkostennachforderung verursacht. Die Heizkosten seien unangemessen hoch.

Das BSG urteilte, dass das Jobcenter die Heizkostennachforderung je Familienmitglied als zu übernehmender Bedarf der Kläger anerkennen muss. Denn für die Ablehnung unangemessen hoher Unterkunfts- und Heizkosten müssten Hartz-IV-Bezieher zuvor zur Kostensenkung aufgefordert werden. Nur so könnten Betroffene über zu hohe, nicht vom Jobcenter zu tragenden Energiekosten aufgeklärt werden, hieß es. Das sei hier indes unterblieben.

Az.: B 14 AS 57/19 R



Bundessozialgericht

Bund darf sich nicht bei Krankenkassenbeiträgen bedienen



Kassel (epd). Der Bund darf nicht zur Finanzierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf Krankenkassenbeiträge zugreifen. Die gesetzliche Regelung zur Finanzierung von Präventionsaufgaben bei der BZgA ist verfassungswidrig und verletzt das Selbstverwaltungsrecht der gesetzlichen Krankenkassen, urteilte am 18. Mai das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Wegen des damit verbundenen Wegfalls von jährlich rund 30 Millionen Euro muss die Kölner Bundesbehörde nun auf einen wesentlichen Haushaltsmittelposten verzichten.

Hintergrund des Rechtsstreits ist das sogenannte Präventionsgesetz aus dem Jahr 2015. Dessen Ziel ist eine verbesserte Gesundheitsförderung und Prävention in den Lebenswelten der Menschen, wie Kita, Schule, Arbeitsplatz oder Pflegeheim. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen dabei von der BZgA unterstützt werden.

45 Cent für jeden Versicherten

Die Krankenkassen wurden hierfür gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens 45 Cent für jeden Versicherten an den Bund zu zahlen, der wiederum die BZgA damit finanziert. Jährlich kamen so durchschnittlich 30 Millionen Euro zusammen. 2020 war die Zahlungspflicht wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt.

Der Verwaltungsrat des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sperrte für 2016 jedoch die Auszahlung der Mittel. Die gesetzliche Regelung sei verfassungswidrig und verletzte die Kassen in ihrem Selbstverwaltungsrecht, hieß es zur Begründung. Die Beiträge zur Finanzierung der BZgA betreffe gar nicht die Sozialversicherung, sondern sei Bundessache. Versichertenbeiträge dürften dafür nicht verwendet werden.

Allgemeiner Finanzbedarf

Das Bundesgesundheitsministerium hob als Aufsichtsbehörde diese Entscheidung auf. Die Krankenkassen müssten den gesetzlichen Auftrag ausführen. Auf Grundrechte könnten sie sich als öffentlich-rechtliche Körperschaft nicht berufen.

Das BSG urteilte, dass die gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen, die BZgA mitzufinanzieren, verfassungswidrig sei. Das Ministerium habe bereits auf einer falschen Rechtsgrundlage die Entscheidung der GKV aufgehoben.

Der Staat dürfe nicht zur Befriedigung seines allgemeinen Finanzbedarfs auf Mittel der beitragsfinanzierten Sozialversicherung zurückgreifen. Prävention sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht allein Sache der Krankenkassen, entschied das Gericht in seinem Grundsatzurteil.

Az.: B 1 A 2/20 R



Landessozialgericht

Jobcenter muss keine FFP2-Masken bezahlen



Darmstadt (epd). Hartz IV-Bezieher haben keinen Anspruch auf zusätzliche Leistungen für den Kauf von FFP2-Masken. Es liege kein besonderer Bedarf vor, außerdem seien diese medizinischen Masken wiederverwertbar und inzwischen im Preis stark gesunken. Dies entschied das Hessische Landessozialgericht (LSG) in einem am 17. Mai in Darmstadt veröffentlichten Beschluss und bestätigte damit die Entscheidung des Sozialgerichts Gießen.

Die Antragsteller, eine Familie aus dem Wetteraukreis, hätten nicht glaubhaft machen können, dass sie mehr und teurere Masken benötigten als andere Leistungsbezieher, argumentierte das LSG. Zudem müssten Leistungsberechtigte prinzipiell die kostengünstigste und zumutbare Variante der Bedarfsdeckung wählen.

Dazu verwiesen die Richter auf die Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro, die Hartz-IV- Bezieher zum Ausgleich des mit Corona in Zusammenhang stehenden Mehrbedarfs jeweils erhielten. Der Familie sei es im übrigen auch zuzumuten, das geschützte Erwerbseinkommen des Familienvaters in Höhe von 100 Euro monatlich für den geltend gemachten Bedarf einzusetzen. Der Beschluss ist unanfechtbar.

Az.: L 9 AS 158/21 B ER



Oberverwaltungsgericht

Kein generelles Abschiebeverbot nach Nigeria wegen Malaria



Münster (epd). Eine Malaria- oder Corona-Gefahr in Nigeria verhindert keine Abschiebung von Kleinkindern in das Land. In Europa geborene Kleinkinder von nigerianischen Eltern haben keinen Anspruch auf einen nationalen Abschiebungsschutz, wegen eines Risikos einer Malaria-Erkrankung, erklärte das Oberverwaltungsgericht Münster in einer am 18. Mai veröffentlichten Entscheidung. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Nigeria rechtfertigten kein generelles Abschiebungsverbot.

Im konkreten Fall ging es um ein im Jahr 2017 in Italien geborenes Mädchen, das mit ihrer Mutter nach Deutschland eingereist war. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) lehnte einen für das Mädchen gestellten Asylantrag ab und erklärte, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen. Das Verwaltungsgericht Münster gab zunächst einer Klage gegen diese Entscheidung teilweise statt. Das Oberverwaltungsgericht gab nun dem Bundesamt in seiner Berufung recht.

Keine Extremgefahr

Eine allgemein drohende Gefahr einer Malaria-Erkrankung sei nicht hinreichend wahrscheinlich, erklärte das Oberverwaltungsgericht. Die bestehenden Gefährdungen für Kinder bis zu fünf Jahren, die aus Europa nach Nigeria zurückkehren, führten nicht zur Annahme einer Extremgefahr. Auch die mit der Coronavirus-Pandemie verbundenen Auswirkungen änderten nichts an dieser Lage.

Zwar seien die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage bei Essen, Wohnraum und Gesundheitsversorgung in Nigeria durch die Pandemie negativ betroffen, erklärte das Gericht weiter. Ein zwingender Ausschluss von Abschiebungen aus humanitären Gründen sei damit jedoch nicht verbunden. Nach Überzeugung des Gerichts werde die Familie bei einer Rückkehr nach Nigeria in der Lage sein, zumindest ein Existenzminimum durch Arbeit zu erwirtschaften. Auch ihre weiteren Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung und Hygiene seien - wenn auch unter prekären Bedingungen - gesichert.

Gegen die Entscheidung kann Beschwerde eingelegt werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.

Az.: 19 A 4604/19.A



Gerichtshof für Menschenrechte

Staat musste Frauen nach Leihmutterschaft nicht als Eltern anerkennen



Straßburg (epd). Ein lesbisches Paar, das ein Kind aus einer Leihmutterschaft aufzieht, muss nicht als Elternpaar anerkannt werden. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 18. Mai in einem Fall aus Island, bei dem die Frauen keine biologische Beziehung zu dem in den USA geborenen Jungen hatten. Die isländischen Behörden hatten die Anerkennung als Eltern verweigert, aber den Frauen das Kind in Pflege gegeben, ihm die isländische Staatsbürgerschaft verliehen und eine Adoption nicht ausgeschlossen.

Der Junge war 2013 zur Welt gekommen und von dem verheirateten Paar mit nach Island genommen worden, nachdem die leibliche Mutter ihn wie vorher geplant freigegeben hatte. Island verweigerte die Anerkennung der Frauen als Eltern, da keine von ihnen die leibliche Mutter war und Leihmutterschaft in Island verboten ist.

Durch die Entscheidung, sie als Pflegeeltern zu bestimmen und durch die Perspektive einer gemeinsamen Adoption - bis die Frauen sich später trennten -, sei dem Recht aller drei auf Schutz des Familienlebens Genüge getan worden, urteilte der EGMR. 2019, als der Fall schon in Straßburg anhängig war, lebte das Kind laut EGMR dauerhaft bei einer der Frauen und ihrer neuen Partnerin in Pflege. Die zweite Frau und ihre neue Partnerin hatten gleichberechtigten Zugang zu ihm.

Az.: 71552/17




sozial-Köpfe

Diakonie

Ingo Habenicht ist neuer Vorsitzender des Dienstgeberverbandes




Ingo Habenicht
epd-bild/Johanneswerk
Der Geschäftsführer des Evangelischen Johanneswerkes in Bielefeld, Ingo Habenicht, ist zum neuen Vorstandsvorsitzenden des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) gewählt worden. Er übernahm das Amt von Christian Dopheide.

Der promovierte Theologe Ingo Habenicht ist neuer Vorsitzender des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD). Der 61-Jährige ist seit 2011 Vorsitzender des Vorstandes und der Geschäftsführung des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld. Vorher übernahm er leitende Aufgaben in Kirche und Diakonie. Habenicht ist außerdem Mitglied in der Ständigen Konferenz für Seelsorge in der EKD und vereint diverse Funktionen in Vorständen und Aufsichtsräten diakonischer Einrichtungen. Die VdDD-Mitgliederversammlung wählte ihn im Mai 2012 in den Vorstand.

Der neue VdDD-Vorsitzende dankte seinem Vorgänger, Christian Dopheide, „für sein bisheriges, kompetentes Engagement als Vorstandsvorsitzender des Verbandes. Den Schwerpunkt des VdDD, die Mitgestaltung gesellschaftlich zukunftsweisender tarif- und sozialpolitischer Themen, werde ich mit meinen Kräften gern weiterhin fördern.“

Christian Dopheide wurde zum Ehrenvorsitzenden berufen. Er war bereits im Dezember 2020 als theologischer Vorstand der Evangelischen Stiftung Hephata in den Ruhestand gegangen, wodurch satzungsgemäß auch seine Mitgliedschaft im VdDD-Vorstand endet. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Neuwahl des Vorsitzenden bis zur Vorstandssitzung im Mai vertagt.

Neu in den Vorstand gewählt wurden: Christoph Dürdoth (Johannesstift Diakonie, Berlin), Andreas Theurich (Stiftung Das Rauhe Haus, Hamburg) sowie Edda Weise (PfeifferscheStiftungen, Magdeburg). Stellvertretender Vorstandsvorsitzender bleibt Hubertus Jaeger (DGD-Stiftung, Marburg).

Der Dienstgeberverband vertritt als diakonischer Bundesverband die Interessen von rund 180 Mitgliedsunternehmen und fünf Regionalverbänden mit etwa 500.000 Beschäftigten. Schwerpunkte der Verbandsarbeit sind die Weiterentwicklung des kirchlich-diakonischen Tarif- und Arbeitsrechts, Themen aus Personalwirtschaft und -management sowie die unternehmerische Interessenvertretung.



Weitere Personalien



Peter Barbian tritt am 1. Oktober seinen Dienst als Sprecher der Rummelsberger Brüdergemeinschaft an. Der Diakon wurde zum Nachfolger von Martin Neukamm (64) gewählt worden, der in den Ruhestand geht. Neukamm hatte das Amt seit 2009 inne. Der 57-jährige Diplom-Sozialpädagoge Barbian ist derzeit als geschäftsführender Vorstand in der Bildungs- und Erholungsstätte Langau tätig. Die Rummelsberger Brüderschaft und die knapp 300 Frauen zählende Gemeinschaft der Diakoninnen sind der geistliche Kern der Rummelsberger Diakonie in Rummelsberg bei Nürnberg, einem der großen diakonischen Träger in Deutschland. In etwa 200 Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, Flüchtlinge, Senioren und Menschen mit Behinderung sind mehr als 5.400 Mitarbeiter beschäftigt.

Marcus Eckhoff ist neuer Vorstandschef im Fachverband Diakonische Behindertenhilfe in Niedersachsen. Der Geschäftsführer der Neuerkeröder Wohnen und Betreuen GmbH wurde während der jüngsten Mitgliederversammlung gewählt. Wichtigste Aufgaben in den kommenden Jahren sei die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, sagte Eckhoff. Vor allem für Menschen mit höherem Hilfebedarf müssten passgenaue Angebote geschaffen werden. Außerdem gelte es, ausreichend qualifizierte Fachkräfte für die Einrichtungen zu finden oder auszubilden.

Marie Sohn und Philipp Wiemann vom katholischen St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin haben den bundesweiten Preis „Pflegerin des Jahres“ beziehungsweise „Pfleger des Jahres“ erhalten. Die Auszeichnungen sind mit jeweils 4.000 Euro dotiert. Beide Pfleger arbeiten auf einer geriatrischen Spezialstation mit Patienten, die an Demenz erkrankt sind. Der Preis wird seit 2016 jährlich von der Aktion „Herz und Mut“ verliehen. Patienten, Angehörige und Kollegen können ihren Lieblingspfleger oder ihre Lieblingspflegerin für den Titel nominieren.

Annette Bruhns, Chefredakteurin des Hamburger Straßenmagazins „Hinz&Kunzt“, wird die Zeitung wieder verlassen. Die Politikjournalistin war im November 2020 vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ gekommen und hatte im Januar die Chefredaktion übernommen. Sie scheidet im besten Einvernehmen, um sich neuen beruflichen Herausforderungen zu stellen, wie es hieß. „Wir würden uns freuen, auch künftig hin und wieder mit ihr zusammenarbeiten zu können“, so Herausgeber Dirk Ahrens, Leiter der Diakonie.

Georg Baum (66) ist neuer Aufsichtsratsvorsitzender der DRK Kliniken Berlin. Er wurde von der Gesellschafterversammlung der Klinikgruppe berufen. Baum war bis März Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Den Vorsitz des Aufsichtsrates der DRK Kliniken Berlin übernimmt Baum von Alfred Dänzer, der nach der regulären Amtszeit von fünf Jahren auf eigenem Wunsch das Mandat nicht verlängert hatte.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juli



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Mai

27.5.:

Online-Kurs: „Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

Juni

7.6.:

Online-Seminar: „Betriebsverfassungsrecht und Beteiligungsrechte des Betriebsrates“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828217

7.-8.6:

Online-Fortbildung: „So kann man doch nicht leben!?“ Vermüllt und verwahrlost - Was tun?"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

7.-10.6. Freiburg

Fortbildung „Konfliktmanagement als Führungsaufgabe“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

8.6.:

Webinar „Erfolgreiche Förderanträge schreiben“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356159

10.6.:

Online-Seminar „Spenden und Sponsoring - steuerliche Regelungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

10.-11.6.: Paderborn:

Seminar „Moderations- und Leitungskompetenz für Konferenzen, Arbeitsteams und Projektgruppen“

der In VIA Akademie

Tel.: 05251 2908-38

14.-15.6.:

Online-Seminar „Sozialberatung für EU-BürgerInnen“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3473485

21.6.:

Online-Fortbildung „Wirksame Führung im 21. Jahrhundert“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0173/2637308

21.-23.6. Hannover:

Fortbildung „Wirksame Führung im 21. Jahrhundert“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0173/2637308

22.6. Berlin: Seminar „Die Stiftungsgeschäftsführung: Rechte, Pflichten und Gestaltungsspielräume“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

28.6.-2.7.:

Fortbildung „Moderations- und Leitungskompetenz für Konferenzen, Arbeitsteams und Projektgruppen“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700