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Was im Notfall gar nicht geht




Eine Patientin im Flur einer psychiatrischen Klinik
epd-bild/Werner Krüper
Wer in eine akute psychische Krise gerät, die ihn geistig verwirrt, kann sich in einem Notfall nicht mehr selbst helfen. Für solche Patienten gibt es Krisenpässe. Die kleinen Aufklärer im Portemonnaie sollen falsche Akutmaßnahmen verhindern.

München (epd). Ein Mensch, der sich in einer akuten Psychose befindet, kann meist nicht mehr deutlich machen, welche Hilfe er gern hätte - und was nun auf gar keinen Fall getan werden sollte. In solchen Notsituationen leisten sogenannte Krisenpässe Aufklärung. Die allerersten Krisenpässe entstanden vor über 30 Jahren in Hannover. In München wurde 1997 ein Krisenpass aus der Selbsthilfe heraus entwickelt. Viele Psychiatrie-Erfahrene haben ihn heute im Geldbeutel stecken.

Ansprechpersonen im Notfall

Seelisch Erkrankte, die sich für den Münchner Krisenpass entscheiden, beschreiben darin, woran sie leiden: etwa an einer Depression, an einer Schizophrenie oder an Phobien. Sie halten fest, wie sie im Notfall behandelt werden wollen. Welche Medikamente sie einnehmen. Welche ihnen bisher in einer Krise gut geholfen haben und mit welchen Arzneien sie in der Vergangenheit in Krisensituationen schlechte Erfahrungen gemacht haben. Der Krisenpass gibt außerdem Auskunft darüber, wer der rechtliche Betreuer ist und von welchem Arzt der Passinhaber derzeit behandelt wird. Ferner werden Personen genannt, die im Notfall benachrichtigt werden können.

Somatisch Erkrankte können frei entscheiden, ob sie sich einer Operation unterziehen wollen oder ob sie ein bestimmtes Medikament einnehmen möchte - zumindest wenn sie bei klarem Verstand sind. „In der Psychiatrie wird der Wille der Patienten nicht immer berücksichtigt“, sagt Mirko Bialas vom Verein Münchner Psychiatrie-Erfahrene (MüPe), der selbst an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt ist. Ärzte täten bis heute teilweise so, als wüssten seelisch Kranke nicht, was für sie gut wäre. Darum komme es noch immer zu Zwangseinweisungen. Er selbst sei einmal „gewaltsam“ in die Klinik „verfrachtet“ worden: „Die Polizisten hatten mich nicht gefragt, ob ich freiwillig mitkommen würde.“

Gefährliche Zwangsbehandlungen

Zwangsweise Behandlungen können große Qualen bei den Betroffenen verursachen. Teilweise sind Zwangsbehandlungen richtig gefährlich, warnt Bialas: „Es gibt zum Beispiel Erkrankte, die auch in einer Krise keinesfalls das Beruhigungsmittel Tavor wollen, da sie davon schon mal abhängig wurden.“ Genau so etwas kann im Krisenpass vermerkt sein. Viele 1.000 Krisenpässe wurden nach Angaben des MüPe-Geschäftsführers inzwischen in der bayerischen Landeshauptstadt ausgegeben. Der Ausweis passt gut ins Portemonnaie: „Er befindet sich also dort, wo man zuerst nachschaut, wenn man die Identität eines Menschen feststellen möchte.“

Bevor es den Krisenpass gab, schrieben Betroffene manchmal auf einem Zettel, wie sie behandelt werden wollen oder nicht. Mirko Bialas ist das Beispiel von Petra L. bekannt, die auf einem Blatt Papier festhielt: „Ich vertrage kein Haldol! Falls ich in einer psychotischen Krise bin, so möchte ich mit Lyogen behandelt werden.“ Ihr Arzt hatte den Zettel abgestempelt.

In Krisenpässen geht es jedoch nicht nur um Arzneien. Auch solche Sätze können in einem Krisenpass zu lesen sein: „Man sollte nicht im Befehlston mit mir sprechen. Das hat eine eskalierende Stimmung zufolge.“ Nicht zuletzt geht es darum, Behandlungen, die als Zwang empfunden werden, zu verhindern.

„Erhebliche Traumatisierungen“

Dass zwangsweise Behandlungen höchst nachteilige Folgen für Patienten haben können, bestätigt Thomas Pollmächer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie könnten „erheblich traumatisieren“, weshalb sie allenfalls als „ultima ratio“ in Frage kämen. „Krisenpässe können, sind sie sorgfältig erstellt und aktuell, ein sehr wirksames Mittel zur Vermeidung solcher Maßnahmen sein“, bestätigt der Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit des Klinikums Ingolstadt.

Nicht alle psychisch Kranken sind jedoch rundum zufrieden damit, wie in der Praxis mit Krisenpässen umgegangen wird. Bei der MüPe trudelte unlängst eine Beschwerde ein. Es seien „zig Gründe“ gefunden worden, warum man in seinem Fall nicht berücksichtigt habe, was im Pass stand, monierte der betroffene Mann. „Dies ist allerdings der einzige Beschwerdefall zum Krisenpass, den ich kenne“, sagt Mirko Bialas, der seit zwei Jahren MüPe-Geschäftsführer ist.

Ein Krisenpass ist ein wirksames Mittel zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts, bestätigt Krankenpflegerin Katharina Molzow, die sich intensiv mit Krisenpässen beschäftigt hat. Doch in vielen Kliniken sei kaum jemand mit dem Thema vertraut: „Somit werden keine Krisenpässe angewandt oder Betroffene darüber informiert.“

Tendenzwende in der Psychiatrie

Krisenpässe seien im Übrigen nicht die einzige Möglichkeit, Behandlungswünsche festzulegen. In ihren Recherchen, die Molzow 2019 an der Bielefelder Fachhochschule der Diakonie vorstellte, fand sie 16 unterschiedliche Instrumente. Neben Krisenpässen gibt es zum Beispiel Behandlungsvereinbarungen.

Nicht überall sind Krisenpässe so stark verbreitet wie im Raum München. Die Nachfrage in ihrer Einrichtung sei sehr gering, berichtet Angelika Koch, Leiterin der Kontakt- und Beratungsstelle des Bochumer Vereins „Brücke“ für seelisch kranke Menschen. Möglicherweise liege dies daran, dass es in Bochum fast keine schlechten Erfahrungen mehr mit der Psychiatrie gebe: „Ich wüsste kaum jemand von unseren Klienten, der in letzter Zeit zwangsbehandelt wurde.“ Früher sei öfter mal ein Patient gegen seinen Willen ins Krankenhaus gekommen, so Koch, die seit 30 Jahren bei der „Brücke“ arbeitet.

Die Frage, was man als Arzt tun und was man lieber nicht tun sollte, um einem Menschen in einer psychischen Krise zu helfen, bleibt für Ingo Ulzhoefer aus Itzehoe ungeachtet dessen essenziell. Ulzhoefer leitet das Projekt „Betroffenenbeteiligung“ im Zentrum für Psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe, außerdem sitzt er dem Landesverband der unabhängigen Beschwerdestellen in Schleswig-Holstein vor. Damit ein psychisch kranker Mensch genesen könne, sollte seine Therapie „verhandelt“ werden, fordert der Psychiatrieerfahrene.

Noch kann Ulzhoefer keine Tendenzwende in der Psychiatrie erkennen. Das Bewusstsein, wie wichtig es ist, dass psychisch Kranke ihre Genesung in die eigenen Hände nehmen, sei noch nicht überall angekommen. Ulzhoefer hält es jedoch „für dringend geboten, dass Behandlungsvereinbarungen zu einem festen therapeutischen Bestandteil der psychiatrischen Behandlung werden“.

Der Krisenpass ist nicht unumstritten. „Er muss dahingehend überarbeitet werden, dass die Ressourcen der Betroffenen, ihres sozialen Umfelds und die positiven Erfahrungen mit Kriseninterventionen und mit Behandlungsmaßnahmen berücksichtigt werden“, sagt Catrin Lagerbauer. Sie ist Psychiatriekoordinatorin der Region Hannover, wo es bereits seit den 1980er Jahren einen „Krisenpass für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung“ gibt. Dieser Pass gilt aus heutiger Sicht als zu defizitorientiert: „Das heißt, er ist zu sehr auf Fragen der psychiatrischen Diagnosen und der pharmakologischen Therapie ausgerichtet.“

Pat Christ