sozial-Branche

Behinderung

Gastbeitrag

Pandemie: Menschen mit Behinderung im Nachteil




Janina Bessenich
epd-bild/Caritas
Ob bei klinischen Behandlungen, fehlenden Finanzhilfen oder bei der Impfpriorität: Menschen mit Behinderungen sind laut Janina Bessenich im Nachteil. In ihrem Gastbeitrag listet die Caritas-Expertin die Probleme auf und fordert schnelle Lösungen.

Berlin (epd). Zu Beginn der Pandemie sagte die Berliner Staatssekretärin, Sawsan Chebli, im April 2020: „Es gibt keine Grenzen, Corona trifft uns alle gleich.“ Diese Aussage ist nicht zutreffend, wenn wir uns das Pandemiegeschehen vor Augen führen und jene Fakten wahrnehmen, die über aktuelle Studien belegt werden. Vor allem zeigt sich, dass das Infektionsrisiko unterschiedlich hoch ist. Vieles ist unter anderem abhängig vom jeweiligen Gesundheitszustand oder von den Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnissen der Menschen.

Weniger Schutz- und Präventionschancen

Wer beispielsweise täglich auf Busse und Bahnen angewiesen ist, unterliegt einem weitaus größeren Infektionsrisiko als jemand, der einen eigenen PKW nutzen kann. Menschen, die beengt leben müssen, haben weitaus weniger Schutz- und Präventionschancen als jene Menschen, die über ausreichend Wohnraum verfügen.

Seit Beginn der Pandemie müssen viele Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in Einrichtungen mit massiven Ausgangsbeschränkungen und Schließungen von tagesstrukturierenden Angeboten zurechtkommen. Bei der Verteilung von Schutzausrüstungen und auch den Finanzierungszusagen wurden Krankenhäuser und Alten- und Pflegeheime bevorzugt. Für sie gab es den Schutzschirm des „Krankenhausentlastungsgesetzes“.

Für die Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt es diesen Schutzschirm bis heute nicht. Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie waren wie auch die Kinder- und Jugendhilfe auf ihre üblichen Kostenträger angewiesen. Schnell zeigte sich ein bundesweiter Wildwuchs: Es gab Kostenträger, die mit Verweis auf die Pandemie bereits vereinbarte Entgelte auf 75 Prozent kürzten und keine Corona-bedingten Mehrkosten zahlten.

Viele Einrichtungen für Menschen mit Behinderung arbeiteten zunächst ohne Schutzausrüstung und waren gezwungen, provisorisch zu handeln. Die Aufrechterhaltung von Leistungen für Menschen mit Behinderung musste häufig aus eigenen Mitteln der Leistungserbringer finanziert werden. Zum Glück hat sich im Verlauf der Pandemie die Situation deutlich gebessert, so dass fast bundesweit zumindest die vereinbarten Regelleistungen erstattet werden. Bei den Corona-bedingten Mehrkosten ist das allerdings nicht der Fall. Und das ist längst nicht das einzige ungelöste Problem.

Gesundheitliche Versorgung im Krankenhaus

Der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) hat als sachverständiger Dritter beim Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme zur Triage abgegeben. Hintergrund ist eine Verfassungsbeschwerde von neun Menschen mit Behinderung, die aufgrund verschiedener Vorerkrankungen und Behinderungen zur Risikogruppe einer Covid-19-Erkrankung mit schweren Krankheitsverläufen gehören. Sie rügen die Untätigkeit des Gesetzgebers. Menschen mit Behinderung befürchten im Fall knapper Behandlungsressourcen, aufgrund ihrer Behinderung schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zu haben oder von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden.

An dem Beispiel Triage wird wie im Brennglas deutlich, mit welchen Formen von struktureller Benachteiligung Menschen mit Behinderung in der gesundheitlichen Versorgung konfrontiert sind. Innerhalb der Caritas kann belegt werden, wie einige Betroffene trotz schwerer Infektion mit Covid-19 nicht ins Krankenhaus aufgenommen wurden, obwohl die Einrichtung keine optimale Versorgung der Covid-19-Erkrankten gewährleisten konnte. Fachleute sprechen hier von einer sogenannten „Triage vor der Triage“, deren Fallzahlen leider aber nicht statistisch erfasst werden.

Bei einer Aufnahme ins Krankenhaus entscheiden die Ärzte, für wen die Kapazitäten vorrangig zur Verfügung gestellt werden. Gerade bei Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen besteht die Gefahr, dass die Mediziner dabei die behinderungsbedingten Herausforderungen und ihre eigenen inneren Einstellungen, Erfahrungen in die Entscheidung bei Kapazitätsengpässen einfließen lassen. Das kann sich diskriminierend auf die medizinische Behandlung bei Kapazitätsengpässen niederschlagen. Erschwerend kommt hinzu, dass es den Ärzten vielfach an fachlichen behinderungsspezifischen Kenntnissen und an Erfahrungen fehlt. Das Triage-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht dauert an.

Zugang zu Impfungen

Die aktuell geltende Impfverordnung hat die Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung und Beschäftigte in Einrichtungen der Behindertenhilfe in die zweite Gruppe „mit hoher Priorität“ und viele andere Menschen mit Behinderung und deren Angehörige teilweise in nachrangige Gruppen eingestuft. Aktuell ist die Impfkampagne soweit gediehen, dass auch viele Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung den Zugang zu Impfungen erhalten. Sie haben aber fast vier Monate gewartet, obwohl ihr Gesundheit und Leben in der Pandemie besonders bedroht war.

Die Corona-Krise bestätigt leider die Sorge, dass Menschen mit Behinderung nach wie vor nicht ausreichend in ihren Bedarfen gesehen und dadurch benachteiligt werden. Der verspätete Zugang zu Impfungen hat zum Tod von vielen Menschen mit Behinderungen geführt. In manchen Bundesländern war es zudem schwierig, dass mobile Impfteams auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe zum Einsatz kamen.

Auch die Gefährdung des Personals in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung wurde in der Impfverordnung zum Teil verkannt. Die Beschäftigten in der Behindertenhilfe sind besonders häufig von Covid-19 betroffen. Eine aktuelle AOK-Studie stuft die Heilerziehungspfleger/innen in Bezug auf die Häufigkeit von COVID-19-Erkrankungen auf Platz 5 der in Corona-Zeiten gefährlichsten Berufe ein.

Finanzierung von Einrichtungen und Diensten

Bund und Länder haben in der Corona-Krise bislang mehr als 1,5 Billionen Euro für direkte Finanzhilfen mobilisiert, die in erster Linie großen Unternehmen zugutekamen. Die Bundesregierung macht sich in diesem Zusammenhang vor allem stark für die Wirtschaft und versteht die Belange der Sozialwirtschaft nur bedingt.

Nicht umsonst war in den Medien viel davon zu hören, dass „klatschen allein nicht reicht“. Gleichzeitig wird aber jetzt in der Pandemie auch über die Zukunft der Sozialwirtschaft entschieden. Bislang gibt es aber kaum politische Zeichen, die darauf hindeuten, dass die Finanzierung aller Teilhabeleistungen, gerechte Entlohnung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch in der Behindertenhilfe und Pflege gesichert sind.

Die Rechtsträger der Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe und Psychiatrie haben die Corona-Herausforderungen angenommen, die Versorgung der Menschen gesichert und die Auflagen der Behörden erfüllt. Die Umgestaltung der Arbeit in Einrichtungen und Diensten hat immense personelle und sachliche Ressourcen (Mehraufwand wegen Schutzausrüstung, wegen Quarantäne-Anordnungen etc.) verschlungen.

Nach mehreren Monaten des Managements der Corona-Pandemie in Einrichtungen und Diensten liegen aber bis heute die schriftlichen Zusagen zur Finanzierung der Mehraufwendungen durch Träger der Eingliederungshilfe (Kostenträger) bundesweit nicht duchgängig vor.

Vielfach beginnen derzeit Verhandlungen, in denen die Details der Mehraufwendungen akribisch verhandelt werden müssen. Notwendig wäre ein bundesweit einheitliches, transparentes und pandemiesicheres Entgeltsystem für die Träger der Eingliederungshilfe. Offenbar ist der individuelle Rechtsanspruch auf Teilhabe, den jeder Mensch mit Behinderung hat, letztendlich durch die unzureichende Finanzierung in Frage gestellt.

Aus der Pandemie lernen

Heute wissen wir, dass die Pandemie uns alle in Risiko- und Prioritätsgruppen aufteilt. Es entstehen neue Randgruppen in der Corona-Zeit. Zu Corona-Randgruppen und Verlierenden zählen leider - trotz aller Inklusionsversprechen - wieder einmal Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung.

Die Pandemie polarisiert derzeit massiv die Gesellschaft. Es zeigt sich ein krasses Politikversagen, wenn man sieht, wie die Belange von Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in der Corona-Krise übersehen worden sind. Die Hoffnung besteht nun aber darin, dass die Politik beginnt, aus der Pandemie zu lernen und alle vulnerablen Personenkreise der Gesellschaft in die Mitte stellt. Niemand darf übersehen und vergessen werden!

Janina Bessenich ist Geschäftsführerin des Caritas-Fachverbandes Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).