sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

Frauen sehen sich bei Arztbesuchen nicht selten falsch behandelt, manche sprechen gar von Diskriminierung. Unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt auf X berichten Betroffene, wie Mediziner ihre Beschwerden stark verharmlosen oder gar Fehldiagnosen stellen. Das habe strukturelle Gründe, sagt Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, im Interview mit epd sozial. In der Medizin fehle noch immer der Blick der weiblichen Seite. Gebraucht werde eine geschlechtersensible Medizin, betont die Ärztin.

Die Bundesregierung forciert im Kampf gegen den Fachkräftemangel den verstärkten Einsatz von Pflegehilfen. Künftig wird die Ausbildung zur Pflegeassistenz zentral einheitlich geregelt. Noch ist das Ländersache. Ziel sei ein „Personalmix“ aus Fachkräften und Pflegeassistenzen in den Einrichtungen. Pflegeverbände und Arbeitgeber reagieren zwar überwiegend zustimmend, doch die Festlegung auf 18 Monate Ausbildungszeit sorgt für Kritik. Den einen ist das zu lang, den anderen zu kurz. Und so heißt es beim Arbeitgeberverband Pflege: „18 Monate sind ein Kompromiss, aber nicht die beste Lösung. Wir hätten uns mehr Pragmatismus vom Gesetzgeber gewünscht.“

Angesichts der dramatischen Personalnot in vielen Kitas mahnt der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) schnelle Reformen an. „Wir müssen das Ruder bei den belastenden Arbeitsbedingungen herumreißen“, sagt Geschäftsführer Paul Nowicki im Interview mit epd sozial. Das gelinge jedoch nur mit mehr Personal. Doch der Fachmann erwartet, wenn 2026 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung nach der Grundschule gilt, dass „sich das Problem noch verschärfen“ wird. Doch es gebe Möglichkeiten, die Personallage und damit die Arbeitsbedingungen in den Kitas zu verbessern.

Krankenhäuser und Pflegeheime müssen Sturzrisiken von alten und demenzkranken Menschen immer im Blick haben. Kommt es dann doch zu einem Rechtsstreit über die Haftung für einen Sturz, dürfen Gerichte sich nicht über fachliche Aussagen eines bestellten Gutachters einfach hinwegsetzen und ohne eigene Qualifikation selbst Feststellungen dazu treffen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 29. August veröffentlichten Beschluss. Andernfalls werde der Anspruch der Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, befanden die Karlsruher Richter.

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Ihr Dirk Baas




sozial-Thema

Gesundheit

Wie Frauen in der Medizin benachteiligt werden




Frau im Wartezimmer einer Arztpraxis
epd-bild/Werner Krüper
Frauen sehen sich bei ärztlichen Behandlungen diskriminiert. Unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt auf X berichten Betroffene, wie Mediziner ihre Beschwerden verharmlosen oder gar Fehldiagnosen stellen.

Frankfurt a.M. (epd). Falsche Diagnosen, sexistische Kommentare, sexuelle Übergriffe: Unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt klagen Patientinnen über erschreckende Erfahrungen in Arztpraxen. Jacqueline R. berichtet dort auf der Internetplattform X (früher Twitter), dass sie wegen Herzrasens immer wieder einen Kardiologen aufgesucht habe. Dieser habe die Symptome den Wechseljahren zugeordnet. Später hätten sich Schilddrüsenprobleme als wahre Ursache herausgestellt.

Eine weitere Frau namens Theresia schreibt: „Mir wurde jahrelang gesagt, dass meine Schmerzen normal für eine Frau sind oder ich mir das einbilde. Zu dem Zeitpunkt konnte ich nur noch mit Opiaten schlafen oder essen. Später wurde dann Endometriose diagnostiziert.“ Bei Endometriose handelt es sich um krankhafte Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut. Schätzungen zufolge leiden zwischen 10 und 15 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter daran.

Erfahrungen sichtbar machen

Wieder eine andere Frau, Almut, berichtet auf X: „Meine Mutter hatte einen aufgeblähten Bauch wie eine Schwangere. Dazu starke Schmerzen. Der Arzt hat ihr gesagt, sie hat Gastritis. Eine weiterführende Untersuchung gab es nicht. In Wirklichkeit hatte sie Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium.“

Das sind nur einige der Erfahrungen, die Frauen unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt auf der Plattform X mitteilen. Die Aussagen der Frauen, die sich nicht mit ihrem Klarnamen outen, können nicht ohne weiteres auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden.

Die Nutzerin „Joanalistin“ hat im Januar 2022 die Debatte auf #FrauenbeimArzt mit einem Aufruf angestoßen: „Ich würde gerne sichtbar machen, welche sexualisierten oder erniedrigenden Erfahrungen Frauen bei ihren Arztbesuchen erlebt haben“, schrieb sie auf ihrem Account und forderte andere Frauen auf, ihre Erfahrungen unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt zu teilen.

Anlass war ein Rechtsstreit

Den Anlass zu ihrem Aufruf gab ein Rechtsstreit zwischen einer Patientin und einem Arzt, wie sie dem Evangelischen Pressedienstes (epd) mitteilte: „Mich hat der Fall Antonia P. inspiriert. Sie wurde von ihrem Orthopäden mit den Händen vergewaltigt. Er wurde jedoch von einem Wiener Gericht freigesprochen, weil er mit einer alternativen Behandlungsmethode 'Vaginal Touché' argumentierte. Da dachte ich mir: Mal schauen, wie viele andere Frauen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Und dann ging mein Tweet viral.“

Viele Frauen seien dem Aufruf nachgekommen und hätten von sexuellen Übergriffen und sexistischen Kommentaren berichtet, aber auch von Fehldiagnosen und dem Gefühl, mit ihren Symptomen nicht ernst genommen zu werden. Als Feedback habe sie Tausende Kommentare und viele Privatnachrichten erhalten. Die Tweets werden laut „Joanalistin“ auch an Unikliniken diskutiert.

Einer britischen Studie aus dem Jahr 2015 zufolge warten Frauen bei sechs von elf Krebsarten länger auf eine Diagnose als Männer. Dies könne daran liegen, dass Frauen unterschiedliche Symptome bei derselben Krebsart aufweisen, aber lediglich die Symptomatik bei männlichen Patienten bekannt sei, heißt es in der wissenschaftlichen Studie. Experten sprechen vom sogenannten „Gender Health Gap“. Der Begriff beschreibt systematische geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheitsversorgung - zum Nachteil der Frauen: Sie erhalten oft schlechtere gesundheitliche Ergebnisse und weniger angemessene medizinische Versorgung als Männer.

Mehr Informationen gewünscht

Das Thema geschlechtersensible Medizin ist mittlerweile auch in der deutschen Bevölkerung angekommen. Acht von zehn Deutschen hätten gerne mehr Informationen, wie sich Krankheitssymptome bei Männern und Frauen unterscheiden. Ebenso hoch ist der Anteil derer, die sich von ihrem Arzt deutliche Hinweise wünschen, ob ihr Medikament bei ihnen genauso wirkt wie bei einer Person des anderen Geschlechts. Das sind die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahr 2022, die von der Betriebskrankenkasse Pronova BKK in Auftrag gegeben wurde.

Christiane Groß ist Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, der sich für die Belange von Ärztinnen und für eine geschlechtersensible Medizin einsetzt. Dass Frauen häufiger als Männer unter einer Ungleichbehandlung in der Medizin leiden, hat für sie einen klaren Grund: „Hauptsächlich hat das damit zu tun, dass Wissenschaft lange Zeit vorwiegend durch Männer vorangetrieben wurde“, erklärt sie. „Auch heute noch sind in vielen Bereichen der Wissenschaft mehr Männer als Frauen zu finden, wodurch oft auch der Blick der weiblichen Seite fehlt.“

„Es war üblich, zu denken, was beim Mann erforscht wurde, passt auch zur Frau. Hormonzyklen wie bei der Frau stören. Schwangerschaften sind Hindernisse“, sagt die Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und ärztliches Qualitätsmanagement. Erst seit den 1990er-Jahren finde ein Umdenken statt.

Folgen männerzentrierter Medizin können fatal sein

Groß bedauert, dass „sich zu wenige Menschen trauen, ihren Arzt oder ihre Ärztin zu fragen, ob die Dosierung der Medikamente auch für die jeweilige Person stimmt. Ich denke, je mehr es von den Patienten und Patientinnen eingefordert wird, umso schneller wird geschlechtersensible Medizin umgesetzt.“

Die Folgen einer männerzentrierten Medizin könnten für Frauen fatal sein. „Für Frauen besteht ein höheres Risiko, einen Herzinfarkt nicht ohne Schäden oder gar nicht zu überleben.“ Nach Groß‘ Meinung sollte bereits im Studium viel mehr Wert auf die Berücksichtigung der geschlechtersensiblen Medizin gelegt werden.

Das sieht auch Ute Seeland, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, so. Die Fachärztin für Innere Medizin und Lehrbeauftragte für geschlechtersensible Medizin an der Berliner Charité sagt: „Wir müssen das Fach Gendermedizin in der Forschung, in der Lehre und in der Klinik verankern.“ Erste Schritte seien hierfür bereits getan. Seeland trat diesen März die bundesweit erste Professur für Geschlechtersensible Medizin an der Uniklinik Magdeburg an.

Geschlechterspezifische Unterschiede seien zwar seit Jahren bekannt, würden aber erst seit kurzer Zeit mehr Aufmerksamkeit finden. „Dabei betreffen sie jedes medizinische Fach, von der Kinderheilkunde über die Orthopädie bis hin zur Altersmedizin.“ Auch bei Medikamentenstudien bräuchte es mehr Probandinnen, fordert Seeland. „Alle Frauen, die menstruieren, bekommen Medikamente, die in den meisten Fällen nie an einer menstruierenden Frau getestet worden sind.“

Stefanie Unbehauen


Gesundheit

Interview

Ärztin: In der Medizin fehlt der Blick der weiblichen Seite




Christiane Groß
epd-bild/Jochen Rolfes/DÄB
Nach Meinung der Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Christiane Groß, werden Frauen oft nicht optimal behandelt. Sie fordert im Interview mit epd sozial eine geschlechtersensible Medizin.

Wuppertal (epd). Krankheitssymptome von Frauen werden nach Auffassung der Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Christiane Groß, zu oft falsch eingeschätzt. Woran das liegt und welche Folgen das für Patientinnen haben kann, erklärt die Wuppertaler Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und ärztliches Qualitätsmanagement im Interview. Die Fragen stellte Stefanie Unbehauen.

epd sozial: Frau Groß, Frauen sind in der medizinischen Forschung immer noch unterrepräsentiert. Krankheitssymptome von Frauen sind häufig weniger bekannt, Medikamente oft nicht auf sie abgestimmt. Woran liegt es, dass die Medizin Frauen jahrelang regelrecht übersehen hat?

Christiane Groß: Hauptsächlich hat das damit zu tun, dass Wissenschaft lange Zeit vorwiegend durch Männer vorangetrieben wurde. Auch heute noch sind in vielen Bereichen der Wissenschaft mehr Männer als Frauen zu finden, wodurch oft der Blick der weiblichen Seite fehlt. Es war üblich, zu denken, was beim Mann erforscht wurde, passt auch zur Frau. Auch beim Mann hat man versucht, die Konditionen zu vereinfachen. Man forscht, wann immer es geht, an einem Norm-Mann mit einer gewissen Größe, einem gewissen Alter, einem gewissen Gewicht. Und gesund muss er natürlich auch sein. Hormonzyklen wie bei der Frau stören. Schwangerschaften sind Hindernisse.

epd: Und an diesen Standards gab es keine Kritik?

Groß: Man hat sich schlicht und ergreifend bis in die 1960er Jahr wenig Gedanken darüber gemacht. Hinzu kommt aber auch, dass bis heute noch männliche Versuchstiere einfacher zu beurteilen sind, weil sie keinen weiblichen Hormonzyklus haben, den man immer mitbeachten müsste. Außerdem sind männliche Versuchstiere auch zum Teil günstiger zu beschaffen und bei den weiblichen droht immer das Risiko einer Trächtigkeit, was die Ergebnisse unberechenbar machen würde. In der Pharmaforschung an menschlichen Probanden war neben der Schwierigkeit, den weiblichen Hormonzyklus mit in die Berechnung einzuordnen, auch die Gefahr der Schwangerschaft der Versuchsperson ein wichtiges Argument, Frauen in den Studien lange Zeit auszuschließen.

epd: Seit wann findet hier ein Umdenken statt?

Groß: Erst seit den 1990er Jahren sind die Vorgaben verändert, und Frauen müssen seit 2004 zwingend in die Arzneimittelstudien aufgenommen werden, wenn ein Medikament für Frauen und Männer zugelassen werden soll.

epd: Werden Frauen bei körperlichen Symptomen häufiger psychische Erkrankungen wie zum Beispiel eine Angststörung fälschlicherweise diagnostiziert als bei Männern? Und wenn ja: Woran könnte das Ihrer Einschätzung nach liegen?

Groß: Das lässt sich am Beispiel des Herzinfarkts veranschaulichen: Die Symptome der Frau sind oft leiser, also nicht so typisch wie die bekannten Herzinfarktsymptome des Mannes. Lange Zeit galt zudem, dass die Frau durch ihre im Zyklus ausgeschütteten Hormone geschützt sei. Inzwischen weiß man, dass durch Stress als Auslöser Frauen genauso betroffen sein können. Die beruflichen Situationen der Frauen haben sich verändert und gleichen sich denen der Männer an. Auch fertile Frauen können einen Herzinfarkt bekommen.

epd: Welche Annahme folgt daraus?

Groß: Wenn nun die Symptome leiser und untypisch sind und man fälschlicherweise davon ausgeht, dass Frauen zumindest bis zu einem gewissen Alter keinen Herzinfarkt haben können, dann folgt daraus leider leicht die Annahme, dass es sich dabei um psychische Symptome handeln könnte. Hinzu kommt, dass Frauen ihrerseits die Symptome falsch einschätzen, weil sie die frauentypischen Variationen der Symptome vielleicht nicht kennen. Zusätzlich werden die Symptome zu Hause oft nicht ernst genommen, Frauen werden im Vergleich zu Männern seltener animiert, sofort Hilfe zu holen oder sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Sie werden auch von Familienangehörigen nicht, wie beim Herzinfarkt eines Mannes, dazu gedrängt, den Notarzt zu rufen. Zusätzlich sind sie oft selbst damit beschäftigt, die Symptome herunterzuspielen und Aufgaben noch zu erledigen. Hier addieren sich also Interpretationsfehler. Daher besteht eine größere Gefahr, dass der Arzt oder die Ärztin dann leichter zu dem Schluss kommen kann, dass es sich eher um psychische als somatischen Symptome handelt.

epd: Welche gesundheitlichen Folgen hat es für Frauen, dass das männerzentrierte Gesundheitssystem sie oft übergeht? Und gibt es auch Nachteile für Männer?

Groß: Wieder am Beispiel des Herzinfarkts: Aus den bereits aufgeführten Vorgängen besteht für Frauen ein höheres Risiko, den Herzinfarkt nicht ohne Schäden oder sogar nicht zu überleben. Aber natürlich gibt es auch Erkrankungen, wo es nicht solch drastischen Folgen hat. Und es gibt Gegenbeispiele, in denen der Mann das Nachsehen hat. Ein Gegenbeispiel ist die Depression. Hier kennen wir hauptsächlich die Symptome bei den Frauen. Hinzu kommt, dass Männer sich weniger eingestehen können, an einer Depression erkrankt zu sein. Sie stellen die Diagnose infrage, weil sie doch „nur“ Schmerzen haben oder andere körperliche Symptome überwiegen.

epd: Kann Gendermedizin in Kombination mit medizinisch sensibilisierten Fachkräften die Lösung sein für mehr Gleichberechtigung in der Medizin?

Groß: Absolut! Die jungen Ärztinnen und Ärzte kommen während ihrer Weiterbildungszeit mit dem Thema in Kontakt. Heute wissen schon viele Menschen, dass es wichtig ist, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. Aber beispielsweise trauen sich noch zu wenige Menschen, ihren Arzt oder ihre Ärztin zu fragen, ob die Dosierung der Medikamente auch für die jeweilige Person stimmt. Es ist zu wenig über unterschiedliche Symptome von Erkrankungen bekannt. Ich denke, je mehr es von den Patienten und Patientinnen eingefordert wird, umso schneller wird geschlechtersensible Medizin umgesetzt. Aber leider warten wir schon seit Jahren auf die Umsetzung einer neuen Approbationsordnung. Der Entwurf liegt vor und legt schon im Studium viel mehr Wert auf die Berücksichtigung der geschlechtersensiblen Medizin. Doch leider setzt hier die Politik den Plan nicht um, also bleibt es nur in der Weiterbildung und in der Fortbildung, die zusätzliche Qualifikation erarbeiten.

epd: Könnte es also noch einige Jahre dauern, bis Gleichberechtigung in der Medizin herrscht?

Groß: Jetzt ist die Thematik zumindest schonmal in der Gesellschaft angekommen, überall wird das Thema aufgenommen, daher bin ich sehr hoffnungsvoll, dass sich jetzt ein großer Schub zeigt. Denn für mich sind geschlechterspezifische Medizin für Frauen und geschlechterspezifische Medizin für Männer auch der Einstieg in die personalisierte Medizin. Also Medizin für jeden einzelnen Menschen - individuell.




sozial-Politik

Bundesregierung

Pflegeassistenz-Ausbildung soll einheitlich werden




Ausbildungscampus für internationale Pflegekräfte in Neu-Isenburg
epd-bild/Heike Lyding
Angesichts des Personalmangels in der Pflege setzt die Bundesregierung auf den verstärkten Einsatz von Pflegehilfen. Die Ausbildung zur Pflegeassistenz ist bisher regional sehr unterschiedlich geregelt. Künftig soll sie einheitlich erfolgen. Das stößt fast überall auf Zustimmung, nicht aber beim Deutschen Pflegerat.

Berlin (epd). Die Ausbildung zur Pflegeassistenz soll künftig bundesweit einheitlich geschehen. Das Bundeskabinett billigte am 4. September in Berlin einen Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), der den Rahmen der 18-monatigen Ausbildung regelt. Bisher gibt es laut Gesetzentwurf 27 verschiedene Assistenz-Ausbildungen in den Bundesländern, die sich in Ausrichtung, Anspruchsniveau, Ausbildungsdauer und -vergütung deutlich unterscheiden.

Assistenzkräfte sollen künftig vermehrt Aufgaben von Pflegefachkräften übernehmen. Damit soll dem Personalmangel in der Pflege begegnet werden. Die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf wird bis 2055 um rund 1,8 auf dann rund 6,8 Millionen steigen, heißt es im Gesetzentwurf. Gebraucht wird daher mehr Personal in der Pflege, was nicht allein durch eine Steigerung der Zahl der Pflegefachpersonen sichergestellt werden könne. Es bedürfe eines „Personalmixes“ aus Fachkräften und Pflegeassistenten.

Lauterbach: Berufseinstieg wird leichter

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte, mit der einheitlichen Ausbildung werde der Einstieg in den Pflegeberuf erleichtert. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) bezeichnete die Ausbildung als „strategischen Baustein für die professionelle Pflege“.

Voraussetzung für die Ausbildung zur Pflegeassistenz soll ein Hauptschulabschluss sein. Bei einer positiven Prognose der Pflegeschule können aber auch Personen ohne Schulabschluss die Ausbildung beginnen. Die Ausbildung soll in 18 Monaten in Vollzeit, in Teilzeit in maximal 36 Monaten absolviert werden. Auszubildende mit vorheriger Berufserfahrung können die Ausbildung auf 12 Monate oder weniger verkürzen.

Zudem sollen die Auszubildenden künftig Anspruch auf eine angemessene Vergütung haben. Bislang gilt das laut Bundesregierung nur für etwa die Hälfte der Personen, die sich zur Pflegeassistenz ausbilden lassen. Pflege brauche gute Ausbildung, gute Bezahlung, mehr Verantwortung und gute Arbeitsbedingungen, sagte Lauterbach.

Pflichteinsätze in allen Pflegebereichen

Teil der Ausbildung sind den Angaben zufolge Pflichteinsätze in der stationären und ambulanten Langzeitpflege sowie der stationären Akutpflege. Eine verkürzte Qualifizierung zur Pflegefachkraft soll möglich sein. Pflegeassistenzen sollen ausgewählte Aufgaben von Fachkräften übernehmen, insbesondere im Bereich der medizinischen Behandlungspflege. Damit sollen Pflegefachkräfte entlastet, effizienter eingesetzt und Wegzeiten gespart werden, heißt es im Gesetzentwurf.

Der Deutsche Pflegerat unterstützt zwar die Idee einer bundeseinheitlichen Regelung für die Ausbildung in der Pflegeassistenz. Aber, sagt Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats: „Die Pflegefachassistenz muss ein eigenständiger Beruf sein, der befähigt, in Pflegesituationen kompetent zu handeln. Dazu bedarf es eines Schulabschlusses als Voraussetzung für die Berufsausbildung sowie einer 24-monatigen Ausbildungszeit.“ Nur so könnten die notwendigen theoretischen und praktischen Kompetenzen für eine qualitativ hochwertige Pflegefachassistenz erworben werden, sagte die Expertin. Ähnlich ablehnend äußerte sich auch die Gewerkschaft ver.di.

Andrea Renatus, Geschäftsführerin des Arbeitsgeberverbandes Pflege, ist anderer Ansicht. Sie sagte: „In der Altenpflege brauchen wir keine Maximalqualifikation, sondern eine Grundlagenausbildung. 18 Monate sind ein Kompromiss, aber nicht die beste Lösung. Wir hätten uns mehr Pragmatismus vom Gesetzgeber gewünscht.“

„Die Ausbildung ist jetzt endlich anschlussfähig an die Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann und eröffnet damit Aufstiegsmöglichkeiten. Außerdem bietet die 18-monatige Ausbildung ein eigenständiges und modernes Profil für Assistenzkräfte, das sich an den aktuellen Anforderungen der generalistischen Pflegeausbildung orientiert“, sagte Andreas Wedeking, der Geschäftsführer des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland.

Fachverband bpa: Chance vertan

Für den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) sagte Präsident Bernd Meurer: Die Bundesregierung ist den Empfehlungen vieler Trägerverbände und einiger Länder nicht gefolgt und bringt eine Pflege-Assistenzausbildung mit einer Dauer von 18 Monaten auf den Weg. Damit ist die Chance verpasst worden, schnelle Entlastung für Pflegekräfte und pflegende Angehörige zu schaffen. Das ist ernüchternd." Er verwies darauf, dass die längere Ausbildung auch zu höheren Kosten führt, die anteilig von den Pflegeheimbewohnern zu tragen seien.

Klar auf Distanz zu den Plänen ging der bpa in Bayern. Dort gibt es eine einjährige Ausbildung, die nun mit Blick auf die bundesweiten Regelungen enden soll. „Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus will die bewährte einjährige Assistenzausbildung zugunsten einer verlängerten Neugestaltung aufgeben“, rügte Landeschef Kai A. Kasri. Bayern steuere auf einen massiven weiteren Personalmangel zu, wenn geburtenstarke Jahrgänge auch in der Pflege in Rente gehen. „Es ist unverständlich, warum in einer solchen Situation auch nur darüber nachgedacht wird, die einjährige Assistenzausbildung aufzugeben“, bemängelte Kasri.

AOK will Kosten nicht tragen

Dagegen hieß es bei der AOK, die Pläne für einheitliche Ausbildungen seien gut. „Auch die angedachte Ausbildungszeit von 18 Monaten ist angemessen, um den Anforderungen der Pflegeberufe gerecht zu werden und um eine Grundlage für Anschlussqualifikationen zu ermöglichen“, sagte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann. Die Reform schaffe ein modernes Ausbildungssystem, das die Durchlässigkeit und Qualität der Ausbildung sichere.

Dass die Ampel zur Finanzierung allerdings plane, fast 240 Millionen Euro pro Ausbildungsjahr auf die gesetzlichen Krankenkassen abzuwälzen und 17,7 Millionen Euro auf die Pflegeversicherung, „lehnen wir entschieden ab, allein schon aus ordnungspolitischen Gründen“. Hier seien ausschließlich die Länder in der Pflicht.

Neben rund 1,7 Millionen Pflegekräften arbeiten nach Angaben der Bundesregierung in Deutschland rund 515.000 Menschen als Pflegehilfskräfte, von denen etwa 343.000 eine Ausbildung zum Pflegehelfer, zur Pflegeassistenz oder in einem anderen Beruf haben. Die Vereinheitlichung der Ausbildung und damit des Berufsbildes soll auch dazu beitragen, dass die Anerkennung ausländischer Pflegekräfte einfacher wird.

Dirk Baas, Corinna Buschow


Migration

Plätze in Abschiebungshaft oft ungenutzt




Zelle im Abschiebegefängnis Ingelheim
epd-bild/Reiner Frey
Bundesinnenministerin Faeser (SPD) hat die Zahl der Abschiebungshaftplätze als nicht ausreichend bezeichnet. Derzeit allerdings lässt die Auslastung der bestehenden Haftkapazitäten keinen höheren Bedarf erkennen: Viele Plätze werden nicht genutzt.

Frankfurt a.M. (epd). Nach dem tödlichen Messerangriff eines Asylbewerbers in Solingen wird darüber diskutiert, wie der behördliche Vollzug von Abschiebungen und Überstellungen nach den Dublin-Regeln verbessert werden kann. Eine Möglichkeit ist, ausreisepflichtige Personen in Haft zu nehmen, damit diese sich der Abschiebung nicht entziehen können. Einer Umfrage des Evangelischen Pressediensts (epd) unter allen Bundesländern zufolge sind viele Zellen in den jeweiligen Haftanstalten leer.

So hatte Bayern, das über 262 Haftplätze verfügt, Ende August 171 dieser Plätze belegt, Niedersachsen 17 von 48. In Hessen waren es im ersten Halbjahr 2024 durchschnittlich knapp 37 von 80 Plätzen, in Baden-Württemberg rund 33 von 51, in Nordrhein-Westfalen 84 von 175 Plätzen, in Rheinland-Pfalz 26 von 40. In Sachsen seien im Schnitt 12 von 58 Plätzen belegt gewesen, von denen wegen Baumaßnahmen derzeit aber nur 24 zur Verfügung stünden.

Nicht alle Länder haben eigene Einrichtungen

Nicht alle Bundesländer haben eigene Anstalten für Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam. Brandenburg und Thüringen greifen den Angaben zufolge auf die Kapazitäten anderer Bundesländer zurück. Auch Berlin tue das, teilte die Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport mit, weil derzeit die eigene Haftanstalt saniert werde. Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern nutzten eine gemeinsame Einrichtung in Glückstadt. Das Saarland antwortete nicht auf die epd-Anfrage.

Bei Gesprächen zwischen Bund und Ländern zur Asylpolitik will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auch über die Zahl der Abschiebehaftplätze sprechen. Es gehe darum, ausreichend Plätze zu bekommen, „die wir mitnichten haben“, sagte sie am Freitag bei einer Pressekonferenz. Faeser wolle eine „Task Force“ von Bund und Ländern gründen, um sogenannte Dublin-Überstellungen von Flüchtlingen, für die ein anderer europäischer Staat zuständig ist, zu forcieren.

Bayern will mehr Haftplätze schaffen

Bayern unterstrich derweil seinen Willen zum Ausbau der Haftkapazitäten. Diese „wurden und werden weiter ausgebaut“, teilte das bayerische Innenministerium dem epd mit. In Passau entstünden derzeit 100 zusätzliche Plätze für Abschiebungshäftlinge und 100 weitere Plätze, die sowohl für Abschiebungs- als auch für Straf- oder Untersuchungshaft genutzt werden könnten.

Den Angaben zufolge hatte Mecklenburg-Vorpommern in diesem Jahr bis zum 30. Juni 9 Personen aus der Haft heraus abgeschoben oder nach Dublin-Regeln überstellt, im Vergleich zu 218 Personen ohne vorherige Haft. Thüringen schob im selben Zeitraum insgesamt 254 Menschen ab, davon 7 aus der Zelle heraus. In Rheinland-Pfalz waren es 395, davon saßen 95 zuvor in der Abschiebungshaftanstalt in Ingelheim.

Die meisten Abschiebungen erfolgen ohne vorherige Haft

Baden-Württemberg vollzog in diesem Jahr bis Ende Juli 1.603 Abschiebungen. Bei 176 davon waren die Betreffenden in Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam. In 275 weiteren Fällen erfolgte die erzwungene Ausreise aus der Straf- oder Untersuchungshaft oder einer Ersatzfreiheitsstrafe oder aus der Unterbringung in einer Psychiatrie heraus. Berlin meldete insgesamt 600 Abschiebungen bis Ende Juli, davon 12 aus Abschiebungshaft oder Ausreisegewahrsam und 136 aus Strafhaft.

In Hamburg waren es in diesem Jahr rund 1.000 abgeschobene Personen, davon 192 aus der Haft heraus. Die Zahlen unterscheiden hier allerdings nicht zwischen Abschiebungshaft oder Ausreisegewahrsam und anderen Haftgründen. Das aus den beiden Städten Bremen und Bremerhaven bestehende Bundesland Bremen hat laut einer Sprecherin des Innensenators in diesem Jahr bislang elf Personen abgeschoben oder überstellt, davon einen Asylbewerber aus der Haft.

Nils Sandrisser


Migration

Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam



Frankfurt a.M. (epd). Zwischen Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam gibt es juristische Unterschiede. Entsprechendes regeln die Paragrafen 62 und 62b des Aufenthaltsgesetzes.

Eine Abschiebungshaft gemäß Paragraf 62 beantragen Behörden, wenn die Ausreise des oder der Betreffenden nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann, etwa wenn eine Fluchtgefahr vorliegt. Sie kann für bis zu sechs Monate verhängt und um höchstens zwölf Monate verlängert werden. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen werden laut Gesetz grundsätzlich nicht in Abschiebungshaft genommen.

Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für die Abschiebungshaft gegeben sind, kann gemäß Paragraf 62b ein Ausreisegewahrsam verhängt werden. Er darf maximal 28 Tage dauern. Gründe können sein, dass die Ausreisefrist abgelaufen ist oder die Person zuvor schon seinen gesetzlichen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist. Auch hier gilt: Minderjährige und Familien mit Minderjährigen kommen nicht in Ausreisegewahrsam.



Migration

Soziologe: Restriktiver Asyl-Kurs hilft Mitte-Parteien nicht



Berlin (epd). Ein deutlich strengerer Kurs in der Asylpolitik bringt den Parteien der politischen Mitte nach Einschätzung des Mannheimer Soziologen Marc Helbling keine Wähler von der AfD zurück. „Es gibt dazu viel Forschung: Eine Partei wie die AfD profitiert davon, wenn die Mitte-Parteien sich stärker nach rechts verschieben, restriktivere Gesetze und einen restriktiveren Umgang mit Personen mit Migrationshintergrund fordern“, sagte Helbling, der auch Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration ist, dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Wenn auch die moderaten Parteien auf das Thema vor allem mit Verschärfungen reagierten, komme bei den Wählerinnen und Wählern an: „Das scheint okay zu sein, dies und jenes zu fordern.“ Sie wählten dann aber doch das „Original“, also eher die Rechtsaußen-Partei. „Den moderaten Parteien hilft das überhaupt nicht“, sagte der Wissenschaftler.

Probleme mit unkontrollierter Migration

Helbling, der an der Universität Mannheim mit dem Schwerpunkt Migration und Integration forscht und lehrt, rät den Parteien zu mehr Differenziertheit, um Kompromisse zu finden. „Es gibt nicht einfach die eine Gruppe, die eine restriktive Politik will, und die andere, die eine sehr offene Politik will“, sagte er. Auch für Menschen, die stark für Migration sind, sei es ein Problem, wenn sie unkontrolliert geschehe und Anschläge passierten.

„Unsere Forschung zeigt, dass Menschen links und rechts im politischen Spektrum sehr wohl bereit sind, Kompromisse einzugehen“, sagte er. „Auf der rechten Seite sind Menschen etwa bereit, mehr zuzulassen, wenn vielleicht stärker selektiert wird“, erklärte er. Auf der linken Seite sehe man die Möglichkeit, weniger Migration zuzulassen, wenn die Migrantinnen und Migranten dafür mehr Rechte bekämen.

Die Politik müsse konkrete Probleme bei der Integration, fehlender Infrastruktur oder bei innerer Sicherheit lösen, um Wähler zu überzeugen, sagte Helbling. „Wenn man aber sagt, wegen Solingen muss jede Migration aus Syrien und Afghanistan gestoppt werden, dann ist das eine Vermischung von völlig unterschiedlichen Aspekten, die zu nichts führt“, sagte er. Immerhin gebe es ein humanitäres Recht auf Asyl. Zudem brauche Deutschland Migration. „Wir brauchen mehr Menschen, die arbeiten“, sagte er. Es müsse deshalb der Politik auch gelingen, das Thema Migration positiv zu besetzen.

Corinna Buschow


Behinderung

"Ich glaube, dass das Leben für mich ist"




Instagram-Star Hülya Marquardt
epd-bild/Uta Rohrmann
Hülya Marquardt ist Seminarmanagerin, Influencerin, Ehefrau und Mutter eines vierjährigen Sohnes. Auf Instagram folgen ihr fast 300.000 Menschen. Aufgrund einer Dysmelie-Erkrankung fehlen ihre beide Beine.

Weissach im Tal (epd). Sie berät Frauen in Sachen Mode, versammelt mehr als 292.000 Follower auf Instagram - und hat keine Beine. Hülya Marquardt lebt bei Backnang, sie ist Mutter eines Vierjährigen. Bei allen Herausforderungen ihrer Krankheit hat sie den Humor nie verloren.

Düster erscheinen die Zukunftsaussichten, als sie auf die Welt kommt. Voller Sorge blickt ihre Mutter, gerade mal 17 Jahre alt, auf die fehlgebildeten Beinchen ihres ersten Kindes. Vor einem Jahr ist die junge Mutter, die noch kaum Deutsch spricht, aus einem türkischen Dorf an einen charmanten, beinamputierten Mann verheiratet worden, der als Sohn eines Gastarbeiters in Deutschland, im nordrhein-westfälischen Hagen zu Hause ist. Seine Dysmelie - eine Fehlbildung der Gliedmaßen - hat sich offensichtlich auf das Töchterchen vererbt. Zwei Fingerchen an der rechten Hand, vier an der linken - wie würde Hülya bloß ihr Leben bewältigen?

Zahlreiche Operationen an den Beinen

Um zu retten, was zu retten ist, wird das Mädchen bis zum Alter von sechs Jahren etwa zwanzigmal an den Beinen operiert - das erste Mal mit zwei Monaten. Die Kinderstation an der Uniklinik Münster wird zu ihrem zweiten Zuhause. Liebevoll umsorgt von den Krankenschwestern lernt Marquardt zu ihrer türkischen Muttersprache Deutsch.

Den ersten Schulunterricht erlebt sie ebenfalls im Krankenhaus, bis sie ein halbes Jahr verspätet in eine reguläre Grundschule kommt. Ihre Eltern melden sie schließlich in einem religiös geprägten Mädcheninternat in Ankara an, wo sie die 9. Klasse absolviert. Es ist eine gute Zeit, auch wenn dort strenge Regeln herrschen. „Zur Strafe mussten wir manchmal auf einem Bein stehen. Bei mir wurde da ein Auge zugedrückt“, schmunzelt Marquardt.

Nach der Scheidung ihrer Eltern lebt Marquardt zunächst mit ihren Schwestern bei der Mutter, zieht dann zum Vater. Doch dieser ist sehr in seine Arbeit eingespannt. Ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft und einem anregenden Umfeld wird im Internat der Evangelischen Stiftung Volmarstein in Wetter an der Ruhr gestillt. „Ich hatte viele Freunde aus verschiedenen Kulturen und tolle Lehrer und Ausbilder“, erzählt Marquardt.

Freude am Job im Seniorenheim

Sie bekommt Hauptrollen in Musicals, treibt Sport, absolviert zahlreiche Praktika - im Kinderheim, in einer Arztpraxis - und schließt nach der Realschule eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation ab. Mit 18 Jahren entscheidet sich Marquardt, die immer wieder mit Schmerzen und Entzündungen kämpft, auf Anraten der Ärzte für die Amputation ihrer Beine. Besonders vor dem Abschied vom zweiten Bein und der damit verbundenen Endgültigkeit hat sie Angst, die sich in Albträumen äußert. Als sie es hinter sich hat, ist es gar nicht so schlimm.

Nach den neun Jahren im Internat lebt die junge Frau selbstständig in einer Wohnung, hat Freude an ihrem Beruf im sozialen Dienst eines Seniorenheims, wo sie zunehmend Verantwortung bekommen hat. So fällt ihr der Umzug in die schwäbische Heimat von Dennis Marquardt nicht leicht. Der Lehrer, den sie ohne Beziehungsabsichten über Facebook kennengelernt hatte, hat sich als das perfekte Gegenüber erwiesen. Die beiden heiraten und ziehen nach Oberweissach (Rems-Murr-Kreis).

Später erlebt die Seminarmanagerin in der Handwerkskammer Region Stuttgart eine völlig unkomplizierte Schwangerschaft. Sohn Rangi kommt gesund zur Welt.

Zeigen, dass das Leben schön ist

Mehr als 292.000 Followern aus aller Welt zeigt Hülya Marquardt, unterstützt von Ehe- und Kameramann Dennis, auf Instagram, dass das Leben schön ist und unzählige Möglichkeiten bietet - auch ohne Beine. In der Modeboutique, die sie in Unterweissach mit ihrer Schwiegermutter betreibt, berät die freundliche Frau auf Beinprothesen Kundinnen. Über den Stuttgarter Schlossplatz fährt sie mit dem Rollstuhl, auf dem Spielplatz oder am Strand zieht sich die Frau mit den trainierten Armen mithilfe von Push-up-Bars, - Griffen, die wie Bügeleisen aussehen - über das unebene Gelände.

„Ich habe viel Vertrauen in das Leben und lasse es einfach mal machen“, sagt Marquardt. „Viele Erfahrungen haben mich stärker gemacht. Im Nachhinein war es immer so, wie es sein sollte.“

Uta Rohrmann


Behinderung

Inklusionsbarometer: Junge Beeinträchtigte unzufriedener



Zwischen jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gibt es große Unterschiede, fand das nach eigenen Angaben erste Inklusionsbarometer Jugend der Aktion Mensch heraus. Der Weg zu mehr Inklusion sei noch weit, sagt die Organisation.

Bonn (epd). Junge Menschen mit Beeinträchtigungen sind einer Untersuchung zufolge mit ihrem Leben deutlich weniger zufrieden als Jugendliche ohne Behinderungen. Laut dem Inklusionsbarometer Jugend der Aktion Mensch sind nur die Hälfte der beeinträchtigten Jugendlichen insgesamt zufrieden. Bei Jugendlichen ohne Behinderung seien es drei Viertel, teilte die Aktion Mensch am 3. September in Bonn mit.

Die Studie sei der bundesweit erste Vergleich von Teilhabechancen junger Menschen mit und ohne Behinderungen zwischen 14 und 27 Jahren, hieß es vonseiten der Aktion Mensch. Für die Studie hatte die Organisation zwischen November und Februar mehr als 1.400 Menschen befragt, etwa je zur Hälfte mit und ohne Beeinträchtigung.

Unterschiede in allen fünf untersuchten Bereichen

Demnach seien junge Beeinträchtigte in sozialen Beziehungen, Alltagsleben, Selbstbestimmung, individueller Entfaltung und Nichtdiskriminierung mit mehr Herausforderungen konfrontiert als ihre Altersgenossinnen und -genossen ohne Behinderungen. 85 Prozent der Beeinträchtigten hätten bereits Diskriminierung erlebt, im Vergleich zu 61 Prozent der Nicht-Beeinträchtigten.

Ein Drittel der jungen Leute mit Beeinträchtigungen sorge sich vor noch stärkerer Ausgrenzung in der Zukunft, hieß es weiter. Bei jenen ohne Behinderung waren es nur halb so viele. Nach den Worten der Aktion-Mensch-Sprecherin Christina Marx verdeutlichen die Zahlen, dass Vielfalt immer noch nicht als normal oder als Vorteil für die Gesellschaft wahrgenommen werde. „Deshalb ist Inklusion von Anfang an in allen Lebensbereichen so wichtig“, sagte Marx. „Wenn gleichberechtigtes Miteinander von Geburt an gelernt und gelebt wird, profitieren alle davon und die Diskriminierungsspirale beginnt erst gar nicht.“

Als wichtigste Stütze gaben 72 Prozent der Beeinträchtigten ihre Familie an, 86 Prozent der Menschen ohne Behinderungen hingegen Freundschaften. Marx erklärte, wer beeinträchtigt sei, sei besonders auf ihre privaten Netzwerke angewiesen: „Wo der Einflussbereich der Familie aufhört, versagen die gesellschaftlichen Strukturen.“

Auswirkungen auf Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit

Mehr als ein Viertel der jungen Leute mit Beeinträchtigung gaben an, es falle ihnen schwer, neue Freundschaften zu schließen, fast ebenso viele (26 Prozent) fühlten sich häufig einsam. Bei Gleichaltrigen ohne Behinderung waren es nur 9 beziehungsweise 13 Prozent.

Mehr als die Hälfte der befragten Menschen mit Beeinträchtigungen beklagte, ihnen werde zu wenig zugetraut. Bei jenen ohne Behinderung sagte das nur etwas mehr als ein Viertel. „Das wirkt sich negativ auf das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit aus“, erläuterte Marx.

Nils Sandrisser


Gesundheit

Wie ein Wackelkontakt im Gehirn




Alkoholfreier Laden in Berlin (Themenfoto)
epd-bild/Rolf Zöllner
Alkohol in der Schwangerschaft ist tabu. Daran erinnert der "Tag des alkoholgeschädigten Kindes" alljährlich am 9. September. Etwa ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland leidet an dem Fetalen Alkoholsyndrom.

Pforzheim, Erlangen (epd). Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren, heißt es. Aber Schwangere sollten konsequent Nein sagen zu jedem noch so freundlich angebotenen Prosecco, Bier oder Wein. Zum „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ am 9. September warnen Fachleute vor irreversiblen Folgen, wenn Schwangere Alkohol trinken. Die Fetale Alkohol-Spektrum-Störung (Fetal Alcohol Spectrum Disorders, FASD) gilt als die häufigste nicht genetisch bedingte Behinderung bei Neugeborenen in Deutschland.

„Wir müssen davon ausgehen, dass auch in diesem Jahr 12.000 Babys mit einem Alkoholschaden geboren werden. Das ist mehr als eines pro Stunde“, sagt die Vorsitzende der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF) in Hamburg, Heike Kramer, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Damit seien mehr Kinder von FASD betroffen als von Downsyndrom, einem offenen Rücken und spastischer Zerebralparese zusammen, betont die Ärztin aus Erlangen.

Gefahren durch kleinste Mengen Alkohol

Schon der kleinste Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft könne die Entwicklung insbesondere des Stirnhirns stören. Dort liegen die Nervenverbindungen für die Exekutivfunktionen wie Planung, Verständnis für Zeit, Geld, Raum, Motivation und Kontrolle. „Wenn ein Kind plötzlich den bisher bekannten Weg nicht mehr findet, glaubt das die Umwelt nicht“, beschreibt sie das Unverständnis, mit dem selbst Betreuer betroffenen Kindern begegnen. „Einmal klappt‘s, dann klappt’s wieder nicht. Das ist wie eine Art Wackelkontakt im Gehirn“, führt Kramer aus. Trotzdem seien Menschen mit FASD manchmal sprachlich sehr eloquent.

Ein großes Problem sei die Diagnose. Sie brauche psychologische Tests, die die Exekutivfunktionen abfragen, so Kramer: „Wenn ich auch dabei Auffälligkeiten feststelle, kann ich die Diagnose stellen. Dafür brauche ich aber spezialisierte sozialpädiatrische Zentren oder ärztliche Praxen. Das kann nicht jede Kinder- und Jugendarztpraxis einfach so machen. Wir haben nicht genug Zentren. Und die, die wir haben, haben lange Wartezeiten.“

Trotz zuweilen normaler Intelligenz fehle es den Betroffenen jedoch an Alltagskompetenz. „Sie wollen, können aber nicht“, sagt Kathleen Kunath vom FASD-Fachzentrum Sonnenhof in Berlin. Bei dem evangelischen Verein ist seit den 1990er Jahren die bundesweit erste Beratungsstelle für alkoholgeschädigte Kinder und Jugendliche angesiedelt. Es gibt eine Wohngruppe und betreutes Einzelwohnen.

Aggression, Depression oder kriminelles Verhalten

Die Frustration führe in vielen Fällen zu Aggression, Depression oder kriminellem Verhalten. „Manche brauchen noch mit 50 Begleitung“, erklärt Kunath. Denn ihr Gehirn arbeite wie ein Feuerwerk. Das Leiden der Kinder beschreibt sie mit dem Satz: „Ich kam auf die Welt und sie war mir zu viel.“

Die Leiterin der FASD-Beratungsstelle in Pforzheim, Susanne Sommer, kennt das. Sie hat ein Pflegekind mit FASD. 80 Prozent der diagnostizierten Kinder lebten in Pflege- oder Adoptivfamilien. Die Eltern wüssten jedoch meist nichts von der Schädigung. „Man merkt es oft erst, wenn man an Grenzen stößt“, so ihre Erfahrung.

Diagnose kann Jahre dauern

Oft gebe es Fehldiagnosen als Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS), sagt Medizinerin Kramer. Die Diagnostik sei aufwändig und könne Jahre dauern. Ist sie da, wirke die Diagnose wie eine Befreiung, sagt Sommer.

„FASD bedeutet, dass man ganz andere Ansätze verfolgen muss in der Erziehung“, so die Pflegemutter. Das Gehirn der Betroffenen dürfe nicht überfordert werden. Weil diese ausschließlich in der Gegenwart lebten, erfasse ihr Gehirn immer nur einen Gedanken. Bilder und Gesten könnten sie sich besser merken als Wörter.

Solange sich Schwangere rechtfertigten müssten, wenn sie keinen Alkohol trinken, lasse sich FASD nicht vermeiden, betont Kunath. Die Frauen zu stigmatisieren, sei falsch. Es sei wenig Wissen da, auch unter Ärzten, sind sich Kunath und Kramer einig.

Susanne Lohse


Wohnungslosigkeit

Studie: Bayern braucht mindestens 1.100 Wohnungen für Housing First



München (epd). Wohnraum für 1.100 bis 2.200 überwiegend alleinlebende Personen in mindestens 18 Städten und Landkreisen des Freistaats empfiehlt die „Studie zur Umsetzung des Housing-First-Ansatzes in Bayern“. In Auftrag gegeben hatte die Untersuchung das bayerische Bauministerium. Die Ergebnisse der Studie würden derzeit vom Bau- sowie dem Sozialministerium ausgewertet, heißt es auf Anfrage des Evangelischen Pressedienst (epd). Noch in dieser Legislaturperiode soll ein gemeinsames Pilotprogramm aufgelegt werden.

Die Grundidee von Housing First stammt aus den USA und Kanada: Ein Mensch, der auf der Straße lebt oder in Notschlafstellen unterkommt, braucht, bevor er wieder Arbeit finden und ein geregeltes Leben beginnen kann, eine eigene Wohnung. Der Hilfsansatz sei auf eine „eng abgegrenzte Zielgruppe von Langzeitwohnungslosen mit komplexen Problemlagen ausgerichtet“, heißt es weiter. Die bei der Gesellschaft für innovative Sozialforschung in Bremen in Auftrag gegebene Studie sollte unter anderem die Fragen klären, wie der Freistaat den nötigen Wohnraum zur Verfügung stellen und die soziale Inklusion der Nutzerinnen und Nutzer fördern könne.

„Besonders ausgegrenzte Gruppe“

Wohnungslose benötigten als besonders ausgegrenzte Gruppe „privilegierte Zugänge zu regulärem und dauerhaftem Individualwohnraum“, heißt es in der Studie. Daher müsse eigens für sie Wohnraum geschaffen werden. Dies könne beispielsweise über den Wohnungsbau durch Kommunen oder durch private Träger, durch die Förderung sozialer Wohnraumagenturen oder durch neues Personal, das zwischen Vermietern und potenziellen Mietern vermittle, geschehen. Es gebe jedoch keine allgemeingültige Strategie für ganz Bayern, da es große Unterschiede zwischen Städten und ländlichem Raum gebe, stellt die Studie fest.

Empfohlen wird ein Housing-First-Programm von 2024 bis 2030 in Kooperation verschiedener Akteure auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Diese sollen mit der Wohnungswirtschaft und den Verbänden der Wohlfahrtspflege zusammenarbeiten. Dass Menschen dauerhaft sicher wohnen können, sei „der entscheidende Hebel für die gelingende Inklusion von wohnungslosen Menschen“. Auch wohnbegleitende Hilfen seien dafür notwendig. Diese könnten über Mittel des bayerischen Aktionsplans „Hilfe bei Obdachlosigkeit“ finanziert werden. Die Menschen sollten außerdem dezentral untergebracht werden und für den Einzug in eine eigene Wohnung nicht in eine andere Gemeinde umziehen müssen.

Einen Bedarf an Housing-First-Projekten sehen die Studienmacher unter anderem in Stadt und Landkreis München, in Nürnberg, Würzburg, Stadt und Landkreis Rosenheim oder Neu-Ulm.



Wohnungslosigkeit

Experte: Jeder braucht einen Rückzugsraum



Nürnberg (epd). Die Knappheit auf dem Wohnungsmarkt hat gravierende Folgen für die sozial Schwächsten, die Menschen ohne eigene Wohnung. Steigende Mieten, die rückläufige Zahl an Sozialwohnungen oder der Zuzug der Flüchtlinge aus der Ukraine bewirkten, dass sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance hätten, sagte der Diakon Thomas Heinze im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er leitet die Hilfen für Menschen in Wohnungsnot bei der Stadtmission Nürnberg.

Heinze weiß aus seinem beruflichen Alltag, dass ehemals wohnungslosen Menschen „der Rückweg in die Gesellschaft versperrt ist“. Die Stadtmission betreut etwa 40 Männer und Frauen sozialpädagogisch in kleinen Wohnungen, die von dem Sozialverband für sie angemietet wurden. „In einer dieser Wohnungen lebt eine Frau bereits seit fünf Jahren, die auf dem freien Wohnungsmarkt nicht zum Zug kommt.“ Andere Menschen, die weg von der Straße wollen, stünden währenddessen bei der Stadtmission vor der Tür.

Keine Chance auf dem privaten Wohnungsmarkt

Wer in einer Obdachlosenunterkunft oder betreut gewohnt habe, habe im Kreise der oft 50 bis 80 Bewerberf ür eine kleine Wohnung auf dem freien Markt in Nürnberg keine Chance, beschreibt Heinze die Situation. „Der Vermieter nimmt natürlich lieber den Studenten mit dem gut verdienenden Papa, der die Bürgschaft für die Miete übernimmt.“ Heinze will ein solches Verhalten der Vermieter nicht verurteilen: „In einem System, in dem die Mieter extrem geschützt sind, kann man verstehen, dass die Wohnungsbesitzer vorsichtig sind.“ Auf dem Land würden viele Wohnungen sogar leer stehen, weil sich Vermieter nicht über unbezahlte Mieten oder Nebenkosten ärgern wollten.

Lösungsansätze für die längerfristige Unterbringung von Menschen, die aus der Obdachlosigkeit hinauswollen, sieht Heinze in Konzepten wie Housing First oder Tiny-Haus-Siedlungen. „Aber man darf keine Ghettos schaffen“, warnt er und betont: Alle Menschen bräuchten einen Rückzugsraum. In den Obdachlosenunterkünften wie in Nürnberg mit ihren Mehrbettzimmern sei der meistens nicht gegeben. Und auch für Menschen ohne Meldeadresse, die bei Freunden oder Verwandten unterkommen, sei die Situation oft nicht einfach. „Da kannst du nicht den Fernseher anmachen, wann du willst, oder dir etwas kochen, egal, wie es riecht.“

Viele Hilfen sind Betroffenen nicht bekannt

In der Beratung stellen die Beschäftigten immer wieder fest, dass viele Betroffene sich nicht im hiesigen Hilfesystem auskennen. „Viele wissen gar nicht, dass sie ihr Gehalt mit Bürgergeld aufstocken können, wenn es nicht zum Leben reicht.“ Auch hätten viele Klientinnen und Klienten Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, weil sie sich bei Wohnbaugesellschaften oder auf dem freien Markt Online-Konten anlegen müssten. „Die wenigsten dieser Leute wissen, wie das geht oder haben einen Laptop oder PC.“

Zwar treffe Wohnungslosigkeit besonders Personen, die einen niedrigen Bildungsabschluss hätten, stellt der Experte fest. Aber vieles im Leben sei sehr fragil: Wer ein- oder zweimal im Leben falsch entscheide, einen Unfall habe oder eine Trennung erlebe, könne Probleme bekommen.

Jutta Olschewski



sozial-Branche

Gesundheit

"Wir kommen als Heldinnen zurück"




Teilnehmerinnen der Mut-Tour auf einem Feld bei Reppenstedt
epd-bild/Karen Miether
Fünf Frauen, zwei Pferde, ein Hund - bei ihrer Wanderung wollen sie ein Zeichen für einen offenen Umgang mit Depressionen setzen. Ihr Weg ist Teil der Mut-Tour, bei der Menschen in ganz Deutschland unterwegs sind, zu Fuß und auf dem Rad.

Lüneburg, Osnabrück (epd). Sorgsam cremt sich Ivonne Altmann die Füße ein, bevor sie in Socken und Wanderstiefel schlüpft. So gibt es hoffentlich keine Blasen. Die Zelte sind nach einer Nacht mit Sturm und Regen zumindest halbwegs getrocknet. Ivonne Altmann und die anderen vier Frauen haben sie schon verpackt. Auf einem Feld in Reppenstedt bei Lüneburg machen sie sich bereit für die nächste Etappe der „Mut-Tour“. „Wir sind so etwas wie Pilgerinnen“, sagt die 48-Jährige. „Wir haben eine Mission.“

Die „Mut-Tour“ wirbt für mehr Offenheit und Wissen im Umgang mit Depressionen und ging am 3. September in Osnabrück zu Ende. Seit dem Start Anfang Juni haben sich bundesweit zumeist Sechser-Teams aus Menschen mit und ohne Depressionserfahrungen auf den Weg gemacht. Zusammen haben sie rund 3.800 Kilometer quer durch Deutschland zurückgelegt - auf Tandem-Rädern und auch zu Fuß. Die Gruppe, die an diesem Tag in Lüneburg ihren Informationsstand aufbauen will, ist dabei die einzige, die mit zwei Pferden unterwegs ist.

Mensch und Tier kampieren auf Bauernhöfen

Die polnische Kaltblutstute Kliwia und der irische Tinker Hunter knabbern noch das Gras am Feldrand und warten darauf, beladen zu werden. Gunta Zvidrina hat die Begleitpferde mitgebracht. Für die Übernachtungen auf dem siebentägigen Weg von Hamburg-Harburg nach Uelzen hat sie Quartiere ausgesucht, die Platz für Mensch und Tier bieten - zumeist kampieren sie auf Bauernhöfen.

Als Ivonne Altmann vor zwei Jahren das erste Mal eine „Mut-Tour“ mitgegangen ist, war Hunter auch dabei. „Das war ein Wendepunkt“, sagt die 48-Jährige, die selbst Depressionserfahrungen hat. „Ich hatte mir vorher nichts mehr zugetraut.“ Doch die Wanderung in Gemeinschaft und mit dem großen Pferd habe ihr Kraft gegeben. „Danach war ich anders.“ Das Kaltblut sei ungerührt auch über eine Fußgängerbrücke über die Autobahn getrottet. „Von Hunter habe ich Gelassenheit gelernt.“

2012 hat Sebastian Burger die erste Mut-Tour organisiert. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto „Mut zur Selbsthilfe - Unterstützung sichtbar machen“. Silvia Strebska tippt auf die Aufschrift an ihrer Schirmmütze: „Mutatlas“. Auch für diese Internetseite mit leicht zugänglichen Informationen zu Hilfsangeboten werben sie.

Bewegung in Gemeinschaft

Bewegung in der Gemeinschaft, das ist laut Initiator Burger ein Ziel der Mut-Touren, an denen nach seinen Angaben insgesamt schon rund 250 Menschen teilgenommen haben. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe berichtet jeder zweite Mensch mit einer Depression von großer Einsamkeit. Das sind doppelt so viele wie bei den nicht Betroffenen. Gründe dafür lägen im krankheitsbedingten sozialen Rückzug. Bei der „Mut-Tour“ sind die Teilnehmenden auch stellvertretend unterwegs für diejenigen, denen es gerade schwer fällt, mit anderen zusammen zu sein.

Depressionen gehören laut der Stiftung zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Bundesweit erkranken demnach jedes Jahr 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression. Gedrückte Stimmung bis hin zur Freud- und Gefühllosigkeit und das Fehlen von Interesse sind die Hauptmerkmale. Hinzu kommen meist ein permanentes Erschöpfungsgefühl, die Neigung zu Schuldgefühlen, hartnäckige Schlaf- und Appetitstörungen und das Gefühl der Ausweglosigkeit bis hin zu Suizidgedanken.

Teilnehmer wollen mit Tabus aufräumen

Ivonne Altmann, Silvia Strebska, Gunta Zvidrina und ihre Wanderkameradinnen wollten auf ihrem Weg auch mit einseitigen Bildern bei dem noch immer mit Tabus behafteten Thema aufräumen. „Der erste Schritt ist, darüber zu reden“, sagt Altmann. „Und zwar auch so darüber zu reden, dass die Leute verstehen, wie schlimm das ist.“ Viele Menschen mit Depressionen funktionierten zum Beispiel in ihrem Beruf weiterhin gut. „Aber innerlich sieht es ganz anders aus.“ Nötig sei professionelle Hilfe. „Man darf das nicht allein mit sich ausmachen.“

Gunta Zvidrina ist zur Mut-Tour gestoßen, weil sie mit dem Initiator Burger befreundet ist. „Ich wollte immer schon mit meinen Pferden mal Tag und Nacht zusammen sein“, sagt sie. Über Depressionen wusste sie vorher wenig. „Ich bekomme jetzt viel erzählt und weiß, wie wichtig das ist.“ Die gemeinsame Wanderung bedeute für sie aber vor allem auch Spaß. Ein Abenteuer, sagt sie und führt ihre inzwischen bepackte Stute einen Feldweg entlang: „Und wir kommen als Heldinnen zurück.“

Karen Miether


Gesundheit

"Bettlaken-Aktion" zum Welttag der Suizidprävention



München (epd). Zum Welttag der Suizidprävention am 10. September plant ein Bündnis von Krisen- und Beratungsdiensten eine „Bettlaken-Aktion“ in München. Rund 60 Menschen würden sich um 14 Uhr in ein Bettlaken hüllen und sich einige Minuten schweigend auf den Marienplatz legen, wie die Katholische Telefonseelsorge in der Erzdiözese München und Freising am 2. September mitteilte. Die Aktion solle das Tabuthema Suizid sichtbar machen. Im Jahr 2022 hätten sich allein in München 191 Menschen das Leben genommen.

Veranstalter der Aktion sind der Verein „Die Arche Suizidprävention und Hilfe in Lebenskrisen“, die evangelische und die katholische Telefonseelsorge München, die Krisenberatungsstelle Münchner Insel und der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern. „Oftmals hilft es schon, wenn man sich in seiner Not einem ganz normalen neutralen Menschen anvertrauen und mit ihm sprechen kann“, erklärten die Veranstalter. Sie würden zu der Aktion Infoflyer auf dem Marienplatz verteilen.

Den Angaben zufolge sterben in Deutschland mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewaltverbrechen, Drogen und Aids zusammen. Im Jahr 2023 nahmen sich laut Angaben des Statistischen Bundesamts 10.300 Menschen in Deutschland das Leben. Suizide machten damit etwa ein Prozent der Todesursachen aus. Den Welttag der Suizidprävention haben die Weltgesundheitsorganisation und die „International Association for Suicid Prevention“ (IASP) 2003 ins Leben gerufen.



Landtagswahlen

Sozialverbände warnen vor Spaltung der Gesellschaft




Demonstration gegen die AfD und für Demokratie in Erfurt
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Der Ausgang der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sorgt für Unruhe in den Sozialverbänden und bei den Arbeitgebern. Das erwartet starke Abschneiden der AfD sei eine ernste Gefahr für den Bestand der Demokratie, hieß es. Hass und Gewalt dürften nicht zunehmen. epd sozial hat die Stimmen gesammelt:

Verena Bentele, Chefin des VdK: „Die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen machen klar, dass sich viele Menschen mit ihren Problemen und Sorgen nicht verstanden fühlen. Alle demokratischen Parteien, Sozialverbände und Organisationen müssen alles dafür tun, mit den Menschen im Gespräch zu bleiben und sie für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt zu motivieren. Politik ist kein Automatismus, politisch verantwortlich sind wir alle, ob in Ämtern oder mit unserer Stimme auf dem Wahlzettel.“

Martin Berg, Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen: „Dass die AfD in Sachsen und Thüringen so deutlich an Stimmen gewinnen konnte, beunruhigt uns zutiefst. Die Partei wendet sich mit ihrer Politik und ihren Aussagen klar gegen Vielfalt und Teilhabe. Sie grenzt unter anderem Menschen mit Behinderungen aus und wertet sie ab. Nun ist zu befürchten, dass sie ihre gestärkte Position in den Landtagen auch dafür nutzen wird, wichtige Leistungen zur Teilhabe an Arbeit, Bildung und Gesellschaft grundsätzlich infrage zu stellen oder gänzlich zu blockieren.“

Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes: „Uns in der Caritas steckt der Schrecken in den Knochen. Die AfD ist eine Partei, die unsere Werte mit Füßen tritt. Für Schockstarre ist jedoch keine Zeit. Es braucht jetzt Zukunftsmut und Lösungsorientierung. Als Wohlfahrtsverbände brauchen wir auf allen Ebenen verlässliche Partner in der Politik, mit denen wir gemeinsam daran arbeiten können, den Menschen die Ängste und Unsicherheiten zu nehmen.“

Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: „Die Landtagswahlergebnisse zeigen, dass jede Regierung im Bund und Land die Interessen für Arbeitsplätze und damit für den sozialen Zusammenhalt im Blick haben muss. (...) Besonders der Zulauf zu den politischen Rändern zeigt die starke Verunsicherung der Menschen und das fehlende Zutrauen, dass sich unser Land in die richtige Richtung entwickelt. Es ist nun Aufgabe der demokratischen Parteien in den Ländern, Handlungsfähigkeit für Thüringen und Sachsen herzustellen. Die soziale Marktwirtschaft, offene Märkte und eine liberale Gesellschaft sind aus Sicht der Arbeitgeber dabei unverzichtbare Leitplanken.“

Sanem Kleff, Direktorin der Bundeskoordination Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage: „Als bundesweites Präventionsnetzwerk gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit erleben wir tagtäglich, wie Rechtspopulismus und Rechtsextremismus immer tiefer in die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen eindringen. Damit verbunden sind eine Banalisierung sowie Normalisierung des Rechtsextremismus. (...) Gemeinsam müssen wir jetzt alle Kräfte mobilisieren, um unsere hart erkämpften Freiheiten und Rechte zu verteidigen. Mehr denn je müssen sich die demokratischen Kräfte in Politik wie Zivilgesellschaft in engem Schulterschluss den Feinden der Demokratie entschieden entgegenstellen.“

Dirk Baas


Kinder

Interview

Kita-Verband: Nur mehr Personal kann Arbeitsbelastungen senken




Paul Nowicki
epd-bild/Silvia Wolf/KTK-Bundesverband
Immer mehr Kitakräfte werden vom Job krank. Das zeigt eine neue Studie über Fehlzeiten in Tageseinrichtungen für Kinder, die die Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben hat und die vom Fachkräfteforum eingeordnet wurde. Der KTK-Bundesverband ist alarmiert. Er sei Zeit, das Ruder bei den belastenden Arbeitsbedingungen herumzureißen. Wie das gelingen soll, verrät Geschäftsführer Paul Nowicki im Interview mit epd sozial.

Freiburg (epd). Die Personalnot in Kitas ist in vielen Regionen dramatisch. Und wenn die Ganztagesbetreuung ab 2026 kommt, wird die Lage noch schwieriger. Es müsse schnell gelingen, mehr Menschen in die Kitas zu bekommen, sagt Paul Nowicki - und hat mehrere Vorschläge, wie das funktionieren könnte. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Nowicki, die Personalnot ist seit Jahren ein Thema in der Sozialbranche. Jetzt hat der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK-Bundesverband) einen neuen Forderungskatalog veröffentlicht, in dem er die Bundesregierung in die Pflicht nimmt. Warum?

Paul Nowicki: Es stimmt, dass die Nöte beim Fachpersonal nicht neu sind. Auch nicht die Folgen der oft sehr belastenden Arbeitsbedingungen in den Kitas. Doch dass dieses herausfordernde Arbeitsumfeld zu mehr Krankheitsfällen führt, hat jetzt eine spezielle Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung, die die Krankenkassendaten ausgewertet hat, nachdrücklich ans Licht gebracht. Es geht darum, wie es auch die Stiftung fordert, das Ruder endlich herumzureißen.

epd: Personal, auch unterstützende Kräfte, wird ja in fast allen Einrichtungen gesucht. Aber die Lage ist doch vermutlich nicht überall gleich dramatisch ...

Nowicki: Das stimmt. Vor allem in den östlichen Bundesländern ist die Situation im Vergleich zu vielen Regionen im Westen eine andere. Im Osten herrschen andere Bedingungen, die Beschäftigungssituation ist eine andere. Es gibt jenseits der großen Städte meist eine geringere Nachfrage nach Kitaplätzen. Die Suche nach Fachpersonal ist dort oft nicht so schwierig, was aber damit zu tun hat, dass die Fachkraft-Kind-Relation viel großzügiger ist als im Westen. Teilweise liegt sie bei 1 zu 11,5. Im Westen liegt der Wert durchschnittlich bei 1 zu 7. Im Westen haben die Kitas von wenigen Ausnahmen abgesehen einen wirklich hohen Druck, ihre Stellen zu besetzen. Das ist ein Delta, das Studien zufolge noch mindestens zehn Jahre andauert, erst ab 2030 dürften sich bei den Bedarfen erste Entlastungen zeigen.

epd: Was ist mit dem kommenden Rechtsanspruch für Eltern, die Kinder in die Ganztagsbetreuung nach der Grundschule geben zu können. Das könnte den Kitas doch zusätzlich Personal entziehen?

Nowicki: Ja, das wird die Situation verschärfen. Deshalb sind wir als Verband auch hier aktiv. Ganztagesbetreuung ist ja nichts Neues, die gibt es schon länger. Wir wissen auch, dass viele Personen, die hier bereits arbeiten, nicht pädagogisch qualifiziert sind. Es geht also mit Blick auf die Qualität in der Betreuung darum, wie man die Beschäftigten dort möglichst effektiv und schnell nachschulen kann. Dazu hat der Bund hat das Institut für soziale Arbeit in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung beauftragt, das ein Curriculum entwickelt, wie und mit welchen Modulen das gelingen kann. Wir gehen davon aus, dass auch in der dann ab 2026 ausgebauten Ganztagsbetreuung nicht nur Fachkräfte, sondern auch viele Seiten- und Quereinsteigerinnen tätig sein werden. Anders ließe sich der Rechtsanspruch gar nicht zum Laufen bringen.

epd: Kommen wir zurück zu den Kitas. Wie sehen Ihre Ansätze aus, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und so den Job auch wieder attraktiver zu machen?

Nowicki: Wir haben verschiedene Vorschläge, wie zum Beispiel die schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse, um mehr Personal zu haben. Da gibt es noch viel Regelungsbedarf. Ein Beispiel: Hessen erkennt die Abschlüsse von Namibierinnen als Erzieherinnen an, NRW nicht. Daran schließt sich die Frage an, wie man mit diesen Personen umgeht, die man in den Kitas gut einsetzen könnte. Sie müssen in aller Regel nachgeschult werden. Aber welche Parameter sind da relevant? Also braucht man auch Reformen in der heute fünfjährigen schulischen Ausbildung hin zu mehr modularen Systemen, die durchlässiger sind und auch entsprechende Nachqualifizierungen ermöglichen. Ziel dieser Bildungsbausteine ist es, schrittweise zu einem Fachabschluss auf Basis des bisherigen Qualitätsniveaus zu kommen, der uns wichtiger denn je erscheint. Auch das könnte helfen, mehr Menschen für die Jobs in der Kita zu gewinnen. Und wir brauchen für Menschen, die Deutsch neu lernen, mehr Kursangebote zur Vermittlung der spezifischen pädagogischen Fachsprache im Bereich Kitaerziehung. All diese Dinge kommen langsam voran. Es ist nicht so, dass nichts geschieht. Aber wir meinen, vieles könnte und müsste schneller gehen, um mehr Menschen, die bislang nicht im System Kita waren, hineinzubringen.

epd: Die Bundesländer gehen hier ja sehr unterschiedliche Wege ...

Nowicki: Ja, die Not bei der Personalsuche macht erfinderisch. Aber nicht alle dieser länderspezifischen Modelle sind gut. Ein Beispiel für diese Modelle ist Bayern. Da können Leute von der Straße weg direkt in der Kita angestellt werden, sie durchlaufen im Gesamtkonzept Weiterbildung eine Qualifizierung von 700 Stunden und erreichen damit den Titel Erzieherin/Erzieher und auch die gleiche Bezahlung. Das halten wir für fragwürdig, weil man sich dann schon als junger Mensch überlegt, warum man eine lange Ausbildung auf Niveau von DQR 6 machen muss.

epd: Sie sehen auch als eine weitere wichtige Maßnahme an, dass mehr „profilergänzende Kräfte“ zum Einsatz kommen. Was verbirgt sich hinter diesem sperrigen Begriff?

Nowicki: Da muss ich etwas ausholen für die Erklärung. Früher hat man von multiprofessionellen Teams geredet, davon ist man inzwischen weggekommen. Der neue Fachbegriff heißt profilergänzende Kräfte, die im pädagogischen Alltag eingesetzt werden sollen. Davon abzugrenzen sind die Ergänzungskräfte, die etwa Verwaltungsarbeiten übernehmen. Oder andere Zuarbeiten machen, und so die Pädagoginnen von Nebentätigkeiten entlasten, die dann mehr Zeit haben, sich um die Kinder zu kümmern. Wir brauchen immer pädagogische Fachkräfte, aber viele Dinge im Kitaalltag können auch profilergänzende Kräfte übernehmen, etwa ein Schreiner, der handwerkliches Geschick nicht nur mit Holz vermittelt. Es geht darum, verschiedene Bildungsprozesse in die Kita zu integrieren. Das ist auch kein Hauruck-Verfahren, diese Dinge müssen im Fachkräftekatalog der Bundesländer verankert werden, die Kita muss dazu ihre Konzeption erweitern und diese muss dann vom Landesjugendamt anerkannt werden.

epd: Sie beklagen auch, dass die Dokumentation den Fachkräften viel Zeit nimmt und sie belastet. Klagen über ein Zuviel an Bürokratie und Schreibarbeit kennt man eigentlich nur aus der Pflege. Was läuft hier falsch?

Nowicki: Wir meinen, die Dokumentations- und Verwaltungsumfänge haben in den zurückliegenden Jahren deutlich zugenommen. Hier durch digitale Prozesse Zeit einzusparen, gibt mehr Raum für den Umgang mit den Kindern. Jedes Elterngespräch, mindestens einmal im Jahr, aber oft auch häufiger, über die Entwicklung des Kindes muss schriftlich dokumentiert werden. Aber auch die üblichen Dinge wie An- und Abwesenheiten, wann ist das Kind gebracht worden, wann war es krank, sind festzuhalten. Alles muss notiert und bei Bedarf, etwa bei Beschwerden der Eltern, nachgewiesen werden. Früher gab es dafür eine einfache Kladde, heute wird alles digitalisiert, es gibt zig Tabellen und Beobachtungsbögen. All das raubt Zeit. Aber die Digitalisierung, wenn sie denn konsequent betrieben wird, kann helfen, Doppelarbeit bei Berichten und Statistiken etwa für die Kommune oder das Landesjugendamt zu vermeiden. Auch das kann das Personal entlasten.

epd: Das sind alles schlüssige Ansätze, um mehr Personen qualifiziert in die Kitas zu bringen. Aber muss trotz all dieser Maßnahmen nicht einfach noch deutlich mehr Personal klassisch zu Erzieherinnen ausgebildet werden und müssen die Kapazitäten nicht noch steigen?

Nowicki: Da irren Sie. Es gibt in bestimmten Regionen schon heute nicht genügend Interessentinnen für die Erzieherinnenausbildung. Regional ist das sehr unterschiedlich. Die Schulen haben jedoch die Zahl ihrer Ausbildungsplätze erhöht. Aber längst nicht alle Plätze werden belegt. Manche Fachschulen liegen ungünstig und sich nicht gut zu erreichen. Deshalb werden vermehrt digitale Kursmodule angeboten, damit die Schülerinnen und Schüler nicht Tag für Tag anwesend sein müssen. Es gibt auch den Zugang über die Hochschulen, beispielsweise über den Studiengang Pädagogik der Frühen Kindheit.

epd: Ihr Verband fordert auch, dass der Bund ein Qualitätsentwicklungsgesetz verabschiedet. Was sollte darin geregelt werden und was versprechen Sie sich davon?

Nowicki: Das ist dringend nötig, wenn man vergleichbare Standards, die ja das Ziel eines solchen Gesetzes wären, haben will. Etwa bei dem Fachkraft-Kind-Schlüssel, der sogenannten mittelbaren Arbeitszeit oder auch der Fort- und Weiterbildung. Der Osten hat hohe Betreuungsschlüssel, aber eine geringe Platznachfrage. Statt weniger Personal einzustellen, könnte die Fachkraft-Kind-Relation an die westlichen Standards angepasst werden, was auch die Arbeitsbedingungen für das Personal verbessern würde. Wir meinen, das Gesetz sollte strukturelle Qualitätsvorgaben festschreiben, wie die gemeinsamen Bildungsziele erreicht werden können. Die Wege dahin können im Föderalismus durchaus unterschiedlich sein. Man hätte dann immerhin eine Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern, und das würde auch das Ziel, gleiche Bildungsbedingungen zu haben, erreichbar machen. Der Bund trägt für das Grundrecht auf Bildungsteilhabe und Bildungsgerechtigkeit Sorge, und die Bundesländer übernehmen weiterhin für die Bildungspläne Verantwortung, in denen innerhalb des gesteckten Rahmens die Inhalte so formuliert sind, dass Bildung bei den Kindern im besten Sinne auch ankommt.



Pflege

Gastbeitrag

Personalpolitik: Über 100 Projekte zugunsten der Beschäftigten




Ute Düvelius (li.) und Eva Lampmann
epd-bild/UKE/Anja-K. Meyer
In kaum einer anderen Branche sind der Fachkräftemangel, die Arbeitsbelastung und die Fehlzeiten so hoch wie in der Gesundheitsbranche. Die Träger wissen das und steuern auf vielfältige Weise dagegen. Sehr systematisch geht das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) dabei vor. Ute Düvelius und Eva Lampmann erläutern im Gastbeitrag für epd sozial Ziele und Erfolge ihrer Personalpolitik.

Um auch im demografischen Wandel eine gute Versorgung gewährleisten zu können, müssen Einrichtungen eine Personalpolitik verfolgen, die es schafft, bestehende Mitarbeiter:innen langfristig zu binden und ihre Gesundheit zu stärken. Durch eine Kombination aus präventiven Gesundheitsmaßnahmen, flexiblen Arbeitszeitmodellen und einem wertschätzenden Betriebsklima können Organisationen ihre Attraktivität als Arbeitgeber steigern und sich langfristig als zukunftssicherer Gesundheitsdienstleister positionieren.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzt das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) unter anderem seit 2010 auf eine partizipative Experten- und Expertinnenstruktur. Diese ermöglicht es, abseits traditioneller Hierarchien bedarfsorientiert Lösungen zu entwickeln. Wesentliche Faktoren für die Zufriedenheit der Mitarbeitenden werden dort durch berufs- und hierarchieübergreifende Arbeitsgruppen strategisch gesteuert. Das schafft die Grundlage für eine beschäftigtenorientierte Personalpolitik, die Bedarfe frühzeitig erkennt und auf sie reagiert.

Personalstärkungsgesetz nutzen

Mehr als 100 innovative Projekte konnten so umgesetzt und stetig weiter-entwickelt werden - auch mithilfe einer Förderung der Techniker Krankenkasse aus dem Pflegepersonalstärkungsgesetz.

Im Projekt „Arbeiten 5.0 - Harmonisierung von Dienstzeiten und Prozesse“ wurden zum Beispiel flexibilisierte Arbeitszeitmöglichkeiten erarbeitet. Möglich sind nun auch verlängerte Tag- und Nachtdienste, flexible Kurzdienste oder Gleitzeit. Ziel ist die größtmögliche Freiheit in der Arbeitszeitgestaltung, die Verringerung von Arbeitsspitzen und -belastung sowie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Ergänzend dazu wurden Prozessbausteine entwickelt, um die Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen zu harmonisieren. Dazu gehören untern anderem ein Ärzte- und Ärztinnen-Pflege-Tandem, verbindliche Visitenregelungen sowie morgendliche Kurz- oder Tagesabschlussbesprechungen. Bislang haben bereits mehr als 1.300 Personen die neuen Dienstzeiten genutzt und die Rückmeldungen der Kolleg:innen sind durchweg positiv. Das Projekt wird vom Hamburg Center for Health Economics über mehrere Jahre wissenschaftlich evaluiert.

Bessere Zusammenarbeit auf den Stationen

Doch schon jetzt wurden weitere Bedarfe ermittelt, die nun angegangen werden. Das neue Projekt „Zusammenarbeit in der klinischen Praxis“ fokussiert die interprofessionelle Zusammenarbeit auf Station, mit dem Ziel, die Mitarbeitendenzufriedenheit, die Effizienz und Patientensicherheit weiter zu steigern.

Ein weiteres Förderprojekt ist das Projekt „Stress und Traumaprävention“. Schon 2017 entwickelte eine Arbeitsgruppe der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKE ein fundiertes Konzept zur Prävention von Traumafolgestörungen nach besonders belastenden Ereignissen im klinischen Kontext. Zentraler Bestandteil dieses Konzepts ist die Ausbildung kollegialer Berater und Beraterinnen. Ihre Kernaufgabe ist es, Betroffene nach akut belastenden Arbeitssituationen zeitnah mit strukturierten Gesprächen zu unterstützen.

Mehr als 100 Peer-Beratende geschult

Seit 2018 absolvierten mehr als 100 Peer-Beratende aus diversen Berufsgruppen die Ausbildung im Umfang von 24 Unterrichtseinheiten. Um Teilnahmen weiter zu erleichtern, wurde im Verlauf ein E-Learning mit einem zweitägigen Kurs kombiniert. Ergänzend entstanden während der Corona-Pandemie auch psychosoziale Angebote für Teams besonders belasteter Klinikbereiche, die dort ebenfalls weiterhin angeboten und evaluiert werden.

Das Projekt „AZUBI - Ausbildung mit Zukunft bieten“ hat wiederum die Gesundheit der jüngsten Mitarbeitenden im Fokus. Es sollen Maßnahmen zur attraktiveren Gestaltung der Pflegeausbildung entwickelt und umgesetzt werden. Nach einer umfangreichen Analyse wurden im UKE Strukturen geschaffen, um Potenziale zu ermitteln und anzugehen. So konnten viele Angebote geschaffen werden: die Begleitung durch Praxispat:innen, die Einrichtung einer Beratungsstelle und die Erstellung zielgruppenspezifischer Informationsmaterialien, um nur einige zu nennen.

Reaktion auf verändertes Lernverhalten

Im Projektverlauf wurde deutlich, dass sich das Lernverhalten und die Bedürfnisse verändert haben und neue Angebote geschaffen werden müssen, um die Kolleg:innen von morgen noch besser durch die Ausbildung zu begleiten und für die Arbeit zu stärken.

Einen ganz anderen Fokus hat das Projekt „Diagnose INside“. Es unterstützt Führungskräfte darin, die Gesundheit der Mitarbeiter:innen im Blick zu behalten und frühzeitig zu erkennen, wenn die Belastungen steigen. Mit der Entwicklung einer übergeordneten Analysesystematik werden negative Beanspruchungen im Team in einem Dashboard sichtbar gemacht. Neben dem Anzeigen von „red flags“ bietet das Tool auch eine Weiterleitung an die vielen Anlaufstellen und Hinweise auf Angebote und Maßnahmen im UKE. Damit bedient das Projekt gleich mehrere wichtige Bedarfe: Es sensibilisiert Leitungen für „weiche“ Kennzahlen, bündelt vielfältige Angebote und platziert das Thema Mitarbeitendenzufriedenheit prominent in einer „Business Intelligenz Lösung“.

All diese Projekte verfolgen das gleiche Ziel: eine Verbesserung der Mitarbeiter:innenzufriedenheit und -gesundheit, um auch in Zukunft eine gute Patient:innenversorgung gewährleisten zu können. Und es geht weiter: mit der Techniker Krankenkassen sollen bis 2027 drei weitere Projekte am UKE umgesetzt werden. Wie es der Paragraf 20 SGB V vorsieht, fließen die Mittel in den Aufbau und die Stärkung gesundheitsförderlicher Strukturen in Krankenhäusern. Im Fokus stehen dann unter anderem die Gesundheit der internationalen Pflegefachpersonen, Potenziale, die in der Generationenvielfalt schlummern, sowie die Fokussierung interner Zeitfresser. Die Themen für eine wirklich beschäftigtenorientierte Personalpolitik werden in solche schnelllebigen Zeiten zum Glück und mit Sicherheit nie ausgehen.

Ute Düvelius leitet die Abteilung Personalgewinnung und- bindung im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Eva Lampmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin.


Pflege

Arbeitgeberverband: Insolvenzen setzen sich fort



Berlin (epd). In den vergangenen anderthalb Jahren haben dem Arbeitgeberverband Pflege zufolge bundesweit mehr als 1.000 Pflegeeinrichtungen geschlossen, Insolvenz angemeldet, ihr Angebot eingeschränkt oder Versorgungsverträge gekündigt. Das geht aus der „Deutschlandkarte Heimsterben 2024“ hervor, die der Verband (AGVP) am 5. September auf seiner Internetseite veröffentlichte. Die Karte umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis zum 31. Juli 2024 und verzeichnet bundesweit 1.097 Einträge über Heime, Tagespflege-Einrichtungen, betreutes Seniorenwohnen und ambulante Pflegedienste.

Die Versorgungskrise führe zu längeren Wartezeiten für Pflegebedürftige, die einen Heim- oder Betreuungsplatz suchten, erklärte der Verband. Betroffen seien auch die Angehörigen, die die Betreuung organisierten. Ambulante Pflegedienste reduzierten die Versorgung oder nähmen keine neuen Patienten mehr an. AGVP-Präsident Thomas Greiner forderte Strafzinsen für säumige Kostenträger und einen Rechtsanspruch auf einen Pflegeplatz. Dem Verband zufolge geraten Heimträger auch deshalb in finanzielle Schwierigkeiten, weil Kassen und Sozialhilfeträger die erbrachten Leistungen erst nach Monaten erstatten.

Diakonie: Politik muss handeln

Die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, nannte neben den schleppenden Zahlungen den Fachkräftemangel und die hohen Kosten als Ursachen für die schlechte wirtschaftliche Lage in der Pflege. Die Politik müsse handeln: „Wir brauchen sofortige Hilfen und Anpassungen in der Pflegefinanzierung, damit nicht noch mehr Pflegeeinrichtungen schließen müssen“, forderte Loheide.

Dem Branchendienst „pflegemarkt.com“ zufolge gab es Anfang 2023 knapp 11.700 Pflegeheime und rund 17.100 ambulante Pflegedienste sowie 6.500 Tagespflege-Einrichtungen. Vier Fünftel der rund fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden von Angehörigen versorgt, teils mithilfe von Pflegediensten.



Kriminalität

Frauenhauskoordinierung: Gewalthilfegesetz verabschieden



Berlin (epd). Vor dem Hintergrund von zwei vollendeten und einem versuchten Femizid in Berlin allein in der vergangenen Woche hat die Frauenhauskoordinierung erneut auf die bestehenden Lücken beim Schutz von Frauen und Kindern hingewiesen. Der Schutz vor Partnerschaftsgewalt müsse endlich besser werden, heißt es in einer Mitteilung vom 2. September. Dazu müsse das versprochene Gewalthilfegesetz schnell verabschiedet werden und damit auch mehr Geld in Prävention und Gewaltschutz fließen.

Allein im Jahr 2023 erfasste die Polizei in Deutschland 132.966 weibliche Betroffene von Partnerschaftsgewalt, die Dunkelziffer wird in der Wissenschaft um ein Vielfaches höher eingeschätzt. Weiter teilte der Dachverband der Frauenhäuser in Deutschland mit: Der kürzlich von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und weiterer Gesetze - Verbesserung des Opferschutzes, insbesondere für Frauen und verletzliche Personen“ verfehlt seinen Anspruch, wirksam vor Partnerschaftsgewalt zu schützen. Der Fokus liege dabei Fokus auf strafrechtlichen und hochschwelligen Maßnahmen, so die Kritik.

„Strafrechtliche Maßnahmen sind der falsche Fokus“

„Wir begrüßen, dass das Thema Gewalt gegen Frauen auch in der Opposition stärker auf die politische Agenda rückt. Aber die Engführung der Diskussion auf strafrechtliche Maßnahmen und Tötungsdelikte geht an den dringlichsten Bedarfen der Mehrzahl von Betroffenen vorbei“, erklärte Vorstandsvorsitzende Christiane Völz. Der Gesetzesentwurf sieht unter anderem vor, den Mordparagrafen um das Merkmal „Ausnutzung der körperlichen Überlegenheit“ zu erweitern.

„Das eigentlich zielführende Verbesserungspotenzial im Recht liegt nicht in einem weiteren Mordmerkmal, sondern in der Rechtsanwendung und Sensibilisierung der Justiz“, betonte Geschäftsführerin Sibylle Schreiber. „Generell setzt das Strafrecht zu spät an, um Gewalt zu verhindern. Der entscheidende Schritt für breitenwirksamen Schutz wäre, endlich so umfassend in Hilfesystem und Prävention zu investieren, wie sich Deutschland mit der Istanbul-Konvention und auch der neuen EU-Richtlinie verpflichtet hat.“ # Fußfesseln kein Ersatz für bessere Prävention

Darüber hinaus fordert die CDU/CSU die Einführung elektronischer Fußfesseln für Gewalttäter, wie sie derzeit auch im Bundesrat diskutiert wird. Die verfassungsrechtlichen Hürden für den Einsatz einer solchen Maßnahme seien allerdings hoch, so der Verband.

„Strafrecht und hochschwellige Überwachung im Einzelfall sind kein Ersatz für Prävention und Unterstützungsangebote“, sagte Schreiber weiter. „Wenn wir mehr als einen Bruchteil der über 132.000 Betroffenen und auch ihre Kinder schützen wollen, dann müssen Bund und Länder, Regierung wie Opposition ihren Fokus jetzt auf die zeitnahe Einführung des versprochenen Gewalthilfegesetzes legen.“



Studie

Medizinisches Personal: Zahlen steigen, aber der Bedarf ist größer



Berlin (epd). Zwar wächst nach einer Studie die Zahl der Ärztinnen und Ärzte und der Krankenpflegekräfte in Deutschland in den kommenden zehn Jahren. Doch Entwarnung für den Fachkräftemangel bedeuteten diese Zahlen nicht, wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) mit Verweis auf die Untersuchung „Personalbestand im Krankenhaus bis 2035“ mitteilt.

Demnach steigt die Zahl der Ärztinnen und Ärzte um rund 15.400 (acht Prozent), die der examinierten Pflegekräfte um 32.100 (sieben Prozent) und die der examinierten Kinderkrankenpflegekräfte sogar um 20 Prozent oder 9.100 Personen, wie das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) im Auftrag der (DKG) ermittelt hat.

Geringerer Zuwachs an Personal als in den vergangenen Jahren

Dieser Zuwachs falle geringer aus als der der vergangenen Jahre. Zwischen 2025 und 2030 wird die Zahl der altersbedingten Ausstiege sogar die der Berufseinstiege trotz der genannten Zuwächse und einschließlich der Zuwanderung übertreffen. Für die Zeit nach 2030 sieht die Studie leichte Verbesserungen und erwartet steigende Absolventenzahlen. Und: Der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigung im Gesundheitswesen bleibe ein Problem. Setze sich der Trend zu reduzierten Arbeitszeiten fort, könnte schon dieser Effekt die kleinen Steigerungen bei der Personalzahl wieder zunichtemachen, so die Autorinnen und Autoren.

„Wer den Fachkräftemangel lösen will, muss neben mehr Digitalisierung und Flexibilisierung beim Personaleinsatz auch mehr ambulante Behandlungen an Krankenhäusern zulassen“, heißt es in der Studie. Denn dank der harten Grenzen zwischen ambulant und stationär müssten zu viele Patientinnen und Patienten stationär mit entsprechend hohem Personalaufwand behandelt werden, die ambulant am Krankenhaus genauso gut versorgt wären.

„Unsere Studie zeigt, dass sich das Fachkräftepotenzial bis 2035 insgesamt nicht schmälern muss. Wegen des steigenden Fachkräftebedarfs infolge der Demografie gibt es aber keinen Grund zur Entwarnung“, sagte DKG-Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß. „Deswegen müssen Politik und Krankenhäuser die Attraktivität der ärztlichen und pflegerischen Berufe weiter stärken, um im Wettbewerb um Auszubildende und Berufseinsteiger zu bestehen und vorzeitige Berufsausstiege zu vermeiden“, so Karl Blum, Vorstand des DKI.




sozial-Recht

Bundesgerichtshof

Gericht muss Gutachten über Sturzrisiken einer Patientin beachten




Bundesgerichtshof in Karlsruhe
epd-bild/Uli Deck
Krankenhäuser und Pflegeheime müssen bei demenzkranken Patienten und Bewohnern mit einem erhöhten Sturzrisiko rechnen. Geht es nach einem Sturz um die Frage, wer haftet, darf ein Gericht ein Sachverständigengutachten über die Ursachen nicht übergehen, entschied der Bundesgerichtshof.

Karlsruhe (epd). Krankenhäuser und Pflegeheime müssen Sturzrisiken von alten und demenzkranken Menschen immer im Blick haben. Kommt es dann doch zu einem Rechtsstreit über die Ursachen und die Haftung nach einem Sturz, dürfen Gerichte sich nicht über fachliche Aussagen eines bestellten Gutachters einfach hinwegsetzen und ohne eigene Qualifikation selbst Feststellungen dazu treffen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 29. August veröffentlichten Beschluss. Andernfalls werde der Anspruch der Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, befanden die Karlsruher Richter.

Hintergrund des Rechtsstreits war der nächtliche Sturz einer 88-jährigen demenzkranken Frau am 16. Februar 2016 im Stationsflur eines Krankenhauses. Dass die Frau eine „Weglauftendenz“ hatte, war dokumentiert. Infolge des Sturzes erlitt sie einen komplexen Mehrfachbruch eines Oberarmes. Drei Wochen nach dem Sturz starb die Frau in der Kurzzeitpflege. Ihre Tochter machte als Erbin Schmerzensgeld und eine Entschädigung geltend. Das Klinikpersonal hätte das Sturzrisiko sehen und geeignete vorbeugende Maßnahmen ergreifen müssen, so ihre Argumentation.

Landgericht wies Klage ohne Beweisaufnahme ab

Das Landgericht Saarbrücken holte ein pflegewissenschaftliches Gutachten ein. Danach war die 88-Jährige wegen stark schwankender Blutzuckerwerte, die zu Desorientiertheit und Gleichgewichtsschwankungen führen, sehr stark sturzgefährdet. Zusätzlich hat laut Gutachten die Frau ein Beruhigungsmittel erhalten, das ebenfalls Gang- und Standunsicherheiten verursachen kann. Eine Überwachung per Videokamera oder der Einsatz einer Sensormatte, die das Weglaufen einer Patientin anzeigt, hätte das Pflegepersonal warnen können, kam aber nicht zum Einsatz.

Das Landgericht stellte dennoch fest, dass eine Sturzproblematik nicht bestanden habe. Denn die Frau habe bei der Aufnahme in die Klinik keinen unsicheren Gang oder Schwindel gezeigt. Das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken wies die Klage ohne Beweisaufnahme ab und ließ eine Revision zum BGH nicht zu.

Der BGH gab der eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin jedoch statt und stellte fest, dass der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt wurde. Zwar könne ein Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu einer eigenen Überzeugung kommen. Ohne vorhandene Qualifikation dürfe es sich aber nicht über die fachkundigen Feststellungen eines Gutachters hinwegsetzen und anstelle dessen eigene Aussagen treffen. Zweifele ein Gericht ein Gutachten an, könne es allenfalls einen weiteren Sachverständigen beauftragen, betonte der BGH. Das OLG müsse den Fall daher noch einmal prüfen.

Immer hohe Sturzgefahr bei verwirrten Patienten

Bereits am 14. November 2023 stellte der BGH klar, dass Krankenhäuser bei verwirrten und desorientierten Patienten immer mit einer besonderen Sturzgefahr rechnen müssen. Werde ein sehr hohes Sturzrisiko festgestellt, müsse die Klinik „zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit“ der Patienten die „notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen“ treffen.

Im konkreten Fall wurde bei einer 66-jährigen Frau festgestellt, dass sie nach einer Operation verwirrt reagierte. Ein extrem hohes Sturzrisiko wurde vermerkt. Als sie dann stürzte, ohne sich weiter zu verletzen, unternahm das Pflegepersonal nichts. Bei einem weiteren Sturz verletzte sich die Frau so schwer, dass erst der Unterschenkel und dann bei einem erneuten Sturz der Oberschenkel amputiert werden musste.

Die Erben der inzwischen verstorbenen Frau verlangten Schmerzensgeld und eine Entschädigung. Das Oberlandesgericht (OLG) Köln wies die Klage ab. Zum Zeitpunkt des ersten Sturzes habe kein besonders hohes Sturzrisiko mehr bestanden. Auch hier stellte der BGH fest, dass das OLG den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt habe. Es sei ohne eigene Sachkunde von einem fehlenden erhöhten Sturzrisiko ausgegangen. Hierzu hätte es ein Gutachten einholen müssen.

Kliniken nicht unbedingt haftbar nach Stürzen

Doch nicht bei jedem Sturz muss eine Klinik oder ein Pflegeheim sofort haften. So muss nach einem Urteil des OLG Karlsruhe vom 18. September 2019 das Pflegepersonal eine demenzkranke Heimbewohnerin nicht immer lückenlos überwachen. Es sei „pflegefachlich nachvollziehbar“, dass Pflegekräfte eine Bewohnerin alleine auf die Toilette gehen lassen, um ihre Intimsphäre zu achten. Eine lückenlose Überwachung sei nur dann angebracht, wenn es Anzeichen eines Sturzes gerade auf der Toilette gebe.

Das OLG Hamm urteilte am 2. Dezember 2014, dass eine Haftung einer Krankenhauspatientin erst recht nicht infrage kommt, wenn diese die angebotene Hilfe für ihren Toilettengang ablehnt. Nehme sie diese nicht in Anspruch, könne dies nicht zulasten des Krankenhauses gehen.

Az.: VI ZR 41/22 (BGH, rechtliches Gehör)

VI ZR 244/21 (BGH, Sturzrisiko Demenz)

Az.: 7 U 21/18 (OLG Karlsruhe)

Az.: 26 U 13/14 (OLG Hamm)

Frank Leth


Landgericht

Testament auch bei leichter Demenz wirksam



Frankenthal (epd). Ein im Stadium der Demenz verfasstes Testament muss nicht unwirksam sein. „Befindet sich die Erkrankung noch in einem leichtgradigen Stadium, ist regelmäßig noch nicht von einer Testierunfähigkeit auszugehen“, entschied das Landgericht Frankenthal (Pfalz) in einem am 29. August bekanntgegebenen Urteil. Verfassen Erkrankte ein Testament, sollten sie sich vorsichtshalber den Schweregrad der Demenz-Diagnose von Ärzten attestieren lassen, so das Gericht

Im Streit stand das Testament einer 90-jährigen Frau. Sie hatte keine pflichtteilsberechtigten Angehörigen. Kurz vor ihrem Tod vermachte sie im Beisein eines Notars ihr wertvolles Anwesen in Ludwigshafen dem Sohn einer Freundin. Der Notar attestierte der Frau eine „unbeschränkte Geschäfts- und Testierfähigkeit“.

Testamentsvollstrecker sah Beweise für Demenz

Der Testamentsvollstrecker bestritt das jedoch und focht das Testament an. Er legte Arztbriefe vor, aus denen eine „beginnende dementielle Entwicklung“, eine „dementielle Entwicklung“ und eine „bekannte Demenz“ der Frau hervorgingen.

Das Landgericht wies zunächst im Eilverfahren den Testamentsvollstrecker ab. Es sei seine Sache, die sogenannten Testierunfähigkeit der verstorbenen Frau zu beweisen. Im Streitfall gebe es keine Hinweise, dass die Demenz der Frau bereits ein mittleres oder sogar schweres Stadium erreicht haben könnte.

Keine automatische Testierunfähigkeit

„Nicht jede Demenz führe automatisch zur Testierunfähigkeit“, erklärte das Landgericht. Es komme vielmehr darauf an, „ob sich die betreffende Person trotz ihrer Erkrankung noch ein klares Urteil über die Tragweite ihrer Anordnungen bilden kann und in der Lage ist, frei von Einflüssen Dritter zu entscheiden“. Dabei unterschied das Landgericht zwischen leichtgradiger, mittelschwerer und schwerer Demenz. „Befindet sich die Erkrankung noch in einem leichtgradigen Stadium, ist regelmäßig noch nicht von einer Testierunfähigkeit auszugehen.“

Im Streitfall gebe es keine Hinweise, dass die Demenz der Frau bereits ein mittleres oder sogar schweres Stadium erreicht haben könnte.

Az.: 8 O 97/24



Verwaltungsgericht

Pflege-Impfpflicht war Ende 2022 nicht verfassungskonform



Osnabrück (epd). Die in der Corona-Pandemie im März 2022 eingeführte einrichtungsbezogene Impfpflicht für Pflegepersonal war nach Auffassung des Osnabrücker Verwaltungsgerichts spätestens im November 2022 nicht mehr verfassungskonform. Demnach hatte der Landkreis Osnabrück einer Pflegehelferin zu Unrecht ein Betätigungsverbot erteilt, weil sie weder einen Impf- noch einen Genesenennachweis vorlegen konnte, wie das Gericht am 3. September mitteilte.

Dennoch haben die Richter das Verfahren nach einer Verhandlung am Dienstag ausgesetzt, um es dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Nur das oberste Gericht könne über die Verfassungskonformität der einrichtungsbezogenen Impfpflicht entscheiden, wie sie in Artikel 20a des Infektionsschutzgesetzes festgelegt sei. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar im April 2022 festgestellt, dass Artikel 20a mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und mit der Berufsfreiheit vereinbar sei. Allerdings hätten die in der Verhandlung erstmals vorliegenden Protokolle des Robert-Koch-Instituts (RKI) und die Vernehmung des RKI-Präsidenten Lars Schaade neue Erkenntnisse erbracht.

Beweise, dass Geimpfte das Virus weitergeben

Danach habe das RKI spätestens im November 2022 eindeutige Beweise gehabt, dass eine Impfung nicht davor schütze, andere Personen mit dem Corona-Virus anzustecken. Der Schutz vulnerabler Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal sei aber ausschlaggebend für die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gewesen. Diese im Infektionsschutzgesetz festgelegte Impfpflicht wäre damals somit nicht mehr verfassungskonform gewesen. Die Osnabrücker Richter seien zu dem Schluss gekommen, dass das RKI das Gesundheitsministerium deshalb über diese Beweise von sich aus hätte informieren müssen.

Geklagt hatte den Angaben zufolge eine Pflegehelferin, die 2022 im Christlichen Krankenhaus Quakenbrück beschäftigt war. Der Landkreis Osnabrück hatte sie auf der Grundlage des Paragrafen 20a Infektionsschutzgesetzes aufgefordert, einen Immunitätsnachweis vorzulegen. Als sie darauf nicht reagierte, untersagte der Landkreis ihr Anfang November 2022, als Pflegehilfe tätig zu sein. Mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist laut einer Sprecherin des Verwaltungsgerichts erst in einigen Monaten zu rechnen.

Az.: 3 A 224/22



Sozialgericht

Schwerbehinderte Frau hat Anspruch auf "Reha-Karre"



Aachen (epd). Das Sozialgericht Aachen hat einer schwerbehinderten Klägerin einen Fahrrad-Anhänger für behinderte erwachsene Menschen zugesprochen. Nach Angaben des Gerichts vom 28. August hatte die 36-jährige Frau gegen den Landschaftsverband Rheinland auf Bewilligung der „Reha-Karre“ geklagt, damit sie an Fahrradausflügen mit ihrer Familie, ihren Assistenten und Freunden teilnehmen kann. Die Klägerin habe spastische Tetraparese und Tetraplegie - Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen - sei dadurch gehbehindert und könne nicht selbst Fahrrad fahren.

Die Mutter der Klägerin hatte nach Angaben des Gerichts berichtet, dass Familie und Freunde Alltagswege und Ausflüge immer häufiger mit dem Fahrrad erledigten. Von diesen Unternehmungen sei ihre Tochter ohne „Reha-Karre“ vollständig ausgeschlossen. Der beklagte Landschaftsverband hielt den Angaben zufolge den Fahrrad-Anhänger für eine soziale Teilhabe nicht für zwingend erforderlich. Die Klägerin verfüge über einen Aktivrollstuhl mit Unterstützungsantrieb und ihre Eltern besäßen ein behindertengerecht umgebautes Fahrzeug.

Das sah das Gericht anders. Die Bewilligung der „Reha-Karre“ sei erforderlich, um eine durch die Behinderung der Klägerin bestehende Einschränkung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugleichen. Die Klägerin könne nicht auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, des behindertengerecht umgebauten Fahrzeugs oder ihres Aktivrollstuhls verwiesen werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Klägerin beinhalte, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Freizeit verbringen möchte.

Von den Fahrradfahrten mit ihrer Familie sowie mit ihren Assistenzkräften sei sie jedoch bislang aufgrund ihrer Behinderung ausgeschlossen. Ein Ausgleich dieser Benachteiligung könne nur durch die Bewilligung des speziellen Fahrrad-Anhängers erfolgen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Az.: S 19 SO 112/23



Sozialgericht

Krankenkasse muss Anzug zur Elektrostimulation nicht bezahlen



Augsburg (epd). Behinderte Menschen mit einer spastischen Lähmung können sich von ihrer gesetzlichen Krankenkasse nicht die Kosten für einen Ganzkörperanzug zur Elektrostimulation erstatten lassen. Der sogenannte Exopulse Mollii Suit, der betroffene Muskelgruppen mit Elektroimpulsen stimulieren will, stellt eine neue, noch nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannte, unkonventionelle Behandlungsmethode dar, entschied das Sozialgericht Augsburg in einem am 29. August veröffentlichten Urteil.

Die 50-jährige Klägerin ist an einer spastischen Tetraparese bei Multipler Sklerose erkrankt. Infolge ihrer Erkrankung ist ein selbstständiges Gehen nur mit einer Stütze möglich. Es bestehen als Folge der Spasmen Gleichgewichtsstörungen und die Blasenfunktion ist gestört. Ihr Arzt hatte ihr schließlich einen Exopulse Mollii Suit zum Preis von 8.945 Euro verordnet. Der alle zwei bis drei Tage für eine Stunde zu tragende Ganzkörperanzug soll fehlende Nervenreizsignale, die die Muskeleigenreflexe hemmen, durch elektrische Signale ersetzen.

Zahlung des Hilfsmittels verweigert

Die Klägerin, die sich den Anzug auf eigene Kosten angeschafft hatte, berichtet, dass das Gehen und die Kontrolle ihrer Blasenfunktion viel besser geworden sei. Die Kosten wollte sie sich von ihrer Krankenkasse erstatten lassen. Der Ganzkörperanzug sei ein orthopädisches Hilfsmittel, welches dem unmittelbaren Behinderungsausgleich diene. Das müsse die Krankenkasse sicherstellen, so ihre Begründung.

Die Krankenkasse lehnte die Kostenerstattung jedoch ab. Bei dem Ganzkörperanzug mit seinen 58 Elektroden zur Elektrostimulation handele es sich um eine unkonventionelle neue Behandlungsmethode, deren Nutzen der G-BA bewerten müsse. Das Gremium entscheidet darüber, welche Therapien von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden müssen.

Das Sozialgericht wies die Klage der Frau ab. Das Hilfsmittel stelle eine neue Behandlungsmethode dar. Es handele sich nicht um ein reines, dem bloßen Behinderungsausgleich dienendes Hilfsmittel. Erst wenn der G-BA den Nutzen und die Wirtschaftlichkeit positiv bewerte, sei eine Kostenerstattung möglich. Ein entsprechender Prüfantrag liege aber nicht vor. Auch die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft empfehle den Anzug wegen fehlender Studien bislang nicht.

Az.: 10 KR 381/23




sozial-Köpfe

Kirchen

Marion Timm wird Vorständin der Diakonie Niedersachsen




Marion Timm
epd-bild/Diakonie Niedersachsen/Thorsten Steinhaus
Marion Timm ist am 2. September vom Aufsichtsrat zur neuen Vorständin des Diakonischen Werkes evangelischer Kirchen in Niedersachsen gewählt worden. Die Juristin ist die Nachfolgerin von Jens Lehmann, der als Präsident des Kirchenamtes zur Landeskirche Hannovers gewechselt ist.

Hannover (epd). Mit der Wahl von Marion Timm (57) in das Leitungsgremium ist der Vorstand mit Hans-Joachim Lenke als Sprecher wieder komplett. Timm übernimmt am 1. Oktober die Arbeitsschwerpunkte Betriebswirtschaft und Recht. Die Diakonie ist der größte Wohlfahrtsverband in Niedersachsen.

Thomas Hofer, Aufsichtsratsvorsitzender der Diakonie in Niedersachsen, sagte, mit Marion Timm „gewinnen wir eine kompetente und versierte juristische Vorständin. Marion Timm hat den unternehmerischen Blick, den die Mitglieder in diesen Zeiten brauchen.“

Timm betonte, die Herausforderungen, vor denen die Sozialwirtschaft stehe, seien immens. „Die Bandbreite geht von einer auskömmlichen Refinanzierung der Dienste über Digitalisierung bis hin zu Arbeitgeberattraktivität und Fachkräftesicherung. Die Mitglieder bei diesen Veränderungsprozessen zu unterstützen und gemeinsam für bessere Rahmenbedingungen zu kämpfen, sehe ich als eine meiner Hauptaufgaben an“.

Marion Timm ist Volljuristin und arbeitete unter anderem als Rechtsanwältin sowie Beraterin in der A.S.I. Wirtschaftsberatung Aachen. Von 2012 bis 2019 leitete sie als hauptamtliche Vorständin das Diakonische Werk im Kirchenkreis Aachen und war dort auch für die konzeptionelle und strategische Weiterentwicklung der Organisation zuständig. Seit 2019 ist sie die Geschäftsführerin des Diakoniewerkes Simeon in Berlin-Neukölln.



Weitere Personalien



Friederike von Kirchbach, ehemalige Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages und einstige Berliner Pröpstin, ist in das Präsidium der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) berufen worden. „Wir freuen uns, dass Friederike von Kirchbach nunmehr dem Präsidium angehört, denn ihre Expertise als Theologin, Pfarrerin und Brückenbauerin ist für die Evangelischen Frauen ein unschätzbarer Gewinn“, sagte die Vorsitzende Angelika Weigt-Blätgen in Hannover. „An vielen Stellen in der Kirche sind Frauen noch immer nicht sichtbar. Das muss sich ändern“ forderte von Kirchbach. Die evangelische Pfarrerin im Ruhestand war von 2000 bis 2005 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages und von 2005 bis 2015 theologische Leiterin im Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz sowie Stellvertreterin des Bischofs. Seit 2013 war von Kirchbach Vorsitzende des RBB-Rundfunkrates. Im Zuge der Affäre um die einstige RBB-Intendantin Patricia Schlesinger wegen Vetternwirtschaft und Verschwendung trat von Kirchbach im August 2022 von ihrem Amt zurück.

Gesa von dem Bussche wird am 1. Oktober Geschäftsführerin des bpa-Arbeitgeberverbandes. Sie löst Sven Halldorn ab. Der promovierte Volkswirt hatte das Amt seit Mai 2016 inne und wechselt in das Bundesministerium für Digitales und Verkehr als Leiter der Grundsatzabteilung. Die Juristin Gesa von dem Bussche kommt vom Handelsverband Deutschland (HDE). Dort betreute sie in der Abteilung Arbeit, Bildung, Sozial- und Tarifpolitik die Themen Arbeits- und Sozialrecht sowie Arbeitsmarktpolitik. Davor war sie als Unternehmensjuristin im Sozial- und Pflegebereich tätig, bevor sie anschließend 2018 bis 2023 bereits als Justiziarin für den bpa Arbeitgeberverband arbeitete. Der bpa Arbeitgeberverband wurde 2015 von 200 Einrichtungen und Diensten der privaten Arbeitgeber in der Altenpflege, Behinderten-, Kinder- und Jugendhilfe gegründet. Ihm gehören über 6.000 Mitglieder an, die über 230.000 Mitarbeitende beschäftigen.

Florian Rupp ist seit dem 1. September Geschäftsführer bei Vitos Kurhessen. Der Diplom-Betriebswirt aus Lindenberg im Allgäu ist seit mehr als zehn Jahren in verschiedenen Kliniken in leitenden Positionen tätig. Bei Vitos arbeitet Rupp bereits seit dem 1. April 2024 als Geschäftsführer der Orthopädischen Klinik Kassel. Nun hat er zusätzlich die Geschäftsführung der Vitos Kurhessen übernommen. Rupp folgt auf Irmgard Raschka-Halberstadt, die Vitos nach 15 Jahren als Geschäftsführerin verlässt. „Frau Raschka-Halberstadt war ein großer Gewinn für Vitos“, sagte Reinhard Belling, Vorsitzender Konzerngeschäftsführer (CEO) von Vitos. Zum 1. September hat Vitos zudem zwei kaufmännische Leitungen eingerichtet und mit Saskia Kaune sowie Tom Müller besetzt. Kaune arbeitete zuletzt neun Jahre Verwaltungsdirektorin für die Agaplesion Diakonie Kliniken Kassel. Müller war bei Vitos Kurhessen bisher als Prokurist und Leiter Finanzmanagement tätig.

Norma Kusserow (36) hat am 1. September ihr Amt als Berliner Landesbeauftragte für psychische Gesundheit angetreten. Sie ist an die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege angebunden und leitet das Referat Psychiatrie, Sucht- und Gesundheitsversorgung. Kusserow arbeitet seit 2019 in der Senatsverwaltung und ist dort seit 2020 als Psychiatriereferentin tätig. Sie hat einen Masterabschluss im Studiengang „Soziale Arbeit“. Als Landesbeauftragte für psychische Gesundheit ist Norma Kusserow zuständig für Grundsatzfragen der Situation psychisch erkrankter Menschen in Berlin. In ihrer Verantwortung liegen außerdem die Rahmenplanung, Qualitätssicherung und Dokumentationen zum Versorgungsgeschehen in Berlin. Die Berliner Gesundheitssenatorin Ina Czyborra sagte, mit der Landesbeauftragten „haben die betroffenen Berlinerinnen und Berliner einen weiteren Ankerpunkt, wo sie Informationen und Unterstützung erhalten. Ich wünsche Frau Kusserow viel Erfolg bei ihrer Arbeit.“

Margot Refle (59), Christoph Penkhues (55) und Ilonka Boltze (54) sind neue Vorstände der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie in Bensheim. Refle und Penkhues übernahmen bereits Anfang August die Geschäftsbereiche des ausgeschiedenen Vorstandes Aslak Petersen. Refle verantwortet nun die Inlandsarbeit und das Odenwald-Institut, Christoph Penkhues die Vermögensverwaltung und das Finanzwesen. Den Bereich Entwicklungszusammenarbeit hat Anfang September das scheidende Vorstandsmitglied Daniel Heilmann an Ilonka Boltze übergeben. Damit besteht der Vorstand wieder aus drei Personen. „Wir danken Herrn Heilmann und Herrn Petersen, die beide auf eigenen Wunsch und in gutem Einvernehmen ausgeschieden sind, sehr für ihre geleistete Arbeit. Sie haben wichtige Themen und Projekte angestoßen und wichtige Restrukturierungen eingeleitet“, sagte Stiftungsratsvorsitzender Matthias Wilkes. Boltze verfügt über langjährige Erfahrung bei Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, unter anderem bei Brot für die Welt. Die Kulturwissenschaftlerin und Völkerrechtlerin kommt von der Genossenschaft Oikocredit. Penkhues ist Betriebswirt mit Auslandserfahrung. Er war 13 Jahre lang Geschäftsführer eines großen Unternehmens der Fertigungsbranche in Japan. Mit Margot Refle ist Diplom-Pädagogin und Stiftungsmanagerin und war zuletzt Leiterin des Refarates für für schulische Bildung beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland.

Evelyn Sensburg, Ina Schebek und Stefanie Büll bilden die neue Pflegedirektion des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM). Sie arbeiten am Standort Marburg. Sensburg und Schebek sind geschäftsführende Pflegedirektorinnen mit eigenen Schwerpunkten und Verantwortlichkeiten. Sensburg ist für Strategie und Entwicklung zuständig, Schebek für das Personalmanagement. Sefanie Büll agiert als stellvertretende geschäftsführende Pflegedirektorin und Leiterin des pflegerischen Projektbüros. Alle drei werden ihre Funktionen als Pflegedienstleitungen parallel beibehalten.

Stefan Verlohren (48) hat die Leitung der Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Pränatalmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) übernommen. Er folgt auf Professor Kurt Hecher, der in den Ruhestand verabschiedet wurde. Verlohren ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe mit Fokus auf spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin. Er war zuletzt in leitender Funktion in der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Charité in Berlin tätig. Nach dem Studium der Humanmedizin in Marburg, Lausanne und Berlin absolvierte er von 2004 bis 2011 seine Facharztausbildung am Universitätsklinikum Charité. 2005 promovierte er dort und ging anschließend als Post-Doktorand für zwei Jahre ans Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin. 2012 folgte die Habilitation. Seit 2014 war er als Oberarzt in der Klinik für Geburtsmedizin der Charité tätig und erhielt 2019 den Ruf auf die Professur für Geburtsmedizin.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Oktober



September

17.-19.9. Eisenach:

39. Bundesweite Streetworktagung: „Zeig Dich und sag was!“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/315 49 35

23.9.:

Online Seminar „Qualifizierung zur/zum QM-Beauftragten“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/7392880

17.9.-20.9. Freiburg:

Fortbildung: „Los!Lassen! Die Führungsaufgabe, Ausstieg, Übergabe und Neuausrichtung zu gestalten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbands

Tel.: 0761/200-1801

24.-27.9. Hösbach:

Seminar „Führungskraft schöpfen! Innehalten und Orientierung finden“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

26.9. Berlin:

Seminar „Steuer-Update für Non-Profit-Organisationen“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 030/72382-448

26.-27.9.:

Online-Seminar „Praxis stärken und bereichsübergreifend agieren - Handlungsoptionen, um Einsamkeit zu begegnen“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-314

Oktober

2.10.-9.12.:

Online-Seminar „Verantwortung und Entscheidungen - Gestaltung von gelingenden Entscheidungsprozessen und Verantwortungsgemeinschaft“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0152/08576959

7.10-10.10.:

Online-Seminar „Aktuelles zum Datenschutz in Einrichtungen des Gesundheitswesens“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0251/48261-194

10.-11.10.:

Forum „Fachliche und sozialpolitische Entwicklungen in der Schuldnerberatung“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-301

16.10. Berlin:

Fachtag „“Alles geben für Kinder und Jugendliche - aber wer?"

der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe

Tel.: 030/40040-200