sozial-Politik

Gesundheit

Wie ein Wackelkontakt im Gehirn




Alkoholfreier Laden in Berlin (Themenfoto)
epd-bild/Rolf Zöllner
Alkohol in der Schwangerschaft ist tabu. Daran erinnert der "Tag des alkoholgeschädigten Kindes" alljährlich am 9. September. Etwa ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland leidet an dem Fetalen Alkoholsyndrom.

Pforzheim, Erlangen (epd). Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren, heißt es. Aber Schwangere sollten konsequent Nein sagen zu jedem noch so freundlich angebotenen Prosecco, Bier oder Wein. Zum „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ am 9. September warnen Fachleute vor irreversiblen Folgen, wenn Schwangere Alkohol trinken. Die Fetale Alkohol-Spektrum-Störung (Fetal Alcohol Spectrum Disorders, FASD) gilt als die häufigste nicht genetisch bedingte Behinderung bei Neugeborenen in Deutschland.

„Wir müssen davon ausgehen, dass auch in diesem Jahr 12.000 Babys mit einem Alkoholschaden geboren werden. Das ist mehr als eines pro Stunde“, sagt die Vorsitzende der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF) in Hamburg, Heike Kramer, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Damit seien mehr Kinder von FASD betroffen als von Downsyndrom, einem offenen Rücken und spastischer Zerebralparese zusammen, betont die Ärztin aus Erlangen.

Gefahren durch kleinste Mengen Alkohol

Schon der kleinste Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft könne die Entwicklung insbesondere des Stirnhirns stören. Dort liegen die Nervenverbindungen für die Exekutivfunktionen wie Planung, Verständnis für Zeit, Geld, Raum, Motivation und Kontrolle. „Wenn ein Kind plötzlich den bisher bekannten Weg nicht mehr findet, glaubt das die Umwelt nicht“, beschreibt sie das Unverständnis, mit dem selbst Betreuer betroffenen Kindern begegnen. „Einmal klappt‘s, dann klappt’s wieder nicht. Das ist wie eine Art Wackelkontakt im Gehirn“, führt Kramer aus. Trotzdem seien Menschen mit FASD manchmal sprachlich sehr eloquent.

Ein großes Problem sei die Diagnose. Sie brauche psychologische Tests, die die Exekutivfunktionen abfragen, so Kramer: „Wenn ich auch dabei Auffälligkeiten feststelle, kann ich die Diagnose stellen. Dafür brauche ich aber spezialisierte sozialpädiatrische Zentren oder ärztliche Praxen. Das kann nicht jede Kinder- und Jugendarztpraxis einfach so machen. Wir haben nicht genug Zentren. Und die, die wir haben, haben lange Wartezeiten.“

Trotz zuweilen normaler Intelligenz fehle es den Betroffenen jedoch an Alltagskompetenz. „Sie wollen, können aber nicht“, sagt Kathleen Kunath vom FASD-Fachzentrum Sonnenhof in Berlin. Bei dem evangelischen Verein ist seit den 1990er Jahren die bundesweit erste Beratungsstelle für alkoholgeschädigte Kinder und Jugendliche angesiedelt. Es gibt eine Wohngruppe und betreutes Einzelwohnen.

Aggression, Depression oder kriminelles Verhalten

Die Frustration führe in vielen Fällen zu Aggression, Depression oder kriminellem Verhalten. „Manche brauchen noch mit 50 Begleitung“, erklärt Kunath. Denn ihr Gehirn arbeite wie ein Feuerwerk. Das Leiden der Kinder beschreibt sie mit dem Satz: „Ich kam auf die Welt und sie war mir zu viel.“

Die Leiterin der FASD-Beratungsstelle in Pforzheim, Susanne Sommer, kennt das. Sie hat ein Pflegekind mit FASD. 80 Prozent der diagnostizierten Kinder lebten in Pflege- oder Adoptivfamilien. Die Eltern wüssten jedoch meist nichts von der Schädigung. „Man merkt es oft erst, wenn man an Grenzen stößt“, so ihre Erfahrung.

Diagnose kann Jahre dauern

Oft gebe es Fehldiagnosen als Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS), sagt Medizinerin Kramer. Die Diagnostik sei aufwändig und könne Jahre dauern. Ist sie da, wirke die Diagnose wie eine Befreiung, sagt Sommer.

„FASD bedeutet, dass man ganz andere Ansätze verfolgen muss in der Erziehung“, so die Pflegemutter. Das Gehirn der Betroffenen dürfe nicht überfordert werden. Weil diese ausschließlich in der Gegenwart lebten, erfasse ihr Gehirn immer nur einen Gedanken. Bilder und Gesten könnten sie sich besser merken als Wörter.

Solange sich Schwangere rechtfertigten müssten, wenn sie keinen Alkohol trinken, lasse sich FASD nicht vermeiden, betont Kunath. Die Frauen zu stigmatisieren, sei falsch. Es sei wenig Wissen da, auch unter Ärzten, sind sich Kunath und Kramer einig.

Susanne Lohse