Frankfurt a.M. (epd). Falsche Diagnosen, sexistische Kommentare, sexuelle Übergriffe: Unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt klagen Patientinnen über erschreckende Erfahrungen in Arztpraxen. Jacqueline R. berichtet dort auf der Internetplattform X (früher Twitter), dass sie wegen Herzrasens immer wieder einen Kardiologen aufgesucht habe. Dieser habe die Symptome den Wechseljahren zugeordnet. Später hätten sich Schilddrüsenprobleme als wahre Ursache herausgestellt.
Eine weitere Frau namens Theresia schreibt: „Mir wurde jahrelang gesagt, dass meine Schmerzen normal für eine Frau sind oder ich mir das einbilde. Zu dem Zeitpunkt konnte ich nur noch mit Opiaten schlafen oder essen. Später wurde dann Endometriose diagnostiziert.“ Bei Endometriose handelt es sich um krankhafte Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut. Schätzungen zufolge leiden zwischen 10 und 15 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter daran.
Wieder eine andere Frau, Almut, berichtet auf X: „Meine Mutter hatte einen aufgeblähten Bauch wie eine Schwangere. Dazu starke Schmerzen. Der Arzt hat ihr gesagt, sie hat Gastritis. Eine weiterführende Untersuchung gab es nicht. In Wirklichkeit hatte sie Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium.“
Das sind nur einige der Erfahrungen, die Frauen unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt auf der Plattform X mitteilen. Die Aussagen der Frauen, die sich nicht mit ihrem Klarnamen outen, können nicht ohne weiteres auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden.
Die Nutzerin „Joanalistin“ hat im Januar 2022 die Debatte auf #FrauenbeimArzt mit einem Aufruf angestoßen: „Ich würde gerne sichtbar machen, welche sexualisierten oder erniedrigenden Erfahrungen Frauen bei ihren Arztbesuchen erlebt haben“, schrieb sie auf ihrem Account und forderte andere Frauen auf, ihre Erfahrungen unter dem Hashtag #FrauenbeimArzt zu teilen.
Den Anlass zu ihrem Aufruf gab ein Rechtsstreit zwischen einer Patientin und einem Arzt, wie sie dem Evangelischen Pressedienstes (epd) mitteilte: „Mich hat der Fall Antonia P. inspiriert. Sie wurde von ihrem Orthopäden mit den Händen vergewaltigt. Er wurde jedoch von einem Wiener Gericht freigesprochen, weil er mit einer alternativen Behandlungsmethode 'Vaginal Touché' argumentierte. Da dachte ich mir: Mal schauen, wie viele andere Frauen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Und dann ging mein Tweet viral.“
Viele Frauen seien dem Aufruf nachgekommen und hätten von sexuellen Übergriffen und sexistischen Kommentaren berichtet, aber auch von Fehldiagnosen und dem Gefühl, mit ihren Symptomen nicht ernst genommen zu werden. Als Feedback habe sie Tausende Kommentare und viele Privatnachrichten erhalten. Die Tweets werden laut „Joanalistin“ auch an Unikliniken diskutiert.
Einer britischen Studie aus dem Jahr 2015 zufolge warten Frauen bei sechs von elf Krebsarten länger auf eine Diagnose als Männer. Dies könne daran liegen, dass Frauen unterschiedliche Symptome bei derselben Krebsart aufweisen, aber lediglich die Symptomatik bei männlichen Patienten bekannt sei, heißt es in der wissenschaftlichen Studie. Experten sprechen vom sogenannten „Gender Health Gap“. Der Begriff beschreibt systematische geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheitsversorgung - zum Nachteil der Frauen: Sie erhalten oft schlechtere gesundheitliche Ergebnisse und weniger angemessene medizinische Versorgung als Männer.
Das Thema geschlechtersensible Medizin ist mittlerweile auch in der deutschen Bevölkerung angekommen. Acht von zehn Deutschen hätten gerne mehr Informationen, wie sich Krankheitssymptome bei Männern und Frauen unterscheiden. Ebenso hoch ist der Anteil derer, die sich von ihrem Arzt deutliche Hinweise wünschen, ob ihr Medikament bei ihnen genauso wirkt wie bei einer Person des anderen Geschlechts. Das sind die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahr 2022, die von der Betriebskrankenkasse Pronova BKK in Auftrag gegeben wurde.
Christiane Groß ist Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, der sich für die Belange von Ärztinnen und für eine geschlechtersensible Medizin einsetzt. Dass Frauen häufiger als Männer unter einer Ungleichbehandlung in der Medizin leiden, hat für sie einen klaren Grund: „Hauptsächlich hat das damit zu tun, dass Wissenschaft lange Zeit vorwiegend durch Männer vorangetrieben wurde“, erklärt sie. „Auch heute noch sind in vielen Bereichen der Wissenschaft mehr Männer als Frauen zu finden, wodurch oft auch der Blick der weiblichen Seite fehlt.“
„Es war üblich, zu denken, was beim Mann erforscht wurde, passt auch zur Frau. Hormonzyklen wie bei der Frau stören. Schwangerschaften sind Hindernisse“, sagt die Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und ärztliches Qualitätsmanagement. Erst seit den 1990er-Jahren finde ein Umdenken statt.
Groß bedauert, dass „sich zu wenige Menschen trauen, ihren Arzt oder ihre Ärztin zu fragen, ob die Dosierung der Medikamente auch für die jeweilige Person stimmt. Ich denke, je mehr es von den Patienten und Patientinnen eingefordert wird, umso schneller wird geschlechtersensible Medizin umgesetzt.“
Die Folgen einer männerzentrierten Medizin könnten für Frauen fatal sein. „Für Frauen besteht ein höheres Risiko, einen Herzinfarkt nicht ohne Schäden oder gar nicht zu überleben.“ Nach Groß‘ Meinung sollte bereits im Studium viel mehr Wert auf die Berücksichtigung der geschlechtersensiblen Medizin gelegt werden.
Das sieht auch Ute Seeland, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, so. Die Fachärztin für Innere Medizin und Lehrbeauftragte für geschlechtersensible Medizin an der Berliner Charité sagt: „Wir müssen das Fach Gendermedizin in der Forschung, in der Lehre und in der Klinik verankern.“ Erste Schritte seien hierfür bereits getan. Seeland trat diesen März die bundesweit erste Professur für Geschlechtersensible Medizin an der Uniklinik Magdeburg an.
Geschlechterspezifische Unterschiede seien zwar seit Jahren bekannt, würden aber erst seit kurzer Zeit mehr Aufmerksamkeit finden. „Dabei betreffen sie jedes medizinische Fach, von der Kinderheilkunde über die Orthopädie bis hin zur Altersmedizin.“ Auch bei Medikamentenstudien bräuchte es mehr Probandinnen, fordert Seeland. „Alle Frauen, die menstruieren, bekommen Medikamente, die in den meisten Fällen nie an einer menstruierenden Frau getestet worden sind.“