sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

Sozial- und Umweltverbände erhöhen den Druck auf die Bundesregierung, das im Koalitionsvertrag angekündigte Klimageld schneller als vorgesehen einzuführen. Der soziale Ausgleich für die Teuerung beim Heizen und Tanken durch steigende CO2-Preise müsse Priorität haben, hieß es. „Die ärmsten Haushalte haben den kleinsten CO2-Fußabdruck, aber die größten Belastungen. Das muss umgekehrt werden“, sagte Diakonievorständin Maria Loheide. Volkswirt Sebastian Dullien dämpft dagegen die Erwartungen an das Klimageld. „Ich halte die Hoffnungen auf ein entscheidendes Instrument des sozialen Ausgleichs für deutlich überzogen“, sagt er im Interview mit epd sozial.

Für Menschen, die auf der Straße leben, kann die aktuelle Eiseskälte tödlich sein. Jens Aldag von der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe: „Die Gefahr für Leib und Leben ist hoch.“ Zwar gibt es überall Anlaufstellen, doch die sind oft nur für die Nacht geöffnet. Es brauche dringend mehr Aufenthaltsmöglichkeiten für den ganzen Tag, fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Und sie wirbt für den flächendeckenden Einsatz von Kältebussen.

„Die Menschen erwarten zu Recht eine intakte, gesunde Lebensumgebung, soziale Sicherheit, bezahlbares Wohnen und eine funktionierende Infrastruktur. Aber auch Teilhabe, Betreuung und Pflege“, schreibt der Vorstandsvorsitzende des Kuratoriums Deutsche Alterhilfe (KDA), Helmut Kneppe in seinem Gastbeitrag für epd sozial. Doch das Pflegesystem sei längst bedrohlich in Schieflage. Gute Versorgung sei für viele Betroffene unbezahlbar geworden. Mangelnde Versorgung gefährde das Vertrauen in die Demokratie. „Es geht um den Kern unserer demokratischen Verfassung: die Würde des Menschen.“

Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderung müssen für ihren Anspruch auf Kindergeld keinen Schwerbehindertenausweis vorlegen. Das hat das Finanzgericht Hamburg entschieden. Es kam zu der Erkenntnis, dass dazu auch Gesundheitszeugnisse ausreichen, aus denen sich die Behinderung ableiten lässt.

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Ihr Dirk Baas




sozial-Politik

Bundesregierung

Sozial- und Umweltverbände fordern Tempo beim Klimageld




Das Klimageld soll die gestiegenen Kosten beim Strom und beim Heizen ausgleichen.
epd-bild/Anke Bingel
Sozial- und Umweltverbände dringen weiter auf die baldige Auszahlung eines Klimageldes. Die Ampel-Regierung drohe andernfalls ihr Versprechen zu brechen, preistreibende Klimaschutz-Maßnahmen wie die CO2-Abgabe sozial auszugleichen.

Berlin (epd). Sozial- und Umweltverbände und die Gewerkschaft ver.di fordern die Bundesregierung auf, unverzüglich ein Klimageld einzuführen. Die Regierung müsse Wort halten, verlangten sie in einem am 10. Januar in Berlin veröffentlichten Aufruf. Die Verteuerung fossiler Energie durch steigende CO2-Preise sei angesichts der Klimakrise notwendig, erklären die Verbände: „Gleichzeitig braucht es einen sozialen Ausgleich.“

Die Klima-Expertin der Grünen-Bundestagsfraktion, Lisa Badum, verwies auf die hohen Einnahmen aus der CO2-Abgabe im vorigen Jahr und sprach sich für eine baldige Auszahlung des Klimageldes aus. „Ein breites gesellschaftliches Bündnis wartet“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Geringverdiener am stärksten belastet

Die Sozial- und Umweltverbände machen sich für die Durchschnitts- und Geringverdiener stark. Die Preissteigerungen durch die Anhebung des CO2-Preises zum Jahresbeginn von 30 auf 45 Euro pro Tonne träfen mittlere und untere Einkommenshaushalte besonders stark, argumentieren Diakonie, AWO, die Volkssolidarität, der Sozialverband VdK, der Paritätische, Greenpeace und der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Heizen und Tanken würden teurer. 2025 stehe eine weitere Erhöhung der CO2-Abgabe und damit der Preise für fossile Energie um 22 Prozent ins Haus.

Deshalb müsse die Ampel-Koalition die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung in Form eines Pro-Kopf-Klimageldes an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben. Ein sozialer Ausgleich erhöhe die gesellschaftliche Akzeptanz für den Klimaschutz, erklären die Verbände. Zugleich belohne ein Klimageld diejenigen, die weniger CO2 verursachen. Eine soziale Staffelung würde die Verteilungswirkung noch verbessern, hieß es.

Bündnis pocht auf sozialen Ausgleich

„Das Klimageld ist ein entscheidender Schritt, um klimapolitische Maßnahmen mit sozialem Ausgleich zu verbinden“, erklärte Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. „Die ärmsten Haushalte haben den kleinsten CO2-Fußabdruck, aber die größten Belastungen durch die klimabezogenen Preissteigerungen. Das muss umgekehrt werden.“

Das Bündnis spricht sich darüber hinaus für eine Neuordnung der finanzpolitischen Rahmenbedingungen aus: Die Schuldenbremse sollte dahingehend reformiert werden, dass Investitionen in Klimaschutz, Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und Wohnen von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Ein zusätzliches Sondervermögen könnte die Anstrengungen zum Klimaschutz stärken, so die Partner. „Die Zeit des Diskutierens ist vorbei - jetzt ist die Zeit des Handelns: Das soziale Klimageld ist ein wesentlicher Baustein für Klimagerechtigkeit und muss jetzt kommen“, forderte Loheide.

Weitere Förderprogramme angemahnt

Verena Bentele, VdK-Präsidentin, sagte, eine erhöhte CO2-Abgabe ohne Klimageld heiße im Grunde nur: steigende Energiepreise. „Der Staat muss das Geld aus der CO2-Bepreisung wie ursprünglich geplant an Bürgerinnen und Bürger auszahlen.“

Schon jetzt hätten viele Menschen mit den steigenden Energiepreisen zu kämpfen, können sich kaum noch die Heizung, gesundes Essen und Mobilität leisten. „Das trifft vor allem jene, die wenig verdienen. Sie geben prozentual am meisten von ihrem Einkommen für Energie aus. Wir brauchen zusätzlich zum Klimageld dringend gezielte Förderprogramme, um Menschen mit geringen Einkommen bei der Einsparung von CO2 zu unterstützen. Die Regierung muss jetzt handeln“, sagte die Verbandschefin.

Regierung will erst 2025 zurückzahlen

SPD, Grüne und FDP hatten das Klimageld im Koalitionsvertrag 2021 vereinbart, wollen es nach derzeitigem Stand aber erst ab 2025 auszahlen. Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sollen nicht dem Staat zugutekommen, sondern klimafreundliches Verhalten belohnen sowie die Preissteigerungen durch die CO2-Abgabe abmildern. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat kürzlich errechnet, dass seit der Einführung des CO2-Preises 2021 bereits eine Einmalzahlung von 139 Euro pro Kopf fällig wäre.

Die Grünen-Klima-Expertin Badum verwies darauf, dass der Bund 2023 „Rekordeinnahmen beim CO2-Preis erzielt“ habe. Sie forderte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) auf, den Auszahlungsmechanismus für ein Klimageld schnellstmöglich fertig zu entwickeln. Die CO2-Preis-Einnahmen von 18 Milliarden Euro im vorigen Jahr müssten zum Anlass genommen werden, „das Klimageld in diesem Jahr zum Erfolg zu führen“, sagte Badum: „Die Auszahlung muss bis 2025 passieren.“

Bettina Markmeyer, Dirk Baas


Bundesregierung

Forscher Dullien: Erwartungen an Klimageld deutlich überzogen




Sebastian Dullien
epd-bild/Hans-Böckler-Stiftung/Peter Himsel
Der Volkswirt Sebastian Dullien dämpft die Erwartungen an das von der Bundesregierung versprochene Klimageld. "Ich halte die Hoffnungen auf ein entscheidendes Instrument des sozialen Ausgleichs für deutlich überzogen", sagt der Wissenschaftliche Direktor des Düsseldorfer Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung im Interview mit epd sozial.

Frankfurt a.M. (epd). Sebastian Dullien begründet seine Skepsis damit, dass die Unterschiede in der Belastung durch den steigenden CO2-Preis auch innerhalb einzelner Einkommensgruppen viel zu groß seien, um sie mit dem Klimageld ernsthaft abfedern zu können. Künftig werde der CO2-Preis deutlich steigen. Dann könne eine soziale Spaltung drohen, wenn die Regierung nicht entschieden gegensteuere. Aber, so der Professor: Dagegen helfe das Klimageld nur begrenzt, „weil es quasi im Gießkannenprinzip die Einnahmen an alle verteilt“. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die Bundesregierung will den Klimaschutz sozial gestalten, das dazu vorgesehene sogenannte Klimageld steht im Koalitionsvertrag. Dennoch ist nichts zu hören von einer schnellen Einführung. Warum tut sich die Ampel so schwer mit dieser symbolträchtigen Zahlung?

Sebastian Dullien: Die Ampel hat drei Schwierigkeiten: Erstens ist, vor allem nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, einfach nicht genug Geld vorhanden, um sowohl ein Klimageld auszuzahlen als auch die anderen geplanten Transformationsprojekte umzusetzen. Zweitens sind die Kanäle zur Auszahlung eines Klimageldes noch nicht bereit. Die Verwaltungswege sind noch nicht eingerichtet. Und drittens ist die Sorge, dass ein Klimageld so gering ausfallen würde, dass es von vielen Menschen nicht als ernsthafte Entlastung wahrgenommen wird, sondern dass sie sich sogar durch die geringe Zahlung nicht ernst genommen fühlen.

epd: Noch weiß niemand, wie hoch diese mögliche Pro-Kopf-Pauschale sein wird. Und doch setzen viele Experten und auch Sozialverbände auf dieses Instrument große Hoffnung. Ist das berechtigt?

Dullien: Ich halte die Hoffnungen auf ein Pro-Kopf-Klimageld als entscheidendes Instrument des sozialen Ausgleichs für deutlich überzogen. Die Unterschiede in der Belastung durch den CO2-Preis sind auch innerhalb einzelner Einkommensgruppen viel zu groß, um sie mit dem Klimageld ernsthaft abfedern zu können. So dürfte ein Pro-Kopf-Klimageld für jene, die im ländlichen Raum in schlecht gedämmten Altbauten wohnen und mit dem Auto längere Strecken zur Arbeit fahren, die Belastungen nie ausgleichen können. Dagegen würde es für einen Menschen, der in einer Großstadt in einer modernen Wohnung wohnt und mit der S-Bahn zur Arbeit fährt, Einnahmen bedeutet, die seine Belastung übersteigen.

epd: Wer die Bürgerinnen und Bürger bei dem Weg zur Dekarbonisierung nicht merklich entlastet, wird sie verlieren. Wie groß ist die Gefahr einer sozialen Spaltung, wenn das Klimageld zu niedrig ausfällt?

Dullien: Bisher und in den kommenden beiden Jahren ist die Belastung durch steigende CO2-Preise sehr begrenzt. Von einer sozialen Spaltung durch die CO2-Preise kann man da noch nicht reden. Anders sieht es jedoch aus, wenn ab 2027 die CO2-Preise deutlich steigen dürften. Denn dann ersetzt nach den EU-Regeln ein Marktmechanismus die bislang von der Bundesregierung relativ moderat gesetzte Preisgestaltung. Gegen eine dann drohende soziale Spaltung würde allerdings das Klimageld nur begrenzt helfen, weil es quasi im Gießkannenprinzip die Einnahmen an alle verteilt, während die Belastung sehr ungleich zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen verteilt ist.

epd: Soziale Unwucht wird das Klimageld immer haben, denn es wird ja jeder, also auch gut betuchte Bürgerinnen und Bürger bekommen. Gibt es eine Alternative?

Dullien: Im Prinzip könnte man auch das Klimageld nur bis zu einer gewissen Einkommensgrenze zahlen. Das Problem ist allerdings, dass, wenn man diese Grenze recht hoch ansetzt, man nicht viel Geld spart, und wenn man sie zu niedrig ansetzt, viele Menschen, die finanziell stark belastet sind, die Entlastung nicht mehr bekommen würden. Das ist besonders problematisch, weil unsere Forschungen zeigen, dass besonders in der Mitte der Einkommensverteilung viele Haushalte mit hoher Belastung durch den CO2-Preis existieren.

epd: Was empfehlen Sie?

Dullien: Eine gute Alternative, wie man die Belastungen durch hohe CO2-Preise sozialverträglich und einfach ausgleicht, gibt es nicht. Ein wichtiges Element dürfte aber sein, Menschen zu unterstützen, auf CO2-neutrale Technologien umzusteigen, etwa durch Förderung von Heizungstausch oder den Ausbau des ÖPNV.

epd: Um wie viel Geld geht es überhaupt, wenn der CO2-Preis nun bei 45 Euro je Tonne festgelegt ist? Und wie hoch würde das Klimageld dann bei völliger Rückzahlung der Zusatzeinnahmen pro Kopf liegen?

Dullien: Bei 45 Euro pro Tonne CO2 dürften die Gesamteinnahmen für den Verkehrs- und Haushaltsbereich, also die Einnahmen aus dem Brennstoffemissionshandelsgesetz, bei etwas mehr als zwölf Milliarden Euro pro Jahr liegen. Das wären umgerechnet etwa 145 Euro pro Kopf und Jahr. Allerdings sind ja die Einnahmen aus den ersten 30 Euro CO2-Abgabe schon lange verplant und auch in den Vorjahren anderweitig ausgegeben worden. Würden wir nur über die zusätzlichen CO2-Einnahmen reden, also jene aus dem Anstieg von 30 € pro Tonne auf 45 Euro, so geht es um etwa vier Milliarden Euro oder etwas weniger als 50 Euro pro Kopf und Jahr.

epd: Sie betonen immer wieder, dass das Klimageld allein nicht ausreicht, um den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu stemmen. Wo müsste der Staat ganz unabhängig von der Schuldenbremse also noch Geld in die Hand nehmen?

Dullien: Der Staat müsste zum einen Programme auflegen, die schnell und massiv die Dämmung von Häusern und den Heizungstausch fördern. Idealerweise würde das über langfristige und günstige Kredite ablaufen, damit nicht reiche Hauseigentümerinnen und -eigentümer die Subventionen abgreifen. Dabei müssten auch schnell die Fern- und Nahwärmenetze ausgebaut werden. Außerdem sollte der ÖPNV ausgebaut werden, um mehr Menschen den Umstieg vom Auto zu erleichtern. Diese Programme sind schwierig im aktuellen Rahmen des Bundeshaushaltes zu finanzieren. Deshalb ist es auch so wichtig, jetzt eine Reform der Schuldenbremse voranzubringen, um die notwendigen finanzpolitischen Spielräume zu schaffen.

epd: Sie haben es schon gesagt: Ab 2027 wird der CO2-Preis um ein Vielfaches steigen, die Zusatzkosten vor allem im Bereich Verkehr und Heizen werden deutlich höher sein als heute. Wird dann das Modell Klimageld, dem ja die Zielgenauigkeit fehlt, immer noch das Mittel der Wahl beim sozialen Ausgleich sein?

Dullien: Ich halte den Fokus auf das Klimageld als zentrales Element einer CO2-Bepreisung für falsch, weil auch mit dem Klimageld per saldo zu viele Verliererinnen und Verlierer entstehen. Es kann ein Baustein der Klimawende sein, aber nicht mehr. Meine Sorge ist, dass die ganze Klimawende politisch scheitern könnte, wenn man tatsächlich in erster Linie auf ein Klimageld zum sozialen Ausgleich setzt und die Probleme mit diesem Instrument außer acht lässt.



Migration

Die Powerfrau aus Somalia




Halima Gutale
epd-bild/Tim Wegner
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl hat eine neue Vorsitzende, die Flucht aus eigenem Erleben kennt: Halima Gutale kam als unbegleitete Minderjährige aus Somalia nach Deutschland. Die energiegeladene Frau hat inzwischen viel erreicht.

Pfungstadt (epd). Halima Gutale war 15 Jahre alt, als sie von Somalia nach Deutschland ins südhessische Pfungstadt kam. „Ich war wohlbehütet bis dahin und hatte von der Welt keine Ahnung“, erzählt sie. „In der Flüchtlingsunterkunft musste ich von heute auf morgen erwachsen werden.“ Ein Onkel der Familie war Minister in dem Bürgerkriegsland gewesen. Als die UN-Truppen 1995 Somalia verließen, schickten die Eltern ihre einzige Tochter außer Landes. „Sie meinten, ein Mädchen mit einem eigenen Kopf und einer eigenen Meinung sollte besser gehen.“

Zu Gutales Glück fiel der eigene Kopf auch einer Sozialarbeiterin der evangelischen Flüchtlingshilfe in Pfungstadt auf. „Sie hat mich quasi wie ein Familienmitglied aufgenommen“, erzählt Gutale. Für die Schulaufgaben habe die Betreuerin ihr einen neuen Schreibtisch, Stuhl und Bücher besorgt. Das Eingewöhnen war anfangs nicht einfach. Am Silvesterabend habe sie in einem Obstladen eingekauft, als die ersten Böller krachten, erzählt Gutale. „Ich habe mich sofort auf den Boden geworfen.“ Der Obsthändler habe ihr erklärt: „Keine Angst, hier wird gefeiert.“

Zielstrebig auf dem Berufsweg unterwegs

Halima Gutale ging zielstrebig ihren Weg: Hauptschulabschluss, Mittlere Reife, Abitur, Mutter von vier Kindern, seit 2014 hauptamtliche Flüchtlings- und Integrationsbeauftragte von Pfungstadt als eine der ersten in Hessen. Dazu gründete sie den Verein „Halima aktiv für Afrika“, engagiert sich in der SPD, wurde zur Botschafterin für Demokratie und Toleranz in Deutschland 2023 ernannt und im Dezember zur Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl gewählt. „Die Erfahrung, zunächst schutzlos und unwissend zu sein, hat mich geprägt“, sagt Gutale. „Ich will Ungerechtigkeit bekämpfen und helfen, dass sie anderen nicht widerfährt.“

Ungleiche Behandlung hat Gutale bald erfahren. In der zehnten Klasse sei sie mit ihrer Freundin aus Bosnien zur Berufsberatung geschickt worden, erzählt sie. Die Beraterin habe ihre Freundin eine Stunde lang beraten und sie überhaupt nicht: „Du hast in Deutschland nur eine Duldung“, habe die Beraterin sie abgewiesen. Auch an der Schule sei sie nach der mittleren Reife wegen der befristeten Duldung nicht direkt zur gymnasialen Oberstufe zugelassen worden, obwohl ihr das als einer der drei Klassenbesten zugestanden hätte. „Da war mein Ehrgeiz geweckt“, sagt Gutale. „Man kann mich rechtlich begrenzen, meinen Geist kann man aber nicht begrenzen.“

„Ich möchte etwas verändern“

„Ich möchte nicht was werden, ich möchte was verändern“, erklärt Gutale. In einer Einwanderungsgesellschaft gebe es Reibung, ist ihr klar. „Ich will nicht toleriert werden. Ich habe einen deutschen Pass, ich teile die gleichen Werte, ich gehöre dazu“, betont sie. Ihr Ziel: „Wenn wir unsere Unterschiede als Stärken erkennen und annehmen, können wir als Gesellschaft zusammenwachsen.“

Als Pfungstädter Beauftragte hat Gutale einiges bewirkt. Als es in der Flüchtlingsunterkunft Streit zwischen Angehörigen verschiedener Nationen gab, habe sie vor Ort alle zusammengerufen und angeordnet, dass jede Nation Vertreter wählen müsse. Diese bildeten einen Sprecherrat, der Entscheidungen gemeinsam traf und Probleme intern löste. „Dann kehrte Ruhe ein.“ Ferner stellte Gutale fest, dass Institutionen immer den Vater einer Familie als rechtliches Oberhaupt behandelten, der aber manchmal das Geld alleine ausgab. So sorgte die Integrationsbeauftragte dafür, dass in Pfungstadt ein Familienkonto bei der Bank auf den Namen der Mutter eröffnet wird und dass Mietverträge von der Mutter unterschrieben werden.

Kritik an Empathielosigkeit gegenüber dem Leid

Als Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl will Gutale an die Politik appellieren, die Menschenrechte nicht nur im Mund zu führen, sondern die Verschärfung des Asylrechts zu stoppen. Kommunen brauchten mehr Unterstützung bei der Versorgung von Flüchtlingen, sagt die Beauftragte. Aber man dürfe nicht die Flüchtlinge verantwortlich machen für die Versäumnisse der Politik, nicht ausreichend Wohnraum, Kita-Plätze, Schulen oder Krankenversorgung geschaffen zu haben.

„Ich nehme Empathielosigkeit gegenüber dem Leid weltweit wahr“, ist Gutale besorgt. „Es bedarf einer Rückbesinnung auf eine solidarische Gesellschaft. Ein Mensch ist nicht weniger wert als der andere.“ Ihr größtes Glück bestünde darin: „Dass wir auf Menschlichkeit achten und die Menschenwürde verteidigen.“

Jens Bayer-Gimm


Migration

Als Syrer erfolgreich in Deutschland




Augenarzt Safwan Nassaj in seiner Praxis
epd-bild/Martin Höcker
Tausende Ärzte aus Syrien arbeiten inzwischen in Deutschland. Safwan Nassaj ist einer von ihnen. Der Augenarzt hat sich bei Frankfurt am Main eine Existenz aufgebaut und fühlt sich glücklich.

Mörfelden-Walldorf (epd). Safwan Nassaj lächelt gern. Der Arzt aus Syrien wanderte 2010 nach Deutschland aus und hat hier seine neue Heimat gefunden. „Das Wetter ist nicht so toll“, räumt er ein, aber er schätze die offene demokratische Kultur. Es gebe hier nicht den Druck durch die Regierung oder eine Religion auf den Einzelnen. „In Deutschland kann man sein Leben so führen, wie man möchte“, lobt Nassaj. Der 41-Jährige praktiziert inzwischen als Augenarzt in Mörfelden und Frankfurt am Main und hat eine Deutsche geheiratet. Aber der Weg dorthin war nicht einfach.

„Das Einleben fiel mir nicht leicht“

Bald nach seiner Ankunft in Deutschland 2010 konnte Nassaj in Lübeck als „Gastarzt“ arbeiten, erhielt aber kein Gehalt. Denn die Anerkennung seiner syrischen Arztzulassung durch die deutschen Behörden zog sich zweieinhalb Jahre hin. Zunächst musste er vom Geld der Eltern leben, später erhielt er ein Stipendium. Im Herbst 2012 schließlich erhielt er seine Approbation und konnte als Assistenzarzt im hessischen Dillenburg die Arbeit aufnehmen. Seit 2018 praktiziert er als Facharzt für Augenheilkunde.

„Das Einleben fiel mir nicht leicht, weil ich in den ersten zwei Jahren kaum Unterstützung erhalten habe“, sagt Nassaj. Die langwierige Prozedur der Anerkennung ausländischer Papiere sei auch heute noch eine große Hürde für Mediziner aus dem Ausland. Die Wartezeit bis zur Anerkennung der Approbation könne drei Jahre dauern. Die Praxis in den Bundesländern sei sehr unterschiedlich, und die Behördenmitarbeiter hätten nicht den gleichen Wissensstand, bemängelt der Arzt. Nachgeforderte Dokumente seien aus Ländern wie Syrien schwierig zu erhalten.

Zu dem Zwang, sich während der Wartezeit finanziell über Wasser halten zu müssen, komme eine weitere Hürde. Zur Beantragung eines Visums fordern die Behörden von einer syrischen Fachkraft, rund 12.500 Euro auf ein Sperrkonto in Deutschland zur Finanzierung der Lebenshaltungskosten für ein Jahr einzahlen, wie der Arzt erklärt. Ein Mediziner verdiene in Syrien aber umgerechnet nur 20 bis 30 Euro im Monat. Der von Deutschland geforderte Vorschuss lasse sich nur durch den Verkauf von Immobilien oder Autos aufbringen. Dazu komme das Problem, dass ein Syrer wegen der Wirtschaftssanktionen gegen das Regime kein Konto in Deutschland eröffnen könne. Das Geld müsse über Umwege durch Organisationen oder Privatleute nach Deutschland überwiesen werden.

Fan von Bayern München

Nassaj ist Mitglied des im vergangenen Jahr gegründeten Berufsverbands „Syrische Ärzte und Apotheker in Deutschland“. Dieser versuche, die Bedingungen der Anerkennung zu verbessern. 5.639 syrische Ärztinnen und Ärzte habe es Ende vergangenen Jahres in Deutschland gegeben, sagt das Vorstandsmitglied Samer Matar mit Berufung auf die Bundesärztekammer. Damit stamme die größte ausländische Ärzteschaft in Deutschland inzwischen aus Syrien. Nassaj hat sich ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien bewusst für die Zukunft in Deutschland entschieden.

„Ich hatte schon als Jugendlicher eine positive Vorstellung von Deutschland“, erzählt er. Er habe die Bundesliga verfolgt und sei Fan von Bayern München gewesen. Als Medizinstudent habe er die technischen und pharmazeutischen Produkte aus Deutschland für die besten gehalten, außerdem sei die Entwicklung der Medizin auf höchstem Niveau.

Nassaj, der die ersten 15 Lebensjahre mit seiner Familie in Saudi-Arabien verbracht hat, hat eine evangelische Deutsche geheiratet. Die verschiedenen religiösen Traditionen stören ihn überhaupt nicht: „Die Familie meiner Frau hat mich mit offenen Armen aufgenommen.“ Er schätze in Deutschland die persönliche Freiheit und sei schon vor Jahren zum Agnostiker geworden. Sein Bruder ist ihm 2014 gefolgt, er arbeitet als Facharzt für innere Medizin in Dortmund und ist auch mit einer Deutschen verheiratet.

Die interkulturellen Erfahrungen und Mehrsprachigkeit lehrten Toleranz und Geduld, betont Nassaj: „Es macht einen offener gegenüber fremden Kulturen.“ Englisch gebrauche er bei der Arbeit regelmäßig, Arabisch mindestens einmal die Woche. Das schaffe einen einfacheren Zugang zu den Patienten und gebe ihm das Gefühl: „Ich habe für Landsleute etwas Gutes getan.“

Jens-Bayer-Gimm


Migration

Zahl der Asylanträge 2023 deutlich gestiegen



Die Zahl der Asylanträge hat 2023 die Marke von 300.000 überstiegen. Die Union wirft der Regierung vor, die vermeintliche "Migrationskrise" nicht im Griff zu haben. Die Statistik zeigt aber auch: Mehr als die Hälfte der Anträge ist berechtigt.

Berlin (epd). Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist 2023 stark gestiegen. Wie aus der am 8. Januar vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge veröffentlichten Jahresstatistik hervorgeht, wurden im vergangenen Jahr rund 329.000 Erstanträge auf Schutz in Deutschland gestellt, etwa 111.000 mehr als im Jahr davor. Die Zahl der Folgeanträge ging den Angaben zufolge im vergangenen Jahr zurück. Rechnet man sie hinzu, ergibt sich insgesamt eine Antragszahl von knapp 352.000 für das Jahr 2023 - ein Anstieg um 44 Prozent.

Jeder zweite Antrag positiv beschieden

Hauptherkunftsländer waren den Angaben zufolge Syrien, Afghanistan und die Türkei. Die Gesamtschutzquote, also der Anteil positiv beschiedener Anträge, lag laut Bundesamt bei knapp 52 Prozent. Bei mehr als der Hälfte der Antragsteller wurde also ein Recht auf Schutz anerkannt.

Die Quoten fallen für die Länder sehr unterschiedlich aus. Während 88 Prozent der Anträge von Menschen aus Syrien und mehr als jeder vierte Antrag von Afghaninnen und Afghanen anerkannt wurden, gilt das für Menschen aus der Türkei nur in 13 Prozent der Fälle. Fast jeder zweite Asylerstantrag (47 Prozent) wurde von Menschen aus Syrien und Afghanistan eingereicht. Sieben Prozent der Asylerstanträge wurden für bereits in Deutschland geborene Kinder im Alter von unter einem Jahr gestellt.

Mehr als 12 Prozent der Asylanträge betrafen sogenannte Dublin-Verfahren, in denen also ein anderer EU-Staat für das Verfahren zuständig ist. Die formelle Entscheidung in diesen Fällen sagt nichts über die Schutzwürdigkeit der Betroffenen aus, weshalb die Gesamtschutzquote höher liegen dürfte, betrachtete man nur die inhaltlichen Entscheidungen.

Kritik an erleichterter Einbürgerung

Nicht in der Statistik enthalten ist die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine, die automatisch Schutz erhalten und dafür kein Asylverfahren durchlaufen müssen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs haben mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, in Deutschland Schutz gesucht.

Die Kommunen seien völlig überlastet, erklärte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz (CSU). Sie warf der Bundesregierung vor, die „Migrationskrise“ nicht in den Griff zu bekommen. Lindholz kritisierte, dass die geplanten Verschärfungen bei Abschiebungen frühestens im Februar in Kraft treten würden, die Ampel-Koalition an der erleichterten Einbürgerung festhalte und einem „Multi-Kulti-Ideal“ folge.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte zu den Zahlen, der Bundestag werde das Paket für mehr und schnellere Rückführungen „in Kürze“ beschließen. Zudem verwies sie auf die kurz vor Weihnachten erfolgte Einigung in der europäischen Asylpolitik. Damit werde die Verantwortung für Geflüchtete fairer verteilt, sagte sie. Zudem würden Asylverfahren für Menschen mit geringer Aussicht auf Schutz künftig schon an den EU-Außengrenzen geführt.

Corinna Buschow


Bundesländer

Bezahlkarte für Flüchtlinge in Vorbereitung



Potsdam (epd). Brandenburg und Sachsen-Anhalt bereiten die Einführung einer bargeldlosen Bezahlkarte für Asylsuchende vor. Für ein Vergabeverfahren zur Auswahl eines Dienstleisters sowie die Ausgabe und das Aufladen der guthabenbasierten Karte seien im Entwurf für den Nachtragshaushalt 2024 rund 1,9 Millionen Euro vorgesehen, teilte die Staatskanzlei Brandenburg im Anschluss an den Kabinettsbeschluss am 9. Januar in Potsdam mit. Sachsen-Anhalt tut das auch. Das Land will sich an einem länderübergreifenden Vergabeverfahren beteiligen.

Auf die Einführung der Bezahlkarte, die Geldzahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zum Teil ersetzen soll, hatten sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder im November verständigt. Aus Brandenburgs Landesregierung war im Anschluss Interesse daran geäußert worden, als Modell-Bundesland für die Einführung der Karte zur Verfügung zu stehen.

Kritik von der Flüchtlingsbeauftragten

Unter anderem Brandenburgs Integrationsbeauftragte Doris Lemmermeier hatte sich kritisch zu den Plänen geäußert und sie als diskriminierend bezeichnet. Asylsuchenden werde damit unterstellt, dass sie nicht mit Geld umgehen könnten oder es für falsche Zwecke ausgäben, kritisierte sie.

Das Kabinett beschloss am Dienstag den Angaben zufolge einen Nachtragshaushalt mit einem Umfang von gut 16,7 Milliarden Euro für 2024, knapp 371 Millionen Euro mehr als zunächst vorgesehen. Der Entwurf des Nachtragshaushalts werde nun dem Landtag zugeleitet, hieß es. Die erste Lesung im Parlament sei noch im Januar vorgesehen. Mit der abschließenden Beratung und Beschlussfassung werde im Februar gerechnet.



Senioren

Ruhestandsplanung: "Lebensphase Freiheit"




Rentnerpaar am Gardasee
epd-bild/Jens Schulze
Die Babyboomer verabschieden sich in den kommenden Jahren aus der Arbeitswelt und vor ihnen liegt noch eine ganze Lebensphase. Eine Coachin rät zur guten Vorbereitung des baldigen Ruhestandes - und ermutigt zu Experimenten.

Gießen (epd). In zwei Jahren gehe er in Rente, erzählt der Diplom-Pädagoge Matthias, und er erlebe gerade eine intensive Zeit des Übergangs: „Ich merke, was ich an meiner Arbeit habe, dass ich viele Sachen gut kann. Das versuche ich an meine Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben.“ Er freue sich auf den Ruhestand, aber: „Die vielen tollen Menschen aus meiner Arbeitswelt werden mir fehlen.“

In den nächsten Jahren verabschieden sich die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer aus dem Beruf. Vor ihnen liegen dann noch rund 20 Jahre Lebenszeit. 20 Jahre, so lange beträgt derzeit die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in Deutschland. „Das können noch mal 20 gute Jahre sein, in denen man mit Entdeckerfreude auf Expedition geht“, sagt die Bildungsreferentin des evangelischen Dekanats Wetterau, Britta Laubvogel.

Seminar für den Weg in den Rente konzipiert

Laubvogel, die selbst Rentnerin ist, hat ein Seminar für den Weg in den Ruhestand konzipiert: „Ruhestand - Ein unbekanntes Land!?“. Seit ein paar Jahren bieten sie und Kollegen es online und in Präsenz an. Das Interesse sei enorm. Zum Kursbeginn zeigen Laubvogel und ihr Kollege Jürgen Schweitzer Bilder von Brücken, die den Übergang symbolisieren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen darüber nachdenken, wo sie gerade stehen: auf einer Hängebrücke? Auf einer Autobahnbrücke?

Ein Seminarteilnehmer erzählt, dass er noch „mit Vollgas im Beruf unterwegs“ sei. Ein anderer befindet sich in Altersteilzeit, hat mittwochs frei und „übt“ schon mal den Ruhestand, mit Ausschlafen und langem Frühstück. Ehrenamtlich zeichnet er Wanderwege aus. Ein anderer, seit kurzem in Rente, singt wieder im Chor; in der Zimmerecke wartet die Posaune auf Betätigung. Ein weiterer lässt sich seit einem Jahr von einer Coachin begleiten. Er plant, später selbst als Coach zu arbeiten, für ihn sei „mit 66 noch lange nicht Schluss“.

Arbeit strukturiert den Tag

Die Arbeit macht für viele Menschen einen wichtigen Teil im Leben aus, sie bringt Wertschätzung, strukturiert den Tag und ist Teil der Identität. Das Ende der Berufstätigkeit bedeutet einen tiefen Einschnitt. Laubvogel und Schweitzer stellen im Seminar Phasen des Ruhestands vor: Zuerst erleben viele Neu-Rentner einen „Honeymoon“, also ein Gefühl von Flitterwochen. Darauf könne Ernüchterung folgen. Nach einer Neuorientierung - was will ich eigentlich? - stelle sich ein seelisches Gleichgewicht wieder ein, die neue Rolle werde akzeptiert.

„Eine gute Vorbereitung puffert viel ab“, sagt die Ruhestandscoachin Gudrun Behm-Steidel. Zwei Dinge hält sie in der neuen Lebensphase für essenziell: Zum einen sei das ein soziales Netz aus Familie und Freunden, das man sich auf einem Blatt Papier ruhig einmal aufmalen könne.

„Lebensphase Freiheit“

Zweitens sei das richtige „Alters-Mindset“ wichtig. Damit meint sie eine „positiv-realistische Haltung“. Sie spricht von der „Lebensphase Freiheit“: „Wann habe ich noch einmal so viel Freiheit, etwas zu verändern? Das ist ein Geschenk.“ Gleichzeitig sei klar: „Das Leben ist endlich. Das gibt dem Ganzen eine andere Tiefe.“ Eine Gefahr sieht sie darin, in Aktionismus zu verfallen. „Ich muss Leere und Langeweile auch aushalten, denn dann merke ich erst, was mir fehlt.“

Die Publizistin Nicole Andries hat für ihr Buch „Wir wollen es noch mal wissen!“ Frauen porträtiert, die im Rentenalter neue Rollen ausprobieren. Sie sind Existenzgründerin, Tangolehrerin, Model, Künstlerin, Reiseveranstalterin oder Freiwillige in einem Hilfsprojekt in Japan. Auch Coachin Behm-Steidel ermutigt zu Experimenten: eine neue Sportart anfangen. Klavier lernen. Überlegen, welches Studienfach man früher gerne gewählt hätte. Gedankenspiele: Brauche ich wirklich so ein großes Haus? Will ich im Ausland leben? Man könne Sachen „mal klein ausprobieren, Schritt für Schritt, ohne Angst zu scheitern“.

Weiterarbeit kann fit halten

Im Ruhestands-Seminar sollen die Teilnehmenden über ihre Ressourcen nachdenken. Sie nennen ganz unterschiedliche Dinge: Sport, Freunde, Liebe zur Natur, Geld. Der Ökonom Sven Voelpel rät, rechtzeitig auch die finanzielle Seite des Ruhestands im Blick zu behalten. Aktuell beträgt die monatliche Standardrente etwa 1.500 Euro. Eine Faustregel besage, dass man 80 Prozent des früheren Nettoeinkommens brauche, wenn man im Alter den gewohnten Lebensstandard halten wolle. Die staatliche Rentenversicherung bietet Beratung bei Fragen zur Rente an.

Der Wissenschaftler plädiert auch dafür, wenn möglich über das offizielle Rentenalter hinaus zu arbeiten. Das halte fit, und es müssten ja keine erschöpfenden 30 oder 40 Wochenstunden sein, schreibt er in seinem Buch „Entscheide selbst, wie alt du bist“. Erfahrene Handwerker könnten Ausbildungsprojekte leiten, ehemalige Buchhalterinnen Existenzgründerinnen unter die Arme greifen.

Pädagoge Matthias will den Ruhestand nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ angehen: Mal als Statist im Theater arbeiten, im Drogeriemarkt Regale auffüllen, im Naturschutz helfen. Er ist sich sicher, die freien Tage sinnvoll füllen zu können. Seine neueste Errungenschaft sei es, aus kleinen Dingen Kraft zu schöpfen, zum Beispiel: das sonnenbeschienene Moos am Wegrand entdecken und davon ein Foto machen. „Ich finde immer wieder so was“, sagt er.

Stefanie Walter


Europawahl

Deutscher Verein: Europa sozial machen



Berlin (epd). Im Vorfeld der vom 6. bis 9. Juni 2024 stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament hat der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge eine neue Publikation vorgelegt. Unter dem Titel „Europa sozial machen“ würden darin konkrete Handlungsempfehlungen formuliert, „die das soziale Profil der Europäischen Union verfestigen und ausbauen können“, so eine Mitteilung vom 9. Januar. Dabei werde Handlungsbedarf nicht nur im Bereich der Sozialpolitik, sondern insbesondere auch in der Klimapolitik und Strukturförderung gesehen, hieß es.

„Wir haben in den vergangenen fünf Jahren konkrete Fortschritte bei der Stärkung sozialer Grundsätze auf europäischer Ebene gesehen“, betonte Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Deutschen Vereins. Die Verabschiedung der EU-Mindestrichtlinie sei hier als besonderer Meilenstein zu nennen. Aber auch im Bereich der Gleichstellung, Betreuung und Pflegearbeit seien viele wichtige Initiativen gestartet worden.

Ökologische Transformation anschieben

Nun müsse es jedoch für das neue EU-Parlament und die neue Europäische Kommission insbesondere darum gehen, die notwendigen ökologischen Transformations- und Strukturwandlungsprozesse mit umfassenden sozialpolitischen Maßnahmen und Ausgleichsmechanismen zu versehen.

Die Empfehlungen des Deutschen Vereins richten sich den Angaben nach nicht allein an die Abgeordneten des zukünftigen EU-Parlaments, sondern auch an die neue EU-Kommission sowie an nationale Ministerien, die über ihre Einbindung in den Europäischen Rat an europäischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind. „Der Deutsche Verein wird sich aktiv dafür einsetzen, dass die sozialpolitische Agenda auch in der nächsten Legislatur weiter mit Nachdruck verfolgt wird“, sagte die Präsidentin.




sozial-Branche

Obdachlosigkeit

"Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig den Krankenwagen rufen"




Essensausgabe in der Teestube des Diakonischen Werkes in Wiesbaden
epd-bild/Kristina Schäfer
Für obdachlose Menschen ist der Winter besonders gefährlich. Extreme Kälte kann tödlich sein. In Hessen gibt es bereits verschiedene Hilfsangebote für die Menschen auf der Straße, auf Bundesebene erhebt die BAG Wohnungslosenhilfe gezielte Forderungen.

Wiesbaden, Berlin (epd). Während draußen eisiger Wind dicke Winterjacken und eng anliegende Schals nötig macht, herrscht in der Wiesbadener Teestube reges Treiben: „Wir haben ungefähr 90 Personen, die zum Mittagessen zu uns kommen“, sagt Matthias Röhrig, Leiter der diakonischen Einrichtung. Als „Anlaufstelle für wohnungslose und sozial ausgegrenzte Menschen“ ist die tägliche kostenlose warme Mahlzeit eines von vielen Angeboten der Teestube, die sich das ganze Jahr über um ihre Besucher kümmert. „Gerade jetzt im Winter ist der Aufenthaltsbereich das Wichtigste“, betont Röhrig.

Neben der Grundversorgung - Toilette, Dusche, Waschmaschine - hilft die Einrichtung unter anderem mit einer Kleiderkammer und medizinischen Sprechstunden in Kooperation mit Zahn- und Allgemeinärzten. „Unsere Sozialarbeiter haben außerdem feste Anlaufstellen in der Stadt, und wir haben eine Notübernachtung mit zwölf Plätzen hier im Haus“, erklärt Röhrig. Mittlerweile stehen zudem fünf „Minihäuschen“ auf dem Gelände von Kirchengemeinden zur Verfügung. Wohnungslose Menschen können diese jeweils für sechs Monate nutzen und werden dabei „sozialarbeiterisch sehr intensiv betreut“, erläutert Röhrig.

„Viele halten die Nähe in Schlafstellen nicht aus“

In Wiesbaden gebe es für jeden Obdachlosen eine Möglichkeit, im Winter unterzukommen. Angebote wie das Männerwohnheim der Heilsarmee seien mit voll besetzten Zimmern und ihren Regeln aber nicht für alle eine wirkliche Option. „Viele halten die Nähe nicht aus“, sagt Röhrig. Wie sehr sich die Bedingungen für wohnungslose Menschen zur kalten Jahreszeit noch weiter erschweren, wird durch die teils fröhliche Stimmung während des Mittagessens in der Teestube fast verdeckt, lässt sich aber erahnen.

Einer der Gäste, der 74-jährige Rentner Helmut, erzählt, dass er „dringend Lust auf eigene vier Wände“ habe. Er lebt nach eigener Aussage abwechselnd in zwei Wohngemeinschaften und kommt seit drei Jahren zum Essen in die Teestube. Reyhan wiederum erzählt, sie sei erst vor kurzem obdachlos geworden und komme nun zunächst in einem Hotel unter.

BAG W: Übernachtungsstellen nicht tagsüber schließen

„Herbst und Winter sind natürlich eine besondere Herausforderung“, sagt Werena Rosenke, die bis zum Jahreswechsel Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) in Berlin war. Viele Menschen, die obdachlos auf der Straße lebten, seien gesundheitlich angeschlagen und häufig chronisch krank. Die BAG W fordert durchgehend geöffnete Notübernachtungsstellen, bei Bedarf die Anmietung von leer stehenden Hotels, Öffnungen von U-Bahn-Stationen, dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten für kleinere Gruppen von Wohnungslosen und das flächendeckende Angebot von Kältebussen.

Die Berliner Kältehilfe warnte ebenfalls vor den Folgen des derzeitigen Kälteeinbruchs auf obdachlose Menschen. Bei starkem Frost nachts draußen liegenzubleiben sei extrem gefährlich, sagte Jens Aldag von der Koordinierungsstelle der Berliner Kältehilfe dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Die Gefahr für Leib und Leben ist hoch.“ Extreme Kälte zehre überdies an den Menschen, wenn sie ohne ausreichende Kleidung und Decken einschliefen.

Bürgerinnen und Bürger könnten Leben retten, wenn sie die Betroffenen höflich und zurückhaltend ansprechen und fragen, ob Hilfe gewünscht wird. Passanten sollten bei Bedarf warme Kleidung, Decken und heißen Tee bringen oder auf Wunsch die Kältehilfe anrufen, sagte Aldag. Bei Gefahr im Verzug sollte umgehend die Polizei verständigt werden.

Forderung: U-Bahnhöfe öffnen

Aldag rief die Berliner Verkehrsbetriebe dazu auf, bei Temperaturen unter minus fünf Grad Celsius einige U-Bahnhöfe über Nacht zu öffnen. „Es braucht Rückzugsräume zum Aufwärmen, die niedrigschwellig genutzt werden können“, begründete er die Forderung. Die Gefahr, dass Menschen nachts in U-Bahnhöfen auf die Gleise geraten, sei geringer als die Risiken bei Übernachtungen im Freien bei starkem Frost.

In Frankfurt am Main ist bereits ein Kältebus im Einsatz. „Wir sind von Oktober bis Mai jede Nacht von 21 bis 5 Uhr unterwegs und versorgen Menschen mit Schlafsäcken, Decken, Isomatten, heißem Tee - oder fahren sie in eine Unterkunft“, sagt Daniel Schneider, stellvertretender Leiter des Kältebusses. Die Aufgabe dieses Angebots sei „die Überlebenssicherung von obdachlos lebenden Menschen“. Vor allem Decken seien beliebt, sagt Schneider. Ein „harter Kern“ von rund 80 Personen im Stadtgebiet bleibe auch bei widrigsten Umständen noch draußen.

Gottesdienste für vestorbene Besucher der Teestube

Matthias Röhrig von der Wiesbadener Teestube kann viele Geschichten von schweren Schicksalen erzählen. „Aus dem näheren Kreis der Teestube sterben zwischen 15 und 20 Personen im Jahr - und das sind nur die, von denen wir wissen“, sagt der Einrichtungsleiter. Immer im November wird bei einem Gottesdienst mit einem katholischen und einem evangelischen Pfarrer an die Verstorbenen erinnert. „Das ist ein ganz wichtiges Symbol für unsere Besucher“, sagt Röhrig. „Dass sie nicht vergessen sind.“

Sein Appell an Bürgerinnen und Bürger ist: „Wenn man jemanden hilflos irgendwo liegen sieht, sollte man die Person ansprechen. Und lieber einmal zu viel als einmal zu wenig den Krankenwagen rufen.“

Christopher Hechler


Obdachlosigkeit

Hamburg: Brötchen-Krise beim Mitternachtsbus



Hamburg (epd). Belegte Brötchen sind rar geworden in Hamburg. Fünf Bäckereien fährt der Mitternachtsbus nach Feierabend an, um übriggebliebenes Backwerk für Obdachlose einzusammeln. „An manchen Tagen kommen nur eine Kiste Franzbrötchen und fünf belegte Brötchen zusammen“, sagte Mitternachtsbus-Projektleiterin Sonja Norgall dem Evangelischen Pressedienst (epd). Vor zehn Jahren waren es nicht fünf Brötchen, sondern fünf Kisten mit belegten Semmeln.

Die Zeiten haben sich geändert, doch der Bedarf ist noch immer da. Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer versorgen aktuell pro Mitternachtsbus-Schicht zwischen 100 und 200 wohnungslose Menschen. „Alle Gäste sollten mindestens ein belegtes Brötchen bekommen“, erklärt die 49-Jährige.

Spenden aus Bäckereien seit Jahren rückläufig

Schon seit Jahren gehen die Spenden aus Bäckereien zurück. Dazu trägt bei, dass heutzutage auch aus Resten Geld gemacht werde, sagt die Projektleiterin. Durch Apps oder Brotretter-Tüten werde Gebäck kurz vor Feierabend günstiger verkauft, andere Filialen recyceln übriggebliebenes Brot. Zudem werde grundsätzlich weniger vorproduziert. Norgall: „Wohl auch mithilfe von Computerprogrammen wird in Bäckereien weniger Überschuss hergestellt.“

Was wirtschaftlich und ökologisch sinnvoll ist, stellt die Initiative der Diakonie vor Probleme: „Manchmal steht der Aufwand, Spenden einzusammeln, in keinem Verhältnis.“ Doch die Feierabend-Tour zu den Bäckerei-Filialen im Raum Eimsbüttel und Schanzenviertel sei verbindlich abgesprochen mit den Geschäften.

„Jedes Brötchen wird gebraucht“

Abgesehen davon werde jedes Brötchen gebraucht. „Die Not auf der Straße ist in letzter Zeit eher noch größer geworden und den Menschen geht es gesundheitlich schlechter“, beobachtet Norgall, die das Projekt seit 2010 leitet. Um alle zu versorgen, muss die Initiative teilweise belegte Brötchen zukaufen, damit die Menschen etwas Ausgewogenes zu essen bekommen. Dabei ist das Projekt selbst auf Unterstützung angewiesen, denn der Mitternachtsbus finanziert sich ausschließlich aus Spenden.

An 365 Nächten im Jahr fahren Ehrenamtliche mit dem Mitternachtsbus von 20 bis 24 Uhr durch die Hamburger Innenstadt. Sie verteilen Brötchen, heiße Getränke, Wasser oder Brühe, aber auch Schlafsäcke, Decken und Kleidung an Bedürftige. „Die belegten Brötchen gehen in der Nacht immer weg“, sagt Norgall. Und wenn nach der Tour mal süße Backwaren übrigbleiben, werden sie am nächsten Tag im Diakonie-Zentrum oder in der Hamburger Obdachlosenunterkunft „Pik As“ verteilt - und natürlich auch gerne gegessen.

Evelyn Sander


Krankenhäuser

Notstand: Sozialdienste können kaum noch Nachsorge sichern




Rollstühle für Patienten im Helios Klinikum Erfurt
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Der Pflegenotstand ist nichts Neues - es gab ihn auch schon vor zehn Jahren. Aber die aktuelle Lage überfordert zunehmend die Sozialdienste in den Krankenhäusern. Manchmal brauchen sie Tage, um die Versorgung für Entlasspatienten sicherzustellen.

Würzburg (epd). Dass es noch schlimmer würde, konnte sich vor zehn Jahren kaum jemand vorstellen. Der Pflegenotstand war bereits 2013 so groß, dass sich damals im Oktober Pflegekräfte in über 20 Städten unter dem Motto „Die Pflege liegt am Boden“ öffentlich hinlegten. Doch die Lage verschlimmerte sich weiter. Inzwischen hat die Pflegekrise eine Dimension erreicht, die Sozialdienste von Krankenhäusern ans Limit bringt. Manchmal telefonieren sie tagelang Heimplätzen und Pflegediensten hinterher, um Entlasspatienten weiterzuvermitteln.

Einrichtungen mussten schließen

Karsten Eck, Direktor des Würzburger König-Ludwig-Hauses, sagt, es sei derzeit „schier unmöglich, zeitnah einen Reha-Platz in einer geriatrischen Einrichtung oder einen Kurzzeitpflegeplatz zu finden“. In der Klinik des Bezirks Unterfranken werden orthopädisch erkrankte Patienten versorgt. Viele bräuchten mindestens eine Sozialstation, die sich nach der Entlassung um sie kümmern würde, erläutert Eck: „Doch die Suche nach einem Pflegedienst gestaltet sich annähernd so aussichtslos wie die nach einem Kurzzeitpflegeplatz.“

Der Krankenhausdirektor macht den Personalmangel und massive finanzielle Schwierigkeiten für diese Situation verantwortlich: „Reha-Abteilungen und ganze Einrichtungen in unserem Einzugsgebiet mussten schließen.“ Weil die Patienten nun nicht vermittelt werden können, müssen sie in der Klinik bleiben. Die Kosten dafür tragen die Krankenkassen aber nicht, weil es sich um einen „medizinisch nicht notwendigen Aufenthalt“ handle. Das sorgt bei der Klinik für Finanzprobleme - und dringend benötigte Betten werden blockiert.

Der Verbund „Klinikum Würzburg Mitte“ (KWM) begann bereits 2018, Kooperationen mit Pflegeheimen zu schließen. Dort stünden „feste Kurzzeitpflegeplätze für Patienten aus dem KWM zur Verfügung“, erläutert Sprecherin Daniela Kalb. Was aber nur bedingt hilft: „Einrichtungen, die Betten zur Verfügung hätten, können aufgrund fehlender Pflegekräfte keine oder weniger Patienten aufnehmen.“ Den KWM-Sozialdienst kostet die Organisation der Nachversorgung deshalb immer mehr Zeit.

Insgesamt sind in Stadt und Landkreis Würzburg laut Experten derzeit 500 Pflegebetten aufgrund des Fachkräftemangels nicht belegbar. Erstaunlich ist, dass es in der Region gleichzeitig Pflegekräfte ohne Job gibt. Im November waren im Agenturbezirk Würzburg 242 Personen aus dem Pflegesektor arbeitssuchend gemeldet, heißt es von der Behörde. Insgesamt 40 Pflegefachkräfte waren tatsächlich arbeitslos, wären also, da sie weder erkrankt sind noch an einer Bildungsmaßnahme teilnehmen, theoretisch sofort einsetzbar.

Es fehlen Kurzzeitpflegeplätze

Gudrun Reiß, Referentin für die ambulante Altenhilfe beim Diakonischen Werk Bayern, bestätigt, dass es immer schwieriger wird, pflegebedürftige Menschen aus der Klinik an einen Pflegedienst zu vermitteln: „Wir hören das aus allen Regionen Bayerns.“ Kurzzeitpflegeplätze als Alternative schieden meist aus: „Die sind ja auch Mangelware.“ Übergangsmäßige Notplätze für pflegebedürftige Patienten, die nicht in eine Nachsorge vermittelt werden können, seien im System nicht vorgesehen.

Was dies alles in der Praxis bedeutet, schildert Eva-Maria Klingwarth, die im Zentrum für Sozialberatung und Überleitung an der Uniklinik Regensburg arbeitet. Sie hatte vor Kurzem mit einem 70 Jahre alten Mann zu tun, der Ende Oktober mit einer Gehirnblutung im Uniklinikum aufgenommen wurde. Bereits nach einer Woche hätte er entlassen werden können, hätte es eine Nachsorge gegeben. „Durch das Akutereignis ist der Patient in seiner Mobilität eingeschränkt, er benötigt volle pflegerische Versorgung“, sagt die Sozialpädagogin.

Das Team des Sozialdienstes begann bei rund 180 Einrichtungen nach einem Heimplatz zu suchen. Erst nach 16 Tagen fand sich ein Heim, das bereit war, den Patienten aufzunehmen. Es liegt ungefähr 100 Kilometer von Regensburg entfernt. „Für den Patienten und seine Ehefrau eine erhebliche psychische Belastung“, betont die Sozialberaterin. Weil ihn die Gehirnblutung und deren Folgen emotional stark belasten, bräuchte der Mann die Nähe seiner Frau. Die jedoch kann ihn wegen der großen Distanz nur selten besuchen.

Aus dem Krankenhaus zur Tochter

Auch in München ist die Situation für den Sozialdienst extrem, sagt Christina Strych, Entlassmanagerin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Wie gravierend die Lage ist, schildert die Überleitungspflegerin am Beispiel eines 87-jährigen Patienten, der wegen seines schlechten Allgemeinzustands vor kurzem stationär aufgenommen werden musste. Er wird bettlägerig bleiben. Die Tochter, die ihren Vater seit langem unterstützt, ist inzwischen überlastet: „Sie möchte, dass er nach dem Krankenhaus ins Pflegeheim geht.“

Bevor der Senior ins Krankenhaus der Barmherzigen Brüder kam, hatte er überhaupt keine pflegerische Hilfe erhalten. „Kein Platz“, das habe ihr Team permanent zu hören bekommen, schildert Strych. So ging das Tag für Tag: „Nach einer Woche hatten wir aber immer noch keinen Platz.“ Die Tochter, obwohl völlig überfordert, akzeptierte schließlich nach langer Überlegung, dass der Vater wieder nach Hause kam. Zum Glück gelang es, einen Pflegedienst zu organisieren.

Das Bayerische Pflegeministerium bemüht sich aktuell darum, die Suche nach pflegerischen Angeboten zu erleichtern. In wenigen Wochen soll eine digitale Pflegeplattform an den Start gehen. Der Aufbau der Plattform wird von der Staatsregierung in den nächsten Jahren mit insgesamt rund 291.000 Euro unterstützt.

Pat Christ


Ehrenamt

Flüchtlingshelfer suchen händeringend mehr Freiwillige




Ehrenamtliche im Gespräch mit Geflüchteten beim Stammtisch des "Unterstützerkreises Flüchtlingsunterkünfte Hannover"
epd-bild/Jens Schulze
Mehr Abschiebungen, weniger Leistungen: Der Ton gegenüber Geflüchteten wird rauer. Ehrenamtliche bemühen sich, die Willkommenskultur aufrechtzuerhalten, doch sie brauchen Verstärkung - so wie der "Unterstützerkreis Flüchtlingsunterkünfte Hannover".

Hannover (epd). Die Stimmung im Café K in Hannovers alternativem Stadtteil Linden ist ausgelassen an diesem Donnerstagabend. Immer mehr Menschen strömen ins Innere. Ihr Ziel: der monatliche Stammtisch des „Unterstützerkreises Flüchtlingsunterkünfte Hannover“. Die Menschen kommen aus verschiedenen Ländern, etwa Algerien, Syrien, Senegal, Eritrea, Afghanistan, Ukraine.

Viele kennen sich. Sie umarmen sich zur Begrüßung, klopfen sich auf die Schulter. Einige Blicke aber sind schüchtern, die Gesichter ernst. So wie das einer Frau aus Somalia. Sie ist beim Integrationstest durch die Sprachprüfung gefallen. Wie soll es nun weitergehen?

Fragen klären, Tipps geben

Der junge Mann aus Pakistan neben ihr hat zwar eigene Fragen, auf deren Klärung er an diesem Abend hofft. Er sucht einen Ausbildungsplatz. Doch mit dem Integrationstest kennt er sich aus. Aufmunternd lächelt er der jungen Frau mit dem Kopftuch zu und bespricht mit ihr die nächsten Schritte.

Fragen klären, sich gegenseitig helfen, Tipps geben, das steht beim Stammtisch des 2013 gegründeten Unterstützerkreises Flüchtlingsunterkünfte Hannover (UFU) im Fokus. Zwar sind auch ehrenamtliche, einheimische Helfer da, doch viel klären die Geflüchteten untereinander. Jobcenter, Asylantrag, Arbeitserlaubnis: Die „alten Hasen“, die schon länger in Deutschland sind, nehmen die Neuen unter ihre Fittiche.

Unterstützung, gerade in den ersten Monaten, da sind sich Migrationsexperten einig, ist unabdingbar für eine gelungene Integration. Doch das zivilgesellschaftliche Engagement geht zurück. Die Willkommenskultur, mit der Geflüchtete in den Jahren 2015 und 2016 empfangen wurden, ist vielerorts abgeebbt. Etliche Flüchtlingsinitiativen haben sich nach Angaben des Osnabrücker Migrationsforschers Jochen Oltmer aufgelöst. Die, die es noch gibt, suchen händeringend Verstärkung - so auch der UFU.

„Uns fehlen die Leute“

„Wir haben Schwierigkeiten, Ehrenamtliche zu finden“, sagt Sabine Berge, die sich seit vielen Jahren für die Integration von Geflüchteten engagiert. Insbesondere die Listen von Migranten, die auf einen Paten warten, jemanden, der fest an ihrer Seite steht und bei Behördengängen, Deutschlernen, Wohnungssuche hilft, sei lang. „Das Integrationspotenzial ist groß, doch uns fehlen schlicht die Leute.“

Woran liegt es, dass die Einsatzbereitschaft im Vergleich zur sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016 abgenommen hat? Reiner Melzer, sitzt im Café K und nimmt einen Schluck aus seinem Bierglas. „Corona hat uns auf jeden Fall ziemlich ausgebremst, da ist viel Energie flöten gegangen“, sagt der 63-Jährige nachdenklich, der mit seiner Frau Reneé Bergmann, den heute rund 300 Mitglieder zählenden Verein UFU gegründet hat.

Auch das Alter der Ehrenamtler spiele eine Rolle. Viele, die sich engagierten, seien Ruheständler. „Wir sind älter geworden, uns fehlt der Nachwuchs.“

Restriktive Asylpolitik wird dominanter

Im letzten Jahr gingen das Forschungsprojekt „Die aktivierte Zivilgesellschaft“ der Frage nach, was vom Engagement für Geflüchtete im Jahr 2015 geblieben ist. In der vom Bund geförderten Analyse des Berliner Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Universität Osnabrück heißt es: Der „phasenweise euphorische Diskurs über die sogenannte Willkommenskultur“ sei zunehmend von Forderungen nach einer restriktivere Migrations- und Asylpolitik überlagert worden.

Bürokratische Hürden, persönliche Überforderungen, gesellschaftlicher Gegenwind - dieser Dreiklang sei eine Zerreißprobe für Flüchtlingsinitiativen wie die des UFU. Das habe zu Frustrationen unter den Freiwilligen geführt und in der Folge zu einem Rückgang des Engagements. Doch ein „harter Kern“ an Engagierten sei aktiv geblieben, Freundschaften zwischen freiwilligen Helfern und Geflüchteten an die Stelle formeller Unterstützung getreten.

Zivilgesellschaftliche Unterstützung wirkt

So wie bei den Melzers. Mit seiner Frau hat der pensionierte Umweltberater drei von ihm so genannte „Patenkinder“, einen Syrer, einen Afghanen sowie eine Ghanaerin. „Das Engagement für Geflüchtete könnte eine Win-Win-Situation sein“, sagt Melzer seufzend. Für die Flüchtlinge, denen ein Start in ein neues Leben ermöglicht werde, für die alternde Gesellschaft, die Nachwuchskräfte benötige, aber auch für die Ehrenamtlichen, die lebensbereichernde Beziehungen aufbauten.

Ohne zivilgesellschaftliche Unterstützung wären viele der Zugewanderten nicht da, wo sie heute sind. „Allein diese ganze Monster-Bürokratie, da kommen die ohne unsere Hilfe nicht durch“, sagt Melzer. „Jammerschade“ sei es, dass Menschen leer ausgehen, weil niemand für sie da ist. „Wenn wir alle mithelfen würden, dann würden wir das auch schaffen.“

Der Blick zum Stammtisch des Unterstützerkreises, der vom Landessportbund Niedersachsen gesponsert wird, gibt ihm recht. Im Café K gelingt an diesem Abend mühelos und lebensbejahend das, was oft gefordert wird, aber kein Selbstläufer ist: Integration.

Julia Pennigsdorf


Krankenkassen

AOK: Finanzielle Belastung von Pflegeheimbewohnern stark gestiegen



Die finanzielle Belastung von Pflegeheimbewohnern ist im vergangenen Jahr laut einer Studie stark gestiegen. Im Vergleich zum Jahr 2022 gab es bei den pflegebedingten Zuzahlungen einen Anstieg von 19,2 Prozent, wie das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) am 11. Januar in Berlin mitteilte.

Berlin (epd). Die vom WidO vorgelegten Daten zu den weiter gestiegenen Eigenanteilen für Pflegeheiembewohner sorgen für massive Kritik der Fach- und Sozialverbände sowie des DGB. Denn: Nach Einschätzung des WIdO werden die finanziellen Belastungen der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen weiter steigen.

Der WidO-Analyse zufolge bekamen die Heimbewohner Ende des Jahres 2023 von der Pflegeversicherung durchschnittlich 569 Euro pro Monat für ihre pflegebedingten Eigenanteile in Form von Zuschlägen erstattet. Durchschnittlich 874 Euro mussten sie selbst für die Pflege zuzahlen, hinzu kamen im Schnitt 909 Euro für Unterkunft und Verpflegung sowie 484 Euro für Investitionskosten. Daraus ergibt sich für die Pflegebedürftigen eine durchschnittliche Gesamtbelastung von 2.267 Euro pro Monat. Im Jahr 2017 etwa habe die durchschnittliche finanzielle Belastung der Bewohnerinnen und Bewohner mit 1.752 Euro um mehr als 23 Prozent niedriger gelegen.

Belastungen bereits 2025 wieder auf dem Niveau von 2023

Zum Jahresbeginn stiegen die Zuschläge für pflegebedingte Aufwände, die von den Pflegekassen gezahlt werden: Pflegebedürftige, die bis zu einem Jahr in einer vollstationären Pflegeeinrichtung wohnen, erhalten nunmehr 15 statt 5 Prozent. Bei einer Wohndauer von einem Jahr bis zu zwei Jahren gibt es eine Anhebung von 25 auf 30 Prozent, bei zwei bis drei Jahren von 45 auf 50 Prozent und bei einer Wohndauer ab drei Jahren von 70 auf 75 Prozent. Mit Beginn des Jahres 2025 sollen auch die Leistungssätze der Pflegeversicherung steigen. Das AOK-Institut erwartet dennoch, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen bereits 2025 wieder über dem Niveau von 2023 liegen werden.

Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, sagte, dass weitere wirksame und nachhaltige Lösungen zur Begrenzung der steigenden Eigenanteile und zur finanziellen Entlastung der Betroffenen nötig seien. „Eine Maßnahme, die schnell umsetzbar wäre, ist die Herausnahme der Ausbildungskosten aus den Eigenanteilen. Das würde die Pflegebedürftigen in den Heimen auf einen Schlag um etwa eine Milliarde Euro entlasten.“

Länder müssen Investitionskosten tragen - nicht die Heimbewohner

Reimann sieht aber auch die Länder gefordert, ihren Teil zur Entlastung beizutragen. „Die Investitionskosten der Pflegeheime sollten nicht mehr weiter den Pflegebedürftigen aufgebürdet werden. Sie müssen stattdessen als Teil der Daseinsvorsorge vollständig von den Ländern getragen werden. Auch dadurch wäre eine wirksame Entlastung der betroffenen Menschen möglich.“

Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege Thomas Greiner erklärte: „Jedes Mal, wenn höhere Eigenanteile gemeldet werden, reagiert die Politik alarmiert. Dabei war schon bei der Konzertierten Aktion Pflege klar, dass es die begrüßenswerte Erhöhung der Löhne für Pflegekräfte nicht zum Nulltarif geben kann.“

Das Trio der Minister Giffey, Spahn und Heil habe seinerzeit vehement bestritten, dass die Tariftreue sich auf den Geldbeutel der Pflegebedürftigen auswirken müsse, dafür würde die Regierung schon sorgen. „Das war wie zu erwarten falsch. Leider hat sich dieser Politikstil fortgesetzt.“

„Pflegeversicherung umbauen“

Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz sagte, der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hochgelobte Entlastungsplan für die Pflegebedürftigen gehe nicht auf. „Der Fallschirm ist viel zu klein, um den harten finanziellen Aufprall zu verhindern. Die Betroffenen werden wieder mal zur Kasse gebeten.“ Das Nachsehen hätten vor allem Menschen, die weniger als ein Jahr stationär gepflegt werden. Denn ein Drittel der Pflegeheimbewohner stirbt in den ersten 12 Monaten nach Einzug.

Brysch forderte erneut, die Pflegeversicherung zur Teilkasko-Versicherung mit einer festen Eigenbeteiligung umzubauen. „Nur so ist es möglich, für kommende Eigenanteile finanziell Vorsorge zu treffen.“

Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied, nannte die neuen Daten einen „Weckruf für die Bundesregierung“. Die Lösung sei eine solidarische Pflege-Bürgerversicherung, in die alle einzahlten und die sämtliche Pflegekosten übernehme. Piel: „In einer älter werdenden Gesellschaft muss sich jede und jeder darauf verlassen können, dass Pflege möglich ist, eine Pflege mit guten Leistungen, die nicht arm macht.“

Markus Jantzer, Dirk Baas


Pflege

Gastbeitrag

KDA: Pflegekrise gefährdet Stabilität der Demokratie




Helmut Kneppe
epd-bild/Kuratorium Deutsche Altershilfe
In Folge der stark steigenden Kosten für die Pflege geraten immer mehr pflegebedürftige Menschen in die Abhängigkeit der Sozialhilfe. Betroffene verzichten deshalb auf notwendige Pflege, weiß KDA-Vorstandsvorsitzender Helmut Kneppe. Er befürchtet auch, dass das Versagen der Sozialsysteme die Stabilität der Demokratie gefährdet. Im Gastbeitrag für epd sozial erklärt er, warum.

Angesichts der fundamentalen, sozialen Krisen in unserem wohlhabenden Land drängt sich die Frage auf: Wie glaubwürdig ist unser Sozialsystem noch - und damit verbunden unser System insgesamt? Dieser Frage gehe ich hier am Beispiel der steigenden Pflegekosten und den Folgen für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen nach. Die Folgen des demografischen Wandels sind - ähnlich wie bei der Klimakrise - längst bekannt, und auch die Lösungen liegen schon lange auf dem Tisch. Es fehlt nicht an Erkenntnis, es fehlt an Umsetzung.

Und auch durchgerechnete Finanzierungsmodelle gibt es längst. Hätten wir etwa die seit Jahren von Wissenschaftlern und der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, aber auch von den Koalitionsfraktionen SPD und Grüne geforderte Bürgerversicherung, müssten nicht Generationen um ihre Versorgung im Alter fürchten. Um diesen Punkt geht es, um die Angst, eine existenzielle Angst, und um Würde, den Grundpfeiler unserer Verfassung.

Immense Kosten für Pflegebedürftige und Angehörige

Wenn man pflegebedürftig ist, konkretisiert sich die Angst vor Armut und Unterversorgung gerade für viele Betroffene: Jeder dritte Bewohner (32,5 Prozent) einer stationären Pflegeeinrichtung kann den Eigenanteil an den Pflegekosten aus der Rente nicht mehr bezahlen. 2.548 Euro Eigenanteil müssen im Schnitt für ein Pflegeheim jeden Monat aus eigenen Mitteln aufgebracht werden - bei 1.152 Euro Durchschnittsrente. Das heißt: Auch die Leistungszuschläge zum Eigenanteil (fünf Prozent im ersten Jahr) verpuffen. Für viele bleibt nur die „Hilfe zur Pflege“, also Sozialhilfe. Doch zuvor muss das Familieneinkommen verbraucht werden. Von diesem Zusammenhang sind also gleich mehrere Menschen betroffen.

Auch die Kosten für ambulante Pflege steigen rasant an. Hier wirken sich die Steigerungen voll auf den Eigenbeitrag aus. Die Ungleichbehandlung der Pflegesettings bei den Zuschüssen führt dazu, dass nicht-stationäre Angebote wie Tagespflege, Generationenhäuser, Alten- oder Demenz-WGs massiv benachteiligt werden, obwohl Menschen sich diese Wohnformen im Alter wünschen, wie eine unserer Studien belegt. Zugleich werden Betten und Pflegeplätze nicht besetzt, weil Personal fehlt. Der Kostendruck und der Fachkräftemangel führen dazu, dass bereits Pflegeanbieter aufgeben.

Gefahren durch Verzicht auf nötige Pflege

Eine weitere dramatische und volkswirtschaftlich womöglich sehr teure Konsequenz der ungedeckelten Eigenanteile der Pflegeversicherung als Teilkasko-Versicherung ist: Immer mehr Menschen verzichten auf notwendige Pflege, weil sie den Eigenbeitrag nicht bezahlen können. Die Rückmeldungen, die wir hier vor allem aus der ambulanten Pflege erhalten, sind alarmierend. Auch eine Studie des VdK, die auf Tiefenbefragungen basiert, zeit, dass auf notwendige Leistungen aus finanziellen Gründen verzichtet wird. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Pflegeschutzbund BIVA warnen vor einer Unterversorgung. In der Einleitung zu seinem neuen Buch „Die Notwendigkeit einer Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung“ schreibt der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang, dass pflegebedürftige Menschen aus finanziellen Gründen „auch“ in der häuslichen Pflege auf Leistungen verzichten.

Es gibt aber bisher in Deutschland keine validen Daten oder Studien zu den Fragen, in welchem Umfang pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen auf Pflegeleistungen verzichten, um zu sparen, oder weil sie Hilfe zur Pflege nicht beantragen möchten. Offen ist auch, welche Konsequenzen die unterlassenen Leistungen für die Pflegebedürftigen und die Gesellschaft haben. Und: Welcher volkswirtschaftliche Schaden entsteht dadurch, dass Angehörige selbst pflegen und nicht arbeiten? Sarina Strumpen, Projektleiterin im KDA, hat bereits während einer Sachverständigenanhörung im Gesundheitsausschuss des Brandenburger Landtags auf diese Situation hingewiesen und eine Evaluation angeregt.

Instabile Sozialsysteme beeinflussen das Wahlverhalten

Dass und wie Angst, Wut, Ohnmachtsgefühle und instabile Sozialsysteme sich auf das Wahlverhalten auswirken können, ist hingegen erforscht. Die Polarisierungstendenzen in unserer Gesellschaft sind bereits besorgniserregend. Die multiplen Herausforderungen erfordern aber den Zusammenhalt der Gesellschaft. Demographie, Dekarbonisierung und Digitalisierung müssen von allen bewältigt und sozial abgefedert werden. Verändernde Gestaltung braucht Vertrauen und Gemeinsinn, aber auch finanzielle Mittel. Hier sind alle demokratischen Parteien in der Pflicht.

Wer den gesellschaftlichen Wandel nicht sozial abfedert, gefährdet den Zusammenhalt. Menschen, die Angst und Ohnmacht spüren, sind anfälliger für einfache, extreme „Lösungen“. Unsere Demokratie und Werteordnung verteidigen wir gegen Aggressoren im Ausland. Die Feinde im Inland sind instabile, unterfinanzierte soziale Strukturen und unterlassene Reformen - und in der Folge Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust. Wer etwa die Bürgerversicherung aus lobby-getriebenen Gründen verhindert, gefährdet das Gesundheits- und Rentensystem - und setzt den inneren Frieden aufs Spiel.

Die Menschen erwarten zu Recht eine intakte, gesunde Lebensumgebung, soziale Sicherheit, bezahlbares Wohnen und eine funktionierende Infrastruktur. Aber auch digitale, Bildung und Entwicklungschancen, Krankenversorgung, Teilhabe, Betreuung und Pflege. Das sind Aufgaben des Gemeinwesens. Wir müssen die Demokratie auch hier, bei uns, schützen. Wir brauchen das Wir. Das Wir braucht Sicherheit für die grundlegenden Lebens- und Entfaltungsbedürfnisse. Es geht um den Kern unserer demokratischen Verfassung: die Würde des Menschen.

Helmut Kneppe ist seit 2020 Vorstandsvorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA)


Banken

Tipps zur nachhaltigen Vermögensanlage für soziale Organisationen



Köln (epd). Die SozialBank (Bank für Sozialwirtschaft) hat den vierten Band ihrer Fachserie „Erfolgsfaktor Nachhaltigkeit in der Sozialwirtschaft“ veröffentlicht. Er widme sich dem Thema Geldanlage, heißt es in einer Erklärung vom 9. Januar. Der Leitfaden erkläre nachhaltige Anlagestrategien für gemeinnützige Organisationen und gebe Anregungen, „wie die Geldanlage mit Blick auf eine nachhaltige Zukunft und regulatorische Anforderungen gelingt“.

„Unser Ziel ist es, soziale Organisationen bei finanziellen und wirtschaftlichen Fragen zu unterstützen“, sagte Professor Harald Schmitz, Vorstandsvorsitzender der SozialBank. Dafür sei nachhaltige Geldanlage ein wirksamer Hebel. Zudem sind laut Schmitz Stiftungen und gemeinnützige Organisationen durch den Gesetzgeber verpflichtet, nachhaltig zu investieren.

Überblick über gängige Anlagestrategien

Der Leitfaden erläutert den Angaben nach zunächst verschiedene Anlagestrategien, mit denen gemeinnützige Organisationen ihre gesellschaftlichen und ökologischen Ziele unterstützen und gleichzeitig eine angemessene Rendite erzielen können. Er bietet einen Überblick über die gängigsten Anlageinstrumente und zeigt, wie sie in die Anlagestrategien integriert werden.

Der zweite Teil der Publikation befasst sich mit den regulatorischen Rahmenbedingungen, die für gemeinnützige Organisationen relevant sind. Dazu zählen sowohl die EU-Vorgaben im Rahmen der Sustainable-Finance-Regulatorik als auch Anforderungen des Gemeinnützigkeitsrechts.




sozial-Recht

Finanzgericht

Nachweis der Behinderung beim Kindergeld erleichtert




Das Finanzgericht Hamburg hat den Nachweis von Behinderungen bei Kindergeld für erwachsene Behinderte erleichtert.
epd-bild/Heike Lyding
Eltern müssen für den Anspruch auf Kindergeld für ihre erwachsenen behinderten Kinder keinen Nachweis über eine ausdrücklich festgestellte Behinderung vorlegen. Dazu sind auch Gesundheitszeugnisse geeignet, aus denen sich die Behinderung ableiten lässt, urteilte das Finanzgericht Hamburg.

Hamburg (epd). Die Familienkasse darf für den Kindergeldanspruch von Eltern eines volljährigen behinderten Kindes keine zu hohen Anforderungen an den Nachweis der Behinderung stellen. Das gelte auch deshalb, weil der Nachweis der Behinderung gesetzlich nicht geregelt sei, so dass etwa die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises nicht zwingend nötig sei, entschied das Finanzgericht Hamburg in einem am 5. Januar bekanntgegebenen Urteil. Deshalb könnten auch ärztliche Bescheinigungen über dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen für den Kindergeldanspruch ausreichen, so das Gericht.

Nach dem Einkommensteuergesetz können Eltern für ihr behindertes Kind Kindergeld erhalten, wenn das Kind 25 Jahre oder älter ist. Voraussetzung ist, dass das Kind wegen einer „körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten“. Und: Die Behinderung muss vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sein.

Angststörungen und soziales Rückzugsverhalten

Im Streitfall ging es um die 1987 geborene Tochter der Klägerin. Amtsärzte und ein sozialmedizinisches Gutachten hatten wiederholt festgestgellt, dass seit 2009 bei dem Kind eine seelische Beeinträchtigung vorliegt. So wurden ihr Angststörungen, eine depressive Grundstimmung und soziales Rückzugsverhalten bescheinigt.

Eine anerkannte Behinderung bestehe wegen der seelischen Beeinträchtigung aber nicht, hieß es in einem amtsärztlichen Gesundheitszeugnis. Allerdings drohe eine „seelische Behinderung“. Es bestehe nur eine „eingeschränkte Erwerbsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von unter 3 Stunden täglich für mehr als sechs Monate“. Die Deutsche Rentenversicherung bewilligte der Tochter 2017 eine befristete volle Erwerbsminderungsrente.

Forderung basierte auf Dienstanweisung des Bundesamtes für Steuern

Die Familienkasse zahlte den Eltern wegen der Behinderung ihrer Tochter zunächst Kindergeld. Im Dezember 2021 verlangte die Behörde jedoch einen amtlichen Nachweis über das Vorliegen der Behinderung. Sie berief sich auf eine Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz. Danach kann der Nachweis der Behinderung durch Vorlage eines Schwerbehindertenausweises oder einer ärztlichen Bescheinigung erbracht werden, in der die Behinderung dokumtiert wird.

Die Tochter der Klägerin gab an, keinen Schwerbehindertenausweis zu besitzen. Sie habe auch keine ärztliche Bescheinigung über ihre Behinderung, weil ihre Hausärztin psychische Erkrankungen nicht ernst nehme.

Familienkasse: Tochter zu alt für Kindergeldanspruch

Die Behörde hob die Kindergeldfestsetzung daher ab 2022 auf. Die Behinderung sei weder nachgewiesen worden noch liege eine anerkannte Behinderung vor. Zwar sei im Laufe des gerichtlichen Verfahrens im Jahr 2023 ein Grad der Behinderung festgestellt worden. Da die Tochter zu diesem Zeitpunkt bereits über 25 Jahre alt gewesen sei, könne die Klägerin kein Kindergeld mehr beanspruchen, hieß es.

Dem widersprach nun das Finanzgericht. Der Nachweis der Behinderung sei gesetzlich nicht geregelt. Die in der Dienstanweisung des Bundeszentralamtes für Steuern enthaltenen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Behinderung seien nicht abschließend geregelt. Die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises oder einer ärztlichen Bescheinigung, in der die Behinderung ausdrücklich festgestellt werde, sei für den Nachweis einer Behinderung nicht zwingend erforderlich, so das Gericht.

Seelische Behinderung bestand frühzeitig

Letztlich könne nicht der ärztliche Gutachter, sondern nur das Gericht darüber entscheiden, ob eine Behinderung vorliegt und Eltern für ihr behindertes Kind Kindergeld erhalten können. Hier habe die Auswertung der amtsärztlichen Gesundheitszeugnisse und das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes ergeben, dass zumindest seit 2009 und damit noch vor Vollendung des 25. Lebensjahres eine seelische Behinderung vorgelegen habe und damit der Kindergeldanspruch bestehe.

Nach einem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 12. November 2020 muss für das Vorliegen einer Behinderung eine körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung für mindestens sechs Monate bestehen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verhindert. Maßgeblich sei die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der Beeinträchtigung, hieß es. Allein eine Erkrankung, deren Ende nicht absehbar ist, reiche nicht, befand das Gericht.

Zudem müssten bei einer genetisch bedingten Behinderung deutliche Beeinträchtigungen vor dem 25. Geburtstag aufgetreten sein, so der Bundesfinanzhof in einem weiteren Urteil vom 27. November 2019. Erst dann könnten Eltern dauerhaft Kindergeld bekommen. Es sei aber nicht erforderlich, dass der Gendefekt schon vor Erreichen dieser Altersgrenze als Ursache der Beeinträchtigungen festgestellt wurde.

Az.: 1 K 121/22 (Finanzgericht Hamburg)

Az.: III R 49/18 (Bundesfinanzhof, nicht absehbares Erkrankungsende)

Az.: III R 44/17 (Bundesfinanzhof, genetisch bedingte Behinderung)

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Keine Doppelleistungen für Conterganopfer



Karlsruhe (epd). Ausländische Contergangeschädigte müssen sich Entschädigungszahlungen ihres Heimatstaates mindernd auf ihre deutsche Conterganrente anrechnen lassen. Die Anrechnungsregelung im Conterganstiftungsgesetz ist verfassungsgemäß und verstößt nicht gegen das Grundrecht auf Eigentum oder den Gleichbehandlungsgrundsatz, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 10. Januar veröffentlichten Beschluss.

Im Zuge des Contergan-Skandals kamen zwischen 1958 und 1962 weltweit rund 10.000 Kinder unter anderem mit schweren Fehlbildungen an Armen und Beinen zur Welt. Ursache für die Schädigungen war die Einnahme des zunächst rezeptfrei erhältlichen Beruhigungs- und Schlafmittels Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid der Firma Grünenthal während der Schwangerschaft.

Bund und Firma gründeten Stiftung

Der Bund und die Firma Grünenthal errichteten 1972 eine Stiftung zur Entschädigung contergangeschädigter Kinder. Hierfür haben sie jeweils 100 Millionen Mark (51.129.188 Euro) eingezahlt. Geschädigte können aus den Stiftungsmitteln eine einmalige Kapitalleistung sowie eine Conterganrente erhalten. Die monatliche Rente beträgt derzeit je nach Schädigung zwischen 818 Euro und 9.234 Euro. Entschädigungsansprüche gegenüber Grünenthal konnten damit nicht mehr geltend gemacht werden.

Im konkreten Fall hatte der irische contergangeschädigte Kläger auch vom irischen Staat eine Entschädigung in Höhe von monatlich 1.109 Euro erhalten. Diese wurde mindernd auf seine monatliche deutsche Conterganrente in Höhe von 3.686 Euro angerechnet. Der Mann hielt diese Anrechnung für verfassungswidrig. Sein Eigentumsgrundrecht werde verletzt, lautete die Begründung.

Anrechnung „sachlich gerechtfertigt“

Die Anrechnung der irischen Entschädigungszahlung auf die deutsche Conterganrente ist jedoch sachlich gerechtfertigt und verfassungsgemäß, entschied das Bundesverfassungsgericht. Der Gesetzgeber habe Doppelleistungen vermeiden wollen. Es sei legitim, „dass vergleichbare deutsche und ausländische Leistungen nur einmal gewährt werden“. Damit werde eine Ungleichheit „innerhalb der Schicksalsgemeinschaft der Geschädigten“ vermieden, befand das Gericht.

Das sichere nicht nur das öffentlichen Interesse, die Verteilungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Der Staat habe auch ein Interesse, „die begrenzten öffentlichen Mittel“ möglichst optimal zu verwenden.

Az.: 1 BvL 6/21



Bundesgerichtshof

Auflagen bei Zwangsräumung und Suizidgefahr geklärt



Karlsruhe (epd). Vermieter können einem suizidgefährdeten Mieter nicht ohne Weiteres per Zwangsräumung die Wohnung nehmen. Doch stellt ein Gericht das Verfahren um die Zwangsräumung wegen einer erheblichen Gefahr für die körperliche Unversehrtheit eines psychisch kranken Mieters befristet ein, muss es auch Auflagen prüfen, damit der Eigentümer zumindest weiter seine Miete erhält, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 3. Januar veröffentlichten Beschluss. Der Mieter könne auch zur Mitwirkung gegenüber den Sozialbehörden verpflichtet werden, damit diese Mietzahlungen und -schulden übernehmen, so die Karlsruher Richter.

Im konkreten Streit ging es um einen 58-jährigen behinderten Mieter eines Hauses aus dem Raum Bernau bei Berlin. Er geriet mit dem neuen Vermieter wegen behaupteter Mietmängel aneinander. Als er daraufhin die Miete minderte, kündigte der Wohnungseigentümer wegen unterbliebener Zahlungen das Mietverhältnis und strengte zugleich ein Verfahren zur Zwangsräumung an.

Mieter klagte gegen Zwangsräumung

Der Mieter beantragte jedoch Räumungsschutz und verlangte die Einstellung der Zwangsräumung. Er verwies nicht nur auf seine drohende Obdachlosigkeit, sondern auch auf zahlreiche erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, darunter Depressionen.

Ein vom Landgericht Frankfurt/Oder beauftragter Sachverständige stellte wegen der drohenden Zwangsräumung bei dem Mann eine erhebliche Suizidgefahr fest. Eine Therapie des psychisch Kranken sei mangels Motivation nicht erfolgversprechend. Das Landgericht stellte daraufhin das Zwangsvollstreckungsverfahren befristet für zwei Jahre ein. Der Lebensschutz habe Vorrang, hieß es zur Begründung.

Landgericht muss Auflagen erneut prüfen

Der BGH verwies das Verfahren an das Landgericht zurück. Bestehe wegen der beabsichtigten Zwangsräumung eine erhebliche Suizidgefahr, könne im Einzelfall wegen der Gefahr für Leib oder Leben das Verfahren befristet eingestellt werden. Dem psychisch Kranken sei es jedoch zuzumuten, „auf die Verbesserung seines Gesundheitszustands hinzuwirken“. Hier hätte das Landgericht entsprechende Auflagen prüfen müssen.

Zudem dürfe auch das Vermögensinteresse des Vermieters nicht außer Betracht bleiben. So könnten gerichtliche Auflagen sicherstellen, dass der Eigentümer seine Miete erhält und bereits aufgelaufene Mietschulden beglichen werden. Der psychisch kranke Mieter könne zur Mitwirkung gegenüber den Sozialbehörden verpflichtet werden, damit diese die Mietschulden übernehmen.

Az.: I ZB 11/23



Landessozialgericht

Jobcenter müssen für angemietete Heizung im Eigenheim zahlen



Celle (epd). Mietzahlungen für eine Heizung können Unterkunftskosten sein und müssen vom Jobcenter übernommen werden. Sieht der Mietvertrag einer langzeitarbeitslosen Frau in einem selbst bewohnten Eigenheim den Einbau und anschließenden Betrieb der „Wärmeerzeugungsanlage mit Vollservice“ vor, können sich die Bezieher von Hartz IV, dem heutigen Bürgergeld, die monatlichen Abschlagszahlungen erstatten lassen, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in einem am 8. Januar veröffentlichten Urteil. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung ließen die Celler Richter die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.

Im konkreten Fall war die alleinstehende Klägerin auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Sie bewohnt ein schuldenfreies Einfamilienhaus mit rund 86 Quadratmeter Wohnfläche. 2016 schloss sie mit einem Energieversorger einen „Wärme-Plus“-Vertrag ab. Darin verpflichtete sich das Versorgungsunternehmen, eine Gasheizung zum Preis von über 5.500 Euro in das Einfamilienhaus einzubauen, diese zu warten und sie notfalls wieder auszutauschen.

Jobcenter wollte Mietraten nocht vollständig tragen

Die Frau mietete die Heizungsanlage an und verpflichtete sich, das Gas nur von dem Energieversorger zu beziehen. Nach höchstens 15 Jahren konnte sie die Heizung dann für einen geringen Betrag übernehmen. Für Miete und Wärmeversorung wurde im Jahr 2020 eine monatliche Abschlagszahlung in Höhe von 165 Euro fällig.

Das Jobcenter erkannte nur einen Heizkostenanteil von 96 Euro monatlich als Unterkunftskosten an. Der restliche Betrag für die Anmietung der Heizung stelle dagegen eine „Tilgungsleistung“ dar, die mit einem Darlehen vergleichbar sei. Auch wenn die Heizung nicht im Eigentum der Arbeitslosen stehe, diene sie doch der Wertsteigerung des Hauses. Dafür müsse die Allgemeinheit aber nicht aufkommen, befand die Behörde.

Das LSG urteilte jedoch, dass das Jobcenter die Abschlagszahlungen in Höhe von monatlich 165 Euro in voller Höhe übernehmen muss. Es handele sich hier um angemessene Unterkunftskosten des selbst genutzten Hausgrundstücks. Die Anmietung der Heizung diene der „Bewohnbarkeit des Hauses“. Die Anlage bleibe auch weiterhin im Eigentum des Versorgungsunternehmens. Tilgungsleistungen wie bei einem Darlehen seien die Abschlagszahlungen nicht, so das Gericht.

Az.: L 13 AS 74/23



Landessozialgericht

Keine Kostenerstattung für Augen-OP im Ausland



Celle (epd). Wer seinen Grauen Star im Ausland operieren lässt, kann nicht mit einer Kostenerstattung durch seine Krankenkasse rechnen. In einem am 8. Januar veröffentlichten Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden, dass die operative Behebung einer Eintrübung der Augenlinsen keine Notfallmaßnahme darstelle. Nur solche würden bei vorübergehenden Auslandsaufenthalten von der Krankenkasse übernommen.

Geklagt hatte eine türkischstämmige Frau, die seit dem Jahr 2015 an einem beginnenden Grauen Star der Augen litt. Während eines Urlaubs in der Türkei ließ sie 2019 an beiden Augen eine Linsenoperation in einer Privatklinik durchführen und reichte die Behandlungskosten von 1.600 Euro bei ihrer Krankenkasse ein.

Sorge um Augenlicht

Die gesetzliche Krankenkasse sowie die private Auslandskrankenversicherung der Klägerin lehnten eine Erstattung mit der Begründung ab, dass es sich um eine schleichende Erkrankung und keinen Notfall gehandelt habe. Die Frau hatte angeführt, dass die Linsentrübung sich in der Türkei derart verschlechtert habe, dass sie gestürzt sei und Sorgen gehabt habe, ihr Augenlicht zu verlieren.

Das LSG folgte der Rechtsauffassung der Krankenkasse. Der Anspruch scheitere schon deshalb, weil die Klägerin als Privatpatientin in einer Privatklinik behandelt worden sei. Derartige Behandlungen seien nicht im Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkasse enthalten. Zudem habe der behandelnde Arzt eine altersbedingte Linsentrübung festgestellt und die von der Patientin geschilderte plötzliche Verschlechterung des Sehvermögens ausgeschlossen.

Az.: L16 KR196/23



Landesarbeitsgericht

Bei schrittweiser Betriebsstilllegung Sozialauswahl erforderlich



Düsseldorf (epd). Bei einer schrittweisen Betriebsstilllegung als Folge einer Insolvenz kann ein Arbeitgeber Mitarbeiter nicht nach Gutdünken kündigen. Sollen bestimmte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer später noch Abwicklungsarbeiten durchführen, muss der Arbeitgeber eine Sozialauswahl vornehmen und festlegen, wer zuletzt betriebsbedingt gekündigt werden kann, urteilte am 9. Januar das Landesarbeitsgericht Düsseldorf.

Im Streitfall ging es um einen aluminiumverarbeitenden Betrieb mit knapp 600 Mitarbeitern. Als das Unternehmen Insolvenz anmelden musste, stimmten der Insolvenzverwalter und der Gläubigerausschuss der Einstellung der Geschäftstätigkeit zum Jahresende 2022 zu.

Für Abwicklungsarbeiten Sozialauswahl nötig

Fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden daraufhin ab Januar 2023 von der Arbeit freigestellt und zum 31. März betriebsbedingt gekündigt, darunter auch der Kläger. Lediglich ein kleiner Teil der Beschäftigten konnte für Abwicklungsarbeiten noch bis zum 30. Juni 2023 arbeiten. Der Kläger hielt die Kündigung für unwirksam, insbesondere, weil der Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft bei der Bundesagentur für Arbeit angezeigt hatte.

Das LAG erklärte die Kündigung für unwirksam. Fehler in der Massenentlassungsanzeige stellten jedoch keinen Unwirksamkeitgrund dar, weil „der Zweck der Anzeige nicht der Individualschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist“.

Schutzwürdigste Mitarbeiter bestimmen

Die Kündigungsschutzklage sei vielmehr dadurch begründet, weil der Arbeitgeber keine ausreichende Sozialauswahl vornahm. „Bei einer etappenweisen Betriebsstilllegung hat der Arbeitgeber keine freie Auswahl, wem er früher und später kündigt“, urteilten die Düsseldorfer Arbeitsrichter. Grundsätzlich müssten die schutzwürdigsten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den Abwicklungsarbeiten beschäftigt werden.

Für die Sozialauswahl müsse der Arbeitgeber Vergleichsgruppen anhand der bisher ausgeübten Tätigkeiten bilden und Anforderungsprofile für die Abwicklungsarbeiten erstellen. Dem sei der Arbeitgeber im Streitfall nicht hinreichend nachgekommen, befand das Gericht.

Az.: 3 Sa 529/23




sozial-Köpfe

Migration

Lavenex und Koenig neu im Sachverständigenrat




Sandra Lavenex, Matthias Koenig
epd-bild/Uni Göttingen/Christoph Mischke
Matthias Koenig, Soziologie-Professor an der Universität Heidelberg, und die promovierte Politikwissenschaftlerin Sandra Lavenex, die an der Universität Genf lehrt, sind neu in den Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) berufen worden.

Berlin (epd). Seit dem 1. Januar 2024 hat der Sachverständigenrat für Integration und Migration mit Matthias Koenig und Sandra Lavenex zwei neue Mitglieder. Sie folgen auf Professor Steffen Mau und die Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger, die Ende 2023 turnusmäßig ausgeschieden sind. Professor Marc Helbling geht unterdesen in seine zweite Amtszeit.

Koenig ist Professor für Empirische Makrosoziologie am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg. In seiner Forschung befasst er sich mit Menschenrechten, Migration, Religion und soziologischer Theorie. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf globalen und lokalen Dynamiken der Regulierung kultureller Diversität. Er war in den Vorständen verschiedener nationaler und internationaler wissenschaftlicher Organisationen tätig und ist derzeit Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Sandra Lavenex ist Professorin für Europäische und Internationale Politik an der Universität Genf, wo sie die Abteilung für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen leitet. In ihrer Forschung befasst sie sich mit regionaler und internationaler Migrationspolitik und ihren Wechselwirkungen mit Entwicklungs-, Handels-, humanitärer und Sicherheitspolitik sowie mit den Außenwirkungen europäischer Integration auf Drittstaaten und internationale Organisationen.

„Wir freuen uns, mit Matthias Koenig und Sandra Lavenex zwei ausgezeichnete wissenschaftliche Persönlichkeiten im Sachverständigenrat begrüßen zu dürfen. Mit ihrer Expertise decken sie wichtige Felder der aktuellen integrations- und migrationspolitischen Debatte in Deutschland und Europa ab; wir freuen uns auf ihre Impulse“, sagte Professor Hans Vorländer, Vorsitzender des SVR. Die Berufung gilt bis zum 31. Dezember 2026.

Die bisherigen SVR-Mitglieder Steffen Mau und Sieglinde Rosenberger sind turnusgemäß zum Jahreswechsel aus dem Rat ausgeschieden. Der Soziologe Steffen Mau von der Humboldt-Universität zu Berlin schied auf eigenen Wunsch nach einer Amtszeit von drei Jahren aus. Die Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger von der Universität Wien gehörte dem SVR seit 2018 an.

Als Mitglied des SVR wiederberufen wurde für eine zweite Amtszeit Professor Marc Helbling. Er hat eine Professur für Soziologie mit Schwerpunkt Migration und Integration an der Universität Mannheim inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, populistische und extremistische Einstellungen, Ursachen von Migration sowie Integration von Migranten und Migrantinnen.

Aufgabe des SVR ist laut Einrichtungserlass vom 2. Dezember 2020 die wissenschaftliche Beratung und die Erleichterung der Urteilsbildung der Bundesregierung sowie weiterer integrations- und migrationspolitisch verantwortlicher Instanzen und der Öffentlichkeit.



Weitere Personalien



Marie Kajewski wird neue Caritas-Direktorin in Hildesheim. Die Theologin und promovierte Politologin tritt ihr Amt am 1. April an. Sie wurde zur Nachfolgerin von Sabine Lessel-Dickschat und Reinhard Kühn gewählt, die den Verband zurzeit als kommissarischer Vorstand führen. Kajewski ist bislang hauptamtlicher Vorstand der Katholischen Erwachsenenbildung in Niedersachen mit Sitz in Hannover. Das Bistum freue sich, mit Marie Kajewski eine „Anwältin mit Herz“ für die Interessen der Menschen in Not gewonnen zu haben, hieß es. Die Caritas im Bistum Hildesheim vertritt als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege die Interessen von rund 8.500 Mitarbeitenden zwischen Elbe, Weser und dem Eichsfeld.

Andreas Magg (54), bisheriger Augsburger Diözesan-Caritasdirektor, übernimmt zum 1. Februar das Amt des Landes-Caritasdirektors in Bayern. Er folgt damit auf Bernhard Piendl, der das Amt seit 2012 innehatte und nun in den Ruhestand tritt. Die offizielle Amtsübergabe findet am 26. Januar bei einem Festakt statt. Zum Landes-Caritasverband gehören rund 6.000 soziale Einrichtungen und Verbände mit rund 184.000 Hauptamtlichen.

Gerhard Tepe (57) hat zum 1. Januar turnusgemäß den Vorsitz der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen übernommen. Der Vechtaer Caritasdirektor folgt auf Ralf Selbach, dem Vorstandsvorsitzenden des DRK-Landesverbandes Niedersachsen, der das Amt im Jahre 2023 innehatte. Tepes Stellvertreterin ist Kerstin Tack, Vorständin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Niedersachsen.

Dorothea Vischer (39) ist neue Pflegedirektorin am Diakonie-Klinikum Stuttgart. Sie übernimmt das Amt von Elke Reinfeld, die sich nach sieben Jahren im Juli 2023 in den Ruhestand verabschiedet hat. Christian Biedermann hatte die Pflegedirektion im zweiten Halbjahr 2023 kommissarisch inne und ist nun stellvertretender Pflegedirektor. Vischer koordiniert seit Jahresbeginn unter anderem den Pflegedienst, die Pflegekräfteausbildung, den OP- und Anästhesie-Funktionsdienst sowie die Intensivpflege. Parallel zu ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin absolvierte sie berufsbegleitend eine Weiterbildung zur Fachgesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Onkologie sowie zur pflegerischen Stationsleitung. Darüber hinaus hat sie einen Bachelor of Arts Medizinalfachberufe mit Schwerpunkt Pädagogik.

Marcus Zander, Sohn des Musikers und Entertainers Frank Zander, hat für die Organisation des Weihnachtsessens für Obdachlose in Berlin das Bundesverdienstkreuz erhalten. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) überreichte den Orden am 11. Januar. Wegner erklärte, Frank Zanders Weihnachtsessen für obdach- und wohnungslose Menschen sei eine Berliner Institution: „Sein Sohn Marcus ist seit zwei Jahrzehnten der Garant dafür, dass im Vorfeld und am Abend selbst alles optimal läuft.“ Planung und Logistik für zeitweise 3.000 Gäste, die Abstimmung mit Helferinnen und Helfern und die Koordination mit Sponsoren seien das Geschäft von Marcus Zander hinter den Kulissen.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Januar

19.1.-2.2.:

Online-Seminar „Psychiatrische Krankheitsbilder - Grundlagen“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-476

22.1.:

Online-Kurs „Agiles Führen - Methoden zur Steigerung der Verantwortlichkeit, Zusammenarbeit und Selbstorganisation“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

24.1. Köln:

Seminar „Personaleinsatzplanung unter dem Bundesteilhabegesetz“

der BFS Service GembH

Tel.: 0221/98816-802

24.1.:

Online-Seminar „Soziale Arbeit über Grenzen hinweg - offenes Beratungsangebot zu Einzelfragen der Kinder- und Jugendhilfe mit Auslandsbezug“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980605

24.1.:

Online-Seminar „Soziale Arbeit über Grenzen hinweg - offenes Beratungsangebot zu Einzelfragen der Kinder- und Jugendhilfe mit Auslandsbezug“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-605

24.1.:

Online-Kurs „Arbeitsorganisation und Tourenplanung - ein Seminar zur neuen Personalbemessung in stationären Pflegeeinrichtungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

25.1. Berlin:

Seminar „Das Strukturmodell zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation für Pflegefachkräfte“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828212

29.1.-28.3. Stuttgart:

Seminar „Von der Fach- zur Führungskraft“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-142

Februar

12.2. Berlin:

Seminar „Wer schaukelt das Kind? Partnerschaftliche Vereinbarkeitspolitik in der Diskussion. Pflege, Kinderbetreuung und Beruf geschlechtergerecht gestalten“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-605

12.2.-4.3.:

Online-Seminar „Nachwuchs gewinnen und fördern - so geht's“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828212

15.2. München:

Seminar „Interne Revision bei gemeinnützigen Trägern“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-119

20.2.:

Online-Kurs „Spendenrecht - steuerliche Regelungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

28.-29.2.:

Online-Kurs „Umgang mit Todeswünschen in der Palliativversorgung“

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

März

5.-6.3.:

Online-Seminar „Haftungsrecht und Gemeinnützigkeit“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

6.-7.3.:

Online-Fortbildung „Der Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (SGB XII)“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980 606

26.3.-23.4.:

Online-Seminar „Interkulturelle Sensibilisierung - Diversität im Unternehmen reflektiert begleiten“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495