Angesichts der fundamentalen, sozialen Krisen in unserem wohlhabenden Land drängt sich die Frage auf: Wie glaubwürdig ist unser Sozialsystem noch - und damit verbunden unser System insgesamt? Dieser Frage gehe ich hier am Beispiel der steigenden Pflegekosten und den Folgen für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen nach. Die Folgen des demografischen Wandels sind - ähnlich wie bei der Klimakrise - längst bekannt, und auch die Lösungen liegen schon lange auf dem Tisch. Es fehlt nicht an Erkenntnis, es fehlt an Umsetzung.
Und auch durchgerechnete Finanzierungsmodelle gibt es längst. Hätten wir etwa die seit Jahren von Wissenschaftlern und der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, aber auch von den Koalitionsfraktionen SPD und Grüne geforderte Bürgerversicherung, müssten nicht Generationen um ihre Versorgung im Alter fürchten. Um diesen Punkt geht es, um die Angst, eine existenzielle Angst, und um Würde, den Grundpfeiler unserer Verfassung.
Wenn man pflegebedürftig ist, konkretisiert sich die Angst vor Armut und Unterversorgung gerade für viele Betroffene: Jeder dritte Bewohner (32,5 Prozent) einer stationären Pflegeeinrichtung kann den Eigenanteil an den Pflegekosten aus der Rente nicht mehr bezahlen. 2.548 Euro Eigenanteil müssen im Schnitt für ein Pflegeheim jeden Monat aus eigenen Mitteln aufgebracht werden - bei 1.152 Euro Durchschnittsrente. Das heißt: Auch die Leistungszuschläge zum Eigenanteil (fünf Prozent im ersten Jahr) verpuffen. Für viele bleibt nur die „Hilfe zur Pflege“, also Sozialhilfe. Doch zuvor muss das Familieneinkommen verbraucht werden. Von diesem Zusammenhang sind also gleich mehrere Menschen betroffen.
Auch die Kosten für ambulante Pflege steigen rasant an. Hier wirken sich die Steigerungen voll auf den Eigenbeitrag aus. Die Ungleichbehandlung der Pflegesettings bei den Zuschüssen führt dazu, dass nicht-stationäre Angebote wie Tagespflege, Generationenhäuser, Alten- oder Demenz-WGs massiv benachteiligt werden, obwohl Menschen sich diese Wohnformen im Alter wünschen, wie eine unserer Studien belegt. Zugleich werden Betten und Pflegeplätze nicht besetzt, weil Personal fehlt. Der Kostendruck und der Fachkräftemangel führen dazu, dass bereits Pflegeanbieter aufgeben.
Eine weitere dramatische und volkswirtschaftlich womöglich sehr teure Konsequenz der ungedeckelten Eigenanteile der Pflegeversicherung als Teilkasko-Versicherung ist: Immer mehr Menschen verzichten auf notwendige Pflege, weil sie den Eigenbeitrag nicht bezahlen können. Die Rückmeldungen, die wir hier vor allem aus der ambulanten Pflege erhalten, sind alarmierend. Auch eine Studie des VdK, die auf Tiefenbefragungen basiert, zeit, dass auf notwendige Leistungen aus finanziellen Gründen verzichtet wird. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Pflegeschutzbund BIVA warnen vor einer Unterversorgung. In der Einleitung zu seinem neuen Buch „Die Notwendigkeit einer Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung“ schreibt der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang, dass pflegebedürftige Menschen aus finanziellen Gründen „auch“ in der häuslichen Pflege auf Leistungen verzichten.
Es gibt aber bisher in Deutschland keine validen Daten oder Studien zu den Fragen, in welchem Umfang pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen auf Pflegeleistungen verzichten, um zu sparen, oder weil sie Hilfe zur Pflege nicht beantragen möchten. Offen ist auch, welche Konsequenzen die unterlassenen Leistungen für die Pflegebedürftigen und die Gesellschaft haben. Und: Welcher volkswirtschaftliche Schaden entsteht dadurch, dass Angehörige selbst pflegen und nicht arbeiten? Sarina Strumpen, Projektleiterin im KDA, hat bereits während einer Sachverständigenanhörung im Gesundheitsausschuss des Brandenburger Landtags auf diese Situation hingewiesen und eine Evaluation angeregt.
Dass und wie Angst, Wut, Ohnmachtsgefühle und instabile Sozialsysteme sich auf das Wahlverhalten auswirken können, ist hingegen erforscht. Die Polarisierungstendenzen in unserer Gesellschaft sind bereits besorgniserregend. Die multiplen Herausforderungen erfordern aber den Zusammenhalt der Gesellschaft. Demographie, Dekarbonisierung und Digitalisierung müssen von allen bewältigt und sozial abgefedert werden. Verändernde Gestaltung braucht Vertrauen und Gemeinsinn, aber auch finanzielle Mittel. Hier sind alle demokratischen Parteien in der Pflicht.
Wer den gesellschaftlichen Wandel nicht sozial abfedert, gefährdet den Zusammenhalt. Menschen, die Angst und Ohnmacht spüren, sind anfälliger für einfache, extreme „Lösungen“. Unsere Demokratie und Werteordnung verteidigen wir gegen Aggressoren im Ausland. Die Feinde im Inland sind instabile, unterfinanzierte soziale Strukturen und unterlassene Reformen - und in der Folge Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust. Wer etwa die Bürgerversicherung aus lobby-getriebenen Gründen verhindert, gefährdet das Gesundheits- und Rentensystem - und setzt den inneren Frieden aufs Spiel.
Die Menschen erwarten zu Recht eine intakte, gesunde Lebensumgebung, soziale Sicherheit, bezahlbares Wohnen und eine funktionierende Infrastruktur. Aber auch digitale, Bildung und Entwicklungschancen, Krankenversorgung, Teilhabe, Betreuung und Pflege. Das sind Aufgaben des Gemeinwesens. Wir müssen die Demokratie auch hier, bei uns, schützen. Wir brauchen das Wir. Das Wir braucht Sicherheit für die grundlegenden Lebens- und Entfaltungsbedürfnisse. Es geht um den Kern unserer demokratischen Verfassung: die Würde des Menschen.