Hamburg (epd). Die Familienkasse darf für den Kindergeldanspruch von Eltern eines volljährigen behinderten Kindes keine zu hohen Anforderungen an den Nachweis der Behinderung stellen. Das gelte auch deshalb, weil der Nachweis der Behinderung gesetzlich nicht geregelt sei, so dass etwa die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises nicht zwingend nötig sei, entschied das Finanzgericht Hamburg in einem am 5. Januar bekanntgegebenen Urteil. Deshalb könnten auch ärztliche Bescheinigungen über dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen für den Kindergeldanspruch ausreichen, so das Gericht.
Nach dem Einkommensteuergesetz können Eltern für ihr behindertes Kind Kindergeld erhalten, wenn das Kind 25 Jahre oder älter ist. Voraussetzung ist, dass das Kind wegen einer „körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten“. Und: Die Behinderung muss vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sein.
Im Streitfall ging es um die 1987 geborene Tochter der Klägerin. Amtsärzte und ein sozialmedizinisches Gutachten hatten wiederholt festgestgellt, dass seit 2009 bei dem Kind eine seelische Beeinträchtigung vorliegt. So wurden ihr Angststörungen, eine depressive Grundstimmung und soziales Rückzugsverhalten bescheinigt.
Eine anerkannte Behinderung bestehe wegen der seelischen Beeinträchtigung aber nicht, hieß es in einem amtsärztlichen Gesundheitszeugnis. Allerdings drohe eine „seelische Behinderung“. Es bestehe nur eine „eingeschränkte Erwerbsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von unter 3 Stunden täglich für mehr als sechs Monate“. Die Deutsche Rentenversicherung bewilligte der Tochter 2017 eine befristete volle Erwerbsminderungsrente.
Die Familienkasse zahlte den Eltern wegen der Behinderung ihrer Tochter zunächst Kindergeld. Im Dezember 2021 verlangte die Behörde jedoch einen amtlichen Nachweis über das Vorliegen der Behinderung. Sie berief sich auf eine Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz. Danach kann der Nachweis der Behinderung durch Vorlage eines Schwerbehindertenausweises oder einer ärztlichen Bescheinigung erbracht werden, in der die Behinderung dokumtiert wird.
Die Tochter der Klägerin gab an, keinen Schwerbehindertenausweis zu besitzen. Sie habe auch keine ärztliche Bescheinigung über ihre Behinderung, weil ihre Hausärztin psychische Erkrankungen nicht ernst nehme.
Die Behörde hob die Kindergeldfestsetzung daher ab 2022 auf. Die Behinderung sei weder nachgewiesen worden noch liege eine anerkannte Behinderung vor. Zwar sei im Laufe des gerichtlichen Verfahrens im Jahr 2023 ein Grad der Behinderung festgestellt worden. Da die Tochter zu diesem Zeitpunkt bereits über 25 Jahre alt gewesen sei, könne die Klägerin kein Kindergeld mehr beanspruchen, hieß es.
Dem widersprach nun das Finanzgericht. Der Nachweis der Behinderung sei gesetzlich nicht geregelt. Die in der Dienstanweisung des Bundeszentralamtes für Steuern enthaltenen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Behinderung seien nicht abschließend geregelt. Die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises oder einer ärztlichen Bescheinigung, in der die Behinderung ausdrücklich festgestellt werde, sei für den Nachweis einer Behinderung nicht zwingend erforderlich, so das Gericht.
Letztlich könne nicht der ärztliche Gutachter, sondern nur das Gericht darüber entscheiden, ob eine Behinderung vorliegt und Eltern für ihr behindertes Kind Kindergeld erhalten können. Hier habe die Auswertung der amtsärztlichen Gesundheitszeugnisse und das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes ergeben, dass zumindest seit 2009 und damit noch vor Vollendung des 25. Lebensjahres eine seelische Behinderung vorgelegen habe und damit der Kindergeldanspruch bestehe.
Nach einem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 12. November 2020 muss für das Vorliegen einer Behinderung eine körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung für mindestens sechs Monate bestehen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verhindert. Maßgeblich sei die ihrer Art nach zu erwartende Dauer der Beeinträchtigung, hieß es. Allein eine Erkrankung, deren Ende nicht absehbar ist, reiche nicht, befand das Gericht.
Zudem müssten bei einer genetisch bedingten Behinderung deutliche Beeinträchtigungen vor dem 25. Geburtstag aufgetreten sein, so der Bundesfinanzhof in einem weiteren Urteil vom 27. November 2019. Erst dann könnten Eltern dauerhaft Kindergeld bekommen. Es sei aber nicht erforderlich, dass der Gendefekt schon vor Erreichen dieser Altersgrenze als Ursache der Beeinträchtigungen festgestellt wurde.
Az.: 1 K 121/22 (Finanzgericht Hamburg)
Az.: III R 49/18 (Bundesfinanzhof, nicht absehbares Erkrankungsende)
Az.: III R 44/17 (Bundesfinanzhof, genetisch bedingte Behinderung)