Pfungstadt (epd). Halima Gutale war 15 Jahre alt, als sie von Somalia nach Deutschland ins südhessische Pfungstadt kam. „Ich war wohlbehütet bis dahin und hatte von der Welt keine Ahnung“, erzählt sie. „In der Flüchtlingsunterkunft musste ich von heute auf morgen erwachsen werden.“ Ein Onkel der Familie war Minister in dem Bürgerkriegsland gewesen. Als die UN-Truppen 1995 Somalia verließen, schickten die Eltern ihre einzige Tochter außer Landes. „Sie meinten, ein Mädchen mit einem eigenen Kopf und einer eigenen Meinung sollte besser gehen.“
Zu Gutales Glück fiel der eigene Kopf auch einer Sozialarbeiterin der evangelischen Flüchtlingshilfe in Pfungstadt auf. „Sie hat mich quasi wie ein Familienmitglied aufgenommen“, erzählt Gutale. Für die Schulaufgaben habe die Betreuerin ihr einen neuen Schreibtisch, Stuhl und Bücher besorgt. Das Eingewöhnen war anfangs nicht einfach. Am Silvesterabend habe sie in einem Obstladen eingekauft, als die ersten Böller krachten, erzählt Gutale. „Ich habe mich sofort auf den Boden geworfen.“ Der Obsthändler habe ihr erklärt: „Keine Angst, hier wird gefeiert.“
Halima Gutale ging zielstrebig ihren Weg: Hauptschulabschluss, Mittlere Reife, Abitur, Mutter von vier Kindern, seit 2014 hauptamtliche Flüchtlings- und Integrationsbeauftragte von Pfungstadt als eine der ersten in Hessen. Dazu gründete sie den Verein „Halima aktiv für Afrika“, engagiert sich in der SPD, wurde zur Botschafterin für Demokratie und Toleranz in Deutschland 2023 ernannt und im Dezember zur Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl gewählt. „Die Erfahrung, zunächst schutzlos und unwissend zu sein, hat mich geprägt“, sagt Gutale. „Ich will Ungerechtigkeit bekämpfen und helfen, dass sie anderen nicht widerfährt.“
Ungleiche Behandlung hat Gutale bald erfahren. In der zehnten Klasse sei sie mit ihrer Freundin aus Bosnien zur Berufsberatung geschickt worden, erzählt sie. Die Beraterin habe ihre Freundin eine Stunde lang beraten und sie überhaupt nicht: „Du hast in Deutschland nur eine Duldung“, habe die Beraterin sie abgewiesen. Auch an der Schule sei sie nach der mittleren Reife wegen der befristeten Duldung nicht direkt zur gymnasialen Oberstufe zugelassen worden, obwohl ihr das als einer der drei Klassenbesten zugestanden hätte. „Da war mein Ehrgeiz geweckt“, sagt Gutale. „Man kann mich rechtlich begrenzen, meinen Geist kann man aber nicht begrenzen.“
„Ich möchte nicht was werden, ich möchte was verändern“, erklärt Gutale. In einer Einwanderungsgesellschaft gebe es Reibung, ist ihr klar. „Ich will nicht toleriert werden. Ich habe einen deutschen Pass, ich teile die gleichen Werte, ich gehöre dazu“, betont sie. Ihr Ziel: „Wenn wir unsere Unterschiede als Stärken erkennen und annehmen, können wir als Gesellschaft zusammenwachsen.“
Als Pfungstädter Beauftragte hat Gutale einiges bewirkt. Als es in der Flüchtlingsunterkunft Streit zwischen Angehörigen verschiedener Nationen gab, habe sie vor Ort alle zusammengerufen und angeordnet, dass jede Nation Vertreter wählen müsse. Diese bildeten einen Sprecherrat, der Entscheidungen gemeinsam traf und Probleme intern löste. „Dann kehrte Ruhe ein.“ Ferner stellte Gutale fest, dass Institutionen immer den Vater einer Familie als rechtliches Oberhaupt behandelten, der aber manchmal das Geld alleine ausgab. So sorgte die Integrationsbeauftragte dafür, dass in Pfungstadt ein Familienkonto bei der Bank auf den Namen der Mutter eröffnet wird und dass Mietverträge von der Mutter unterschrieben werden.
Als Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl will Gutale an die Politik appellieren, die Menschenrechte nicht nur im Mund zu führen, sondern die Verschärfung des Asylrechts zu stoppen. Kommunen brauchten mehr Unterstützung bei der Versorgung von Flüchtlingen, sagt die Beauftragte. Aber man dürfe nicht die Flüchtlinge verantwortlich machen für die Versäumnisse der Politik, nicht ausreichend Wohnraum, Kita-Plätze, Schulen oder Krankenversorgung geschaffen zu haben.
„Ich nehme Empathielosigkeit gegenüber dem Leid weltweit wahr“, ist Gutale besorgt. „Es bedarf einer Rückbesinnung auf eine solidarische Gesellschaft. Ein Mensch ist nicht weniger wert als der andere.“ Ihr größtes Glück bestünde darin: „Dass wir auf Menschlichkeit achten und die Menschenwürde verteidigen.“