Gießen (epd). In zwei Jahren gehe er in Rente, erzählt der Diplom-Pädagoge Matthias, und er erlebe gerade eine intensive Zeit des Übergangs: „Ich merke, was ich an meiner Arbeit habe, dass ich viele Sachen gut kann. Das versuche ich an meine Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben.“ Er freue sich auf den Ruhestand, aber: „Die vielen tollen Menschen aus meiner Arbeitswelt werden mir fehlen.“
In den nächsten Jahren verabschieden sich die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer aus dem Beruf. Vor ihnen liegen dann noch rund 20 Jahre Lebenszeit. 20 Jahre, so lange beträgt derzeit die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in Deutschland. „Das können noch mal 20 gute Jahre sein, in denen man mit Entdeckerfreude auf Expedition geht“, sagt die Bildungsreferentin des evangelischen Dekanats Wetterau, Britta Laubvogel.
Laubvogel, die selbst Rentnerin ist, hat ein Seminar für den Weg in den Ruhestand konzipiert: „Ruhestand - Ein unbekanntes Land!?“. Seit ein paar Jahren bieten sie und Kollegen es online und in Präsenz an. Das Interesse sei enorm. Zum Kursbeginn zeigen Laubvogel und ihr Kollege Jürgen Schweitzer Bilder von Brücken, die den Übergang symbolisieren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen darüber nachdenken, wo sie gerade stehen: auf einer Hängebrücke? Auf einer Autobahnbrücke?
Ein Seminarteilnehmer erzählt, dass er noch „mit Vollgas im Beruf unterwegs“ sei. Ein anderer befindet sich in Altersteilzeit, hat mittwochs frei und „übt“ schon mal den Ruhestand, mit Ausschlafen und langem Frühstück. Ehrenamtlich zeichnet er Wanderwege aus. Ein anderer, seit kurzem in Rente, singt wieder im Chor; in der Zimmerecke wartet die Posaune auf Betätigung. Ein weiterer lässt sich seit einem Jahr von einer Coachin begleiten. Er plant, später selbst als Coach zu arbeiten, für ihn sei „mit 66 noch lange nicht Schluss“.
Die Arbeit macht für viele Menschen einen wichtigen Teil im Leben aus, sie bringt Wertschätzung, strukturiert den Tag und ist Teil der Identität. Das Ende der Berufstätigkeit bedeutet einen tiefen Einschnitt. Laubvogel und Schweitzer stellen im Seminar Phasen des Ruhestands vor: Zuerst erleben viele Neu-Rentner einen „Honeymoon“, also ein Gefühl von Flitterwochen. Darauf könne Ernüchterung folgen. Nach einer Neuorientierung - was will ich eigentlich? - stelle sich ein seelisches Gleichgewicht wieder ein, die neue Rolle werde akzeptiert.
„Eine gute Vorbereitung puffert viel ab“, sagt die Ruhestandscoachin Gudrun Behm-Steidel. Zwei Dinge hält sie in der neuen Lebensphase für essenziell: Zum einen sei das ein soziales Netz aus Familie und Freunden, das man sich auf einem Blatt Papier ruhig einmal aufmalen könne.
Zweitens sei das richtige „Alters-Mindset“ wichtig. Damit meint sie eine „positiv-realistische Haltung“. Sie spricht von der „Lebensphase Freiheit“: „Wann habe ich noch einmal so viel Freiheit, etwas zu verändern? Das ist ein Geschenk.“ Gleichzeitig sei klar: „Das Leben ist endlich. Das gibt dem Ganzen eine andere Tiefe.“ Eine Gefahr sieht sie darin, in Aktionismus zu verfallen. „Ich muss Leere und Langeweile auch aushalten, denn dann merke ich erst, was mir fehlt.“
Die Publizistin Nicole Andries hat für ihr Buch „Wir wollen es noch mal wissen!“ Frauen porträtiert, die im Rentenalter neue Rollen ausprobieren. Sie sind Existenzgründerin, Tangolehrerin, Model, Künstlerin, Reiseveranstalterin oder Freiwillige in einem Hilfsprojekt in Japan. Auch Coachin Behm-Steidel ermutigt zu Experimenten: eine neue Sportart anfangen. Klavier lernen. Überlegen, welches Studienfach man früher gerne gewählt hätte. Gedankenspiele: Brauche ich wirklich so ein großes Haus? Will ich im Ausland leben? Man könne Sachen „mal klein ausprobieren, Schritt für Schritt, ohne Angst zu scheitern“.
Im Ruhestands-Seminar sollen die Teilnehmenden über ihre Ressourcen nachdenken. Sie nennen ganz unterschiedliche Dinge: Sport, Freunde, Liebe zur Natur, Geld. Der Ökonom Sven Voelpel rät, rechtzeitig auch die finanzielle Seite des Ruhestands im Blick zu behalten. Aktuell beträgt die monatliche Standardrente etwa 1.500 Euro. Eine Faustregel besage, dass man 80 Prozent des früheren Nettoeinkommens brauche, wenn man im Alter den gewohnten Lebensstandard halten wolle. Die staatliche Rentenversicherung bietet Beratung bei Fragen zur Rente an.
Der Wissenschaftler plädiert auch dafür, wenn möglich über das offizielle Rentenalter hinaus zu arbeiten. Das halte fit, und es müssten ja keine erschöpfenden 30 oder 40 Wochenstunden sein, schreibt er in seinem Buch „Entscheide selbst, wie alt du bist“. Erfahrene Handwerker könnten Ausbildungsprojekte leiten, ehemalige Buchhalterinnen Existenzgründerinnen unter die Arme greifen.
Pädagoge Matthias will den Ruhestand nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ angehen: Mal als Statist im Theater arbeiten, im Drogeriemarkt Regale auffüllen, im Naturschutz helfen. Er ist sich sicher, die freien Tage sinnvoll füllen zu können. Seine neueste Errungenschaft sei es, aus kleinen Dingen Kraft zu schöpfen, zum Beispiel: das sonnenbeschienene Moos am Wegrand entdecken und davon ein Foto machen. „Ich finde immer wieder so was“, sagt er.