die Pläne der Bundesregierung zur Reform des Unterhaltsrechts haben eine kontroverse Debatte ausgelöst. Heidi Thiemann von der Stiftung Alltagsheld:innen kritisiert, dass Elternteile, die sich stark in die Kinderbetreuung einbringen, in Zukunft weniger Unterhalt zahlen sollen. Sie sagt: „Wenn jetzt noch weniger Unterhalt reinkommt, ist das wirklich sehr unfair für die Kinder.“ Auch wird befürchtet, dass sich nach der Reform viele Eltern noch mehr als ohnehin schon um die Betreuungszeiten streiten werden. Der seit vielen Jahren alleinerziehende Vater Johannes Schölch-Mundorf schilderte dem epd, wie er in seiner Vaterrolle immer wieder Ausgrenzungen erfahren habe.
Nach der Überzeugung der Armutsforscherin Irene Becker deckt die beschlossene Kindergrundsicherung nicht den Bedarf von Kindern und Jugendlichen aus armen Familien. Zwar stiegen die Regelsätze ab 2024 deutlich. Das sei aber der Tatsache geschuldet, dass die Inflationsraten beim Bürgergeld stärker berücksichtigt werden, als dies bei Hartz IV der Fall war. Ob die vorgesehene Verwaltungsreform wirklich viele Kinder aus der verdeckten Armut holen werde, sei derzeit völlig offen.
Der Behindertenrechtsaktivist Ottmar Miles-Paul verarbeitet seine jahrzehntelangen Erfahrungen im politischen Kampf für Inklusion in einem Roman. In der fiktiven Geschichte zünden behinderte Menschen aus Frust ihre Werkstatt an. „Die Brandstiftung ist aus der Luft gegriffen“, sagt Miles-Paul, aber der Ärger der Betroffenen sei sehr real. Denn leider gehe es in Deutschland nur im Schneckentempo in Richtung eines selbstbestimmten, möglichst normalen Lebens für Menschen mit Behinderung.
Eine Erzieherin, die wiederholt in alkoholisiertem Zustand ihrer Arbeit in der Kita nachging, muss ihre Entlassung hinnehmen. Nach einem Urteil des Landesarbeitsgerichts in Mainz müssen Arbeitgeber alkoholkranken Angestellten auch nach einer Suchttherapie nicht unbegrenzt eine Chance zur Weiterbeschäftigung bieten.
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Ihr Markus Jantzer
Berlin (epd). Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat mit seiner Ankündigung, das Unterhaltsrecht zu reformieren, viele Eltern nervös gemacht. Betroffen sind vorwiegend Trennungsfamilien. Demnach sollen unterhaltspflichtige Elternteile, in den meisten Fällen Väter, weniger Unterhalt zahlen müssen, wenn sie sich mehr bei der Betreuung einbringen.
Jetzt sind Eckpunkte der geplanten Reform bekannt - und sie treffen auf Kritik. Konkret sollen Elternteile profitieren, die zwischen 30 und 49 Prozent der Kinderbetreuung übernehmen. Aktuell müssen jene Elternteile noch den vollen Unterhalt zahlen. Die Höhe der Entlastung wird individuell berechnet und richtet sich vorwiegend nach dem Einkommen beider Elternteile.
„Es muss einen Unterschied machen, ob sich jemand kaum oder zu einem gehörigen Anteil an der Kinderbetreuung beteiligt“, argumentiert Buschmann. Der Anteil der Betreuungsleistung soll nach der Anzahl der Übernachtungen berechnet werden. Nur falls keine Übernachtungen stattfinden und lediglich tagsüber betreut wird, müsse ein anderes Kriterium gefunden werden. Für Alleinerziehende, die weiterhin den überwiegenden Teil der Betreuung übernehmen, soll sich finanziell nichts ändern.
Die geplante Reform stößt auf Kritik. Heidi Thiemann von der Stiftung Alltagsheld:innen, die sich für die Rechte von Alleinerziehenden einsetzt, kritisiert: „Wir finden das überhaupt nicht fair. Schon jetzt ist jedes zweite Kind in einer Ein-Eltern-Familie von Armut betroffen, wenn jetzt noch weniger Unterhalt reinkommt, ist das wirklich sehr unfair für die Kinder.“
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) schlägt Alarm. Bundesvorsitzende Daniela Jaspers sieht die Gefahr, dass sich das Armutsrisiko von Alleinerziehenden und ihren Kindern weiter verschärfen wird. Ihre Begründung: „Nach einer Trennung sitzen immer noch viele Mütter in der Teilzeitfalle und müssen mit Betreuungslücken jonglieren. Da hilft es wenig, tageweise mehr Zeit zu haben, selbst wenn die Mitbetreuung verlässlich im Alltag ist.“
In den sozialen Medien regt sich Kritik unmittelbar Betroffener. Eine alleinerziehende Mutter schreibt im Internetdienst X, vormals Twitter: „Es geht nicht nur um Kinderbetreuung, sondern um laufende Kosten.“ Die Ausgaben für Miete, Kleidung, Vereine und Schule würden nicht weniger werden, wenn sich das Kind an ein bis drei Tagen nicht im Haushalt befinde. Eine andere bezeichnet die Reformpläne im Internetdienst X als „Schlag ins Gesicht alleinerziehender Mütter“.
Doch nicht nur Mütter haben Bedenken. Ein Vater, der sein Kind etwa zur Hälfte der Zeit betreut, teilte dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit: „Unsere mittlerweile zwölfjährige Tochter darf immer mehr selbst entscheiden, bei welchem Elternteil sie gerade sein möchte - ohne festes System. Man kann also gar nicht mehr genau sagen, wo sie wie viel Zeit verbringt.“
Der Vater, der anonym bleiben möchte, sieht in den Reformplänen die Gefahr, dass das gemeinsame Kind durch den hauptsächlich betreuenden Elternteil dem anderen vorenthalten werden könnte, damit weiterhin Geld in entsprechender Höhe fließe. „Durch die geplante Reform wird in zahlreichen Fällen der Streit um die Betreuungszeiten zunehmen“, befürchtet er.
Der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV) begrüßt wiederum die Eckpunkte. „Sie tragen der sozialen Wirklichkeit Rechnung. Niemand kommt an der Tatsache vorbei, dass viele Mütter und Väter auch nach der Trennung gemeinsam betreuen“, sagte Verbandssprecher Josef Linsler dem epd mit und kritisiert: „Die Tatsache, dass bisher nur einer allein zahlt, obwohl er mitbetreut, ist ungerecht und respektlos.“ Seiner Meinung nach solle der Grundsatz gelten: Beide betreuen, beide bezahlen.
Eine Unterhalt zahlende Mutter habe ihm gesagt, ihr gingen die Reformpläne des FDP-Ministers nicht weit genug. „Ich werde dann höchstens 100 Euro weniger Unterhalt zahlen, obwohl ich meine beiden Kinder zu 38 Prozent betreue, das ist nicht mehr als eine Anerkennung. Meine Kosten sind da bei weitem nicht gedeckt“, habe sie ihm wörtlich gesagt.
Frankfurt a.M. (epd). Dass man als Hausmann und engagierter Vater keinen leichten Stand hat, hat Johannes Schölch-Mundorf schon bald nach der Geburt seines Sohnes David erfahren müssen. Als sein Kind sechs Monate alt war, wollte er sich mit ihm gemeinsam in einer Schwimmgruppe anmelden. Doch dort stieß er nicht nur auf Wohlwollen. „Da waren ausschließlich Mütter, die mich als einzigen Vater schräg anschauten. Ich fühlte mich ausgeschlossen und unerwünscht“, sagt der 57-Jährige. „Das hat mich sehr getroffen.“
Als sein Sohn in der achten Klasse war, wollte sich Schölch-Mundorf in einer Elterngruppe der Schule engagieren. „Die Mütter machten eine zweite WhatsApp-Gruppe auf, mit der Begründung, da würden Frauensachen besprochen werden. Dadurch erhielt ich viele Informationen nicht“, sagt er. Auch beim Elternstammtisch, der einmal im Monat stattfand, waren nur Frauen. „Sie grenzten mich aus und gaben mir das Gefühl, unerwünscht zu sein. Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper.“ Fortan mied er den Stammtisch.
Die ersten drei Jahre nach der Geburt seines Sohnes befand sich Schölch-Mundorf in Elternzeit. Er kümmerte sich um die Betreuung seines Kindes, während seine Ehefrau studierte und als Bildungsreferentin arbeitete. Als ihr gemeinsamer Sohn vier Jahre alt war, trennte sich das Paar. Seine Frau zog mit dem Sohn nach Worms. Er sah ihn an Wochenenden und in den Ferien. Zehn Jahre später zog der 14-Jährige dann zu ihm nach Trier. So wurde Johannes Schölch-Mundorf ein alleinerziehender Vater.
Laut Statistischem Bundesamt steigt die Zahl alleinerziehender Väter stetig. Im Jahr 2022 waren 15 Prozent der Alleinerziehenden männlich. Zehn Jahre zuvor lag der Anteil bei zehn Prozent.
Annette von Alemann ist Professorin für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Sie beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Thema Vaterschaft. „Alleinerziehende Väter durchbrechen die klassische Vaterrolle“, sagt die Soziologin. Für sie sei das der Grund, wieso Schölch-Mundorf oft auf Unverständnis stoße.
Die Expertin spricht von einer Veränderung der Rollenbilder. „Männer heutzutage wollen sich von ihren eigenen Vätern abgrenzen, die weniger Zeit für sie hatten. Sie wollen für ihre Kinder präsent sein“, sagt sie. Das zeige sich auch am Beispiel Schölch-Mundorf.
Er genieße die Zeit mit seinem heute 22-jährigen Sohn. „Wir gehen oft wandern, wollen im Sommer für eine Woche nach Spanien in den Urlaub“, sagt er. Er sei stolz auf das enge Verhältnis zu seinem erwachsenen Sohn. Sein Sohn David sieht das ähnlich. „Meine Freunde fanden es immer cool, wenn mein Papa uns am Fußballfeld angefeuert hat, wir zusammen in die Schule geradelt sind oder sie einfach mal einen Einblick in eine entspannte “Männer-WG„ bekommen haben“, sagt der Student.
Von Alemann sieht jedoch auch, dass alleinerziehende Väter anders behandelt werden als Mütter. „Väter, die ihre Kinder zum Großteil allein betreuen, finden in der Gesellschaft sogar Bewunderung“, sagt Alemann. Die Soziologin spricht hier von einem Vater-Bonus. Alleinerziehenden Müttern hingegen werde weniger zugetraut. „Während alleinerziehende Frauen oft als überfordert und gestresst angesehen werden, schlägt Vätern häufig eine Welle der Unterstützung entgegen.“
Das kann Schölch-Mundorf so nicht bestätigen. Von einem Vater-Bonus könne er nicht sprechen. „Ich bekomme lediglich Anerkennung und Bewunderung von meinem engsten Freundes- und Familienkreis“, sagt er. Ansonsten stoße er oft auf veraltete Denkmuster. „Viele denken immer noch, Kindererziehung ist Frauensache“, kritisiert er.
In den Medien und in der politischen Debatte kämen Väter kaum vor. „Es werden immer nur die Lebensrealität und die Hürden alleinerziehender Mütter abgebildet. Wir Väter werden nicht gesehen“, klagt er. Auch von Alemann befürwortet eine direktere Ansprache alleinerziehender Väter in den Medien. „Das könnte Vätern Mut machen, sich mit anderen auszutauschen und zu sehen: Es funktioniert.“ Allerdings dürfe nicht geleugnet werden, dass Frauen immer noch den Großteil der Alleinerziehenden ausmachen.
Auch Oliver Malchow (Name geändert) übernimmt seit Ende 2022 die Betreuung seiner zwölfjährigen Tochter. Der Hamburger möchte anonym bleiben, da er sich in einem laufenden Sorgerechtsstreit mit der Mutter seines Kindes befindet.
„Ich habe viel Missgunst erlebt“, sagt Malchow. Als er sich im Kindergarten seiner Tochter als Elternvertreter bewarb, hieß es, er könne nicht kandidieren, da er kein Sorgerecht habe. „Auch als ich dann das gemeinsame Sorgerecht hatte, wurde weiterhin blockiert“, kritisiert er.
Riedstadt (epd). Irene Becker rechnet seit vielen Jahren immer wieder vor, dass die Regelsätze für die Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV (heute Bürgergeld) nicht das Existenzminimum sichern. Im epd-Interview erklärt die Volkswirtin nun, dass daran auch die neue Kindergrundsicherung nichts ändern werde. Die neue Leistung werde die Kinder nicht aus der Armut holen. Die Fragen stellte Markus Jantzer.
epd sozial: Bundesfamilienministerin Paus hat nach der Einigung mit Finanzministerin Lindner verkündet, dass die Sozialleistungen für Kinder aus armen Familien mit der Einführung der Kindergrundsicherung ab 2025 stark steigen werden. Für Kleinkinder sollen sie demnach von derzeit 318 Euro im Monat auf 530 Euro im Monat steigen, armutsgefährdete Jugendliche sollen statt derzeit monatlich 357 Euro im Jahr 2025 636 Euro erhalten. Für wie realistisch halten Sie diese Angaben?
Irene Becker: Diese Angaben für 2025 sind durchaus realistisch, sie signalisieren aber keine Leistungserhöhung infolge der Einführung der Kindergrundsicherung. Denn die für dieses Jahr genannten Zahlen und die von Frau Paus für 2025 erwarteten Beträge sind überhaupt nicht vergleichbar. Die für 2023 genannten Zahlen beziehen sich ausschließlich auf den aktuellen Regelbedarf für Bezieher des Bürgergeldes. Das Gesamtleistungspaket, das Kindern derzeit maximal zustehen kann, ist aber auch jetzt wesentlich höher - und nur in der Gesamtschau mit den für die Kindergrundsicherung 2025 genannten Beträgen vergleichbar.
Zu den Regelbedarfen von 2023 müssen also noch die für Kinder veranschlagten Kosten für Unterkunft und Heizung sowie verschiedene Elemente des Bildungs- und Teilhabepakets addiert werden. Hinzu kommt auch der Kindersofortzuschlag, der als Zwischenlösung bis zum Inkrafttreten der Kindergrundsicherung konzipiert worden ist. Damit ergeben sich aktuell Beträge von 476 Euro für Kinder von drei bis unter sechs Jahren und 593 Euro für Jugendliche ab 14 Jahren.
Um auf die Ansprüche von Kindern im Bürgergeldbezug im nächsten Jahr zu kommen, ist die Erhöhung der Regelbedarfsstufen zum 1. Januar 2024 um 12 Prozent zu berücksichtigen - mit dieser Anpassung wird dem im Bürgergeldgesetz festgelegten Verfahren gefolgt. Damit ergeben sich für das Jahr vor Inkrafttreten der Kindergrundsicherung aus der Summe der Einzelleistungen Höchstbeträge von 520 Euro für Kinder zwischen drei und sechs Jahren und 650 Euro für Jugendliche. Diese Werte für 2024 liegen ganz in der Nähe der Angaben von Ministerin Paus für 2025: 530 Euro bzw. 636 Euro. Wo ist da eine deutliche Leistungsanhebung infolge der Einführung der Kindergrundsicherung zu sehen? Ich sehe eher eine Verringerung der realen Beträge, wenn zum 1. Januar 2025 keine Anpassung entsprechend der Inflationsrate erfolgt.
epd: Der Arbeitskreis Armutsforschung, in dem Sie zusammen mit anderen Forschern sowie Sozialexperten aus der Praxis ein neues Papier zur Kindergrundsicherung verfasst haben, fordert seit vielen Jahren, dass der Staat die etwa zwei Millionen Kinder, die an der Armutsgrenze leben, aus der Armut herausholt. Wird das Gesetz zur Kindergrundsicherung dies leisten?
Becker: Ich fürchte nein. Klar ist, dass eine Zusammenfassung bestehender Leistungen für Kinder sinnvoll ist. Hier liegt der Schwerpunkt des Referentenentwurfs zur Einführung einer Kindergrundsicherung. Ob damit letztlich verlässliche Strukturen und Verfahren geschaffen werden, damit die Leistungen bei den Berechtigten auch wirklich ankommen, hängt aber von vielen Detailregelungen ab - das Ergebnis ist noch schwer abschätzbar.
Der geplante Abbau des Leistungsdschungels reicht aber nicht aus, um Armutslagen von Kindern zu vermeiden und mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Denn dazu muss zunächst die Höhe der Leistungen überprüft werden. Kindliche Bedarfe müssen neu und sachgerecht ermittelt werden, was nach vorliegenden Erkenntnissen über die methodischen Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelbedarfsermittlung zu einer Anhebung der Transfers zur Existenzsicherung führen würde.
epd: Wie viel Geld müsste der Staat jährlich in den Bundeshaushalt einstellen, um Kinder aus der Armut herauszuholen? Familienministerin Paus sprach von „mindestens 12 Milliarden Euro“ …
Becker: Diese Frage kann ich Ihnen nicht genau beantworten - nicht nur weil die erforderlichen Berechnungen hochkomplex sind. Die fiskalischen Folgen einer „armutsfesten“ Kindergrundsicherung hängen auch von Wertungen ab, die von wissenschaftlicher Seite nicht vorgegeben werden können. Konkret geht es um die zentrale Frage, bei welchem Rückstand des unteren Einkommensbereichs gegenüber der gesellschaftlichen Mitte soziokulturelle Teilhabe und ein gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen noch möglich ist.
Auf der Basis meiner früheren Berechnungen sind die von der Ministerin zunächst angesetzten 12 Milliarden Euro als Nettokosten der Kindergrundsicherung eher eine Untergrenze. Wenn das Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen mit Blick auf gute Entwicklungsperspektiven stärker den mittleren Standards angenähert werden soll, können fiskalische Mehraufwendungen von 20 bis 40 Milliarden Euro anfallen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn von einer 100-prozentigen Inanspruchnahme zustehender Leistungen der Kindergrundsicherung ausgegangen wird. Diesen Milliarden müssten aber eigentlich die gesellschaftlichen Folgekosten von Kinderarmut, die dann nicht anfallen würden, gegengerechnet werden.
epd: Im nächsten Jahr steigen die Sätze für das Bürgergeld (früher Hartz IV) für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche um 12 Prozent. Das ist die höchste Steigerung seit Einführung der Hartz-Gesetze vor 20 Jahren. Können Sie das als Armutsforscherin noch glaubwürdig kritisieren?
Becker: Mit dieser Erhöhung folgt die Regierung der Dynamisierungsregel laut Paragraf 28a SGB XII, wonach insbesondere die Preisentwicklung und zu einem kleineren Teil die Einkommensentwicklung berücksichtigt wird. Dass eine Erhöhung von 12 Prozent bisher noch nicht vorgekommen ist, liegt allein an der Inflation seit Ende 2021 und insbesondere im Jahr 2022. Es ist gut, dass es zumindest diese gesetzliche Anpassungsvorschrift gibt. Kritik ist dennoch angebracht, da die inflationsbedingte Anhebung zu spät kommt. Für starke inflationäre Preisentwicklungen sollten daher auch unterjährige Anpassungen der Regelbedarfe gesetzlich verankert werden.
epd: Die Bundesregierung hat eine Verwaltungsreform angekündigt, die dafür sorgen soll, dass alle Familien, die Anspruch auf Sozialtransfers haben, diese auch wirklich erhalten. Wie zuversichtlich sind Sie, dass das gelingt?
Becker: Sie sprechen das Problem der sogenannten verdeckten Armut, also der Nichtinanspruchnahme zustehender Sozialleistungen, an. Ich schätze, dass deutlich mehr als ein Drittel der berechtigten Familien derzeit ihre Ansprüche nicht wahrnehmen. Es ist bisher schwer absehbar, inwieweit die Zusammenlegung von Kindergeld, Kinderzuschlag und Bürgergeld für Kinder im Kontext mit einer Digitalisierung von Antragstellung und -bearbeitung zu einem merklichen Abbau der verdeckten Armut führt. Die Ministerin selbst geht ja nach eigenen Angaben davon aus, dass 2025 mehr als die Hälfte der leistungsberechtigten Kinder - aus welchen Gründen auch immer - nur den Garantiebetrag, nicht aber den ihnen zustehenden Zusatzbetrag erhält. Das wäre ein sehr ernüchterndes Ergebnis. Ich erwarte und erhoffe aber für die Folgejahre einen mäßigen Rückgang der verdeckten Armut.
epd: Wenn der Staat durch eine neue Kindergrundsicherung Kinder aus der Armut herausholt, nimmt er damit nicht den Eltern dieser Kinder den Ehrgeiz, aus eigener Kraft aus der Misere zu kommen?
Becker: Nein, dieses Problem sehe ich nicht. Mit dieser Frage sprechen Sie ein Menschenbild an, das der Realität nicht gerecht wird. Menschen begnügen sich nicht mit einem Minimum. Menschen haben individuelle Ziele, Lebensentwürfe und Präferenzen, Sicherheitsbedürfnisse, orientieren sich am Erreichbaren, wollen nach eigenen Vorstellungen leben und nicht auf dem Existenzminimum verharren. Und Eltern haben den Wunsch, dass ihre Kinder gut, selbstständig und selbstbestimmt durchs Leben kommen. Auch die große Zahl von etwa 800.000 Erwerbstätigen mit aufstockendem Bezug von Bürgergeld spricht gegen die These, dass man gerne den Staat für sich sorgen lassen würde.
epd: Fürchten Sie nicht, dass den betroffenen Kindern, aber auch vielen Kindern aus anderen Familien, damit vermittelt wird: „Du brauchst dich im Leben nicht anzustrengen, der Staat sorgt schon für dich“?
Becker: Nein! Ich denke, was ich zum allgemeinen Menschenbild und zur Motivlage von Eltern gesagt habe, gilt gleichermaßen für Kinder und Jugendliche. Sie wollen mehr, als nur gerade an der Armutsgrenze zu leben. Sie haben eigene Interessen, Perspektiven und Ziele. Energie und Kreativität von Kindern gehen eher verloren, wenn sie in Armut aufwachsen und sich resigniert, frustriert oder eingeschüchtert zurückziehen. Deshalb ist eine Überwindung von Armut gerade bei Kindern so wichtig.
Berlin (epd). Einer der größten Sozialverbände und die Klimabewegung „Fridays for Future“ haben sich zusammengetan. Gemeinsam fordern sie von der Bundesregierung die zügige Einführung des geplanten Klimageldes als sozialen Ausgleich für steigende CO₂-Preise. Unterstützung erhalten sie dabei vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, sagte am 5. September in Berlin vor dem Kanzleramt: „Wenn die Bundesregierung tatsächlich den CO₂-Preis weiter anhebt, das versprochene Klimageld aber ausbleibt, wäre das aus sozial- und klimapolitischer Sicht fatal.“
Die Sprecherin von „Fridays for Future Deutschland“, Luisa Neubauer, warf der Regierung eine Blockade des sozialen Klimaschutzes vor. Klimabewegung und Paritätischer bezeichneten die Pläne der Bundesregierung als unverständlich, „die Einführung des Klimageldes auf unbestimmte Zeit zu verschieben, während der CO₂-Preis ab 2024 um ein Drittel steigen soll“.
DIW-Präsident Marcel Fratzscher, betonte, die größte Gefahr für den Klimaschutz sei fehlende soziale Akzeptanz. Deshalb sei die Einführung eines Klimageldes so wichtig. Zugleich sprach er sich gegen einen Industriestrompreis aus. Eine Subventionierung fossiler Energieträger sei mit dem Klimaschutz nicht vereinbar.
„Fridays for Future“ rief für den 15. September zum weltweiten Klimastreik auf. In Deutschland seien in rund 100 Orten Aktionen geplant, sagte Pit Terjung, Sprecher der Bewegung.
Das von der Bundesregierung geplante Klimageld soll den Bürgerinnen und Bürgern aus dem Klima- und Transformationsfonds ausgezahlt werden. Es geht darum, den steigenden CO₂-Preis auf Erdöl, Gas und Kohle auszugleichen, den die Menschen zahlen müssen. Dabei soll ihnen ein Anreiz gegeben werden, sich etwa beim Heizen und Autofahren nach günstigeren Möglichkeiten umzuschauen, die zugleich klimafreundlicher sind.
Ende August sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass zunächst die technischen Möglichkeiten für das Klimageld geschaffen werden müssten. Ähnlich äußerte sich Finanzminister Christian Lindner (FDP). Er gehe davon aus, dass der Auszahlungsmechanismus 2024 zur Verfügung stehe.
„Fridays for Future“ und Paritätischer unterstützen die Koppelung steigender CO₂-Preise mit einer Rückzahlung der Einnahmen als Pro-Kopf-Prämie. Schneider betonte, wirksamer Klimaschutz verliere an Akzeptanz, „wenn er nicht direkt mit Antworten darauf verknüpft wird, wie soziale Sicherheit hergestellt werden kann. Das darf nicht passieren“, sagte er.
Münster (epd). Katja Lindemann (Name geändert) hatte keine leichte Kindheit. „Ich wuchs bei zwei psychisch labilen Elternteilen auf“, sagt sie. Sie kommt aus dem Münsterland. Sie möchte nicht, dass ihr genauer Wohnort genannt wird. Auch ihren richtigen Namen möchte sie nicht in den Medien lesen. Sie habe Angst vor Hass im Netz. „Es geht mir um Selbstschutz“, erklärt sie.
Lindemanns Eltern seien beide in ihrer Kindheit traumatisiert worden und hätten ihre psychischen Verletzungen auf ihre beiden Kinder übertragen. Noch heute leidet die 39-Jährige unter den Folgen: „Ich hatte mit meinen fast 40 Jahren noch nie eine Beziehung“, sagt sie. Auch bei ihrem ein Jahr älteren Bruder hätten die Ereignisse Spuren hinterlassen. „Er kam in falsche Kreise, wurde drogenabhängig. Er hat mit Psychosen und einer diagnostizierten Schizophrenie zu kämpfen“, sagt sie. „Für ihn ist jeder Tag die Hölle.“
Für Diplom-Psychologe Steffen Jacob aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde ist der Fall klar. „Unbehandelte psychische Probleme wirken seelisch und körperlich weiter und können sich auf die nächste, sogar die übernächste Generation übertragen“, sagt er. Das eigentliche Trauma sei nicht das Erlebnis an sich, sondern wie es von dem Menschen, der es erfährt, verarbeitet wird. Der Umgang sehe bei jedem anders aus. Eine Suchterkrankung, wie bei Lindemanns Bruder, sei eine häufige Folge.
Dabei schienen die Lindemanns nach außen hin eine normale Familie zu sein. „Mein Bruder und ich hatten immer saubere Kleidung, fehlten fast nie in der Schule, hatten gute Noten“, erinnert sie sich. Niemand habe geahnt, was sich hinter verschlossenen Türen abspielte.
Wie ein Mensch mit Traumata umgehe, komme auch auf seine Umgebung an. „Wenn Eltern ihre eigenen Gefühle tabuisieren, werden sie auch nicht angemessen auf ihre Kinder eingehen können“, erklärt Jacob. Eltern würden oft unangenehme Dinge vor ihren Kindern verschweigen, um sie zu schützen. „Diese spüren aber, dass etwas nicht stimmt.“
Lindemanns Vater wuchs in armen Verhältnissen auf. „Er beschwerte sich jahrelang, dass seine Geschwister immer bevorzugt wurden“, sagt sie. Seine Überzeugung, von jedem gehasst zu werden und nirgends hineinzupassen, habe er auf seine beiden Kinder übertragen. „Er ist davon überzeugt, dass alles schlecht ist und alle böse sind“, sagt Katja Lindemann.
Mit Kritik habe er nicht gut umgehen können. Sie sei häufig der Auslöser von Panikattacken und Wutanfällen gewesen, erinnert sich Lindemann. „Auf Kleinigkeiten reagierte er, als wäre es ein Weltuntergang“, sagt sie. Um ihn nicht zu provozieren, habe sie oft ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse unterdrückt. „Ich lebte in der Überanpassung. Ich lief wie auf Porzellan“, sagt sie.
Auch ihre Mutter habe psychische Probleme gehabt. „Sie wollte immer von jedem gemocht werden und reagierte extrem sensibel auf Zurückweisung.“
Dieses Muster ist für Psychologe Jacobs typisch. „Die beiden ergänzen sich in ihren Stärken und Defiziten. Die Beziehung wäre sonst schnell am Ende“, erklärt er. Katja Lindemann sagt über ihre Eltern: „Sie sind eigentlich gute Menschen, aber durch ihre unbehandelten Traumata waren sie nicht in der Lage, sich um uns zu kümmern.“
Luise Reddemann arbeitete jahrzehntelang mit Patienten zusammen, die unter Traumafolgen litten. Die Fachärztin für Nervenheilkunde war 19 Jahre lang Chefärztin einer Klinik für psychotherapeutische Medizin in Bielefeld. „Ich hatte in der Klinik und in meiner Praxis viele Patientinnen und Patienten, deren Eltern traumatisiert waren und ihren Stress auf verschiedene Weise weitergegeben haben“, sagt Reddemann. Fälle wie die von Lindemann gebe es häufig. „Es handelt sich hierbei um eine transgenerationale Weitergabe - und darunter leiden nicht wenige“, sagt sie.
Genaue Zahlen gibt es laut Deutscher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hierzu nicht. Experten ermittelten jedoch ein dreifach erhöhtes Misshandlungsrisiko, wenn Eltern in ihrer Kindheit ebenfalls Misshandlung erlebt haben.
Nach Reddemanns Einschätzung liegt der Ursprung vieler Traumata im Zweiten Weltkrieg, teilweise bereits im Ersten. „Viele Männer, die aus dem Krieg zurückkamen, waren traumatisiert“, sagt die Neurologin. „Traumatisierte Menschen können eine Tendenz haben, ihre Partner und Kinder zu misshandeln und damit zu traumatisieren“, sagt sie. Auch Vernachlässigung sei eine subtile Form der Weitergabe von Trauma. Die Weitergabe von Traumata könne sich in viele weitere Generationen ziehen.
Katja Lindemann meidet bis heute größere Veranstaltungen und öffentliche Plätze, an denen sich viele Menschen versammeln. Dabei ging es ihr eine Zeitlang gut. „Ich bin für mein Abitur und meine Ausbildung ausgezogen und hatte einige Hürden gemeistert“, erinnert sie sich. Ihren Bachelor in Medieninformatik schloss sie mit sehr gut ab. Im Berufsleben kam sie allerdings nicht zurecht. Ihr wurde schließlich Berufsunfähigkeit attestiert. Heute beziehe sie Erwerbsminderungsrente. Sie sei nicht in der Lage, einem Beruf nachzugehen. Die richtige Hilfe habe sie nie erhalten.
Oldenburg (epd). Der Oldenburger Psychiater Claus Bajorat sieht den vom Bundesverfassungsgericht gewiesenen Weg einer Liberalisierung des ärztlich assistierten Suizids mit Sorge. „Wir dürfen als Gesellschaft nicht dahin kommen, dass Bürgerinnen und Bürger den Suizid als normale Option empfinden“, sagte der Mediziner anlässlich des Welttags der Suizidprävention am 10. September. „Die Gefahr besteht, dass sich Menschen, die sich als überflüssig und einsam empfinden, unter Druck gesetzt fühlen, diesen Weg zu gehen.“
Dies sei etwa mit Blick auf alleinstehende, ältere, psychisch kranke und pflegebedürftige Menschen zu befürchten, sagte er. In diesen Gruppen sei die Suizidrate ohnehin erhöht. Auch die Mehrheit der Psychiaterinnen und Psychiater stehe der Liberalisierung der Sterbehilfe kritisch gegenüber. Bajorat ist Psychiater der Universitätsmedizin Oldenburg und Projektleiter des Bündnisses gegen Depression Weser-Ems.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 das erst 2015 verabschiedete Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz gekippt und den Bundestag damit beauftragt, die Suizidhilfe gesetzlich zu regeln. Die daraufhin im Juli zur Abstimmung gebrachten Gesetzentwürfe wurden jedoch beide mehrheitlich zurückgewiesen. Seit dem Urteil der Verfassungsrichter befindet sich der assistierte Suizid in einer rechtlichen Grauzone.
Suizidversuche seien fast immer Folge und Ausdruck einer psychischen Erkrankung, die behandelt werden könne, betonte der Arzt. Er habe bereits viele Betroffene erlebt, die wider eigenem Erwarten zu einer normalen Lebensqualität zurückgefunden haben und wieder Lebensfreude empfinden. Studien aus anderen Ländern zeigten, dass sich bei einer Liberalisierung der assistierten Selbsttötung mehr Menschen für diesen Weg entscheiden. „Wir laufen Gefahr, Menschen zu verlieren, die das bei anderer Betrachtung ihrer Gesamtsituation vielleicht doch nicht gewollt hätten.“
Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der Menschen, die durch Suizid sterben, seit 1980 halbiert. Seit Jahren stagniert sie bei 9.000 bis 10.000. „Eine der Ursachen für diese Entwicklung sehe ich darin, dass psychische Erkrankungen entstigmatisiert und häufiger diagnostiziert werden“, sagte Bajorat. Auch die Medikamente zur Behandlung von Depressionen und die psychotherapeutische Versorgung seien besser geworden. Dennoch stürben immer noch weit mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle oder Gewalttaten. Fast drei Viertel der Betroffenen seien Männer. Hingegen verübten Frauen häufiger Suizidversuche.
Indes gebe es starke Hinweise, dass in der Gruppe der religiösen oder spirituell geprägten Menschen sowohl psychische Erkrankungen als auch Suizide seltener auftreten, ergänzte Bajorat. „Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Es gibt sicher Halt, einen Sinn über das eigene Leben hinaus zu empfinden. Auch der Gemeinschaftsaspekt von Religion ist eine psychische Ressource.“
Doch auch der Trauer solle der Welttag der Suizidprävention Raum geben, sagte der Psychiater: „Der Tag soll auch dem akzeptierenden Gedenken an die Menschen dienen, die für sich diesen Weg gewählt haben und von ihren Angehörigen schmerzlich vermisst werden.“
Brüssel (epd). Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für einen europäischen Behindertenausweis vorgelegt. "Die Rechte von Menschen mit Behinderungen dürfen nicht an den nationalen Grenzen haltmachen”, sagte die Vizepräsidentin der Kommission, Vera Jourova, am 6. September in Brüssel. Mit dem Ausweis will die EU die Freizügigkeit, die ein Kernelement und die Haupterrungenschaft der Union sei, auch für Menschen mit Behinderung zugänglich machen. Reisen soll so einfacher und barrierefreier werden.
Das Dokument solle EU-weit als Nachweis einer anerkannten Behinderung dienen, hieß es. Der Ausweis werde nationale Behindertenausweise oder -bescheinigungen nicht ersetzen, sondern ergänzen, betonte die EU-Kommission. Für die Anerkennung und erstmalige Ausstellung eines Behindertenausweises sollen auch weiterhin die Mitgliedstaaten verantwortlich sein.
Man wolle in erster Linie das Kernproblem der fehlenden Anerkennung der Unterlagen angehen und rechtliche Unsicherheit abbauen, die Menschen mit Behinderungen davon abhalten könnten, in der EU zu reisen. Sonderkonditionen und Vorzugsbehandlungen wie kostenloser oder vorrangiger Zugang, ermäßigte Preise und exklusive Parkrechte würden dann einheitlich gültig. In acht EU-Ländern wurde ein vergleichbarer Ausweis bereits getestet, die Ergebnisse werden als Erfolg gewertet, wie Jourova erklärte.
Neben dem einheitlichen europäischen Behindertenausweis stellte die Kommission auch einen neuen europäischen Parkausweis für Menschen mit Behinderung vor. Dieser soll ebenfalls in allen 27 Mitgliedsstaaten der EU anerkannt werden. Die Fahrt mit dem Auto sei für viele Menschen mit Behinderung weiterhin die beste und manchmal einzige Möglichkeit, mobil zu sein. Mit den Ausweisen wolle man Barrieren abbauen. Die Mitgliedstaaten sollen nach dem Vorschlag verpflichtet werden, nationale Parkausweise durch den europäischen Parkausweis zu ersetzen.
Beide Ausweise sollen sowohl physisch als auch digital verfügbar sein. Der Kommissionsvorschlag wird nun dem EU-Parlament und den Mitgliedsländern vorgelegt. Wenn beide Instanzen zustimmen, haben die EU-Staaten 18 Monate Zeit, um die Regelungen umzusetzen.
Hannover, Hamburg (epd). Hamburg und das niedersächsische und schleswig-holsteinische Umland wollen als erste Modellregion mit der Gesellschaft für Telematik die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben. Ein Konsortium um das Ärztenetz Hamburg erhielt den Zuschlag, digitale Anwendungen wie die elektronische Patientenakte oder das E-Rezept im Versorgungsalltag zu erproben, wie die Hamburger Sozialbehörde am 1. September mitteilte. Patientinnen und Patienten sollen eng in die Erprobung eingebunden werden.
„Anwendungen wie die elektronische Patientenakte haben einen konkreten Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger“, sagte Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD). Befunde und Medikationspläne könnten so gesammelt und digital schnell den Arztpraxen und Krankenhäusern zur Verfügung gestellt werden. Auch die Gesundheitseinrichtungen profitierten, wenn das Warten auf das Eintreffen von Vorbefunden per Post entfalle.
Patientinnen und Patienten sollen laut Sozialbehörde beispielsweise entscheiden können, welche medizinischen Dokumente in der elektronischen Patientenakte welchen Akteuren aus dem Gesundheitswesen zur Verfügung gestellt werden sollen. So ließen sich zum Beispiel Befunde vom Hausarzt bei einem Krankenhausaufenthalt mit den dortigen Behandlerinnen und Behandlern teilen. Das erspare Wartezeiten und vermeide Doppeluntersuchungen, hieß es.
Bereits in der Bewerbungsphase zur Modellregion bekundeten den Angaben zufolge mehr als 170 Gesundheitseinrichtungen in Hamburg und den Einzugsgebieten aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen ihre Absicht an einer Mitwirkung. Die Erprobung soll dabei möglichst viele verschiedene Sektoren und Fachberufe einbeziehen, hieß es. Die Sozialbehörde übernimmt die fachpolitische Koordination auch nach Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
Münster (epd). Das Inklusionsamt des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) hat im vergangenen Jahr 554 Kündigungen von schwerbehinderten Beschäftigten verhindert. Damit sei es in über 50 Prozent der Kündigungsschutzverfahren gelungen, den Arbeitsplatz zu erhalten, erklärte der LWL am 1. September in Münster. Insgesamt seien 2022 knapp 2.000 Zustimmungsanträge von Arbeitgebern zur Kündigung von Schwerbehinderten eingegangen, davon seien knapp 900 zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern streitig gewesen.
Das Inklusionsamt habe die Unternehmen dabei beraten, Arbeitsplätze so umzugestalten, dass die Menschen mit Behinderung dort weiter arbeiten konnten oder die Arbeitgeber eine Förderung bekamen. Die Sicherung von bestehenden Arbeitsverhältnissen sei die Kernaufgabe des LWL-Inklusionsamtes, „damit Menschen mit Behinderung erst gar nicht arbeitslos werden“, sagte LWL-Sozialdezernent Johannes Chudziak.
Schwerbehinderte Menschen haben einen besonderen Kündigungsschutz. Aufgabe des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ist es, über Anträge der Arbeitgeber zur Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten zu entscheiden.
Kassel (epd). „Was wäre, wenn es die Werkstätten für behinderte Menschen nicht mehr gibt?“, fragt sich die auf den Rollstuhl angewiesene Romanheldin. Dann macht sie sich mit zwei Mitstreitern daran, es auszutesten. Gemeinsam stecken die drei ihre Werkstatt in Brand. Der Behindertenrechtsaktivist Ottmar Miles-Paul kämpft seit Jahrzehnten dafür, Menschen aus den Parallelwelten der Wohnheime und Werkstätten herauszuholen. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben, was passiert, wenn Frust über Bevormundung und das nur symbolische Entgelt in Militanz umschlagen.
„Die Brandstiftung ist aus der Luft gegriffen“, sagt der selbst stark sehbehinderte Sozialarbeiter und Publizist über seinen „Reportage-Roman“ mit dem Titel „Zündeln an den Strukturen“. Doch der Ärger, der die Protagonisten, Mitglieder einer örtlichen „Enthinderungsgruppe“, zu Straftätern werden lässt, ist ganz real. Und teilweise spürt Miles-Paul ihn auch selbst. Fortschritte kämen allenfalls im Schneckentempo. Bei seinen vielen Besuchen in Einrichtungen höre er immer wieder Geschichten aus dem Alltag behinderter Menschen, die er am liebsten sofort öffentlich machen würde. Doch die Reaktion der Betroffenen sei meist die gleiche: „Sag bloß nichts“, werde er dann gebeten. Irgendwann sei daher die Idee zu dem Buch gekommen, das Miles-Paul mit Katrin Grund geschrieben hat.
Dass sich manche real existierenden Personen in den Figuren der erfundenen Geschichte wiedererkennen könnten, sei jedenfalls kein Zufall, sagt der Autor. Da wären beispielsweise Betreuer, die sich um den Fortbestand ihrer Einrichtung sorgen, falls zu viele „ihrer“ Behinderten aus der Werkstatt fortgehen sollten. „Das sind alles Träumereien“, warnt einer im Roman. „Die Welt da draußen ist knallhart. Bleibt lieber hier, da habt ihr es doch gut.“
Die Idee, dass behinderte Menschen ein selbstbestimmtes, möglichst normales Leben führen sollten - mit Aussicht auf eine reguläre Arbeit und eine eigene Wohnung - ist in Deutschland vergleichsweise jung. Als Ottmar Miles-Paul Ende 2007 dem Ruf der Mainzer Landesregierung folgte und für die Dauer von fünf Jahren das Amt des Landesbehindertenbeauftragten übernahm, hatte Rheinland-Pfalz kurz zuvor als erstes Bundesland einen Modellversuch zum „Budget für Arbeit“ gestartet. Arbeitgeber sollten dabei ermutigt werden, behinderte Menschen mit einem regulären Arbeitsvertrag anzustellen. Einen Großteil des Gehalts konnten sie sich vom Staat als Lohnkostenzuschuss erstatten lassen. Die Idee aus Mainz machte Schule und wurde 2018 mit dem Bundesteilhabegesetz in ganz Deutschland eingeführt.
Doch mit der Umsetzung hapere es weiterhin gewaltig, ärgert sich der Behindertenrechtsaktivist - aufgrund der Strukturen. Noch immer erfolge der Übergang von der Förderschule direkt zur Werkstatt fast automatisch. Es gebe niemanden, der behinderten Menschen wirklich dabei helfe, einen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden. Es werde noch nicht einmal ernsthaft nachgefragt, wie viele Menschen das System der Behindertenwerkstätten verlassen wollten.
Und dann gebe es da die bundesweit 25.000 bis 30.000 Menschen mit sogenannten „ausgelagerten Arbeitsplätzen“, die zwar faktisch schon in Unternehmen oder Organisationen arbeiteten, für die aber weiter die Werkstätten zuständig blieben. Damit erhalten sie weiterhin lediglich ein Werkstattentgelt, das deutlich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt. „Die könnten alle richtigen Lohn bekommen, aber es hat niemand ein Interesse daran“, sagt Miles-Paul.
Berlin, Frankfurt a.M. (epd). Das Bundesfamilienministerium bestätigt dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Von den Einsparauflagen zur Konsolidierung des Bundeshaushalts in 2024 sind auch die Jugendmigrationsdienste und das Bundesprogramm Respekt Coaches betroffen.“ Kommt es so, dann wird die Finanzierung für die Jugendmigrationsdienste, unter deren Dach die pädagogischen Fachkräfte als Respect Coaches agieren, um 40 Prozent zurückgefahren. Noch stellt der Bund 31 Millionen Euro an Zuschüssen bereit. Wenn sich keine andere Finanzierung findet, stehen folglich viele Jobs der an Schulen ab der fünften Klasse tätigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zum Jahresende auf der Kippe.
Die Kürzungen in dieser Höhe seien „unerwartet gekommen und kurzfristig kommuniziert worden, es blieb keine Alternative, als das Programm zum Ende dieses Jahres zu beenden“, sagt Uwe Grallat, Koordinator der Trägerfachstelle Respekt Coaches der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA). Und das, obwohl „diese Arbeit auf absehbare Zeit dringend notwendig ist, denn das Vertrauen in demokratische Regeln fällt nicht vom Himmel“, sagt Grallath.
Im Bundesprogramm Respekt Coaches arbeiten seit Frühjahr 2018 pädagogische Fachkräfte an Schulen ab der Jahrgangsstufe 5, um Mädchen und Jungen vor Extremismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu bewahren. „Ziel ist es, den Blickwinkel der Schülerinnen und Schüler zu erweitern und unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensweisen besser zu verstehen“, heißt es auf der Homepage des Familienministeriums. Auf diese Weise werde ein respektvolles, friedliches Miteinander und die demokratische Bildung von jungen Menschen gefördert.
Im Land schlagen die Sparpläne der Ampel-Koalition hohe Wellen. Die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ursula Schoen, sagt: „Was im Programm 'Respekt Coaches' geleistet wird, fällt nicht in die Kategorie 'nice to have'.“ Demokratie- und Menschenrechtsbildung müssten im Schulalltag verankert werden. „Gerade jetzt brauchen wir dringend den uneingeschränkten Rückhalt der Politik. Funktionierende Strukturen der Demokratieförderung dürfen nicht zerschlagen werden.“
Nach ihren Angaben lernen seit fünf Jahren Schülerinnen und Schüler an 20 Kooperationsschulen in Berlin und Brandenburg unter Anleitung von Fachkräften gegenseitiges Verständnis und die Anerkennung der Würde jedes Menschen als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das sei, so die Direktorin mit Verweis auf die aktuellen Vorfälle von Rechtsextremismus an Brandenburger Schulen, auch dringend erforderlich. Es bestehe weiter Bedarf an Präventions- und Aufklärungsarbeit.
Das Bundesfamilienministerium begründet die Einschnitte gegenüber dem epd mit den Vorgaben durch das Finanzministerium, 2024 die Schuldenbremse einzuhalten. Auf Anfrage sagte eine Sprecherin, die Respekt Coaches hätten als Modellprogramm des Bundes seit 2018 gute Erfolge gezeigt. „Die Bundesregierung plant mit dem neuen Startchancen-Programm einen massiven Ausbau der Sozialarbeit an Schulen.“ Daher sei entschieden worden, das wichtige Know-how, das im Bundesprogramm Respekt Coaches gewonnen wurde, Schritt für Schritt weiter in die Schulen zu verlagern und somit zunehmend in den Kompetenzbereich der Länder zu überführen. „In welcher Form und zu welchem Zeitpunkt dies geschehen kann, wird derzeit zwischen Bund und Ländern geklärt.“
Das Erfolgsrezept ist laut Uwe Grallath, dass die Respekt Coaches zwar an den Schulen seien, „aber sie arbeiten nicht wie die Schule: Es gibt keine Noten, keine Bewertung und auch keine Sanktionen.“ Das funktioniere jedoch nur, wenn auch die Schulleitung und die Lehrkräfte von diesem Ansatz überzeugt sind. „Genau diese Überzeugungsleistung ist den Fachkräften an den rund 600 Schulen gelungen“, sagt der Fachmann.
Im Bistum Trier sind Kooperationen mit 23 Schulen in Rheinland-Pfalz und im Saarland von den Kürzungsplänen betroffen. Elf Vollzeit-Stellen würden entfallen, kritisierte der Vorsitzende des Diözesan-Caritasverbandes Trier, Domkapitular Benedikt Welter: „Mit dem Ende dieses Projektes wird eine erfolgreiche Präventionsarbeit zur Stärkung unserer Demokratie zerschlagen. Die Zerschlagung der Respekt Coaches fördert genau das, was wir verhindern wollen.“
Elena Janzen, Mitarbeiterin im Caritasverband Rhein-Mosel-Ahr, hat an der Berufsbildenden Schule Ahrweiler verschiedene Projekte und Aktionen initiiert: „Die Schülerinnen und Schüler fanden das Angebot sehr konstruktiv, dass sie in einem geschützten Rahmen offen ihre Meinungen sagen und kontrovers diskutieren konnten. Das geht weit über die Möglichkeiten des normalen Unterrichts hinaus. Die Lücke, die jetzt durch die Streichung des Respekt-Coaches-Programms gerissen wird, kann im stressigen Schulalltag nicht geschlossen werden.“
Auch in Gotha wird Protest laut. Die Geschäftsführerin der Diakoniewerk Gotha gGmbH, Anne-Juliane Pogander, warnt: „Das wird fatale Auswirkungen für unsere künftige Gesellschaft haben.“ Die Einstellung dieses Projekts, in dem für das Diakoniewerk drei Sozialarbeiterinnen an drei Schulen aktiv sind, werde dazu führen, dass wichtige Lernmöglichkeiten für junge Menschen verloren gingen. „Es ist von zentraler Bedeutung, dass Bildungsinitiativen, die die demokratische Bildung stärken, Priorität haben und fortgesetzt werden“, sagt die Geschäftsführerin.
Jo Bach, Fachbereichsleiter für Migration und Integration im Caritasverband Westeifel, verweist zudem darauf, dass es zwei Jahre dauern könnte, bis bundesweit ein vergleichbares Projekt der Länder an den Start gehen könnte. Noch habe er aber Hoffnung, denn der strittige Haushaltsentwurf müsse ja erst noch vom Bundestag beschlossen werden. Bach: „Wir sind bundesweit organisiert und alle Beteiligten versuchen, das Projekt an allen Stellen noch zu retten.“
Stuttgart (epd). Uwe Grallath ist überzeugt, dass der Kampf für Demokratie und Toleranz an Schulen nicht beschnitten werden darf. Doch wenn die geplanten Kürzungen des Bundes Realität werden, müssten die Fachkräfte im Programm „Respect Coaches“ an bundesweit rund 600 Schulen ihre Arbeit einstellen. Diese Arbeit sei „auf absehbare Zeit dringend notwendig, denn das Vertrauen in demokratische Regeln fällt nicht vom Himmel“, sagt der Koordinator der Trägerfachstelle der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Immer mehr Sozialverbände kritisieren die geplanten Kürzungen der Bundesregierung im Bereich Migration und Beratung. Die Jugendmigrationsdienste (JMD) sollen demnach 40 Prozent weniger Geld bekommen. Wann haben Sie von den vorgesehenen Kürzungen erfahren?
Uwe Grallath: Das Bundesfamilienministerium hat uns und die anderen Trägergruppen Mitte Juli darüber informiert, dass das Jugendmigrationsdienst-Programm „Respekt Coaches“ beendet werden soll.
epd: Wenn es so kommt, hat das auch Folgen für das Programm der „Respect Coaches“ an Schulen ...
Grallath: Ja, aufgrund der massiven Kürzungen, die in dieser Höhe vollkommen unerwartet und kurzfristig kommuniziert wurden, blieb keine Alternative, als das Programm zum Ende dieses Jahres zu beenden. Die nachgewiesen gute und wirkungsvolle Arbeit der Fachkräfte im Programm „Respekt Coaches“ wird auch nicht aus fachlichen Gründen zu diesem Zeitpunkt eingestellt, sondern weil die Vorbereitungskosten für die Kindergrundsicherung finanziert werden müssen. Dass hier notwendige und sinnvolle Förderzwecke gegeneinander ausgespielt werden, ist unfassbar und betrifft leider auch andere Bereiche im Kinder- und Jugendplan des Bundes.
epd: Demokratie und Toleranz bei jungen Menschen und der Kampf gegen extreme Einstellungen müssten doch eher gestärkt werden. Was ginge jetzt an pädagogischer Arbeit an den Schulen verloren?
Grallath: Im letzten Kinder- und Jugendbericht wurde das Programm „Respekt Coaches“ als wegweisend eingestuft, weil Elemente der Politischen Bildung und der Jugendsozialarbeit wirkungsvoll miteinander verknüpft werden. Die Fachkräfte arbeiten zusammen mit Bildungsträgern aus der Politischen Bildung und der Extremismusprävention zusammen und können damit ein weites Spektrum an Gruppenangeboten abdecken. Das gilt nicht nur für Themen wie Rassismus, Extremismus, Sexismus, Verschwörungsideologien und Antisemitismus. Erfolgreich ist vor allem der methodische Zugang, der meistens schuluntypisch erfolgt, wenn zum Beispiel Rap-Workshops oder Rollenspiele Jugendliche für ein paar Stunden aus ihrem Alltag herausholen, dennoch ihre Themen aufgreifen oder ihre Fragen beantworten.
epd: Was sind die Gründe für den gelingenden Zugang in dem Programm?
Grallath: Das geht nur über die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit jungen Menschen. Jede einzelne Person will in ihrer Individualität gesehen und anerkannt werden. Wenn über sensible und heikle Themen gesprochen werden soll, müssen die Fachkräfte eine belastbare Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufbauen - das braucht Zeit, Fingerspitzengefühl und sehr viel Geduld. Aber genau dieser Ansatz ist das Erfolgsrezept, da die „Respekt Coaches“ zwar an der Schule sind, aber sie arbeiten nicht wie die Schule: es gibt keine Noten, keine Bewertung und auch keine Sanktionen. Das funktioniert jedoch nur, wenn auch die Schulleitung und die Lehrkräfte von diesem Ansatz überzeugt sind. Genau diese Überzeugungsleistung ist den Fachkräften an den rund 600 Schulen gelungen und wir haben dieses Jahr so viele Gruppenangebote an den Kooperationsschulen durchgeführt wie noch nie.
epd: Ihre Kritik an den Kürzungen ist auch grundsätzlicher Natur ...
Grallath: Ja, denn diese pädagogischen Erfolge werden mit der aktuellen Haushaltsplanung mit einem Federstrich wieder zunichte gemacht. Die Fachkräfte haben seit 2018 sehr viel Zeit und Mühe investiert, um unzähligen Schülerinnen die fundamentale Bedeutung demokratischer Werte und persönlicher Wertschätzung, aber auch die Grundregeln der Kommunikation - ausreden lassen, zuhören und abweichende Meinungen akzeptieren - glaubhaft zu vermitteln und vorzuleben. Genau diese Arbeit ist auf absehbare Zeit dringend notwendig, denn das Vertrauen in demokratische Regeln fällt nicht vom Himmel.
epd: Es bräuchte also mehr statt weniger Geld für die Demokratieschulungen?
Grallath: Ja. Dass Bundesprogramme enden können, ist uns klar. Aber der Zeitpunkt besonders schlecht gewählt. Außerdem hat das zuständige Ministerium es versäumt, frühzeitig gemeinsam mit den Ländern eine Anschlusslösung zu erarbeiten. Denn eins ist doch klar: Respekt Coaches werden gebraucht. Dieses Vorgehen entspricht keinesfalls den Herausforderungen in den Kommunen und in den Schulen, sie blendet auch die Lebenswelt vieler junger Menschen komplett aus. Sowohl die Beratungsarbeit der Jugendmigrationsdienste als auch die inhaltliche Arbeit des Programms „Respekt Coaches“ muss dringend angemessen ausfinanziert und fortgeführt werden, weil sich die Aufgaben nicht einfach in Luft auflösen werden. Das Gegenteil wird der Fall sein - und das wird am Ende ein Vielfaches kosten.
Berlin (epd). Zum Auftakt der Haushaltsberatungen im Bundestag am 4. September haben Sozialverbände ihrem Ärger Luft gemacht, dass das Bundesfamilienministerium wegen der Schuldenbremse rund 218 Millionen Euro einsparen soll. Für das Familienministerium sinkt damit das Budget für 2024 auf 13,35 Milliarden Euro.
Das scheint auf den ersten Blick kein radikaler Rückgang zu sein, aber der Großteil des Etats von Ministerin Lisa Paus (Grüne) ist in gesetzlichen Leistungen gebunden, wie dem Elterngeld und dem Kindergeld. Für sogenannte freiwillige Leistungen, und von denen hängen nun mal die vielen Sozialträger ab, bleibt dann merklich weniger Geld. Dass das massive Folgen bis hin zum Aus zahlreicher sozialer Angebote haben würde, machen die Verbände in ihrer Kritik deutlich.
So kritisiert zum Beispiel der Katholische Krankenhausverband Deutschland (kkvd) die geplante Kürzung bei den Freiwilligendiensten. Hier sollen in den kommenden beiden Jahren die Mittel um insgesamt 113 Millionen Euro gekürzt werden. Das sei falsch, denn Freiwillige leisteten einen wichtigen Beitrag für das soziale Miteinander und den Zusammenhalt der Gesellschaft, heißt es in einer Mitteilung vom 5. September. „Auch ist der Dienst ein guter Weg, um jungen Menschen erste Einblicke in Gesundheits- und Sozialberufe zu vermitteln.“
Konkret will die Bundesregierung den Angaben des kkvd zufolge die Fördermittel für Freiwilligendienste 2024 um 78 Millionen Euro kürzen. 2025 sollen weitere 35 Millionen Euro eingespart werden. Durch diese Sparpolitik könnte im nächsten Jahr ein Viertel, danach sogar ein Drittel der Freiwilligendienst-Plätze wegfallen, warnt der Verband.
Die Kürzungspolitik von heute sei der Kostentreiber von morgen, weil sie die Schäden und Folgekosten nicht in den Blick nähmen, sagte Diakonie-Vorstand Maria Loheide. „Das gilt auch für die psychosoziale Beratung von Geflüchteten, die Jugendmigrationsdienste, die Familienerholung und die Müttergenesung, deren Mittel drastisch gekürzt werden sollen.“
Die großen Härten, die mit diesem Sanierungshaushalt für Kinder und Jugendliche, für die Wohlfahrtsverbände und das freiwillige Engagement verbunden sind, müssten abgewendet werden, sagte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa. Sie beträfen unter anderem die Strukturförderung der Wohlfahrtspflege und die Förderung der digitalen Transformation ihrer Angebote.
„Statt 3,5 Millionen Euro im letzten Jahr sieht der Bundeshaushalt 2024 Null Euro für diese Aufgabe vor“, beklagte die Caritas-Präsidentin. Der Weg ins bürgernahe digitale Zeitalter könne nicht gelingen, wenn die Beratungsstellen von Caritas, Diakonie und AWO nur analog erreichbar wären.
Die geplanten Mittelstreichungen im Familienministeriums führen laut aus Deutschem Kinderhilfswerk zu harten Einschnitten in der Kinder- und Jugendhilfe. Dessen Präsident, Thomas Krüger, forderte, beim Bundesfreiwilligendienst und bei den Zuschüssen für Familienferienstätten keine Kürzungen zu realisieren.
Susanna Karawanskij, die Chefin der Volkssolidarität, forderte: „Das Sparen an jungen Menschen muss ein Ende haben, denn gerade hier muss unbedingt mehr für Armutsbekämpfung, Bildung und Chancengerechtigkeit getan werden. Wenn das nicht schnell in Angriff genommen wird, sind die Folgekosten für unsere Gesellschaft unkalkulierbar, aber sie sind sicher.“ Gebraucht würden außerdem Programme und Förderkulissen, um zu Verbesserungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu kommen.
Frankfurt a.M. (epd). Eine Rose vor einem Kreißsaal ist kein Kompliment. Frauen legen sie dort am „Roses Revolution Day“ ab. Die Blume ist ein Symbol dafür, dass eine Frau an diesem Ort während der Geburt ihres Kindes Gewalt erfahren hat. Gleich zweimal ist das Anja Müller passiert (Name geändert): Sie hoffte jeweils auf „eine natürliche Geburt“, ist in der Klinik aber „in eine Maschinerie geraten“, wie sie sagt.
Seit 2011 gibt es den „Roses Revolution Day“ weltweit am 25. November. Frauen machen damit ein Thema öffentlich, das lange als Tabu galt. Sie berichten von Damm- oder Kaiserschnitten ohne medizinische Notwendigkeit, davon, dass sie mit Schmerzen alleine gelassen wurden und von Respektlosigkeit. Sie erzählen von Untersuchungen, über die sie niemand informiert hat. Die Elterninitiative „Gewaltfreie Geburtshilfe“ will darüber aufklären.
Anja Müller fühlte sich im Mai 2021 gut vorbereitet, als sie zur Geburt in der Klinik ankam, wie sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) erzählte. Sie hatte in der Geburtsvorbereitung gelernt, dass sie Wehen auch im Stehen begegnen kann. Eine Hebamme im Krankenhaus habe das abgelehnt. Eine zweite habe es befürwortet, sich aber nicht durchsetzen können. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden sei für sie sehr unangenehm gewesen, sagte Müller.
Im weiteren Verlauf sollten die Herztöne des Kindes dauerhaft kontrolliert werden. Die praktizierende Hebamme habe versehentlich versucht, das medizinische Gerät dazu im Körper der Mutter zu befestigen, statt am Kopf des Kindes. Auf ihre Schmerzensschreie hin sei ihr gesagt worden: „Da müssen Sie jetzt durch“, sagt Müller. Erst nach einem weiteren schmerzhaften Versuch habe eine andere Hebamme eingegriffen.
Das Personal hätte ihre Schmerzen ernst nehmen müssen, erklärt Müller. Tatsächlich aber habe man ihr vermittelt, zu empfindlich zu sein. Die 37-Jährige erlebte das Gleiche bei der Periduralanästhesie (PDA). Die Hebamme habe ihr zunächst nicht geglaubt, dass sie trotz Betäubung starke Schmerzen hatte.
„Häufig geht es um Respektlosigkeit und fehlende Kommunikation“, sagt Saskia Riemer von der Elterninitiative „Gewaltfreie Geburtshilfe“. Die Frau werde unter der Geburt als nicht zurechnungsfähig gesehen, immer wieder spreche und entscheide das Personal über ihren Kopf hinweg. Bei fast 90 Prozent aller Geburten werde interveniert, sagt Riemer. Medizinisch sei das oft nicht notwendig.
Anja Müller hat nach der ersten Geburt aufgearbeitet, was ihr passiert ist. „Im Vertrauen darauf, dass es auch anders geht“, ist sie zur zweiten Geburt in das gleiche Krankenhaus gegangen. Doch auch dieses Mal sei ihr im Kreißsaal gesagt worden, dass sie beim Pressen nicht stehen dürfe. Und sie sei auf eine Ärztin getroffen, die nicht mit ihr gesprochen habe. „Ich wurde in eine Geburtsposition gepresst, die sich nicht gut für mich angefühlt hat, und schließlich sind sie auf mich drauf gestiegen, um die Geburt zu beschleunigen.“
„Die Frau wird im Kreißsaal als Container für das Kind gesehen“, kritisiert Katharina Desery vom Elternverein „Mother Hood“. Mit einer Rolle als Objekt hätten viele Frauen Probleme. Der Verein hat deshalb ein Hilfetelefon eingerichtet, damit Frauen über das sprechen, was ihnen bei der Geburt passiert. Von Kliniken fordert „Mother Hood“, die Patientenrechte einzuhalten.
„Immer wieder werden auch die Rechte von Frau und Kind gegeneinander ausgespielt“, sagt die Diplom-Psychologin Claudia Watzel. Sie arbeitet seit Jahren zu dem Thema und berät betroffene Frauen in einem Berliner Stadtteilzentrum. Wenn Frauen einer Intervention nicht zustimmten, werde ihnen gesagt, dass dann ihr Kind sterbe. „Gewalt hinterlässt Spuren bei den Frauen und in den Familien“, betont Watzel. In der Folge könne es unter anderem zu Postpartalen Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen kommen.
In einem Positionspapier des Deutschen Hebammenverbands von 2020 ist die Rede von zehn bis 25 Prozent der Frauen in Deutschland, die Gewalt unter der Geburt erfahren. Genaue Zahlen gibt es nicht. Martina Klenk, Vorsitzende des Landesverbands der Hessischen Hebammen, verweist auf strukturelle Probleme in den Krankenhäusern. Hebammen müssten zwei bis fünf Geburten gleichzeitig betreuen. Sie forderte eine 1:1-Betreuung.
Fehlendes Personal sei allerdings keine Entschuldigung, sagt Klenk. Sie habe im Kreißsaal auch den sogenannten „husband stitch“ erlebt, wenn ein Arzt den Damm nach einer Geburt enger zunähe, als es sein müsse. „Das ist Sexismus und Gewalt“, sagt sie. Die Verbandsvorsitzende sagt, sie sei froh, dass immer mehr Betroffene berichteten, was ihnen passiert sei. Ihre Kolleginnen würden zwar „fürchterlich erschrecken“, wenn eine Rose vor dem Kreißsaal liege, aber das zwinge zur Reflexion. „Wir müssen das Problem lösen, Gewalt unter der Geburt darf es nicht geben“, betont Klenk.
Stuttgart,Karlsruhe (epd). Anna schwebte auf Wolke Sieben. Der Mann, den die 24-jährige Studentin in ihrem Nebenjob kennengelernt hatte, trug sie auf Händen. Er war aufmerksam, liebevoll, zärtlich. Das änderte sich abrupt, als Anna ihm erzählte, dass sie schwanger ist. Sie solle das Kind abtreiben, forderte er - und stürzte Anna damit in Gewissensnöte. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht. Aber würde sie das allein schaffen?
„Eine Schwangerschaft kann für eine Frau das schönste Gefühl der Welt sein, sie kann sie aber auch in eine existenzielle und emotionale Krise stürzen, wenn die Rahmenbedingungen gefühlt nicht stimmen“, sagt Martina Haas-Pfander dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie ist Referentin für Schwangerschafts- und Konfliktberatungsstellen beim Diakonischen Werk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. „Gerade Frauen aus armutsgefährdeten Verhältnissen benötigen dann nicht nur ideelle Ermutigung, sondern finanzielle Unterstützung, um sich etwa eine Grundausstattung für das Baby anschaffen zu können, wenn staatliche Hilfen nicht greifen.“
Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland stieg 2022 mit rund 104.000 gemeldeten Fällen um 9,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nachdem 2021 mit 94.600 Fällen der niedrigste Stand seit Beginn der Statistik verzeichnet worden war. Die Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch werden statistisch nicht im Detail erhoben. „Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist eine weitreichende mit Auswirkungen auf das gesamte Leben. In dieser Situation soll keine Frau das Gefühl haben, allein gelassen zu sein“, sagt die Expertin.
Und genau da setze der 2010 ins Leben gerufene Notlagenfonds „Kind willkommen“ der beiden Diakonischen Werke in Baden und Württemberg an. „Wir wollen Frauen und Familien, die ein Kind erwarten, Mut machen und ihnen signalisieren, dass sie nicht allein gelassen werden“, sagt Martina Haas-Pfander.
Mehr als 2.000 Frauen und Paare wurden seit 2010 mit Mitteln aus dem Fonds unterstützt, im vergangenen Jahr waren es 327. Dabei gehe es nicht um riesige Summen, denn die staatlichen Leistungen hätten prinzipiell immer Vorrang. Im Durchschnitt würden aus dem Notlagenfonds 230 Euro pro Fall ausgezahlt. „Es soll in erster Linie ein Zeichen der Ermutigung sein“, sagt Haas-Pfander.
Der Notlagenfonds „Kind willkommen“ speist sich allein aus Spenden, die ein speziell dafür gegründeter Verein einwirbt. Über die 85 staatlich anerkannten Schwangerschaftsberatungsstellen der Diakonie in Baden und Württemberg kommen die Mittel direkt den bedürftigen Frauen zugute. „Es geht um schnelle und unbürokratische Hilfe, wenn staatliche Leistungen nicht ausreichen oder nicht möglich sind, weil etwa die Geburtsurkunde noch nicht vorliegt“, erklärt Haas-Pfander.
Sie beobachtet eine zunehmende Verunsicherung und wachsende finanzielle Probleme bei Schwangeren und Familien. Die hohen Energiepreise und die Inflation träfen Familien und alleinerziehende Mütter besonders hart. Das solle jedoch kein Grund sein, sich gegen ein Kind zu entscheiden, findet Haas-Pfander - wobei sie betont, dass die Mitarbeiterinnen der Diakonie-Beratungsstellen grundsätzlich ergebnisoffen beraten, also die werdenden Mütter entscheiden, ob sie ihr Kind austragen wollen oder nicht.
Anna hat sich nach mehreren Beratungsgesprächen am Ende für ihr Kind entschieden. Es kam im Mai zur Welt und heißt Felix - der „Glückliche“.
Augsburg (epd). Fritz und Charlie (Namen geändert) sitzen vor dem Fernseher, den sich Johnny durch kleinere Jobs in den vergangenen Monaten zusammengespart hat. Das Sofa vor dem Bildschirm dient ihm zugleich als Bett in seinem kleinen Zimmer im ehemaligen Pfarrhaus der Erlöserkirche im Augsburger Stadtteil Bärenkeller. Das stand leer, bis es Anfang 2022 die Diakonie Augsburg für drei Jahre gemietet hat und die oberen Räume für von Wohnungslosigkeit bedrohte Männer herrichtete.
Diese hatten damals mitgeholfen, als das in die Jahre gekommene Haus entrümpelt und renoviert wurde. Es wurde gestrichen, eine Wand eingezogen und die Zimmer sowie der Gemeinschaftsraum im Parterre mit gebrauchten Möbeln ausgestattet. „Wir fühlen uns wohl und sind einfach dankbar, hier zu sein“, sagt Fritz. Wie sein jüngerer Kompagnon hat er einige Jahre auf der Straße hinter sich. Wie er dahin gekommen ist, will der fröhlich wirkende Mann nicht erzählen.
„Das ist völlig normal bei Menschen mit langem Straßenleben. Dort haben sie ein bisschen verlernt, anderen zu vertrauen und gelernt, eher in sich gekehrt zu sein“, weiß Christian Müller. Der Leiter des Fachbereichs „Besondere Notlagen“ bei der Diakonie Augsburg und des Bodelschwingh-Hauses, dem Wiedereingliederungszentrum für haftentlassene und von Straffälligkeit bedrohte Männer, hat für das Projekt gekämpft. 37.000 Euro wurden an Mitteln für die Renovierung genehmigt, das Hilfswerk „Kartei der Not“ hat eine neue Küche im Wert von rund 6.000 Euro spendiert.
Einige der Männer lebten vorher im Wohnhilfeprojekt „Löwenhaus“ im Stadtteil Pfersee, das allerdings Anfang 2022 scheiterte, weil der Vermieter andere Pläne hatte. „Ich bin froh, dass ich nicht wieder wohnungslos bin und schau in die Zukunft“, sagt Fritz.
Ähnlich geht es dem jüngeren Charlie, der sogar in dieser Gegend in Augsburg aufgewachsen ist. „Ich kenne hier auch viele Menschen, wenn ich vor die Türe gehe“, sagt er. Sein Raum ist zweckmäßig eingerichtet. Ein alter Kühlschrank steht neben einem Waschbecken und einem Regal mit ein paar wenigen Habseligkeiten. Ein Bad mit WC und Dusche teilen sich die Männer ebenso wie die Küche. „Bei uns lebt es sich wie in einer Studenten-WG. Man muss aufeinander Rücksicht nehmen und sich absprechen. Manchmal knallt es halt auch“, gibt Charlie zu.
Yanfei Ren, die das Wohnhilfeprojekt seit wenigen Monaten unter ihren Fittichen hat, schaut ebenso wie Müller regelmäßig im „Bärenhaus“ vorbei. „Die Männer sind freiwillig hier und brauchen auch keinen Aufpasser. Aber es gibt immer wieder Beratungsbedarf“, erklärt die Psychologin. Das Wichtigste für die Männer, die hier aufgenommen wurden, sei, erst einmal zur Ruhe zu kommen und sich wieder an ein geregeltes Leben ohne die tägliche Suche nach dem nächtlichen Schlafplatz zu kümmern. Nachdem sie eine feste Adresse haben, könne man über Jobvermittlung und alles Weitere sprechen. „Das alles braucht Zeit.“
Ärztliche Betreuung braucht Dirk, ein weiterer Bewohner. 17 Jahre lebte der Lebenskünstler in Spanien, engagierte sich politisch als Hausbesetzer und tingelte als Straßenkünstler und Jongleur durch das Land, erzählt er. Eine nach einem Unfall kaputte Hüfte und immer weniger Geld brachten ihn zurück in die Heimat.
In Augsburg landete er dann auf der Straße. „Wer weiß, ob ich noch am Leben wäre, hätte mich eine Sozialarbeiterin nicht mit der Diakonie in Kontakt gebracht“, sagt Dirk dankbar. Auch wenn die Hüfte schmerze, sei er froh, wieder auf die Beine gekommen zu sein. Irgendwann werde es hier sicher auch mal mit einem Job klappen. „Aber es sucht ja jeder nur Fachkräfte, ein Ungelernter wie ich tut sich schwer“, meint er.
Im Ensemble zwischen Kirche, Kindertagesstätte und der gegenüberliegenden Schule, eingerahmt von Wohnblocks aus den 1930er Jahren, fällt das „Bärenhaus“ kaum auf. „Seine Bewohner glücklicherweise auch nicht“, ergänzt Christian Müller. Mit der Kirchengemeinde als Mieter und der Diakonie als Vermieter wüssten die Anwohner, dass hier jemand ein Auge drauf habe. „Die Männer haben es selbst in der Hand, wir können nur Hilfestellungen geben“, sagt Müller.
Neuendettelsau (epd). Das Sozialunternehmen Diakoneo kann die Klinik in Neuendettelsau nicht länger halten. Die jährlichen finanziellen Defizite zwingen zur Aufgabe, begründen der Vorstandsvorsitzende Mathias Hartmann und der Vorstand Gesundheit, Michael Kilb, die bittere Entscheidung. Sie werfen der Bundespolitik vor, kleine, frei gemeinnützige Krankenhäuser nicht ausreichend zu unterstützen. Die Fragen stellte Julia Riese.
epd sozial: Herr Hartmann, Sie haben schon vor Monaten Alarm geschlagen, dass Sie die Klinik in Neuendettelsau schließen müssen, wenn Sie für den Weiterbetrieb für die nächsten drei Jahre keine zwölf Millionen Euro erhalten. Gab es jetzt keine andere Möglichkeit mehr?
Mathias Hartmann: Das war eine schwere Entscheidung, die wir auch sehr bedauern. Wir haben in den letzten Monaten sehr viel unternommen, um den Standort weiter zu sichern. Wir haben die Politik intensiv gebeten, uns zu unterstützen. Als frei gemeinnütziger Träger haben wir bei entstehenden Defiziten keinen Zugang zu den Steuermitteln, wie es kommunale Träger haben. Wir haben schon in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 20 Millionen Euro an Defiziten selbst getragen. Das geht jetzt nicht weiter.
epd: Wieso haben Sie mit so großen Defiziten zu kämpfen?
Hartmann: Nach wie vor ist das Gesundheitswesen als System so ausgestaltet, dass kleine Kliniken der Grund- und Regelversorgung mit 150 bis 200 Betten faktisch nicht kostendeckend arbeiten können. Das ist das, was wir dem Gesundheitssystem insgesamt ankreiden. Das ist im Wesentlichen die Bundespolitik, die dieses System bestimmt. Diese hat inzwischen auch erkannt, dass es nicht so weitergehen kann, allerdings werden die Entscheidungen für eine Veränderung des Systems zu langsam getroffen. Landauf, landab melden Krankenhäuser Insolvenz an, weil die Kommunen es nicht mehr schaffen. Die frei gemeinnützigen Häuser fallen hinten runter.
epd: Das bayerische Gesundheitsministerium weist darauf hin, dass die Klinik in Neuendettelsau in den letzten zehn Jahren fast 42 Millionen Euro an Fördermitteln erhalten hat und sie auch die Möglichkeit hätte, über einen Härtefallfonds rund 1.600 Euro pro Bett zu bekommen ...
Michael Kilb: Ein Bundesland hat die Verpflichtung, die Investitionskosten, zum Beispiel im Bau oder für Großgeräte, komplett zu tragen. Leider kommt in der Regel in keinem Bundesland eine hundertprozentige Förderung der Investitionskosten zustande, auch in Bayern nicht. Die Lücke, die sich entwickelt zwischen den tatsächlichen Kosten und den geförderten Kosten, muss dann auch aus den Betriebskosten refinanziert werden. Die Bundesländer sagen immer, sie fördern rund 99 Prozent der förderfähigen Summen, aber was ist überhaupt förderfähig? Ich kann ohne Eingangsbereich oder ohne Verwaltungsbüro kein Krankenhaus leiten. Und die Härtefallregelung ist nicht auf den Weg gebracht worden, um dieses Problem zu lösen, sondern für die Mehrkosten on top. Der Sockel, wo wir die Defizite haben, wird damit nicht angefasst.
Hartmann: Wir bestreiten gar nicht, dass viel Geld im Gesundheitssystem ist. Wir haben nur immer schon darauf hingewiesen, dass es nicht reicht. Wir waren ja auch im Gespräch mit dem Gesundheitsministerium. Sie weisen immer darauf hin, dass im Moment 90 Prozent der Kliniken in Bayern Defizite machen, dass das Defizit im Gesundheitsbereich in Bayern bei elf Milliarden Euro liegt und sie das nicht ändern können. Natürlich habe ich da Verständnis, aber die Frage ist: Wer kann es dann ändern? Da schaue ich auch auf den Bund und die Kommunen.
epd: Wie viele Mitarbeitende sind nun von der Entscheidung betroffen und wie geht es mit ihnen weiter?
Hartmann: Wir haben insgesamt 350 Arbeitsplätze in der Klinik Neuendettelsau. Aktuell sind rund 250 Mitarbeitende noch da, nachdem in den vergangenen Monaten viele gegangen sind. Wir sind uns unserer Verantwortung für diese Mitarbeitenden selbstverständlich bewusst und werden alle Anstrengungen unternehmen, um allen ein alternatives Angebot machen zu können. Als großes Sozial- und Gesundheitsunternehmen haben wir da Möglichkeiten. Ein wesentlicher Faktor ist die Verlegung der Akutgeriatrie an die Klinik in Schwabach, das ist 15 Kilometer weit weg. Wir glauben, das ist für die meisten machbar. 28 Mitarbeitende werden im Weg eines Betriebsübergangs schon zum 1. November nach Schwabach wechseln können. In den nächsten Wochen werden wir dann zusammen mit der Mitarbeitervertretung den Sozialplan besprechen.
epd: Gibt es im Klinikum Schwabach überhaupt die Kapazitäten, weiter zu wachsen?
Kilb: Es gibt genügend Platz, um Patientinnen und Patienten im Rahmen der stationären Versorgung unterzubringen. Bei der Akutgeriatrie werden vor allem Therapieräume benötigt, die entsprechenden sanitären Einrichtungen und Betten, keine OP-Kapazitäten. Wir haben uns das genau überlegt, welche Fachabteilung verlagert werden kann und wo wir auch einen Bedarf in der Zukunft sehen.
epd: Wie ist es um die Versorgung der Patientinnen und Patienten ab dem kommenden Jahr bestellt? Das Gesundheitsministerium geht davon aus, dass in der Notfallversorgung keine relevante Versorgungslücke entsteht.
Hartmann: Die Notfallversorgung ist Aufgabe des Klinikums Ansbach. Auf dem Papier betrachtet wurde vonseiten des Ministeriums festgestellt, dass die Klinik in Neuendettelsau nicht bedarfsnotwendig ist. Ich glaube aber, sie ist ein wichtiger Teil der Gesundheitsversorgung, und ich glaube, dass die Versorgung schlechter wird.
Mainz, Erfurt (epd). Arbeitgeber müssen alkoholkranken Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch nach einer Suchttherapie nicht unbegrenzt eine Chance zur Weiterbeschäftigung bieten. Denn erleidet eine alkoholkranke Kinderpflegerin mehrere Rückfälle, muss sie nicht nur mit einer Kündigung rechnen, sondern auch damit, dass sie bei einer Therapieunwilligkeit als leistungsunfähig eingestuft wird, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in einem am 28. August veröffentlichten Urteil. Sei eine Arbeitnehmerin dann bis Ablauf der Kündigungsfrist von der Arbeit freigestellt, könne sie außerdem keinen sogenannten Annahmeverzugslohn verlangen, betonten die Mainzer Richter.
Im Streitfall ging es um eine alkoholkranke Kinderpflegerin, die seit 1984 in einer katholischen Kita im Bistum Trier beschäftigt war. Nach einer stationären Suchttherapie im Jahr 2017 wurde sie wieder rückfällig.
Ihr Arbeitgeber wollte daraufhin sicherstellen, dass die Frau nicht im alkoholisierten Zustand in der Kita arbeitet. Die Kinderpflegerin erklärte sich 2019 daher freiwillig bereit, täglich Alkoholtests durchzuführen. Als diese viermal positiv ausgefallen waren und die daraufhin von der Arbeit freigestellte Frau auf der Weihnachtsfeier im Dezember 2019 nach Angaben des Arbeitgebers in volltrunkenem Zustand erschienen war, wurde ihr gekündigt.
Die Erzieherin meldete sich ab Januar 2020 arbeitslos und erhob Kündigungsschutzklage. In einem Teilvergleich löste das LAG schließlich das Arbeitsverhältnis zum Jahresende auf.
Der Kita-Betreiber lehnte es ab, der freigestellten Klägerin für das Jahr 2020 eine Vergütung zu bezahlen. Wegen der Gefahr erneuter Alkoholrückfälle habe die Mitarbeiterin ihre Arbeitskraft nicht mehr ordnungsgemäß anbieten können.
Die Frau verlangte für das Jahr 2020 Annahmeverzugslohn sowie Weihnachtsgeld in Höhe von insgesamt 40.310 Euro brutto abzüglich 15.571 Euro netto für erhaltenes Arbeitslosengeld. Sie habe ihre Arbeitskraft erfolglos angeboten und hätte auch problemlos arbeiten können. Kein Anspruch auf Vergütung bestehe nur für zwei Monate, wo sie tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei.
Ihre Klage hatte vor dem LAG keinen Erfolg. Ein Arbeitgeber gerate nicht in Annahmeverzug, „wenn der Arbeitnehmer außerstande ist, die geschuldete Arbeitsleistung aus in seiner Person liegenden Gründen zu bewirken“. Wegen ihrer Alkoholerkrankung und den von der Arbeitgeberin geschilderten Rückfällen sowie den Alkoholtests habe sie als „nicht leistungsfähig“ eingestuft werden dürfen.
Eine weitere Suchttherapie habe sie erst im Sommer 2020 und damit deutlich nach den Kündigungen begonnen. Das Verhalten der Klägerin weise auf eine Therapieunwilligkeit hin. Allein die abstrakte Gefahr einer erneuten Alkoholisierung lasse zwar nicht auf eine Leistungsunfähigkeit schließen. Hier habe jedoch eine konkrete Gefahr für Alkoholrückfälle vorgelegen. Wegen der fehlenden Leistungsunfähigkeit bestehe kein Anspruch auf Annahmeverzugslohn.
Sind alkoholkranke Arbeitnehmer nach einer Therapie wegen eines erneuten Rückfalls arbeitsunfähig krankgeschrieben, darf der Arbeitgeber ihnen aber nicht die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verweigern, urteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt am 18. März 2015. Denn bei der Suchterkrankung hätten sie in der Regel nicht selbst die Rückfälle zu verschulden. Nur wenn ein medizinischer Gutachter zweifelsfrei nachweist, dass der Alkoholkranke bewusst und mit eigenem Willen die Arbeitsfähigkeit verursacht hat, könne die Pflicht des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung entfallen.
Unentschuldigte Fehltage eines langjährigen Mitarbeiters aufgrund alkoholbedingter Fehlzeiten können zudem nach einem Urteil des LAG Mainz auch nach mehreren Abmahnungen nicht generell eine Kündigung begründen. Dies gelte dann, wenn der alkoholkranke Mitarbeiter mehrere Schicksalsschläge innerhalb kurzer Zeit zu verkraften hatte - hier der Tod der Mutter und der Schwester - und er therapiewillig ist, heißt es in dem Urteil vom 5. Mai 2015.
Denn es müsse berücksichtigt werden, „dass gerade der Süchtige in besonderem Maß ein möglichst intaktes soziales Umfeld braucht, um überhaupt eine Chance zu haben, sich von der Sucht zu befreien“. In dieser Situation sei es dem Arbeitgeber zuzumuten, dem Mitarbeiter Gelegenheit zu einer Alkoholtherapie zu geben.
Az.: 5 Sa 150/22 (LAG Mainz, Kinderpflegerin)
Az.: 10 AZR 99/14 (Bundesarbeitsgericht)
Az.: 7 Sa 641/14 (LAG Mainz, Fehlzeiten)
Heilbronn (epd). Die Kündigung eines langjährigen Mitarbeiters wegen häufiger Kurzerkrankungen muss auch sozial gerechtfertigt sein. Je länger ein Arbeitnehmer in der Vergangenheit ohne krankheitsbedingte Fehlzeiten beschäftigt war, desto eher sind vom Arbeitgeber häufige Kurzzeiterkrankungen in jüngster Zeit hinzunehmen, entschied das Arbeitsgericht Heilbronn in einem am 23. August veröffentlichten Urteil. Dies gelte umso mehr, wenn die Erkrankungen des Mitarbeiters auf seine schwere Arbeit zurückzuführen sind und er zu den rentennahen Jahrgängen gehört.
Der 1963 geborene Kläger arbeitete seit 33 Jahren als Gießereihilfskraft. Infolge der schweren körperlichen Arbeit und Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule traten in den letzten Jahren immer häufiger kurze krankheitsbedingte Fehlzeiten auf. Allein zwischen 2019 und 2022 musste der Arbeitgeber für 198 Tage Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leisten, insgesamt knapp 33.000 Euro brutto. Hinzu kamen noch 91 Fehltage, bei denen die Krankenkasse wegen einer länger als sechs Wochen dauernden Erkrankung Krankengeld zahlte.
Der Arbeitgeber kündigte dem Mann schließlich zum 31. Juli 2023. Die häufigen Kurzerkrankungen würden den Betriebsablauf stören und seien finanziell schwer zu schultern. Es bestehe zudem eine negative Gesundheitsprognose, sodass auch künftig mit weiteren, häufigen Kurzerkrankungen zu rechnen sei.
Das Arbeitsgericht hielt die Kündigung sozial nicht für gerechtfertigt. Diese sei daher unwirksam. Häufige Kurzerkrankungen könnten aber durchaus eine Kündigung begründen. Hierfür müsse - wie im vorliegenden Fall - eine negative Gesundheitsprognose vorliegen. Auch müssten die betrieblichen Interessen des Arbeitgebers „erheblich“ beeinträchtigt sein. Dies sei angesichts der Betriebsstörungen und der zu leistenden Entgeltfortzahlung im Streitfall gegeben.
Im vorliegenden Fall hielt das Gericht die Kündigung dennoch nicht sozial gerechtfertigt, da der Kläger viele Jahre ohne Fehlzeiten gearbeitet habe. Erst in den letzten Jahren seien häufige Kurzerkrankungen aufgetreten. Zudem gehöre der Kläger zu den rentennahen Jahrgängen. Eine Aussicht auf eine neue Stelle habe er nicht. Daher müsse der Arbeitgeber den Kläger weiter beschäftigen.
Az.: 8 Ca 328/22
Luxemburg (epd). Sechs syrische Geflüchtete sind mit einer Schadensersatzklage gegen die europäische Grenzschutzagentur Frontex vor dem Gericht der Europäischen Union gescheitert. Die Schadensersatzforderungen der abgeschobenen Geflüchteten seien unbegründet, urteilte das Gericht am 6. September in Luxemburg. Weder finanzielle noch psychische Schäden seien auf das Vorgehen der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) zurückzuführen, die die sechs syrischen Geflüchteten aus Griechenland in die Türkei abgeschoben hatte.
Die Geflüchteten waren 2016 auf der griechischen Insel Milos angekommen. Von dort wurden sie auf die Insel Leros gebracht, wo sie erfolglos darum baten, Asylanträge stellen zu dürfen. Stattdessen wurden sie von Frontex und den griechischen Behörden in die Türkei gebracht. Heute leben sie im Irak.
Eine Beschwerde der Geflüchteten beim Grundrechtsbeauftragten von Frontex blieb erfolglos, sodass sie sich an den Gerichtshof der Europäischen Union wandten, um auf Schadensersatz zu klagen. Frontex habe sich während der Rückführung rechtswidrig verhalten, argumentierten die Kläger. Aufgrund der Situation in Syrien hätte ihnen internationaler Schutz zugestanden. Die Möglichkeit, diesen zu beantragen, sei ihnen durch die Abschiebung genommen worden.
Das Vorgehen stelle einen Verstoß gegen die Verpflichtungen des Grundrechtsschutzes sowie das Rechtes auf Asyl, des Verbotes kollektiver Ausweisung und des Verbotes erniedrigender Behandlung dar. Für den entstandenen materiellen und immateriellen Schaden forderten sie insgesamt 136.000 Euro.
Das Gericht urteilte jedoch, die Grenzschutzagentur unterstütze die Mitgliedstaaten lediglich. Diese seien wiederum dafür zuständig, Asylanträge zu prüfen. Damit sei unabhängig vom Vorgehen von Frontex unklar gewesen, ob die Geflüchteten Schutz in der EU erhalten hätten.
Weder die beklagten finanziellen Schäden noch die Angstzustände, die die Geflüchteten erlitten hätten, seien damit direkt auf das Vorgehen von Frontex zurückzuführen. Einen Zusammenhang hätten die Geflüchteten nicht ausreichend nachgewiesen. Das Gericht der Europäischen Union ist die erste Instanz des Gerichtshofes der Europäischen Union mit Sitz in Luxemburg, dem höchsten Gericht der EU.
Az.: T-600/21
Straßburg (epd). Mit der Nicht-Übertragung der Geburtsurkunde eines im Ausland durch Leihmutterschaft geborenen Kindes hat Italien dessen Recht auf Privat- und Familienleben verletzt. In seinem am 31. August in Straßburg gefällten Urteil bemängelte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Entscheidung der italienischen Behörden nicht ausreichend auf das Kindeswohl ausgerichtet gewesen sei. Das Interesse des Kindes, eine festgestellte und anerkannte Abstammung zu haben, sei nicht geachtet worden.
Das heute vierjährige Kind wurde in der Ukraine geboren, wo ihm auch eine Geburtsurkunde ausgestellt wurde. Der italienische Wunschvater ist gleichzeitig der Samenspender, während die Eizelle von einer anonymen Spenderin kam. Die Eltern wollten die ukrainische Geburtsurkunde, in die sie eingetragen waren, in eine italienische Urkunde übertragen lassen, um die rechtliche Verbindung zwischen ihnen und dem Kind in dem Land herzustellen, in dem sie leben.
Die italienischen Behörden hatten die Übertragung verweigert, da das Landesrecht Leihmutterschaft verbietet und als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung betrachtet. Auch die Vaterschaft des Samenspenders und Wunschvaters wurde nicht anerkannt, alle Klagen und Berufungen der Eltern blieben erfolglos. Das Kind hat damit keine festgestellte Abstammung und wird infolgedessen in Italien als staatenlos betrachtet.
Die Eltern klagten nun im Namen ihres Kindes vor dem EGMR. Die Staatenlosigkeit setze das Kind einer hohen Rechtsunsicherheit aus, hieß es in der Klage. Die Eltern könnten das Verwandtschaftsverhältnis nicht nachweisen, zudem werde das Sozialleben stark eingeschränkt.
Das vierjährige Kind werde seit Geburt in einem Zustand anhaltender Ungewissheit über seine persönliche Identität gehalten, urteilte der EGMR. Das Gericht bestätigte zwar die Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens, jedoch lediglich in Bezug auf die Eintragung der Vaterschaft. Hinsichtlich der Wunschmutter befand der EGMR das Recht aber als unverletzt. Ihr stünde der Weg einer Adoption offen. Der Gerichtshof sprach den Klägern eine Entschädigung von 15.000 Euro zuzüglich der Verfahrenskosten zu.
Az.: 47196/21
Straßburg (epd). Die Unterbringung einer traumatisierten Minderjährigen in einer Flüchtlingsunterkunft für Erwachsene stellt eine unmenschliche Behandlung dar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte am 31. August in Straßburg, dass die italienischen Behörden die Rechte einer heute 23-jährigen Ghanaerin verletzt hätten, die minderjährig insgesamt acht Monate in einer Unterkunft für Erwachsene verbringen musste. Der traumatisierten Frau sei so der Zugang zur nötigen psychologischen Betreuung verwehrt worden. Mehrfache Verlegungsanträge seien ignoriert worden.
Die Ghanaerin kam im Oktober 2016 mit dem Schiff in Italien an. Sie gab an, mehrfach Opfer sexuellen Missbrauchs geworden zu sein, unter anderem durch ihren Ehemann, mit dem sie in einer Zwangsehe verheiratet gewesen sei. Auf ihrer Flucht sei sie auch in Libyen vergewaltigt worden, sodass sie sich zur Flucht nach Italien entschieden habe. Das Risiko, bei der Bootsfahrt zu sterben, habe sie aufgrund des Missbrauchs in Kauf genommen.
Nach einer Flucht aus der Erstaufnahmeeinrichtung wurde sie im Frühjahr 2017 in einem Aufnahmezentrum für Erwachsene im norditalienischen Como untergebracht. Es sei ihr hier zuerst nicht möglich gewesen, einen Asylantrag zu stellen, da der ihr zugewiesene Vormund nicht zu den entsprechenden Terminen erschienen sei. Bereits im Mai 2017 bescheinigte eine Psychologin von „Ärzte ohne Grenzen“, dass die Unterbringung in dem Zentrum für Erwachsene drohe, den psychischen Zustand der Ghanaerin zu verschlechtern.
Dem Urteil zufolge sind die italienischen Behörden der wiederholten Aufforderung durch Gerichte nicht nachgekommen, der jungen Frau psychologische Betreuung zukommen zu lassen. Der EGMR wies darauf hin, dass die Klägerin zwischen Juni und August 2017 vier Ersuchen an die Präfektur, das Polizeipräsidium und das Rote Kreuz richtete, um in ein geeignetes Zentrum verlegt zu werden, das ihre prekäre Lage hätte verbessern können.
Alle Ersuchen blieben laut Gericht unbeantwortet, sodass die Frau bis Oktober 2017 in der Einrichtung bleiben musste. Sie habe somit nicht die Unterbringung und Unterstützung erhalten, die ihre schutzbedürftige Situation erforderte, urteilte der EGMR. Der Gerichtshof sprach der Klägerin 6.000 Euro Schadensersatz sowie 4.000 Euro für die Verfahrenskosten zu.
Az.: 70583/17
Berlin (epd). Die Malteser in der Hauptstadt haben eine neue Leitung: Marc Johannes Czernetzki (54) hat die Geschäftsführung der Hilfsorganisation übernommen. Der bisherige Diözesan- und Bezirksgeschäftsführer Henric Maes ging nach 32 Jahren bei den Maltesern in den Ruhestand.
Czernetzki war seit 2002 bei ITT Industries tätig, wo er im Laufe der Jahre verschiedene Leitungsfunktionen unter anderem als Prokurist und Personalleiter im internationalen Umfeld innehatte. Zuletzt war er für die Unternehmensgruppe weltweit für den Einkauf verantwortlich.
„Wir freuen uns, dass wir mit Marc Johannes Czernetzki eine erfahrene Führungskraft mit Expertise in vielfältigen Unternehmensbereichen gewinnen konnten“, sagte Raphael Ebenhoch, Regionalgeschäftsführer der Malteser in der Region Nordost. „Unser großer Dank gilt Henric Maes, der seit 1991 als Diözesan- und Bezirksgeschäftsführer die Malteser im Erzbistum Berlin zu einem starken zivilgesellschaftlichen Akteur gemacht hat“, sagte Ebenhoch weiter.
Maes kam kurz nach der Wende 1991 als Geschäftsführer nach Berlin, um die Malteser im Erzbistum Berlin auf- und auszubauen. Er startete mit neun Mitarbeitenden, heute sind es nach mehr als 30 Jahren unter seiner Leitung 900 Hauptamtliche und über 1.500 Ehrenamtliche.
Vom schwerpunktmäßig auf Erste-Hilfe-Ausbildung konzentrierten Dienstleister haben sich die Malteser in der Diözese Berlin nach den Angaben zu einer breit aufgestellten katholischen Hilfsorganisation entwickelt, mit vielfältigen Dienstleistungen, Angeboten und Projekten für Kinder, Ältere, Kranke, Einsame und Geflüchtete. Die Malteser im Erzbistum Berlin haben neben Standorten in der Hauptstadt auch Dienststellen in Stralsund und Potsdam.
Frank Zils (55) ist in seinem neuen Amt als Sprecher und Geschäftsführer Personal, christliche Unternehmenskultur und Unternehmenskommunikation der BBT-Gruppe in Koblenz vorgestellt worden. Er wird gemeinsam mit Andreas Latz (54), Geschäftsführer Finanzen, und Werner Hemmes (63), Geschäftsführer Recht, die Verantwortung für die Führung des Unternehmens übernehmen. Zils stammt aus dem Rheinland, studierte von 1987 bis 1992 Theologie und Philosophie an den Universitäten Trier und Tübingen und promovierte 1997 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar in Theologie. Nach weiteren Studien im Bereich Personalwesen und Erwachsenenbildung übernahm Zils verschiedene Führungsaufgaben im Bereich Personalentwicklung und Personalmanagement, unter anderem für die Deutsche Lufthansa AG. Die BBT-Gruppe ist mit rund 100 Einrichtungen einer der großen christlichen Träger von Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen in Deutschland.
Frank Dickmann und Britta Greb verstärken den Bereich Rechtsberatung für die Pflege und Altenhilfe bei der Rechtsanwaltsgesellschaft Solidaris (Köln). Zu Dickmanns Beratungsgebieten zählen das Heimrecht, das Vertragsrecht und das Pflegeversicherungsrecht in Einrichtungen. Dickmann ist Herausgeber und Co-Autor des juristischen Fachkommentars Heimrecht beim C.H.Beck und Lehrbeauftragter an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Greb, die zu Solidaris zurückkehrt, lehrte als Dozentin an der Akademie für Gesundheitsberufe in Wuppertal und an den Krankenpflegeschulen in Duisburg und Essen.
Kerstin Birnstein (50) hat zum 1. September die Leitung des Geschäftsbereichs Unternehmenskommunikation der Diakonie München und Oberbayern übernommen. Birnstein verantwortet die strategische und operative Arbeit, den Ausbau und die Entwicklung der Kommunikation eines der größten sozialen Träger in Oberbayern nach außen und innen: Die neue Kommunikations-Chefin sagt zu ihrer neuen Aufgaben: „Die kommunikative Herausforderung der Diakonie ist mehr als der Aufbau des Markenkerns. Es geht auch um die Schaffung eines Selbstbewusstseins der rund 7.500 hauptberuflichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Diakonie München und Oberbayern.“ Birnstein arbeitete für Rundfunkanstalten und wechselte später als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Publizistik zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach Hannover. Dort arbeitete sie auch als Pressesprecherin und war zuletzt als Persönliche Referentin des Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, tätig. 2019 folgte sie dessen Ruf nach München, um dort für ihn als Persönliche Referentin zu arbeiten.
Günter Spinner ist neuer Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht (BAG). Der 51-Jährige trat im Jahr 2000 in den Justizdienst des Landes Baden-Württemberg ein. Er war an verschiedenen Arbeitsgerichten tätig. Im September 2010 wurde Spinner zum Vizepräsidenten des Arbeitsgerichts Stuttgart ernannt. Mit Wirkung vom 1. Juni 2011 wurde Spinner zum Richter am BAG ernannt. Spinner übernimmt den Vorsitz des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts. Der Achte Senat ist vor allem zuständig für Schadensersatz und Entschädigung, Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Entgelttransparenzgesetz, das Wettbewerbs- und das Zwangsvollstreckungsrecht, bestimmte datenschutzrechtliche Ansprüche und Konkurrentenklagen.
Christoph Betz ist seit 1. September neuer Richter am Bundesarbeitsgericht (BAG). Zuletzt arbeitete der 45-Jährige am Arbeitsgericht Regensburg. Das Präsidium des BAG hat Herrn Betz dem Vierten Senat zugeteilt. Der Vierte Senat ist vor allem zuständig für das Tarifvertragsrecht und für Streitigkeiten über Eingruppierungen.
Sandra Wullenkord ist seit 1. September neue Richterin am Bundesarbeitsgericht (BAG). Zuletzt arbeitete die 37-Jährige am Arbeitsgericht Paderborn. Das BAG-Präsidium hat Wullenkord dem Siebten Senat zugeteilt. Der Siebte Senat ist im Wesentlichen zuständig für das Befristungsrecht sowie das formelle Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht.
Rüdiger Scharf ist seit 1. September neuer Kommunikationschef der DAK-Gesundheit. Der 61-Jährige verantwortet als Stabsstellenleiter und Chef-Pressesprecher unter anderem die Pressearbeit, die interne Kommunikation, die DAK-Magazine sowie die Brief- und E-Mail-Kommunikation der mit 5,5 Millionen Versicherten drittgrößten Krankenkasse Deutschlands. Vorgänger Jörg Bodanowitz scheidet aus Altersgründen aus.
15.-22.9.:
Online-Kurs „Leichte Sprache - Regeln und Anwendung“
Tel.: 030/26309-139
18.-20.9.:
Online-Kurs „Auf ein Wort - Beratung: kurz, knapp, sofort“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
22.9.:
Online-Seminar „Klimaziele identifizieren, validieren & kommunizieren“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828-211
25.-28.9.:
38. Bundesweite Streetworker-Tagung „Armut, Klassismus, psychische Krisen: Wie alles dann doch zusammenhängt“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
28.-29.9. Berlin:
„Deutscher Pflegetag 2023“
Tel.: 030/300669-0
Oktober
5.10. Berlin:
Seminar „Psychische Gesundheit in der Sozialwirtschaft“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828-224
10.-11.10.:
Online-Seminar „Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
11.10.:
Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Online-Beratung - kompakt“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
18.-20.10. Freiburg:
Fortbildung „Kinderschutz in der Familienpflege - Auftrag und Handlungsoptionen im Einsatz“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
20.-21.10.:
Online-Tagung „Sterben wollen - Leben müssen - Sterben dürfen? - Von der Kontroverse in die Praxis: Umgang mit den assistierten Suizid“
des Hauses Villigst
Tel.: 02304/755-325
23.-24.10. Erkner:
Seminar „Die Umsetzung des KJSG in der Kindertagesbetreuung - Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven“
Tel.: 030/62980-219
23.-25.10. Hannover:
Fortbildung „Hilfe für wohnungslose Männer und Frauen in besonderen sozialen Schwierigkeiten“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
25.10. Köln:
Seminar „Pflegesatzverhandlungen in der stationären Altenhilfe: Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“
der Unternehmensberatung Solidaris
Tel.: 0221/20930