Münster (epd). Katja Lindemann (Name geändert) hatte keine leichte Kindheit. „Ich wuchs bei zwei psychisch labilen Elternteilen auf“, sagt sie. Sie kommt aus dem Münsterland. Sie möchte nicht, dass ihr genauer Wohnort genannt wird. Auch ihren richtigen Namen möchte sie nicht in den Medien lesen. Sie habe Angst vor Hass im Netz. „Es geht mir um Selbstschutz“, erklärt sie.
Lindemanns Eltern seien beide in ihrer Kindheit traumatisiert worden und hätten ihre psychischen Verletzungen auf ihre beiden Kinder übertragen. Noch heute leidet die 39-Jährige unter den Folgen: „Ich hatte mit meinen fast 40 Jahren noch nie eine Beziehung“, sagt sie. Auch bei ihrem ein Jahr älteren Bruder hätten die Ereignisse Spuren hinterlassen. „Er kam in falsche Kreise, wurde drogenabhängig. Er hat mit Psychosen und einer diagnostizierten Schizophrenie zu kämpfen“, sagt sie. „Für ihn ist jeder Tag die Hölle.“
Für Diplom-Psychologe Steffen Jacob aus dem brandenburgischen Bad Freienwalde ist der Fall klar. „Unbehandelte psychische Probleme wirken seelisch und körperlich weiter und können sich auf die nächste, sogar die übernächste Generation übertragen“, sagt er. Das eigentliche Trauma sei nicht das Erlebnis an sich, sondern wie es von dem Menschen, der es erfährt, verarbeitet wird. Der Umgang sehe bei jedem anders aus. Eine Suchterkrankung, wie bei Lindemanns Bruder, sei eine häufige Folge.
Dabei schienen die Lindemanns nach außen hin eine normale Familie zu sein. „Mein Bruder und ich hatten immer saubere Kleidung, fehlten fast nie in der Schule, hatten gute Noten“, erinnert sie sich. Niemand habe geahnt, was sich hinter verschlossenen Türen abspielte.
Wie ein Mensch mit Traumata umgehe, komme auch auf seine Umgebung an. „Wenn Eltern ihre eigenen Gefühle tabuisieren, werden sie auch nicht angemessen auf ihre Kinder eingehen können“, erklärt Jacob. Eltern würden oft unangenehme Dinge vor ihren Kindern verschweigen, um sie zu schützen. „Diese spüren aber, dass etwas nicht stimmt.“
Lindemanns Vater wuchs in armen Verhältnissen auf. „Er beschwerte sich jahrelang, dass seine Geschwister immer bevorzugt wurden“, sagt sie. Seine Überzeugung, von jedem gehasst zu werden und nirgends hineinzupassen, habe er auf seine beiden Kinder übertragen. „Er ist davon überzeugt, dass alles schlecht ist und alle böse sind“, sagt Katja Lindemann.
Mit Kritik habe er nicht gut umgehen können. Sie sei häufig der Auslöser von Panikattacken und Wutanfällen gewesen, erinnert sich Lindemann. „Auf Kleinigkeiten reagierte er, als wäre es ein Weltuntergang“, sagt sie. Um ihn nicht zu provozieren, habe sie oft ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse unterdrückt. „Ich lebte in der Überanpassung. Ich lief wie auf Porzellan“, sagt sie.
Auch ihre Mutter habe psychische Probleme gehabt. „Sie wollte immer von jedem gemocht werden und reagierte extrem sensibel auf Zurückweisung.“
Dieses Muster ist für Psychologe Jacobs typisch. „Die beiden ergänzen sich in ihren Stärken und Defiziten. Die Beziehung wäre sonst schnell am Ende“, erklärt er. Katja Lindemann sagt über ihre Eltern: „Sie sind eigentlich gute Menschen, aber durch ihre unbehandelten Traumata waren sie nicht in der Lage, sich um uns zu kümmern.“
Luise Reddemann arbeitete jahrzehntelang mit Patienten zusammen, die unter Traumafolgen litten. Die Fachärztin für Nervenheilkunde war 19 Jahre lang Chefärztin einer Klinik für psychotherapeutische Medizin in Bielefeld. „Ich hatte in der Klinik und in meiner Praxis viele Patientinnen und Patienten, deren Eltern traumatisiert waren und ihren Stress auf verschiedene Weise weitergegeben haben“, sagt Reddemann. Fälle wie die von Lindemann gebe es häufig. „Es handelt sich hierbei um eine transgenerationale Weitergabe - und darunter leiden nicht wenige“, sagt sie.
Genaue Zahlen gibt es laut Deutscher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hierzu nicht. Experten ermittelten jedoch ein dreifach erhöhtes Misshandlungsrisiko, wenn Eltern in ihrer Kindheit ebenfalls Misshandlung erlebt haben.
Nach Reddemanns Einschätzung liegt der Ursprung vieler Traumata im Zweiten Weltkrieg, teilweise bereits im Ersten. „Viele Männer, die aus dem Krieg zurückkamen, waren traumatisiert“, sagt die Neurologin. „Traumatisierte Menschen können eine Tendenz haben, ihre Partner und Kinder zu misshandeln und damit zu traumatisieren“, sagt sie. Auch Vernachlässigung sei eine subtile Form der Weitergabe von Trauma. Die Weitergabe von Traumata könne sich in viele weitere Generationen ziehen.
Katja Lindemann meidet bis heute größere Veranstaltungen und öffentliche Plätze, an denen sich viele Menschen versammeln. Dabei ging es ihr eine Zeitlang gut. „Ich bin für mein Abitur und meine Ausbildung ausgezogen und hatte einige Hürden gemeistert“, erinnert sie sich. Ihren Bachelor in Medieninformatik schloss sie mit sehr gut ab. Im Berufsleben kam sie allerdings nicht zurecht. Ihr wurde schließlich Berufsunfähigkeit attestiert. Heute beziehe sie Erwerbsminderungsrente. Sie sei nicht in der Lage, einem Beruf nachzugehen. Die richtige Hilfe habe sie nie erhalten.