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Interview

Forscherin: Kindergrundsicherung deckt den Bedarf nicht




Irene Becker
epd-bild/Andre Zelck
Die Armutsforscherin Irene Becker kritisiert die Pläne zur Kindergrundsicherung ab 2025. Sie vermisst eine "deutliche Leistungsanhebung". Im Vergleich zum Jahr 2024 würden die Sozialleistungen für Kinder aus armen Familien sogar sinken.

Riedstadt (epd). Irene Becker rechnet seit vielen Jahren immer wieder vor, dass die Regelsätze für die Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV (heute Bürgergeld) nicht das Existenzminimum sichern. Im epd-Interview erklärt die Volkswirtin nun, dass daran auch die neue Kindergrundsicherung nichts ändern werde. Die neue Leistung werde die Kinder nicht aus der Armut holen. Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: Bundesfamilienministerin Paus hat nach der Einigung mit Finanzministerin Lindner verkündet, dass die Sozialleistungen für Kinder aus armen Familien mit der Einführung der Kindergrundsicherung ab 2025 stark steigen werden. Für Kleinkinder sollen sie demnach von derzeit 318 Euro im Monat auf 530 Euro im Monat steigen, armutsgefährdete Jugendliche sollen statt derzeit monatlich 357 Euro im Jahr 2025 636 Euro erhalten. Für wie realistisch halten Sie diese Angaben?

Irene Becker: Diese Angaben für 2025 sind durchaus realistisch, sie signalisieren aber keine Leistungserhöhung infolge der Einführung der Kindergrundsicherung. Denn die für dieses Jahr genannten Zahlen und die von Frau Paus für 2025 erwarteten Beträge sind überhaupt nicht vergleichbar. Die für 2023 genannten Zahlen beziehen sich ausschließlich auf den aktuellen Regelbedarf für Bezieher des Bürgergeldes. Das Gesamtleistungspaket, das Kindern derzeit maximal zustehen kann, ist aber auch jetzt wesentlich höher - und nur in der Gesamtschau mit den für die Kindergrundsicherung 2025 genannten Beträgen vergleichbar.

Zu den Regelbedarfen von 2023 müssen also noch die für Kinder veranschlagten Kosten für Unterkunft und Heizung sowie verschiedene Elemente des Bildungs- und Teilhabepakets addiert werden. Hinzu kommt auch der Kindersofortzuschlag, der als Zwischenlösung bis zum Inkrafttreten der Kindergrundsicherung konzipiert worden ist. Damit ergeben sich aktuell Beträge von 476 Euro für Kinder von drei bis unter sechs Jahren und 593 Euro für Jugendliche ab 14 Jahren.

Um auf die Ansprüche von Kindern im Bürgergeldbezug im nächsten Jahr zu kommen, ist die Erhöhung der Regelbedarfsstufen zum 1. Januar 2024 um 12 Prozent zu berücksichtigen - mit dieser Anpassung wird dem im Bürgergeldgesetz festgelegten Verfahren gefolgt. Damit ergeben sich für das Jahr vor Inkrafttreten der Kindergrundsicherung aus der Summe der Einzelleistungen Höchstbeträge von 520 Euro für Kinder zwischen drei und sechs Jahren und 650 Euro für Jugendliche. Diese Werte für 2024 liegen ganz in der Nähe der Angaben von Ministerin Paus für 2025: 530 Euro bzw. 636 Euro. Wo ist da eine deutliche Leistungsanhebung infolge der Einführung der Kindergrundsicherung zu sehen? Ich sehe eher eine Verringerung der realen Beträge, wenn zum 1. Januar 2025 keine Anpassung entsprechend der Inflationsrate erfolgt.

epd: Der Arbeitskreis Armutsforschung, in dem Sie zusammen mit anderen Forschern sowie Sozialexperten aus der Praxis ein neues Papier zur Kindergrundsicherung verfasst haben, fordert seit vielen Jahren, dass der Staat die etwa zwei Millionen Kinder, die an der Armutsgrenze leben, aus der Armut herausholt. Wird das Gesetz zur Kindergrundsicherung dies leisten?

Becker: Ich fürchte nein. Klar ist, dass eine Zusammenfassung bestehender Leistungen für Kinder sinnvoll ist. Hier liegt der Schwerpunkt des Referentenentwurfs zur Einführung einer Kindergrundsicherung. Ob damit letztlich verlässliche Strukturen und Verfahren geschaffen werden, damit die Leistungen bei den Berechtigten auch wirklich ankommen, hängt aber von vielen Detailregelungen ab - das Ergebnis ist noch schwer abschätzbar.

Der geplante Abbau des Leistungsdschungels reicht aber nicht aus, um Armutslagen von Kindern zu vermeiden und mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Denn dazu muss zunächst die Höhe der Leistungen überprüft werden. Kindliche Bedarfe müssen neu und sachgerecht ermittelt werden, was nach vorliegenden Erkenntnissen über die methodischen Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelbedarfsermittlung zu einer Anhebung der Transfers zur Existenzsicherung führen würde.

epd: Wie viel Geld müsste der Staat jährlich in den Bundeshaushalt einstellen, um Kinder aus der Armut herauszuholen? Familienministerin Paus sprach von „mindestens 12 Milliarden Euro“ …

Becker: Diese Frage kann ich Ihnen nicht genau beantworten - nicht nur weil die erforderlichen Berechnungen hochkomplex sind. Die fiskalischen Folgen einer „armutsfesten“ Kindergrundsicherung hängen auch von Wertungen ab, die von wissenschaftlicher Seite nicht vorgegeben werden können. Konkret geht es um die zentrale Frage, bei welchem Rückstand des unteren Einkommensbereichs gegenüber der gesellschaftlichen Mitte soziokulturelle Teilhabe und ein gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen noch möglich ist.

Auf der Basis meiner früheren Berechnungen sind die von der Ministerin zunächst angesetzten 12 Milliarden Euro als Nettokosten der Kindergrundsicherung eher eine Untergrenze. Wenn das Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen mit Blick auf gute Entwicklungsperspektiven stärker den mittleren Standards angenähert werden soll, können fiskalische Mehraufwendungen von 20 bis 40 Milliarden Euro anfallen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn von einer 100-prozentigen Inanspruchnahme zustehender Leistungen der Kindergrundsicherung ausgegangen wird. Diesen Milliarden müssten aber eigentlich die gesellschaftlichen Folgekosten von Kinderarmut, die dann nicht anfallen würden, gegengerechnet werden.

epd: Im nächsten Jahr steigen die Sätze für das Bürgergeld (früher Hartz IV) für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche um 12 Prozent. Das ist die höchste Steigerung seit Einführung der Hartz-Gesetze vor 20 Jahren. Können Sie das als Armutsforscherin noch glaubwürdig kritisieren?

Becker: Mit dieser Erhöhung folgt die Regierung der Dynamisierungsregel laut Paragraf 28a SGB XII, wonach insbesondere die Preisentwicklung und zu einem kleineren Teil die Einkommensentwicklung berücksichtigt wird. Dass eine Erhöhung von 12 Prozent bisher noch nicht vorgekommen ist, liegt allein an der Inflation seit Ende 2021 und insbesondere im Jahr 2022. Es ist gut, dass es zumindest diese gesetzliche Anpassungsvorschrift gibt. Kritik ist dennoch angebracht, da die inflationsbedingte Anhebung zu spät kommt. Für starke inflationäre Preisentwicklungen sollten daher auch unterjährige Anpassungen der Regelbedarfe gesetzlich verankert werden.

epd: Die Bundesregierung hat eine Verwaltungsreform angekündigt, die dafür sorgen soll, dass alle Familien, die Anspruch auf Sozialtransfers haben, diese auch wirklich erhalten. Wie zuversichtlich sind Sie, dass das gelingt?

Becker: Sie sprechen das Problem der sogenannten verdeckten Armut, also der Nichtinanspruchnahme zustehender Sozialleistungen, an. Ich schätze, dass deutlich mehr als ein Drittel der berechtigten Familien derzeit ihre Ansprüche nicht wahrnehmen. Es ist bisher schwer absehbar, inwieweit die Zusammenlegung von Kindergeld, Kinderzuschlag und Bürgergeld für Kinder im Kontext mit einer Digitalisierung von Antragstellung und -bearbeitung zu einem merklichen Abbau der verdeckten Armut führt. Die Ministerin selbst geht ja nach eigenen Angaben davon aus, dass 2025 mehr als die Hälfte der leistungsberechtigten Kinder - aus welchen Gründen auch immer - nur den Garantiebetrag, nicht aber den ihnen zustehenden Zusatzbetrag erhält. Das wäre ein sehr ernüchterndes Ergebnis. Ich erwarte und erhoffe aber für die Folgejahre einen mäßigen Rückgang der verdeckten Armut.

epd: Wenn der Staat durch eine neue Kindergrundsicherung Kinder aus der Armut herausholt, nimmt er damit nicht den Eltern dieser Kinder den Ehrgeiz, aus eigener Kraft aus der Misere zu kommen?

Becker: Nein, dieses Problem sehe ich nicht. Mit dieser Frage sprechen Sie ein Menschenbild an, das der Realität nicht gerecht wird. Menschen begnügen sich nicht mit einem Minimum. Menschen haben individuelle Ziele, Lebensentwürfe und Präferenzen, Sicherheitsbedürfnisse, orientieren sich am Erreichbaren, wollen nach eigenen Vorstellungen leben und nicht auf dem Existenzminimum verharren. Und Eltern haben den Wunsch, dass ihre Kinder gut, selbstständig und selbstbestimmt durchs Leben kommen. Auch die große Zahl von etwa 800.000 Erwerbstätigen mit aufstockendem Bezug von Bürgergeld spricht gegen die These, dass man gerne den Staat für sich sorgen lassen würde.

epd: Fürchten Sie nicht, dass den betroffenen Kindern, aber auch vielen Kindern aus anderen Familien, damit vermittelt wird: „Du brauchst dich im Leben nicht anzustrengen, der Staat sorgt schon für dich“?

Becker: Nein! Ich denke, was ich zum allgemeinen Menschenbild und zur Motivlage von Eltern gesagt habe, gilt gleichermaßen für Kinder und Jugendliche. Sie wollen mehr, als nur gerade an der Armutsgrenze zu leben. Sie haben eigene Interessen, Perspektiven und Ziele. Energie und Kreativität von Kindern gehen eher verloren, wenn sie in Armut aufwachsen und sich resigniert, frustriert oder eingeschüchtert zurückziehen. Deshalb ist eine Überwindung von Armut gerade bei Kindern so wichtig.