sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

schwerwiegende gesundheitliche Schäden nach Corona-Impfungen sind zwar nach offiziellen Statistiken äußerst selten, für die Betroffenen des „Post-Vac-Syndroms“ können sie allerdings gravierende Folgen haben. Die 17-jährige Lea Huber ist seit ihrer zweiten Impfung vor einem Jahr auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Uniklinik Marburg bietet Covid-19-Impfgeschädigten eine „Spezialsprechstunde“ an und arbeitet derzeit eine Warteliste mit rund 4.000 Personen ab. Der Corona-Impfpflicht im Gesundheitswesen hat sich eine Arzthelferin aus Bayern entzogen, indem sie ihren Job aufgab. Nachdem ihr Mann unter heftigen Nebenwirkungen gelitten habe, „hatte ich zu große Angst vor einer Impfung“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Die Bundesländer bereiten sich auf die Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge in den nächsten Wochen und Monaten vor. Dazu werden mancherorts auch wieder Notunterkünfte in Zelten und Messehallen eingerichtet, wie eine Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) in den 16 Bundesländern ergab. Mehrere Länder betonten, die Nutzung von Turnhallen als Flüchtlingsunterkünfte vermeiden zu wollen.

Kinder psychisch kranker Eltern haben ein hohes Risiko, später selbst eine psychische Störung oder eine Sucht zu entwickeln. Deshalb ist es wichtig, sie schon früh bei der Therapie ihrer Eltern zu begleiten. Diesen Ansatz verfolgt beispielsweise das Evangelische Krankenhaus in Bielefeld und unterstützt die Kinder mit Paten, von denen sie Zuneigung und Wertschätzung erfahren. So bekommen sie, was ihre erkrankten Eltern oft nicht leisten können: Empathie und Akzeptanz ihrer kindlichen Bedürfnisse.

Das elterliche Recht auf Kindererziehung hat Grenzen: Besteht gegen Eltern ein begründeter Verdacht erheblicher Kindesmisshandlungen, dürfen auch bei nicht vollständig geklärten Ursachen der festgestellten Verletzungen weite Teile des Sorgerechts entzogen werden, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Thema

Corona

Impfpflicht: Jobwechsel von der Arztpraxis in die Gastronomie




Impfausweis mit dem Eintrag von drei Impfungen gegen Covid-19
epd-bild/Friedrich Stark
Die Corona-Impfpflicht im Gesundheitswesen ist hoch umstritten. Die einen befürworten sie zum Schutz vulnerabler Gruppen, andere halten sie für nicht akzeptabel. Pflegerinnen erzählen von unerwünschten Wirkungen der Pflichtimpfungen.

Ansbach, Wedel (epd). Lara Schäfer (Name geändert) räumt in einem Lokal im bayerischen Landkreis Ansbach schmutzige Teller in die Spülmaschine, nachdem sie Salate zubereitet und einer der Kellnerinnen überreicht hat. Sie trocknet sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und blickt auf die Uhr. Bis vor kurzem hat die 35-jährige gelernte Arzthelferin noch Blut abgenommen, Verbände gewechselt und bei ärztlichen Behandlungen unterstützt.

„Ich hatte zu große Angst davor“

Heute ist Lara Schäfer in der Gastronomie tätig. Grund für ihren Berufswechsel ist die Impfpflicht im Gesundheits- und Sozialwesen. „Ich hatte zunächst überlegt, mich impfen zu lassen. Aber nach dem, was mit meinem Mann passiert ist, hatte ich zu große Angst davor“, sagt die Mutter zweier Kinder im Alter von zwei und vier Jahren.

Nach seiner zweiten Corona-Impfung spürte ihr Ehemann Torsten Schäfer (Name geändert) ein Stechen im Brustkorb. Wenig später folgten Herzrhythmusstörungen und Unruhezustände. „Es war so schlimm, dass meine Frau einen Notarzt rufen musste und ich zur Untersuchung ins Krankenhaus kam“, erinnert er sich.

Der 28-Jährige arbeitet seit sieben Jahren in der Pflege. Aufgrund der Impfpflicht ließ er sich Ende November 2021 zum ersten Mal und sechs Wochen später zum zweiten Mal impfen. Der Pfleger bereut seine Entscheidung. „Heute würde ich mich definitiv gegen die Impfung entscheiden“, sagt er.

Seit 15. März gilt bundesweit die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Arbeitnehmer, die in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern arbeiten, mussten sich bis zu diesem Zeitpunkt gegen Covid-19 impfen lassen. Ansonsten drohte ihnen ein Arbeitsverbot.

„Nur mit allgemeiner Impfpflicht zielführend“

„Unter Kolleginnen und Kollegen habe ich ebenfalls Skepsis gegenüber der Impfung mitbekommen“, sagt der Pfleger. Er fordert mehr Investitionen in die Erforschung von Impfschäden.

Eine Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Um die vulnerablen Gruppen zu schützen, brauchen wir gute Testkonzepte für die Einrichtungen und sollten auf den Schutz durch Masken setzen.“ Aus Sicht des DBfK sei eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ohne eine allgemeine Impfpflicht nicht zielführend.

Der ärztliche Geschäftsführer und Sprecher des Vorstandes der Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V. (ÄFI), Alexander Konietzky, sagte dem epd: „Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist aus wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht nicht haltbar.“ Sie bietet seiner Ansicht nach weder einen ausreichenden Fremdschutz noch schütze sie vor der eigenen Ansteckung mit Corona. ÄFI sei von Anfang an gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht eingetreten, sagt der im schleswig-holsteinischen Wedel niedergelassene Kinderarzt.

Wegen Personalmangel nicht kündbar

Claudia Ropp (Name geändert), Pflegerin aus dem Landkreis Ansbach, sagte dem epd: „Am Anfang haben wir alle ein Schreiben erhalten, in dem wir zur Impfung aufgefordert wurden. Ich entschied mich dagegen.“ Sie sei dennoch bis heute in ihrem Beruf tätig. „Wir haben einen enormen Personalmangel. Sie könnten uns gar nicht kündigen“, sagt die Mutter drei erwachsener Kinder.

Eine Sprecherin des bayerischen Gesundheitsministeriums für Gesundheit teilte auf Anfrage mit: „Die bayerischen Gesundheitsämter haben keine Bußgelder und auch keine Betretungs- und Tätigkeitsverbote angeordnet.“ Dem Ministerium lägen keine Zahlen vor, ob Pflegekräfte wegen der Impfpflicht gekündigt hätten.

Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) habe den Bund wiederholt aufgefordert, die einrichtungsbezogene Impfpflicht vorzeitig auszusetzen. Nach dem geltenden Bundesgesetz läuft die einrichtungsbezogene Impfpflicht zum 31. Dezember 2022 aus. Ob sie verlängert wird, ist unklar.

Stefanie Unbehauen


Corona

17-Jährige seit Covid-19-Impfung auf Rollstuhl angewiesen




Die 17-jährige Lea Huber sitzt seit einer Corona-Impfung im Rollstuhl.
epd-bild/privat
Wie bei jeder Impfung kann es auch bei der Corona-Schutzimpfung zu Nebenwirkungen kommen. Betroffene des "Post-Vac-Syndroms" leiden unter ähnlichen Symptomen, wie sie bei Long Covid auftreten - und unter Stigmatisierung.

Bern, Frankfurt a.M. (epd). Lea Huber ist seit ihrer Impfung gegen Covid-19 bettlägerig. „Ich schaffe gerade so den Weg zur Toilette mit dem Rollstuhl“, sagt die Schweizerin. Die Fenster ihres Zimmers sind abgedunkelt, Reize verträgt sie nur noch schlecht. „Die meiste Zeit liege ich und schaue eine Wand an“, sagt Lea. Die 17-Jährige leidet am „Post-Vac-Syndrom“.

Schwerwiegende Nebenwirkungen äußerst unwahrscheinlich

Der Begriff „Post-Vac-Syndrom“ beschreibt die Impfnebenwirkungen, die nach der Covid-19-Schutzimpfung mit einem zugelassenen Impfstoff auftreten. Darunter fallen unter anderem chronische Erschöpfung, Müdigkeit, Hirnvenenthrombosen, Lähmungserscheinungen und Herzbeutelentzündungen.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) im hessischen Langen ist für die Erfassung von Impfnebenwirkungen zuständig. Ärzte sind verpflichtet, dem PEI Verdachtsfälle auf Impfnebenwirkungen zu melden. Dem aktuellen Sicherheitsbericht des Instituts zufolge kamen auf 1.000 Impfdosen je 0,3 Meldungen von Verdachtsfällen auf schwerwiegende Nebenwirkungen und Komplikationen. Das entspricht 0,03 Prozent.

Lea Huber musste ihre Ausbildung zur Landwirtin abbrechen. Im September 2021 ließ sie sich erstmals mit Moderna gegen Covid-19 impfen. Im Oktober erfolgte die zweite Impfung mit dem gleichen Wirkstoff. Erste Symptome wie Schüttelfrost, Fieber und Gelenkschmerzen hielt sie für normale Reaktionen. „Ich fühlte mich, als hätte ich eine Grippe“, erinnert sie sich.

Als sich eine starke Erschöpfung einstellte, suchte sie ihren Hausarzt auf. Im Unterschied zu anderen Ärzten nahm er ihre Symptome ernst. „Ich war in den vergangenen Monaten bei vielen Spezialisten, jedoch wurde ich immer wieder als psychisch krank abgestempelt“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Sprechstunde für Impfgeschädigte an der Uniklinik

Die Uniklinik Marburg ist eine der ersten, die seit Januar dieses Jahres eine Sprechstunde eigens für Menschen, die an Impfnebenwirkungen leiden, eingerichtet hat. Das Team rund um den Kardiologen Bernhard Schieffer bietet in seiner „Spezialsprechstunde Post-Vax“ Hilfe an. Aktuell befänden sich rund 4.000 Personen auf der Warteliste.

Der Rechtsanwalt Joachim Cäsar-Preller vertritt die Interessen von Betroffenen. Die Wiesbadener Kanzlei hat nach eigenen Angaben seit Herbst 2021 mehr als 600 Mandanten mit dem Post-Vac-Syndrom betreut. „Es geht hier nicht um Lappalien wie Schmerzen an der Einstichstelle“, betont Cäsar-Preller. „Betroffene leiden unter Thrombosen, Verlust der Sehkraft oder chronischer Erschöpfung. Viele sind arbeits- und berufsunfähig.“

Er erwartet, in 95 Prozent der Fälle eine außergerichtliche Einigung erzielen zu können. Er nennt es einen Skandal, dass die Politik die Menschen animiert hatte, sich impfen zu lassen, aber nun niemand für die Schäden aufkomme. „Die Gewinne werden von den Impfstoffherstellern behalten, aber die Risiken werden sozialisiert“, sagt er.

Unverständnis bei Kollegen

Auch Pastorin Sandra A. aus Schwerin leidet unter dem Post-Vac-Syndrom. Sie ist dreimal geimpft, im Juni und Juli 2021 und im Februar 2022. „Meine Impfnebenwirkungen begannen nach der zweiten Impfung“, sagt sie. Die Symptome seien schwerwiegend: totale Erschöpfung, starke Konzentrationsstörungen, verschwommenes Sehen, Muskelschwäche, Schwindel.

„Ich hatte mich verrückterweise für eine dritte Impfung entschieden“, sagt die 43-Jährige. „Ich wagte in meiner Verzweiflung diesen Selbstversuch, aber leider ohne Erfolg.“ Täglich werde sie mit Unverständnis konfrontiert. „Auf der Arbeit werde ich genervt gefragt, ob ich denn nicht endlich mal ausgeschlafen hätte. Oder mir wird vorgeworfen, ich sehe gar nicht krank aus und könne es somit auch nicht sein“, sagt Sandra A.

Lea Huber, Sandra A. und weitere Betroffene fordern eine Aufklärungskampagne zum Post-Vac-Syndrom. „Wir brauchen Forschungsgelder für Medikamentenstudien“, sagt Huber. Sandra A. beklagt: „Wir werden von Politik und Verwaltung ignoriert.“

Von Stefanie Unbehauen (epd)



sozial-Politik

Grundsicherung

Bürgergeld: Wie ein Kompromiss aussehen könnte




Schild eines Jobcenters
epd-bild/Norbert Neetz
Am 25. November soll das Bürgergeld vom Bundesrat beschlossen werden. Das wünscht sich die Bundesregierung. Auch die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Nahles, sagt: "Bei einem späteren Beschluss können wir die Auszahlung zum 1. Januar nicht garantieren." Werden sich Ampel und Union rechtzeitig einig?

Berlin (epd). Im Streit um das Bürgergeld steht der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat unter Zeitdruck. Dem Bundesrat soll schon am 25. November ein Kompromiss zur Abstimmung vorliegen. Andernfalls wird es unwahrscheinlich, dass rund 5,4 Millionen Menschen die neuen, höheren Regelsätze des Bürgergelds zum Januar auf ihren Konten haben. Das aber ist gleichermaßen das Ziel von Ampelkoalition und Union, obwohl sie sich bis zuletzt im Bundestag und Bundesrat über das Bürgergeld heftig gestritten haben. Nun kommt es darauf an, wie die Bundesländer sich verhalten.

„Bedingungsloses Grundeinkommen aus Steuermitteln“

Das Vermittlungsverfahren ist nötig geworden, weil die Bundesländer, in denen die CDU mitregiert, dem Gesetz der Bundesregierung nicht zugestimmt haben und es deshalb in der Länderkammer durchfiel. CDU-Chef Friedrich Merz hatte die Ablehnung angekündigt. Er sah Deutschland auf dem „Weg in ein bedingungsloses Grundeinkommen aus Steuermitteln“. Für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) ist das Bürgergeld „sozial unfair und ungerecht“. Arbeit lohne sich nicht mehr, hieß es aus der Union allenthalben. Nun sitzt Merz mit am Tisch im Vermittlungsausschuss, dem je 16 Vertreterinnen und Vertreter der Bundesländer und der Fraktionen im Bundestag angehören.

Hinter den Kulissen wird die Sitzung des Vermittlungsausschusses, die am 23. November stattfinden soll, intensiv vorbereitet. Voraussichtlich unter dem Vorsitz der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), und des Parlamentarischen Geschäftsführers der Unionsfraktion im Bundestag, Hendrik Hoppenstedt, soll es zu einer Einigung kommen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) haben bisher mehr Kompromissbereitschaft in Richtung der Union gezeigt als die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, die CDU und CSU mahnte, ihre Blockadehaltung aufzugeben.

Das Bürgergeld soll die Hartz-IV-Leistungen ablösen. Vorgesehen sind Änderungen, die von Praktikern seit Jahren gefordert werden und kaum für Diskussionen sorgen. Im Kern sollen die Vermittler weniger Zeit mit Formalien und mehr mit der Betreuung der Menschen verbringen können. Dazu zählt auch eine intensivere Unterstützung beim Nachholen von Berufsabschlüssen und Weiterbildungen, weil die meisten Langzeitarbeitslosen keinen Berufsabschluss haben. Politisch umstritten sind aber alle Änderungen, die den Grundsatz des Forderns und Förderns aus Sicht der Union einseitig in Richtung Fördern verschieben.

Klima des Misstrauens

Dazu zählt eine „Vertrauenszeit“ im ersten halben Jahr, in der möglichst wenig Sanktionen ausgesprochen werden sollen. Sie steht jetzt zur Disposition - die FDP sieht sie als Verhandlungsmasse für eine Einigung im Vermittlungsausschuss. Aus Sicht der SPD und der Grünen hingegen soll in den Jobcentern kein Klima des Misstrauens herrschen. Arbeitslose und Behörde sollen zusammenarbeiten, um den besten Weg zurück in Arbeit zu finden. Für dieses Signal steht die Vertrauenszeit. Vor allem die SPD will damit den Geist des Hartz-IV-Systems loswerden, das sie vor 18 Jahren selbst eingeführt hat.

Verhandelt werden wird auch über die zweijährige Karenzzeit, in der Bürgergeld-Bezieher anfangs in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist und nicht an ihr Erspartes gehen müssen, sofern es 60.000 Euro nicht übersteigt. Sie müssen darüber nur eine Selbstauskunft vorlegen. Für jedes weitere Haushaltsmitglied kommen 30.000 Euro hinzu.

Diese Regelung war während der Corona-Pandemie von Union und SPD eingeführt worden, damit Selbstständige, die ihre Tätigkeit nicht ausüben konnten, ihr Kapital für einen Wiedereinstieg ins Geschäft nicht aufzehren mussten. Im Streit ums Bürgergeld führte die 60.000-Euro-Regelung zu einer Empörungswelle auf Seiten der Union: Eine vierköpfige Familie könne 150.000 Euro auf dem Konto haben und Bürgergeld beziehen, kritisierte der Vize-Fraktionsvorsitzende Hermann Gröhe (CDU) im Bundestag. Viele könnten von einem solchen Vermögen nur träumen.

Kommt das Gesetz in zwei Stufen?

Die FDP will hart um ein relativ hohes, anfängliches Schonvermögen verhandeln, damit vor allem Selbstständige aus der Arbeitslosigkeit heraus wieder auf die Beine kommen. Sie landen sofort im Bürgergeld, wenn sie Unterstützung brauchen. Die zweijährige Karenzzeit ist SPD und Grünen ein wichtiges Anliegen. Ob sie eine Verkürzung akzeptieren würden, ist offen.

Abzusehen ist, dass das Bürgergeld-Gesetz in zwei Stufen in Kraft treten soll. Zum 1. Januar 2023 sollen die Regelsätze steigen - für einen Alleinstehenden von 449 Euro auf 502 Euro im Monat. Um die Jobcenter zu entlasten, soll eine Bagatellgrenze von 50 Euro eingeführt werden, bis zu der zu viel gezahlte Leistungen nicht mehr zurückgefordert werden. Erst in einem zweiten Schritt, im Juli 2023, sollen den Plänen zufolge dann die neuen Regeln für bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten wirksam werden, die stärkere Förderung von Berufsabschlüssen und auch - sollte sie den kommen - die Vertrauenszeit. Für diese Änderungen brauchen die Jobcenter mehr Zeit.

Anfang November hatte die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles gedrängt, die Entscheidung über das Bürgergeld müsse bis Ende November gefallen sein, damit die Erhöhung kommen könne. Ein BA-Sprecher bekräftigt auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd): „Bei einem späteren Beschluss können wir die Auszahlung zum 1. Januar 2023 wegen der notwendigen technischen Vorlaufzeiten nicht mehr garantieren.“

Bettina Markmeyer


Grundsicherung

Bürgergeld muss in den Vermittlungsausschuss



Der Bundesrat hat das Bürgergeld vorläufig gestoppt. Die Bundesländer verweigerten der Sozialreform die Zustimmung. Die Bundesregierung setzt nun auf den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Er soll schnell einen Kompromiss finden.

Berlin (epd). Das Bürgergeld ist zumindest vorläufig an der Blockade der Union im Bundesrat gescheitert. Am 14. November verweigerte die Länderkammer, in der die von CDU oder CSU mitregierten Bundesländer eine Mehrheit haben, der Sozialreform die Zustimmung. Die Union lehnt das Gesetz in der jetzigen Form ab. Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat soll nun einen Kompromiss finden.

Ablehnung wichtiger Teile der Reform

Mit dem Bürgergeld soll zum 1. Januar kommenden Jahres das derzeitige Hartz-IV-System abgelöst werden. Der monatliche Regelsatz für alleinstehende Erwachsene soll mit der Reform von 449 auf 502 Euro steigen. Dem stimmt auch die Union zu. Sie lehnt aber andere wichtige Teile der Reform ab, etwa die Erhöhung des sogenannten Schonvermögens, das Leistungsbezieher behalten dürfen. Bis zu 60.000 Euro sollen zwei Jahre lang geschützt werden, für jede weitere Person im Haushalt weitere 30.000 Euro.

In der etwa einstündigen Debatte im Bundesrat sagte die baden-württembergische Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), das Bürgergeld benötige die Akzeptanz von denen, die es finanzieren. Sie kritisierte die vorgesehene Höhe des Schonvermögens und die geplanten Karenzzeiten, in denen es weniger Sanktionen gegen Arbeitslose, die ihre Mitwirkung verweigern, geben soll.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) beklagte dagegen, dass ein Kern des Gesetzes - die stärkere Qualifizierung von Arbeitslosen - in der Debatte aus dem Fokus geraten sei. Ihr Land stimmte dem Bürgergeld zu.

Mehr soziale Sicherheit

Wie Schwesig betonte auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in seiner Rede im Bundesrat, dass die Zeit für die Umsetzung der Sozialreform nun knapp werde. Am 25. November kommt der Bundesrat zu seiner nächsten regulären Sitzung zusammen, danach erst wieder Mitte Dezember. Er bitte „um guten Willen aller Beteiligten“, sagte Heil im Bundesrat.

Eine weitere Blockadehaltung der Union setze ein Reformpaket aufs Spiel, das für mehr soziale Sicherheit sorge und Menschen besser unterstütze, erklärte die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann. Der Fokus müsse jetzt auf Aspekten liegen, bei denen man schnell zusammenkommen könne, sagte Haßelmann, die vonseiten des Bundestags dem Vermittlungsausschuss angehört.

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Pascal Kober, forderte „faktenbasierte Verhandlungen“ und warf der Union vor, dass es ihr bislang nicht darum gegangen sei, Lösungen vorzuschlagen. Der Sozialverband VdK warf der Union vor, „parteipolitische Streitereien“ auf dem Rücken der Ärmsten aus zutragen. Die CDU sei nun in der Verantwortung, im Vermittlungsausschuss eine schnelle Lösung zu ermöglichen.

Der Deutsche Landkreistag, der das Bürgergeld in der geplanten Form kritisiert hatte, begrüßte dagegen die Ablehnung im Bundesrat. Im Vermittlungsverfahren müsse es zu spürbaren Änderungen kommen, sagte Präsident Reinhard Sager. Der Landrat verwies ebenfalls auf die zweijährige Karenzzeit, in der Leistungsbezieher nach den Plänen der Ampel auch ihre Wohnung unabhängig von der Größe behalten können, und die Höhe der Schonvermögen.

Corinna Buschow


Asyl

Bundesländer bereiten sich auf mehr Flüchtlinge vor




Essbereich in einer Flüchtlingsunterkunft
epd-bild/Christian Ditsch
Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat rund eine Million Menschen in Deutschland Schutz suchen lassen. Zugleich kommen mehr Asylbewerber ins Land als in den Jahren zuvor. Einige Bundesländer richten Zelte und Messehallen zur Unterbringung ein.

Frankfurt a.M. (epd). Die Bundesländer bereiten sich auf die Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge in den nächsten Wochen und Monaten vor. Dazu werden mancherorts auch wieder Notunterkünfte in Zelten und Messehallen eingerichtet, wie eine Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) in den 16 Bundesländern ergab. Mehrere Länder betonten, die Nutzung von Turnhallen als Flüchtlingsunterkünfte vermeiden zu wollen.

Zuzug auf höchstem Niveau seit 2016

Grund für den Ausbau der Kapazitäten ist nicht allein der Krieg in der Ukraine. Die vorhandenen Plätze seien vor allem wegen der seit einiger Zeit deutlich steigenden Asylbewerberzahlen belegt, meldete unter anderem das bayerische Innenministerium. Zusammengenommen sei der Zuzug von Menschen aus der Ukraine und den Asylsuchenden auf dem höchsten Niveau seit 2016.

Sachsen-Anhalt warf dem Bund vor, keine verlässlichen Prognosen über die Ankunft Asylsuchender vorzulegen. In den vergangenen Jahren reisten insbesondere in den Herbst- und Wintermonaten besonders viele Menschen auf der Suche nach Schutz in Deutschland ein. Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern erklärte, die weitere Entwicklung lasse sich „unmöglich seriös vorhersagen“. Mit einer Entspannung der Lage sei aber nicht zu rechnen.

Bis Oktober zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im laufenden Jahr fast 160.000 Erstanträge auf Asyl in Deutschland. Das waren fast 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten Antragssteller kamen aus Syrien, gefolgt von Menschen aus Afghanistan und der Türkei. Zugleich schätzen die Behörden die Zahl der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in Deutschland auf rund eine Million. Sie müssen kein Asylverfahren durchlaufen, kommen oftmals bei Verwandten unter und lassen sich nicht immer registrieren.

Länger als geplant in der Erstaufnahme

Daher halten sich nur wenige Ukrainerinnen und Ukrainer in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer auf, sie werden in der Regel unmittelbar von den Kommunen übernommen. Das rheinland-pfälzische Integrationsministerium räumte ein, dass derzeit aber Flüchtlinge aus anderen Ländern länger als geplant in der Erstaufnahme verbleiben, um die Städte und Landkreise zu entlasten.

Aus Nordrhein-Westfalen hieß es: „Immer mehr Kommunen kommen derzeit an einen Punkt, an dem sie neu ankommenden Personen nur noch auf Notplätzen unterbringen können.“ Zum Stichtag 8. November habe das Land NRW 26.091 Plätze für die Erstaufnahme von Flüchtlingen bereitgestellt, die zu 84 Prozent belegt seien. Angesichts der aktuellen Zuzugszahlen und der angespannten Unterbringungslage in den Kommunen, arbeitet man „mit Hochdruck“ daran, weitere Kapazitäten aufzubauen. Die Zahl soll kurzfristig auf 34.000 Plätze erhöht werden.

Die Hamburger Innenbehörde erklärte, mehr als 99 Prozent der Plätze in der Hansestadt seien belegt, es werde bereits auf Hallen und Zelte zurückgegriffen. Im Saarland lässt das Innenministerium die Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge in Lebach zurzeit baulich erneuern, um zusätzliche Kapazitäten zu schaffen. Dort sind derzeit 1.300 Menschen untergebracht, ausgelegt ist die Einrichtung aber nur auf 1.050 Plätze.

Bezogen auf die Erstaufnahmen hieß es aus Berlin, die Unterkünfte seien mehr als voll, derzeit warteten knapp 3.000 Menschen auf eine Unterbringung in den beiden Ankunftszentren der Bundeshauptstadt. Am Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel seien bereits zwei 400-Personen-Zelte in Betrieb, weitere Notunterkünfte sollen errichtet werden. Auch seien bereits zahlreiche stillgelegte Containerunterkünfte wieder in Betrieb genommen worden.

Karsten Frerichs


Inflation

Fast jeder fünfte Haushalt von Überschuldung bedroht




Schuldnerberatung hilft bei der Erstellung eines Haushaltsplans.
epd-bild/Werner Krüper
Zwar sinkt aktuell die Verschuldung von Privatpersonen auf einen historischen Tiefststand. Doch der große Schock steht noch bevor.

Berlin/Neuss (epd). Fast jedem fünften Haushalt in Deutschland droht einer Studie zufolge wegen der Energiekrise zumindest zeitweise die Überschuldung. Bis zu 19 Prozent der deutschen Haushalte seien gefährdet, ihre Rechnungen für Versorgungsleistungen wie Strom, Wasser, Gas und Wärme nicht sofort bezahlen zu können, heißt es in dem am 15. November online vorgestellten „SchuldnerAtlas Deutschland 2022“. Laut der in Neuss ansässigen Creditreform Wirtschaftsforschung sind rund 7,8 Millionen Haushalte oder 15,6 Millionen Personen in Deutschland betroffen. Der kommende Energiepreisschock zu Beginn des neuen Jahres werde für viele zu einer finanziellen Überforderung.

Trendwende zum Schlechten befürchtet

Angesichts eines historischen Tiefststands der Überschuldungsfälle in diesem Jahr sprach der Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform, Patrik-Ludwig Hantzsch, von trügerischen Zahlen. Die wahren Belastungen seien die anhaltend hohe Inflation und die steigenden Energiekosten. Diese seien noch längst nicht vollständig beim Verbraucher angekommen. „Wir fürchten in den kommenden Monaten eine Trendwende“, sagte Hantzsch.

Laut „SchuldnerAtlas“ ist die Zahl der Überschuldungsfälle auf den niedrigsten Stand seit 2004 gesunken. Sie verringerte sich gegenüber dem Vorjahr um rund 274.000 Fälle beziehungsweise 4,4 Prozent auf 5,88 Millionen. Die Überschuldungsquote, also der Anteil überschuldeter Personen an allen Erwachsenen in Deutschland, sank um 0,38 Punkte auf 8,48 Prozent. Demnach gelten nur noch 2,94 Millionen Haushalte als überschuldet und „nachhaltig zahlungsgestört“. Überschuldung liegt dann vor, wenn die zu leistenden Gesamtausgaben über einen längeren Zeitraum höher als die Einnahmen sind und zur Deckung des Lebensunterhaltes weder Vermögen noch Kreditmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Hilfsprogramme schützen viele Verbraucher

Seit Corona hätten sich die Überschuldungsfälle in drastischem Tempo verringert, sagte Hantzsch. Durch die anhaltende Krisenlage gäben die meisten Menschen weniger Geld aus. Zudem schützten staatliche Hilfsprogramme viele Verbraucher. Doch die in der Corona-Krise aufgehäuften Sparguthaben seien vielfach schon wieder aufgebraucht.

Die Zahlen beruhen auf Daten der amtlichen Schuldnerverzeichnisse, auf unstrittigen Inkasso-Fällen von Creditrefom und auf sogenannten „nachhaltigen Zahlungsstörungen“ mit mindestens zwei Mahnungen mehrerer Gläubiger. Als „Überschuldungsauslöser“ gelten Arbeitslosigkeit, Erkrankungen, eine unwirtschaftliche Haushaltsführung, Trennungen, ein längerfristiges Niedrigeinkommen und gescheiterte Selbstständigkeit.

Die höchsten Überschuldungsquoten finden sich in der Gruppe der 30- bis 39-Jährigen (14,12 Prozent), der 40- bis 49-Jährigen (12,52 Prozent) und der 50- bis 59-Jährigen (8,89 Prozent). Dabei sei die Überschuldung in allen Altersgruppen und geschlechterübergreifend zurückgegangen, bei jüngeren Menschen schneller als bei Menschen im Alter ab 60 Jahren. Im Ost-West-Vergleich heißt es, dass die Zahl der Überschuldungsfälle in beiden Teilen Deutschlands auf ähnlichem Niveau zurückgegangen sei.

Lukas Philippi


Kriminalität

Anti-Missbrauchskampagne: "Schieb den Gedanken nicht weg!"




Plakat der Anti-Missbrauchs-Kampagne: "Schieb den Gedanken nicht weg!"
epd-bild/Hans Scherhaufer
Sexueller Missbrauch findet vor allem im nahen Umfeld statt. 90 Prozent der Bevölkerung wissen das, aber 85 Prozent glauben, dass sexualisierte Gewalt in ihrer Familie nicht passieren kann. Damit Kinder Hilfe bekommen, soll sich was ändern.

Berlin (epd). Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus setzten sich am 17. November in Berlin in die Pappkulisse eines Wohnzimmers, um zu zeigen, worum es in der gemeinsamen Aufklärungskampagne gegen sexuellen Missbrauch geht: „Stellen Sie sich vor, dieses Wohnzimmer ist ein Tatort“, sagte Familienministerin Paus.

Gewalt im persönlichen Umfeld

Kinder und Jugendliche sind vor allem im eigenen Umfeld der Gefahr von sexueller Gewalt ausgesetzt. „Schieb den Gedanken nicht weg!“ lautet die zentrale Aussage auf Plakaten, Anzeigen und in Spots der Kampagne, die Paus und Claus gemeinsam starteten. „Schieb den Gedanken nicht weg!“ steht auch auf der Wand des Papp-Wohnzimmers, das künftig zum Beispiel von einem Verein oder einer Stadtverwaltung bestellt werden kann als Kulisse für eine eigene Informationsveranstaltung.

Mit Aussagen wie: „Geh nicht mit Fremden mit! - Und wenn es gar kein Fremder ist?“ stellt die Kampagne gewohnte Denkmuster infrage. Familienministerin Paus sagte, nur wenn Erwachsene den Gedanken zuließen, dass sexuelle Gewalt Kindern in ihrem persönlichen Umfeld angetan werden könne, könnten sie auch handeln. Aber weil das allen, auch ihr selbst, sehr schwerfalle, sagte Paus, informiere die Kampagne auch darüber, an wen man sich wenden und wie man helfen könne.

Die Missbrauchsbeauftragte Claus warnte davor, übereilt zu handeln, außer bei großer Gefahr. Wer einen Verdacht habe, könne sich bei einer Beratungsstelle Hilfe holen, bevor sie oder er etwas unternehme. Die Taten seien „monströs“, die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen müsse sorgsam und überlegt sein, sagte Claus. Verantwortung zu übernehmen, sei der wichtigste erste Schritt: „Wir alle sind Meister darin, den Gedanken wegzuschieben“, dass ein Kind im Umfeld betroffen sei, sagte Claus. Aber damit lasse man die Kinder im Stich.

Jeder zweite Täter ist Vater, Stiefvater oder Pflegevater

„Mach niemandem die Tür auf. - Und wenn die Gefahr schon drinnen ist?“ lautet ein weiterer Spruch der Kampagne, im Hintergrund sind eine Couch und Spielzeug zu sehen. Einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Missbrauchsbeauftragten aus dem Jahr 2021 zufolge halten es fast 90 Prozent der Bevölkerung für wahrscheinlich, dass sexuelle Gewalt vor allem in Familien stattfindet. Doch glauben zugleich 85 Prozent, dass es unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist, dass dies in der eigenen Familie passiert. An diesem Widerspruch setzt die Aufklärungskampagne an.

Sie basiert auf Studien, wonach rund drei Viertel der Übergriffe in der Familie oder im sozialen Umfeld passieren. Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Aufarbeitungskommission, bei der sich zu 70 Prozent Betroffene meldeten, die sexuelle Gewalt im Familienkontext erlitten haben. In jedem zweiten Fall war der Vater, Stief- oder Pflegevater der Täter. Auch deswegen ist das Dunkelfeld bei Missbrauch weit größer als die polizeilich bekannte Zahl von zuletzt rund 15.500 angezeigten Fällen im Jahr 2021. Über 2.000 dieser Kinder sind jünger als sechs Jahre und oft jahrelang der Gewalt ausgesetzt.

Die Informationskampagne, die jetzt anläuft, soll im Idealfall bis 2025 weitergehen, sagte Claus. Dafür stünden in diesem und im kommenden Jahr jeweils fünf Millionen Euro zur Verfügung, sie hoffe auf eine entsprechende Finanzierung in den beiden Folgejahren. Denn trotz aller Fortschritte sehe sie auch: „Das Tabu ist geblieben - und unsere Hilflosigkeit, wenn wir mit diesem Thema konfrontiert werden.“ Missbrauch, sagte Claus weiter, finde „in unseren Köpfen einzig ganz weit weg statt, dort, auf dem Campingplatz, dort im Sport oder dort, im Internet“.

Bettina Markmeyer


Gesundheit

Lauterbach für mehr ambulante Operationen in den Kliniken




Ein Arzt auf einer Intensivstation
epd-bild/Steffen Schellhorn
Inflation, Energiekosten und Mangel an Fachpersonal: Die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser in Deutschland gibt nach Ansicht von Experten zunehmend Anlass zur Sorge. Gesundheitsminister Lauterbach wirbt für eine Reform.

Düsseldorf (epd). Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wirbt für mehr ambulante Operationen und damit weniger Übernachtungen im Krankenhaus. „Wir müssen weg vom System, dass Krankenhausbehandlung immer mit Übernachtung einhergehen muss“, sagte er am 14. November in Düsseldorf auf dem Deutschen Krankenhaustag. Als Teil einer großen Krankenhausreform sollen unter anderem damit Kosten eingespart und Kliniken entlastet werden.

Unterfinanzierung von sechs Milliarden Euro

Damit einhergehen soll auch eine Reform des bisherigen Fallpauschalensystems (DRG) - feste Beträge pro Patient, die von der Diagnose abhängig sind. Aus Sicht von Kritikern ist dieses System für die Krankenhäuser ein Anreiz, die Zahl gewinnbringender Operationen zu steigern und eher defizitäre Abteilungen wie die Kinder- und Jugendmedizin oder die Geburtshilfe abzubauen. Lauterbach verwies darauf, dass mit der Ausgliederung der Pflege aus dem DRG-System bereits erste Schritte eingeleitet worden seien.

Die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser in Deutschland gibt nach Ansicht von Experten zunehmend Anlass zur Sorge. Bundesweit belaufe sich die Unterfinanzierung auf inzwischen sechs Milliarden Euro, sagte der Präsident des Verbands der Krankenhausdirektoren (VKD), Josef Düllings. Zudem rechneten 70 Prozent aller Häuser in diesem Jahr mit einem Defizit. „Die Kliniken sind in einer für die Gesellschaft gefährlichen Krise“, sagte der Hauptgeschäftsführer der St. Vinzenz-Krankenhaus GmbH Paderborn.

Inflation, Energiekosten und der Mangel an Fachpersonal sind die Haupttreiber der Krise bei den Kliniken, wie Düllings ausführte. Hinzu kämen seit Beginn der Coronakrise gesunkene Fallzahlen, weil viele Patienten die Häuser aus Angst vor Ansteckung immer noch mieden. Folge sei eine „massive Lücke“ zwischen Betriebskosten und Preisen. Das angekündigte Hilfspaket der Bundesregierung in Höhe von acht Milliarden Euro könne zwar unmittelbar drohende Schließungen verhindern, sei aber keine langfristige Lösung.

Patientenversorgung der Zukunft

Vor diesem Hintergrund mahnte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den für die Investitionen in die Krankenhäuser zuständigen Ländern an. Nur gemeinsam könne ein Leitbild entstehen, wie die Patientenversorgung der Zukunft aussehen solle. Erst dann könnten sich Expertenkommissionen ans Werk machen, um die entsprechenden Instrumente für dieses Leitbild zu entwickeln.

Auch der Verband leitender Krankenhausärztinnen und -ärzte (VLK) forderte eine bessere Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Krankenhausverbänden. Die Regierungskommission versuche, das Rad in Sachen Krankenhausreform und Planung neu zu erfinden, rede aber nicht mit den Ländern, „ohne die nichts gehen wird“, so VLK-Präsident Michael Weber. Auch würden viele Vorschläge der Verbände ignoriert.

Frank Bretschneider


Armut

Soziale Stadtführungen zeigen Perspektive obdachloser Menschen




Scheinbar ignoriert von einem Passanten schläft ein Obdachloser in der Bremer Innenstadt.
epd-bild/Dieter Sell
Wer keine eigene Wohnung hat und auf der Straße übernachtet, muss tagtäglich um existenzielle Dinge wie Wärme und Rückzugsorte kämpfen. Führungen zu Orten der Armut zeigen: Das ist eine ungeheure Energieleistung, denn wichtige Hilfen fehlen oft.

Bremen (epd). Das Areal ist eingezäunt, teils sollen Platten einen Sichtschutz zur direkt benachbarten und viel befahrenen Straße bieten: So sieht der Szenetreff für sucht-, obdach- und wohnungslose Menschen an der Ostseite des Bremer Hauptbahnhofes aus. Nicht einladend, obdachlose Menschen sprechen oft vom „Affenkäfig“. „Ein Horrorort“, findet Sascha Kühnhold, der als ehemals Betroffener in Bremen soziale Stadtführungen zu „Schmerzpunkten der Obdachlosigkeit“ begleitet.

Kühnhold weiß, wovon er spricht. Er hat mehr als 16 Jahre auf der Straße gelebt, hat getrunken ohne Ende, war ganz unten. Mittlerweile ist er ein alleinerziehender Vater mit einer Wohnung. Aber er kennt immer noch Hinz und Kunz auf der Straße. Das zeigt sich, wenn er an allen möglichen Ecken Leute per Ghettofaust begrüßt. Heute führt er zusammen mit dem Bremer Diakon, Sozialarbeiter und Obdachlosenseelsorger Harald Schröder und Christian de Klark, der auch lange obdachlos war, eine kleine Gruppe durch die Bremer Innenstadt.

„Akt der Vertreibung“

Schröder stoppt in den Bremer Wallanlagen an einem Ort, der früher dicht mit Sträuchern bewachsen war. Ein paar Steinwürfe vom Marktplatz entfernt haben hier im Park lange Zeit Obdachlose tagsüber ihr Gepäck versteckt und nachts unter dem dichten Blätterdach geschlafen. Doch das ist vorbei. „Hier sollte niemand mehr Platte machen, das Gebüsch wurde gerodet - unter Polizeischutz“, berichtet der Sozialarbeiter, der darin einen Akt der Vertreibung sieht. Die gebe es an vielen Stellen in der Innenstadt. „Manche denken: Obdachlose sind wie Graffitis und Taubenkot und müssen weg, weil sie Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung stören.“

Das Dreierteam mit Schröder, Kühnhold und de Klark leitet einen zweistündigen Rundgang zu Orten, die kein Reiseführer erwähnt und die für Obdachlose wichtig sind: Schlafstellen, geheime Gepäcklager, Bettelplätze. Es geht aber auch zu schwierigen Orten wie den Arkaden am Marktplatz, wo manchmal Bettelbecher „ganz aus Versehen“ mit dem Fuß weggekickt und Bettelnde getreten werden. „Der Anblick von Armut an dieser Stelle ist nicht erwünscht“, ist Schröder überzeugt.

Abbau von Vorurteilen

Solche sozialen Stadtführungen seien erstmals in Amsterdam organisiert worden, sagt Werena Rosenke, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Berlin. „Nach diesem Vorbild werden sie mittlerweile in vielen deutschen Großstädten angeboten. Es geht darum, Vorurteile abzubauen“, erklärt sie. „Zum Beispiel, dass alle Wohnungslosen betrunken auf Parkbänken liegen. Richtig ist: Viele versuchen, möglichst unerkannt und unsichtbar zu bleiben.“

Schröder macht auf seinem Weg auch auf das aufmerksam, was fehlt, aber dringend nötig wäre, um die Situation obdachloser Menschen wenigstens ein wenig zu verbessern. Ein Ort beispielsweise, wo sie ihr Gepäck kostenlos unterbringen können, das wäre was. „So etwas gibt es seit langer Zeit in Hamburg“, berichtet Christian de Klark. „Das macht den Kopf frei, du musst nicht ständig auf deine Sachen aufpassen und bist auch nicht sofort als Obdachloser identifizierbar.“

Trinkwasserbrunnen und Toiletten fehlen

Aber auch Trinkwasserbrunnen und kostenlose öffentliche Toiletten gebe es in Bremen viel zu wenige, kritisiert Schröder, der beim Bremer „Housing First“-Projekt arbeitet. Eindrücke und Informationen wie diese während des Rundganges machen klar: Wer keine eigene Wohnung hat und auf der Straße übernachtet, muss tagtäglich um existenzielle Dinge wie Wärme, Rückzugsorte und Lebensmittel kämpfen - ein Fulltime-Job und eine ungeheure Energieleistung, besonders jetzt, wenn es draußen kälter wird.

Am Ende der Tour erreicht die Gruppe die „Johannis-Oase“ in der ehemaligen Sakristei der katholischen Bremer Propsteikirche. Hier können obdachlose Menschen montags bis freitags duschen, ihre Wäsche waschen. Es gibt eine Kleiderkammer, Gäste finden Hilfe und immer ein offenes Ohr.

Eine Gruppe Ehrenamtlicher um Initiator Werner Kalle hält den Laden am Laufen. „Am Altar wird das Brot gebrochen, nebenan helfen wir den Armen“, freut er sich über jeden, der kommt. Und für Sascha Kühnhold ist klar: „Die Oase hier ist der schönste Ort für Obdachlose in Bremen.“

Dieter Sell


Senioren

Studie: Wie Baby-Boomer im Alter lange eigenständig leben können



Berlin (epd). Eine neue Studie des Berlin-Instituts und der Körber-Stiftung zeigt mit Blick auf die alternde Babyboomer-Generation, wie Kommunen dieser großen Gruppe ein gutes Wohnen im Alter ermöglichen können. Der Anspruch laute „Ageing in Place“ - so lange wie möglich selbstbestimmt und eigenständig in vertrauter Umgebung altern, heißt es in einer Presseinformation vom 10. November. Um das zu ermöglichen, genüge es nicht, Wohnräume nur alter(n)sgerecht umzugestalten. „Gefragt sind alternative Nachbarschafts- und Wohnkonzepte mit flexiblen Pflege- und Dienstleistungsoptionen“, schreiben die Expertinnen und Experten.

Die Erhebung geht der Frage nach, welche wohnpolitischen Herausforderungen auf die Kommunen zukommen, wenn die größte jemals dagewesene Gruppe Älterer in Rente geht. Die Rede ist von der sogenannten Babyboomer-Generation. Geboren zwischen 1955 und 1970, stellt sie heute einen Anteil von 29 Prozent an der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Mit zunehmendem Alter verbringen viele Menschen mehr Zeit daheim und benötigen ein Wohnumfeld, das ihren Bedürfnissen gerecht wird.

Neue Ansprüche der Altersversorgung

Die Babyboomer „treten nicht nur in großer Zahl, sondern auch mit neuen Ansprüchen ans Wohnen ins Ruhestandsalter ein“. Analysiert werde, welche kommunale Handlungsoptionen für gutes Wohnen im Alter sowie innovative technische und soziale Lösungen für eine altersfreundliche Stadt es gibt.

„Von der jungen Familie mit zwei Kindern bis hin zur Pflegebedürftigkeit im Alter - Wohnraum sollte sich mit den Lebensumständen verändern“, sagte Sabine Sütterlin vom Berlin-Institut und Autorin der Broschüre. Unterbreite man älteren Menschen angemessene Optionen zum Wohnen im Alter, könne viel Wohnfläche freigegeben werden, die jüngere Menschen in Städten händeringend suchten.

Professionelle Betreuungsangebote immer mitdenken

Dabei sollten professionelle wie auch ehrenamtliche Unterstützungs- und Pflegeangebote immer mitgedacht werden, betont die Expertin. „In den vergangenen Jahren erfreute sich die ambulante Pflege immer größerer Beliebtheit.“ Das krankenhausähnliche Altenheim am Rande der Stadt habe ausgedient, sagte Sütterlin.

Sie verwies auf Zürich in der Schweiz. Mit einem ganzheitlichen, integrativen Ansatz verfolge die Stadt die „Altersstrategie 2035“. Ihr Ziel: Ältere Menschen sollen möglichst lange selbstbestimmt und nach ihren individuellen Bedürfnissen leben können. „Altersgerechtes Wohnen bezieht sich nicht nur auf die eigenen vier Wände, sondern ebenfalls auf das umliegende Quartier, die Nachbarschaft sowie die gesamte Stadt“, erklärt Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts. „Abgesenkte Bürgersteige, verkehrsberuhigte Bereiche mit Bänken und Nachbarschaftsnetzwerke sind nur einige der vielen kommunalen Aufgaben auf dem Weg zur altersfreundlichen Stadt“.



Arbeit

Studie: Höherer Mindestlohn wirkt vor allem in ländlichen Gegenden



Nürnberg (epd). Wer in ländlichen Gegenden Ostdeutschlands wohnt und arbeitet, hat einer Studie zufolge mehr vom höheren Mindestlohn als Berufstätige in anderen Regionen. Grund dafür seien die regionalen Unterschiede bei Preisen und Löhnen, teilte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit am 15. November in Nürnberg mit. Das Institut hat die Auswirkungen der im Oktober erfolgten Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro in den unterschiedlichen Regionen untersucht.

In ländlichen Gegenden in Ostdeutschland gab es demnach vor der Anhebung des Mindestlohns einen hohen Anteil an Beschäftigten, die weniger als zwölf Euro je Arbeitsstunde bekamen. Außerdem führten die niedrigeren Preise für Wohnraum sowie für örtliche Güter und Dienstleistungen zu einem deutlicheren Plus bei der Kaufkraft im Vergleich mit „hochpreisigen Ballungsräumen“.

Regional differenzierter Mindestlohn „denkbar“

Auch in ländlichen Regionen in Westdeutschland beobachteten die Forscherinnen und Forscher einen ähnlichen Effekt wie in dünn besiedelten Gegenden Ostdeutschlands. Im Süden und Südwesten sowie in Berlin und den westdeutschen Ballungszentren profitierten hingegen vergleichsweise weniger Beschäftigte von der Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro.

Der Leiter des Forschungsbereichs „Regionale Arbeitsmärkte“ beim IAB, Wolfgang Dauth, erklärte, ein regional differenzierter Mindestlohn wäre „denkbar“, allerdings müssten Vor- und Nachteile abgewogen werden. Grundlage der Studie war unter anderem eine repräsentative Befragung von Betriebsstätten mit mindestens einer sozialversicherungspflichtig beschäftigten Person.




sozial-Branche

Gesundheit

Völlig alleingelassen: Kinder psychisch kranker Eltern




Ein Kind an der Hand seiner Mutter
epd-bild/Maike Gloeckner
In Deutschland leben drei bis vier Millionen Kinder mit seelisch kranken Eltern. Sie haben ein hohes Risiko, später selbst zu erkranken. Die Suche nach Unterstützung aber ist kompliziert. Julian und seine Mutter fanden Hilfe beim Kanu-Projekt.

Bielefeld, Mainz (epd). Von der Krankheit seiner Mutter bekam Julian zunächst gar nichts mit. „Es hat sich für mich alles normal angefühlt“, sagt der heute 15-Jährige. Seine Mutter Franziska litt an Depressionen und Panikattacken. Doch sie hielt das Familienleben einigermaßen aufrecht. „Ich habe morgens noch Frühstück gemacht“, berichtet sie, die ebenso wie Julian eigentlich anders heißt, „aber als er in der Schule war, habe ich mich wieder ins Bett gelegt.“ Dabei habe stets das schlechte Gewissen an ihr genagt, ihren Sohn zu vernachlässigen.

„Die Verwundbarkeit wird vererbt“

Als Julian sieben Jahre alt war, suchte seine Mutter sich Hilfe. Sie fand sie beim Bielefelder „Kanu“-Angebot im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld. Dort gibt es nicht nur Unterstützung für psychisch erkrankte Eltern, sondern auch für die Kinder - damit diese nicht auch noch krank werden. Kinder und Eltern trainieren in Gruppen ihre Fähigkeiten, es gibt Eltern-, Kind- und Familiengespräche. Patenschaften bieten den Kindern zudem emotionale Bezugspersonen, von denen sie Zuneigung und Wertschätzung erfahren. Julians Pate heißt Christopher, er ist Jura-Student. Zusammen gehen die beiden beispielsweise klettern.

Solche Prävention ist enorm wichtig. Denn Kinder von psychisch Erkrankten haben ein erhöhtes Risiko, später selbst eine psychische Störung oder eine Sucht zu entwickeln. Bei Depressionen ist dieses Risiko drei- bis vierfach erhöht, bei Schizophrenien 13-fach. Etwa jeder vierte Minderjährige in Deutschland hat mindestens einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist. Das sind zwischen drei und vier Millionen Kinder und Jugendliche.

Denn nicht nur Gene sind dafür verantwortlich, dass sich eine psychische Krankheit entwickelt, sondern auch Umweltbedingungen. „Genau da setzt Prävention an“, sagt die Pädagogin Elisabeth Schmutz vom Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz. „Nicht die Erkrankung wird vererbt, sondern die Verwundbarkeit dafür. Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass wir durch die Stärkung von Schutzfaktoren Kinder unterstützen können.“

Hohe Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung

So sind psychisch kranke Menschen oft von Armut und schlechten Wohnverhältnissen betroffen - und ihre Kinder natürlich auch, erklärt die Psychologin Silke Wiegand-Grefe vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Empathie von psychisch Erkrankten und ihre Fähigkeit, angemessen auf kindliche Bedürfnisse zu reagieren, seien eingeschränkt. Kinder könnten oft auch keine Kompetenzen entwickeln, all das zu bewältigen, was sie erleben müssen. Sie könnten das Verhalten ihrer Eltern nicht einordnen, können mit niemandem darüber sprechen, auch weil innerhalb der Familien die Krankheit oft ein Tabu-Thema sei.

Oft sind die Kinder völlig alleingelassen, wissen nicht, was normal ist und was krankheitsbedingt. Kleinere Kinder beziehen Erlebtes oft auf sich: Sie denken, dass es der Mama oder dem Papa schlecht gehe, weil sie nicht brav waren.

Das kindliche Selbstwertgefühl wird so dauerhaft nicht gestärkt. Die Wahrscheinlichkeit, Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuelle Gewalt zu erleben, ist nach Angaben von Wieland-Grefe für Kinder mit psychisch kranken Eltern zwei bis fünf Mal so hoch wie für Kinder gesunder Eltern - alles Risikofaktoren für den Ausbruch einer seelischen Krankheit.

Doch vielerorts ist es um die Prävention in Deutschland nicht gut bestellt. „Das absolute Grundproblem ist, dass unser Versorgungssystem individuumszentriert arbeitet“, sagt Silke Wiegand-Grefe. Das heißt: Im medizinischen Betrieb gehe es meist nur um den Patienten oder die Patientin, nicht um die Angehörigen.

Wissenschaftlich validierte Hilfsangebote

Es existiere zwar eine Fülle von präventiven Hilfsangeboten, aber: „Es ist schwer für Betroffene, passende Hilfe zu finden.“ Sie fänden sich in dem Dschungel an regional unterschiedlichen Angeboten kaum zurecht, kritisiert Wiegand-Grefe.

„Jugendhilfe ist kommunal verfasst“, benennt die Mainzer Pädagogin Schmutz eine der Ursachen für den Flickenteppich an Angeboten. „Jede Kommune entscheidet selbst, was sie finanziert.“ Oft entstünden auch Hilfsprojekte aus privater Initiative. Sie seien aber überwiegend nicht dauerhaft angelegt und „mischfinanziert mit einem Spendenanteil“, sagt Schmutz.

Viele Unterstützungsangebote sind nach Angaben von Wiegand-Grefe nicht wissenschaftlich validiert - es ist also unklar, wie genau oder ob sie überhaupt helfen. „Wissenschaftliche Evidenz ist aber die Größe, an der sich die Krankenkassen bei der Finanzierung orientieren.“

Julian hatte Glück, dass er und seine Mutter im Raum Bielefeld wohnen. Denn das Bielefelder Kanu-Angebot ist schon bei seiner Entstehung wissenschaftlich begleitet worden. „Man müsste die Angebote, bei denen wissenschaftlich gesichert ist, dass sie wirken, flächendeckend anbieten“, fordert Wiegand-Grefe. „Zugleich müsste man mehr forschen, um mehr Angebote zu validieren.“ Notwendig seien außerdem Lotsen im Hilfssystem, die Familien helfen, passende Hilfsangebote zu finden.

Franziskas Panikattacken seien mittlerweile weg, erzählt sie, die Depression sei nicht mehr so stark. Und ihr Verhältnis zu Julian sei heute gut, sagen sowohl Mutter als auch Sohn. „Ich kann sie manchmal im Spaß provozieren“, berichtet Julian, „diese Ebene hatten wir früher gar nicht.“

Nils Sandrisser


Gesundheit

Das Bielefelder Kanu-Angebot



Bielefeld (epd). „Kanu“ steht für „kooperative Grundhaltung - angemessener Umgang - nicht entmutigen lassen - unterstützend in schwierigen Situationen“. Es ist ein gemeinsames Programm von Stadt und Evangelischem Krankenhaus Bielefeld. Das Jugendamt der Stadt und die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie tragen die Kosten dafür.

Zielgruppe des Angebots sind Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, die selbst noch psychisch unauffällig sind, aber mindestens einen Elternteil mit einer seelischen Erkrankung haben. Das können affektive Störungen wie etwa Depressionen sein, Schizophrenien, Suchterkrankungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung.

Zwischen 2008 und 2012 wurde das Kanu-Angebot wissenschaftlich evaluiert, seither läuft es stetig. Die Langzeituntersuchung ergab einen Rückgang von psychischen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten bei den teilnehmenden Kindern. Das Eltern-Kind-Verhältnis verbesserte sich.



Ehrenamt

Telefonseelsorge: "Ich bin mir sicher, dass ich das hier kann"




Die Telefonseelsorge lebt vom Einsatz ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer.
epd-bild/Thomas Tjiang
Um nach dem Suizid ihres Sohnes nicht in Trauer zu versinken, beginnt Heike Koop ein Ehrenamt: Während der Ausbildung zur Telefonseelsorgerin lernt sie, die Welt durch die Augen des Gegenübers zu sehen.

Hannover (epd). Sie hat sich vorgenommen, es nicht zu erzählen. Doch beim Kennenlerngespräch für die Mitarbeit in der Telefonseelsorge platzt es aus Heike Koop (Name geändert) heraus: „Mein Sohn hat sich das Leben genommen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass ich das hier kann.“ Die Mittfünfzigerin behält Recht.

Knapp zwei Jahre später spricht sie regelmäßig mit Menschen, die suizidale Gedanken oder Absichten haben. Koop engagiert sich bei der Telefonseelsorge. Das Thema Suizidprävention gehört bei ihrem Ehrenamt dazu.

Sohn begeht Suizid mit 23 Jahren

Koop ist Mutter von zwei Söhnen, der eine ist Ende 20, der andere war 23, als er Suizid beging. Lucas (Name geändert) sei ein fröhliches Kind gewesen, „ein kleiner Charmeur“, sagt Koop. Doch mit der Pubertät hätten seine depressiven Phasen begonnen, die Antriebslosigkeit. Bis nach dem Abitur wohnte Lucas im Elternhaus mit dem großen Garten in einer Kleinstadt in Niedersachsen. Zum Studieren zog er in eine andere Stadt. Wenn es gar nicht ging, habe er manchmal seine Mutter angerufen: „Mama, ich komme nicht aus dem Bett. Ich schaffe das einfach nicht.“

Während der Pandemie zog der Student zurück zu seiner Mutter und ihrem Partner. Koop half ihm beim Organisieren von Arztterminen, wandte sich an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Immer wieder sprach sie mit ihrem Sohn über seine psychische Erkrankung, redete ihm gut zu, so erzählt es Heike Koop im Rückblick. „Wahrscheinlich war er schon viel weiter von mir weg, als ich dachte“, sagt sie heute. Nach seinem Suizid habe sie sich gefühlt, wie in Watte gepackt. Sie sei unendlich traurig gewesen, habe Schuldgefühle gehabt.

Hinterbliebene palgen oft Schuldgefühle

Psychotherapeut Benedikt Waldherr sagt, Hinterbliebene hätten häufig Schuldgefühle, wenn ein naher Angehöriger Suizid begeht. „Die Menschen denken darüber nach, was sie hätten anders machen können. Sich schuldig zu fühlen, scheint für viele einfacher zu sein, als die eigene Hilflosigkeit auszuhalten“, erklärt der Vorsitzende des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten.

Waldherr hält es für eine gute Idee, ins Handeln zu kommen und sich zum Beispiel ehrenamtlich zu engagieren - sobald man psychisch stabil genug dafür ist. „Wer anderen Menschen helfen möchte, sollte auch primär dieses im Auge haben. Die eigene Bedürftigkeit sollte nicht an erster Stelle stehen“, sagt der Experte.

Koop macht eine Therapie. Kurze Zeit nach Lucas' Suizid erinnert sie sich daran, dass sie sich schon vor 15 Jahren gern bei der Telefonseelsorge engagiert hätte. Doch wegen Job und Kindern verwarf sie die Idee damals wieder. „Kann ich das in meiner Situation mental schaffen?“, fragt sie ihre Therapeutin und ihren Hausarzt. Beide bestärken sie.

Genau zuhören und präzise nachfragen

Also beginnt sie die Ausbildung zur ehrenamtlichen Telefonseelsorgerin. Sie lernt, sich selbst zurückzunehmen und nicht über andere zu urteilen. Genau hinzuhören und präzise nachzufragen. „Es ist wichtig, die Perspektive des Gegenübers einnehmen zu können“, sagt Koop. Denn die Person am anderen Ende der Leitung kann einen ganz anderen Blick auf das Leben haben als sie selbst.

Schließlich ist es so weit: Koop nimmt das erste Mal den Hörer ab. „Dass jemand anruft, der mich an meinen Sohn erinnert, das war am Anfang meine größte Angst“, erinnert sie sich. Gleich beim ersten Dienst redet sie mit einer Person, die suizidale Gedanken hat. Und sie merkt: „Was die Anrufenden sagen, beziehe ich gar nicht auf meine Situation. Ich bin dann komplett bei dem anderen Menschen.“

Viele Ehrenamtler scheuen das Thema Suizid

Vor dem Thema Suizidalität haben viele Ehrenamtliche am Anfang Angst, sagt Kerstin Häusler, Leiterin der Telefonseelsorge Hannover. Denn hier stelle sich ganz besonders die Frage nach der Verantwortung gegenüber den Anrufenden. „Die können unsere Mitarbeitenden nicht übernehmen. Aber sie können einen Raum für ein Gespräch öffnen, und das kann wahnsinnig entlastend sein.“ Was sie beim Telefonieren erleben, besprechen die Ehrenamtlichen regelmäßig während Supervisionen mit Fachkräften.

In der Ausbildung beschäftigen sich die angehenden Seelsorgerinnen und Seelsorger theoretisch mit Suizidalität und üben den Umgang mit dem Thema in Rollenspielen. Außerdem besprechen sie ihre persönlichen Berührungspunkte mit Suiziden. Erst wenn die Seminare absolviert sind, führen die Ehrenamtlichen erste Gespräche unter Aufsicht. „Es ist wichtig, dass sie sich mit dem Thema sicher fühlen und keine Berührungsängste haben“, sagt Häusler. Suizidgedanken sollten die Mitarbeitenden auch dann erkennen können, wenn sie als Metapher oder diffus geäußert werden.

Manche Anrufende redeten erst von einer Trennung oder über Stress auf der Arbeit, erzählt Seelsorgerin Koop. Fragt sie nach, ob es nicht noch ein anderes Thema gibt, sprechen einige dann doch über ihre suizidalen Gedanken. Neulich hatte Koop so eine Person am Telefon, die sich öffnete, wie sie erzählt. Am Ende des Gesprächs habe sich die Person gefasst genug gefühlt, um die eigene Mutter anzurufen. „Das war ein schönes Erlebnis für mich. Genau auf solch einen Ausgang arbeiten wir hin. Wir versuchen den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie das Leben als lebenswert wahrnehmen können.“

Sarah Franke


Armut

Obdachlosenhilfe sucht Obdach




Tafel-Gründerin Elke Gozdzik
epd-bild/ Jörg Nielsen
Elke Gozdzik versorgt in Wilhelmshaven Menschen in Armut mit dem Allernötigsten. Wegen der drastisch steigenden Energiepreise musste ihre privat organisierte Obdachlosenhilfe ihr Ladenlokal aufgeben. Jetzt wird dringend ein Ersatz gesucht.

Wilhelmshaven (epd). Im Anhänger vor Elke Gozdziks Haus stapeln sich Gemüsekisten, darin ein paar Kohlköpfe, Orangen, Brokkoli und etwas Kohlrabi. „Viel ist es heute noch nicht - aber da kommt noch mehr“, sagt sie. Die 64-Jährige ist die Chefin der „Obdachlosenhilfe Wilhelmshaven e.V.“, einer privat organisierten Tafel mit viel Herz. Jeweils am Dienstag, Donnerstag und Samstag verteilt sie mit ihrem Team im Stadtteil Fedderwardergroden Lebensmittel, Kleidung und anderes Nützliches an Menschen in Armut. Doch nun ist die Obdachlosenhilfe selbst ohne Obdach: Für den Winter wird dringend eine neue Ausgabestelle gesucht.

„Wir mussten den Laden schließen“

Seit acht Jahren kümmert sich Gozdzik quasi rund um die Uhr um ihr Klientel. „Es sind Senioren, Obdachlose und oft auch suchtkranke Menschen, die zu uns kommen.“ Bis vor kurzem konnte sie die von Supermärkten und anderen gespendeten Waren aus einem Ladenlokal heraus verschenken. Doch angesichts der gestiegenen Energiepreise konnte die Obdachlosenhilfe ihren mietfreien Laden nicht mehr halten. „Wir mussten abspecken und den Laden schließen.“ Doch dann stellte sich die Frage: „Wie sollen jetzt die armen Leute über die Runden kommen?“ Also kam ein Tapeziertisch in den heimischen Garten, von dem aus sich jetzt die Bedürftigen bedienen können.

Elke Gozdziks Sorge um das Wohlergehen ihrer Kunden ist wohlbegründet. Denn auch sie wurde vom Leben nicht eben verwöhnt. Nach einer kurzen Ehe wurde sie mit Anfang 20 selbst obdachlos. „Ich konnte die Wohnung nicht mehr halten und tauschte meine Waschmaschine gegen ein altes Auto.“ Sechs Wochen lang lebte sie in dem Wagen, bis ihr fremde Menschen wieder auf die Füße halfen. „Eine Erfahrung, die mich geprägt hat.“

Viele Jahre lang war die gelernte Einzelhandelskauffrau hinter dem Lenkrad großer Lastwagen in ganz Europa unterwegs. „Da lernt man, sich durchzusetzen und zuzupacken“, sagt sie mit einem rauen Lachen in der Stimme. Später war sie dann im Innendienst für eine Spedition tätig und wurde zur Expertin für Zollfragen. „Ja, und dann kam 2010 der Burnout.“ Für Gozdzik brach die Welt zusammen. Sie war nicht mehr arbeitsfähig, kam in eine Klinik und rutschte in Hartz IV ab. „Das ging alles furchtbar schnell.“

Während sie erneut in Behandlung war, habe sie ihre Leidenschaft für das Stricken und Handarbeiten wieder neu entdeckt: „Ich habe Mützen, Schals und Strümpfe gestrickt, bis meine Verwandtschaft nichts mehr haben wollte.“ Im Tagesaufenthalt der Diakonie habe sie neue begeisterte Abnehmer für ihren Strickwaren gefunden. „Die Obdachlosen haben mir die Sachen fast aus den Händen gerissen.“

Bei Elke Gozdzik gibt es mehr als eine Tüte Lebensmittel

Aus der anfänglichen gelegentlichen Kleiderspende sei dann langsam, aber sicher eine sehr niedrigschwellige Hilfe für bedürftige Menschen gewachsen, berichtet Gozdzik. Sachspenden organisierte sie via Facebook-Aufrufe, und Supermärkte waren bereit, Überbestellungen und unverkäufliche Lebensmittel wie Obst und Gemüse abzugeben. Dabei achte sie darauf, nicht mit den bundesweit organisierten Tafeln zu konkurrieren: Zwar gebe es mittlerweile einige Supermärkte, Wochenmärkte und Bäckereien, die ihre überschüssige Ware an die Obdachlosenhilfe abgeben, doch das Meiste gehe nach wie vor an die ortsansässige Tafel.

Über die Woche verteilt sind rund 150 Menschen auf die regelmäßige und kostenlose Unterstützung der Obdachlosenhilfe angewiesen. Bei Elke Gozdzik gibt es mehr als eine Tüte Lebensmittel. „Die einen brauchen eine Umarmung. Einer anderen Frau habe ich mit einem Aufruf im Internet zu einer dringend benötigten Brille verhelfen können.“ Schnell verderbliche Lebensmittel verarbeitet sie auch schon mal zu einer Hühnersuppe oder zu Nudeln mit Hackfleischsauce. „Die schweiße ich portionsweise ein, damit die Leute sie mitnehmen und auf einem einfachen Campingkocher im Topf wieder erwärmen können.“

Sorge bereitet Elke Gozdzik der herannahende Winter: „Wenn es zu kalt und nass wird, können wir die Lebensmittel nicht mehr einfach in meinem Garten herausgeben. Und dann stellt sich wieder die Frage: Was machen nun die armen Leute?“ Vorübergehend ist ein Nachbar bereit, aus seiner Garage eine Ausgabestelle zu machen. Doch das könne keine Dauerlösung sein. „Wir brauchen dringend eine große Garage mit Stromanschluss, die uns nach Möglichkeit nichts kostet“, sagt Gozdzik: „Dann können wir wieder optimistisch in die Zukunft schauen.“

Jörg Nielsen


Sterbebegleitung

Eine gute Fürsorge am Lebensende




"Letzte-Hilfe-Kurse" wollen die Fürsorge am Lebensende verbessern.
epd-bild/Anna-Lisa Lange
Bei einem Notfall ist klar: Jetzt ist Erste Hilfe gefragt. Doch wenn Menschen im Sterben liegen, brauchen sie "Letzte Hilfe": einfühlsame Hilfe und Begleitung. In Esslingen geht es dabei auch um die Angst vor Schmerzen - und um kleine Eiswürfel.

Esslingen/Schleswig (epd). Der Wunsch vieler Menschen ist es, einmal zu Hause zu sterben. Doch die Realität sieht meist anders aus: Nur 20 Prozent sind während ihrer letzten Stunden in den eigenen vier Wänden. „Ursache dafür ist häufig das Fehlen von Unterstützung durch Familie, Nachbarn und Freunde“, sagt Palliativmediziner Georg Bollig dem Evangelischen Pressedienst (epd). Denn viele Menschen trauten sich nicht zu, Sterbende zu begleiten. Deshalb rief der Oberarzt für Palliativmedizin am Helios Klinikum Schleswig die „Letzte Hilfe“-Kurse ins Leben. „Jeder ist in der Lage, Sterbende zu begleiten“, ist Bollig überzeugt.

Parkinson im Endstadium

Der erste Kurs dieser Art in Deutschland fand Anfang 2015 in Schleswig statt. Seither haben nach Angaben der Veranstalter rund 50.000 Menschen an den Kursen teilgenommen. Eine von ihnen ist Inge Junge. Sie ist in diesem Herbst mit ihren drei erwachsenen Töchtern nach Esslingen bei Stuttgart zum „Letzte Hilfe“- Kurs gekommen, den das dortige Hospiz veranstaltet. Ihr Mann leidet an Parkinson im Endstadium.

Und sie hat erfahren, dass kein Mensch schmerzgeplagt zu Hause sterben muss: Denn es gibt ein sogenanntes SAPV-Team, also Spezialisten in der ambulanten Palliativversorgung, die rund um die Uhr erreichbar sind und auch nach Hause kommen, um Schmerzmittel zu geben, weiß sie jetzt. „Für mich ist das eine große Beruhigung, dass man sich jederzeit Hilfe holen kann, wenn mein Mann Schmerzen hat“, sagt Inge Junge.

Palliativkrankenschwester Roberta Heinz lädt die Teilnehmerinnen des Kurses nun zu einem Selbstversuch ein: Alle sollen wenige Minuten nicht durch die Nase, sondern nur durch den Mund ein- und ausatmen. Der Mund fühlt sich nach kürzester Zeit trocken an. So gehe es auch Sterbenden, die nicht mehr durch die Nase atmeten, erklärt Heinz: „Der Mensch, der sich am Lebensende befindet, der hat keinen Hunger und kein Durstgefühl mehr, sondern leidet eher unter Mundtrockenheit.“

Ein letztes angenehmes Geschmackserlebnis

Sie verteilt gefrorenen Orangensaft in Eiswürfelform - ein guter Geschmack, der einen ausgedörrten Mund erfrischt. „Seien Sie kreativ, man kann Sekt einfrieren, Kaffee, Cola, alles, was der Mensch gerne getrunken hat, tut ihm gut.“ Auch Brausepulver in wenig Wasser aufgelöst könne ein letztes angenehmes Geschmackserlebnis sein.

Ein weiterer Tipp: Wer die Hand eines Sterbenden halten will, sollte seine eigene Hand nicht auf, sondern unter dessen Hand legen. „So hat dieser die Möglichkeit, seine Hand wegzuziehen, wenn es ihm zu viel ist“, erklärt Kursleiterin Katrin Fritz.

„Ein 'Letzte Hilfe'-Kurs soll Mut machen, sich mit dem Thema Sterben und Tod auseinander zu setzen“, sagt sie. „Er soll kleine Kniffs und Tricks weitergeben, wie man mit Sterbenden gut umgeht und auch für sich selber gut sorgen kann.“ Im Gegensatz zur Ersten Hilfe gehe es nicht darum, das Überleben zu sichern und Lebenszeit zu gewinnen, sondern darum, Leid zu lindern und Lebensqualität zu erhalten.

Katrin Fritz zündet eine Kerze an, es ertönt leise Musik. Im letzten der vier Module des Kurses geht es um das „Abschiednehmen“. „Es gibt viele Hinweise darauf, dass ein Mensch zu sterben beginnt“, erklärt Roberta Heinz. Weil die Organe allmählich ihre Funktionen einstellten, verändere sich die Hautfarbe, Fingerkuppen und Zehen verfärbten sich oft bläulich. In vielen Fällen komme es zu langen Atempausen.

„Alle sollten Bescheid wissen“

Die Teilnehmerinnen erfahren auch, was zu tun ist, wenn jemand gestorben ist, wann der Arzt zu holen ist, um den Tod festzustellen, und dass der Verstorbene bei Wunsch der Angehörigen auch länger als einen Tag zu Hause aufgebahrt werden darf.

Roberta Heinz gibt den Tipp, einen eigenen Koffer für die „letzte Reise“ zu packen, und ihn über die Jahre hinweg weiter zu befüllen und zu aktualisieren. Was soll dort hinein? Sie zeigt ihren Koffer: Ein Bilderrahmen mit dem Foto ihrer Familie hat sie hineingelegt, aber auch ein Schild, das zeigt, dass sie Lavendel auf keinen Fall mag, jedoch gerne Nudeln isst. Diese und andere Gegenstände sollen ihr später einmal auf der „letzten Reise“ helfen und den Menschen, die sie dann begleiten, zeigen, was für eine Person sie ist und welche Vorlieben sie hat.

Der Kurs ist zu Ende, die Teilnehmerinnen haben einfache Maßnahmen zur Linderung von Beschwerden gelernt - wie, dass bei Atemnot schon ein offenes Fenster oder ein kleiner Ventilator helfen können und bei Übelkeit beispielsweise Aromaöl. Und sie haben auch Informationen zur Patientenverfügung erhalten. Katrin Fritz verteilt Zertifikate: „Gratulation, Sie sind jetzt Letzthelfer!“

Mittlerweile werden in 20 Ländern weltweit „Letzte Hilfe“-Kurse angeboten, in Europa, Kanada, Brasilien und Australien. Doch eigentlich gibt es immer noch zu wenige ausgebildete „Letzthelfer“, findet Fritz. Denn Tod und Sterben sollten kein Tabu sein, jeder sollte sich mit dem Thema auseinandersetzen: „Wir alle sterben, und deshalb ist es auch wichtig, dass alle Bescheid wissen.“

Judith Kubitscheck


Senioren

PC-Kurse mit Geduld und Fingerspitzengefühl




IT-Fachmann René Hirschfeld berät Luitgard Obst
epd-bild/Martin Höcker
Ältere schauen am liebsten öffentlich-rechtliches Fernsehen und benutzen, wenn überhaupt, altbackene Mobiltelefone ohne Internet. Ein Klischee. Aber wenn doch mal Rat und Hilfe nötig ist, kommt René Hirschfeld. Er ist die "Senioren-Feuerwehr".

Wehrheim im Taunus (epd). Luitgard Obst hat das Reisefieber gepackt. In ein paar Tagen will die 92-Jährige zu ihrer Enkeltochter nach Rom fahren. Auf ihrem Computer ist ein Lernprogramm installiert, mit dem sie fleißig italienische Vokabeln paukt. Seit mehr als 20 Jahren lernt die ehemalige Sekretärin auf ihrem PC nicht nur Sprachen, sondern verwaltet auch Termine und schreibt E-Mails an ihre Töchter und Enkelinnen. Wenn es komplizierter wird, benötigt die alte Dame allerdings Hilfe. Und die bekommt sie von René Hirschfeld.

Schulungen am Computer mit Heimbewohnern

Der IT-Spezialist aus Wehrheim im Taunus besucht in regelmäßigen Abständen das Seniorenheim, in dem Luitgard Obst lebt, um ihr weitere Tricks und Kniffe beizubringen. So hat er ihr mit Blick auf ihre bevorstehende Italienreise beigebracht, wie man auf Google Earth Rom und den Petersdom schon vorab erkunden kann.

Bei seinen Besuchen im Heim bietet Hirschfeld auch anderen Bewohnerinnen und Bewohnern ehrenamtlich Unterstützung im Umgang mit Computern an. Auch der 101-jährige Gerhard Heymann ist darunter. „Ich habe gelernt, meine Verabredungen über das Internet festzulegen, meine Termine zu verwalten und sogar Waren zu bestellen“, erzählt der frühere Großhandelskaufmann stolz.

Hirschfeld bietet seit acht Jahren Senioren seine digitale Assistenz an. Gerade während der Corona-Pandemie war und ist für die älteren Menschen der virtuelle Austausch über Skype oder Zoom mit ihren Angehörigen wichtig. „Senioren-Feuerwehr“ nennt Hirschfeld seine Dienstleistung.

Angst, im Internet etwas kaputtzumachen

Für seine ehrenamtliche Beratungsarbeit benötige er sehr viel Geduld und Fingerspitzengefühl, berichtet der IT-Fachmann. Denn gerade ältere Menschen hätten große Angst, im Internet etwas „kaputtzumachen“. Deswegen sei es ihm wichtig zu zeigen, dass man im Netz nichts zerstören könne. „Man kann das Internet nicht löschen“, betont er. „Das Schlimmste ist, dass das Smartphone ins Waschbecken fällt.“

Erfolgsgeschichten wie die von Luitgard Obst und Gerhard Heymann bestätigen Hirschfeld: „Mir macht es am meisten Freude, wenn ich sehe, dass es den Menschen Freude macht. Ich habe schon Situationen erlebt, wo Freudentränen vor dem WhatsApp-Video gekullert sind, weil die Enkeltochter, die in Norwegen wohnt, plötzlich auf dem Smartphone zu sehen war.“

Martin Höcker


Kirchen

Gastbeitrag

"Keine Verhandlungsparität in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen"




Bernhard Baumann-Czichon
epd-bild/privat
Kirchliche Betriebe sollten, wo sie im Wettbewerb zu weltlichen Anbietern stehen, "uneingeschränkt dem weltlichen Arbeitsrecht unterworfen" sein, fordert der Anwalt für Arbeitsrecht, Bernhard Baumann-Czichon im Gastbeitrag. Sein Appell richtet sich auch an die Bundesregierung.

Die beiden Kirchen mit Diakonie und Caritas sind ein großer Arbeitgeber. Zusammen beschäftigen sie fast 1,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Allein von 2000 bis 2020 stieg die Zahl um rund 555.000 Personen. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der Kirchenmitglieder um 10,1 Millionen. Nach kirchlichem Verständnis bilden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Dienstgemeinschaft, die den kirchlichen Auftrag erfüllt. Finanziert wird dieser „kirchliche Auftrag“ ganz überwiegend aus öffentlichen Mitteln für Krankenhäuser, Alten- und Jugendhilfe usw. Aus dem Leitbild der Dienstgemeinschaft leiten beide Kirchen ihre Ansprüche an das „kirchliche Arbeitsrecht“ ab: besondere Loyalitätsanforderungen, Lohnfindung im „Dritten Weg“ bei gleichzeitigem Ausschluss von Streiks und vor allem kirchliche Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung.

Angleichung an das weltliche Arbeitsrecht

Die Ampel-Parteien wollen mit den Kirchen prüfen, inwiefern eine Angleichung an das weltliche Arbeitsrecht erfolgen kann. Eine solche Angleichung ist schon im Gange: In dem Streikurteil vom 20. November 2012 hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt: „Danach ist die von der Klägerin vertretene Rechtsauffassung, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht schließe von vorneherein die Koalitionsbetätigung der Beklagten in diakonischen Einrichtungen aus, nicht haltbar.“ Damit war die Annahme, die Rechte aus Artikel 4 und Artikel 140 Grundgesetz würden zu einer Art Supergrundrecht führen, vom Tisch.

Praktische Konkordanz ist von nun an geboten. Und seit den Entscheidungen von EuGH und BAG über den Streitfall Vera Egenberger wissen wir, dass die Kirchen nur dann besondere Anforderungen stellen können, wenn sie diese aus ihrem religiösen Ethos als wesentlich, rechtmäßig, gerechtfertigt und verhältnismäßig ableiten können. Beide Gerichte hatten 2018 entschieden, dass Kirchen und ihre Einrichtungen nicht in jedem Fall von Stellenbewerbern die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche verlangen dürfen.

Das wird den Kirchen immer schwerer fallen, denn das Leitbild der Dienstgemeinschaft ist zwar eine schöne Geschichte, die allenthalben erzählt wird: die Geschichte von der Auflösung des Interessengesetzes von Arbeitgeber und Beschäftigten, von der Konfliktlösung im Konsens. Die Realität ist eine andere. Kirchliche Arbeitgeber sind mindestens genauso häufig vor den Arbeitsgerichten vertreten wie weltliche. Beschäftigte kirchlicher Arbeitgeber verstehen ihre Tätigkeit als Erwerbsarbeit. Sie arbeiten, weil sie ihren Lebensunterhalt sichern wollen/müssen.

Dienstgemeinschaft als Phantom

Das Leitbild der Dienstgemeinschaft überzeugt nicht. Es hat seinen Ursprung als Konzept der kirchlichen Arbeitsordnung nicht in einer kirchlichen Tradition, sondern in dem Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben vom 23. März 1934. Bis heute ist es nicht gelungen, dem Begriff Dienstgemeinschaft einen klaren Inhalt zu geben. Schon der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach bezeichnete die Dienstgemeinschaft als Phantom.

Trotzdem dient dieses Phantom noch immer zur Rechtfertigung kirchlicher Anforderungen - und wird von der Rechtsprechung anerkannt. Auch hält sich die These von der Verhandlungsparität in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen. Dabei liegt es auf der Hand, dass von Verhandlungsparität keine Rede sein kann, wenn die Verfahrensregeln (Arbeitsrechtsregelungsgesetze) einseitig von Arbeitgeberseite gesetzt werden - jedenfalls ohne wirksamen Einfluss der Arbeitnehmerseite.

„Einschränkung von Arbeitnehmergrundrechten“

Von dieser einseitigen Regelungsmacht haben z.B. die Diakonische Konferenz und die Ev. Kirche in Mitteldeutschland mehrfach dann Gebrauch gemacht, wenn es der Arbeitnehmerseite gelang, Verhandlungsmacht aufzubauen. Und so sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen nicht nur als Arbeitnehmer abhängig. Auch ihr Mandat und ihre Freistellung hängen an dem Wohlwollen des kirchlichen Regelungsgebers. Ganz deutlich: Es handelt sich um von Arbeitgebern finanzierte Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission.

Betriebliche Mitbestimmung dient - so das Bundesverfassungsgericht - der Verwirklichung der Grundrechte aus Artikel 1 und 2 Grundgesetz auch im Betrieb. Sowohl das evangelische Mitarbeitervertretungsgesetz als auch die katholische Mitarbeitervertretungsordnung sind weder dem Betriebsverfassungsgesetz noch den Personalvertretungsgesetzen gleichwertig. Folgt die Einschränkung der Arbeitnehmergrundrechte aus dem religiösen Ethos der Kirchen?

Es wird höchste Zeit, dass die Kirchen zumindest dort, wo sie im Wettbewerb zu anderen Anbietern stehen, uneingeschränkt dem weltlichen Arbeitsrecht unterworfen sind. Das Vorhaben der Ampel ist dazu der erste Schritt. Allerdings sollte statt mit den Kirchen vor allem mit den Beschäftigten und ihren legitimierten Vertretungen in den Arbeitsgemeinschaften und Gesamtausschüssen und den Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund gesprochen und verhandelt werden.

Bernhard Baumann-Czichon ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in Bremen.


Kirchen

Mitarbeitervertreter fordern mehr Mitbestimmung bei Caritas und Diakonie



Kassel (epd). Mitarbeitervertreter diakonischer Einrichtungen haben auf einer Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht die Bundesregierung zur Abschaffung kirchlicher Sonderregelungen aufgefordert. Frank Bsirske, Bundestagsabgeordneter von Bündnis90/Die Grünen und früherer Bundesvorsitzender der DGB-Gewerkschaft ver.di, kündigte am 15. November in Kassel vor rund 220 Tagungsteilnehmern an, dass die Bundesregierung im April über eine Reform des kirchlichen Arbeitsrechts beraten wolle. Im Koalitionsvertrag der Ampel ist vereinbart, zusammen mit den Kirchen eine Angleichung des kirchlichen Arbeitsrechts mit dem staatlichen Arbeitsrecht auszuloten.

In Deutschland nehmen die beiden großen Kirchen mit ihren rund 1,8 Millionen Beschäftigten eine Sonderrolle beim Arbeitsrecht ein. Sie berufen sich darauf, dass sie nach der Verfassung ihre Angelegenheiten selbst bestimmen können. So handeln die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie in sogenannten Arbeitsrechtlichen Kommissionen Löhne und Gehälter regelmäßig ohne Arbeitskampf aus.

Besondere Loyalitätspflichten

Die Mitarbeitervertreter rügten in Kassel in einer Resolution, dass das kirchliche Arbeitsrecht die Beschäftigten benachteilige. Sie hätten bei unternehmerischen Entscheidungen weniger Mitbestimmungsrechte als Arbeitnehmer in nicht-kirchlichen Betrieben - etwa wenn ein Krankenhaus geschlossen werden soll. Sie würden besonderen Loyalitätspflichten unterliegen und müssten bei einem Kirchenaustritt mit Kündigung rechnen. Sie fordern in der Resolution die Abschaffung der Sonderregelungen.

Bsirske sagte, es gebe keinen Grund, warum die große Mehrzahl der kirchlichen Beschäftigten weniger Rechte haben sollen als Beschäftigte bei nicht-kirchlichen Arbeitgebern. Dazu gehöre auch das Recht zu streiken.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Sorgeentzug bei Verdacht des Kindesmissbrauchs




Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
epd-bild/Jörg Donecker
Für einen Sorgerechtsentzug kann der Verdacht einer Kindesmisshandlung ausreichen. Dies gilt dann, wenn das Kind innerhalb kurzer Zeit zwei nicht ganz aufklärbare Verletzungen erlitten hat und Gutachter den Verdacht erhärtet haben, entschied das Bundesverfassungsgericht.

Karlsruhe (epd). Bei einem begründeten erheblichen Verdacht von Kindesmisshandlung müssen Gerichte für einen Sorgerechtsentzug nicht vollends die Ursachen der festgestellten Verletzungen aufklären. Das im Grundgesetz verankerte Recht der Eltern auf Erziehung und Pflege ihrer Kinder muss dann bei einer drohenden zukünftigen Kindeswohlgefährdung zurücktreten, stellte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 11. November veröffentlichten Beschluss klar.

Spiralbruch am rechten Oberschenkel

Im Streitfall ging es um ein am 29. August 2017 geborenes Kind. Im ersten Lebensmonat kam es zu einem nicht genau aufgeklärten Vorfall, bei dem die Mutter den Rettungswagen gerufen hatte. Beim Kind wurde ein Spiralbruch am rechten Oberschenkel festgestellt, der operativ behandelt werden musste. Es fanden sich zudem drei Hämatome am Unterschenkel, die nach Einschätzung der Ärzte von einem harten Zugriff her stammen mussten.

Die in Südhessen lebenden Eltern konnten sich die Verletzung nicht erklären. Möglicherweise gehe der Bruch auf eine „Eigenbewegung“ oder einen Sturz des Kindes zurück, nachdem dieses aus den Armen gerutscht sei. Als dann im November 2017 bei einer Untersuchung des Kindes eine deutliche Kopfveränderung und Flüssigkeitsansammlungen im Gehirn diagnostiziert wurden, gingen Ärzte von einem Schütteltrauma aus. Sie informierten das Jugendamt wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung.

Die Behörde veranlasste daraufhin beim Amtsgericht den teilweisen Entzug des Sorgerechts, insbesondere auch den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Das Kind wurde in Obhut genommen.

Kindeswohl erheblich gefährdet

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main bestätigte diese Entscheidung. Innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes sei es „aufgrund eines Erziehungsversagens eines Elternteils“ zu zwei separaten erheblichen Verletzungen gekommen. Gutachten hätten dargelegt, dass die Verletzungen wohl auf körperliche Misshandlungen und nicht auf ein Unfallgeschehen oder eine Erkrankung des Kindes zurückzuführen seien. Bei einem Verbleib des Kindes im elterlichen Haushalt sei zukünftig das Kindeswohl erheblich gefährdet. Die Eltern sahen darin ihr im Grundgesetz verankertes Recht auf Erziehung und Pflege ihres Kindes verletzt und legten gegen die Entscheidung Verfassungsbeschwerde ein.

Doch das Bundesverfassungsgericht wies die Eltern ab. Die behandelnden Ärzte und ein Gutachter hätten den Verdacht einer Kindesmisshandlung erhärtet. Sei bereits ein Schaden bei einem Kind eingetreten oder lasse sich mit ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Gefährdung voraussagen, dürften weite Teile des Sorgerechts entzogen werden. Im gerichtlichen Verfahren müsse eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit eines zu erwartenden Schadens vorgenommen werden.

„Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird“, entschieden die Verfassungsrichter. Ein vollständiger Ausschluss anderer Ursachen - hier etwa die theoretische Möglichkeit einer Stoffwechselerkrankung - sei dann nicht erforderlich.

Hier habe das OLG „ohne erkennbare Rechtsfehler in der Beweiswürdigung“ einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind als Ursache der Verletzung nachvollziehbar ausgeschlossen. Der Gutachter sei hier davon überzeugt gewesen, dass der Oberschenkelbruch auf eine massive Gewalteinwirkung und nicht auf eine „Eigenbewegung“ des Kindes oder einen Sturz zurückgehe.

Warnungen von Gutachtern

In einem weiteren Beschluss vom 3. Februar 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht angemahnt, dass Gerichte warnende Stimmen von psychologischen Gutachtern und Jugendamt über eine drohende Kindesmisshandlung nicht übergehen dürfen. Ordne ein Gericht trotz entgegenstehender Einschätzung von Gutachtern und Behörden die Rückkehr eines in einer Pflegefamilie untergebrachten Kindes zu seinen leiblichen Eltern an, verletzt es das Recht des Kindes auf Schutz durch den Staat.

Im entschiedenen Fall wollten leibliche Eltern ihr in einer Pflegefamilie untergebrachtes Kind wieder zurückhaben. Wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs durch die Eltern war das Kind in der Pflegefamilie untergebracht worden. Eine Psychologin, die Verfahrensbeiständin des Kindes - quasi eine Anwältin des Kindes - und das Jugendamt lehnten dies ab und verwiesen darauf, dass das Kind dann unmittelbar gefährdet wäre.

Das OLG Köln setzte sich über die Warnungen ohne nähere Begründung hinweg und ordnete die Rückkehr des Kindes zu den Eltern an. Doch damit hat das OLG das Recht des Kindes verletzt, vom Staat geschützt zu werden, entschied das Bundesverfassungsgericht. Zwar müsse ein Gericht nicht zwingend den Warnungen von Gutachtern und Jugendamt folgen. Das Gericht müsse dann aber detailliert begründen, warum das Kindeswohl nicht gefährdet sei.

Ein Gutachten hierzu habe das OLG nicht eingeholt. Zudem dürften auch mögliche bestehende Bindungen des Kindes zu den Pflegeeltern nicht - wie hier geschehen - außer Acht gelassen werden.

Az.: 1 BvR 1807/20 (Bundesverfassungsgericht, Elternrecht)

Az.: 1 BvR 2569/16 (Bundesverfassungsgericht, Gutachterwarnung)

Frank Leth


Bundessozialgericht

Klinikaufenthalt auch mit Unterstützung von Assistenzkräften



Kassel (epd). Schwerstbehinderte Menschen haben bei einem erforderlichen Krankenhausaufenthalt im Ausnahmefall auch Anspruch auf eine häusliche Krankenpflege durch ihre selbst angestellten Pflegekräfte. Dies gilt zumindest dann, wenn bei dem behinderten Menschen ein besonderer Krankenpflegebedarf besteht, der nach Art und Umfang „über die für die stationäre Behandlung einer Krankheit erforderliche Krankenpflege“ hinausgeht, urteilte am 10. November das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Krankenpflege rund um die Uhr

Damit bekam der versicherte, an einer amyotrophen Lateralsklerore (ALS) erkrankte Kläger von den obersten Sozialrichtern recht. Wegen der Nervenerkrankung, die mit fortschreitenden Muskellähmungen einhergeht, kann der Kläger sich nicht bewegen, liegt die ganze Zeit in einem Krankenpflegebett und kann nur mithilfe eines Augencomputers und dem Einsatz einer ABC-Tafel kommunizieren.

Seit November 2012 hat er fünf Assistenzkräfte angestellt, die die häusliche Krankenpflege rund um die Uhr übernehmen. Als der Kläger vom 11. Mai bis 24. Juni 2013 wegen eines Atemnotstands stationär im Krankenhaus behandelt und zeitweise in ein künstliches Koma versetzt wurde, wurde er auch von seinen angestellten Assistenzkräften in der Klinik gepflegt.

Die Krankenkasse wollte die dabei angefallenen Kosten in Höhe von 20.285 Euro nicht zahlen. Während eines Krankenhausaufenthaltes seien die Kosten einer häuslichen Krankenpflege nicht erstattungsfähig. Dies gelte auch dann, wenn die häusliche Krankenpflege von Assistenzkräften im Arbeitgebermodell erbracht werde.

Krankenkasse in der Verantwortung

Doch das BSG urteilte, dass im Ausnahmefall eine Kostenerstattung für die häusliche Krankenpflege durch selbst angestellte Assistenzkräfte während eines stationären Krankenhausaufenthaltes möglich ist. Dies sei dann der Fall, wenn „eine besondere pflegerische und persönliche Betreuung/Hilfe/Assistenz notwendig ist, die über die Krankenpflege bei stationärer Versorgung hinausgeht“, entschied das BSG. Dies treffe hier zu.

Könne die häusliche Krankenpflege nicht anders gewährleistet werden, „hat die Krankenkasse alle nach Lage des Einzelfalls auch während eines Krankenhausaufhenthalts zur Aufrechterhaltung der häuslichen Krankenpflege erforderlichen Kosten in angemessener Höhe zu tragen“. Nur weil der behinderte Kläger die häusliche Krankenpflege im Arbeitgebermodell organisiert und selbst Pflegekräfte angestellt hat, „verliert die Krankenkasse nicht die Verantwortung für deren Erbringung“, urteilte das BSG.

Az.: B 3 KR 15/20 R



Bundessozialgericht

Hohe Anforderungen für Cannabis auf Rezept



Kassel (epd). Cannabis auf Rezept können schwer kranke Patientinnen und Patienten von einem Arzt nur unter strengen Anforderungen verschrieben bekommen. Zwar ist die Verschreibung auf Kassenkosten möglich, aber nur, wenn der behandelnde Arzt hierzu eine „besonders sorgfältige und umfassende Einschätzung abgegeben“ und auch eine Suchtmittelabhängigkeit in den Blick genommen hat, urteilte das Bundessozialgericht am 10. November in Kassel.

Im Streit stand eine im März 2017 eingeführte gesetzliche Regelung, nach der Ärzten Patienten mit Erkrankungen Cannabis auf Krankenkassenkosten verschreiben können. Eine Voraussetzung hierfür ist, dass es sich um eine „schwerwiegende Erkrankung“ handelt und es keine Therapiealternativen gibt.

Vier Patienten zogen vor Gericht

Bei den vier Klägern hatten die behandelnden Ärzte zwar die Behandlung mit Cannabis befürwortet, die Krankenkassen der Patienten lehnten jedoch eine Kostenerstattung ab. In einem Fall ging es um mehr als 15.000 Euro, die der Patient vorgestreckt hatte. Die Kläger litten etwa an einem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom, einer chronischen Schmerzkrankheit, Epilepsie und an psychischen Störungen.

Vor dem BSG hatten die Kläger keinen Erfolg. Die Erkrankungen müssten sich von durchschnittlichen Erkrankungen erheblich abheben. Der behandelnde Arzt müsse eine „besonders sorgfältige und umfassende Einschätzung“ zur Verordnung von Cannabis abgeben. Stehen noch Standardtherapien zur Verfügung, müsse er den Krankheitszustand umfassend dokumentieren und Erfolgschancen und Risiken der Therapien abwägen. Auch eine mögliche Suchtmittelabhängigkeit müsse der Arzt in den Blick nehmen. Diese Anforderungen seien bei den Klägern nicht erfüllt worden, befand das BSG.

Az.: B 1 KR 21/21 R



Bundessozialgericht

Keine höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner



Kassel (epd). Rund 1,8 Millionen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner bleiben von höheren Rentenzahlungen ausgeschlossen. Es verletzt nicht den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn der Gesetzgeber für neue Renten eine günstigere Rentenberechnung vorgesehen hat, für Bestandsrentner aber die weiteren ungünstigeren Regelungen gelten, urteilte am 10. November das Bundessozialgericht (BSG). Maßgeblich für die Berechnung der Rentenhöhe ist immer der Zeitpunkt, an dem die Rente neu beginnt, entschieden die Kasseler Richter.

Hintergrund des Rechtsstreits sind sogenannte Zurechnungszeiten für Erwerbsminderungsrentner. Der Gesetzgeber hatte 2018 und 2019 die Zurechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente erhöht. Für Neurentner fiel damit die Erwerbsminderungsrente höher aus. Für rund 1,8 Millionen Bestandsrentner änderte sich jedoch nichts.

Kläger sahen Gleichgrundsatz verletzt

Warum Bestandsrentner weniger bekommen als Rentner, deren Rente nach den neuen Regelungen berechnet wird, sei „sachlich nicht gerechtfertigt“ und verletze den Gleichheitsgrundsatz, argumentierten die Kläger, eine Rentnerin und ein Rentner.

Die Deutsche Rentenversicherung Bund hielt es dagegen für zulässig, dass der Gesetzgeber Stichtage festlegt, ab wann neue Regelungen zur Rentenberechnung gelten. Würden auch Bestandsrentner von der Neuberechnung profitieren, würde dies die Rentenkasse in den Jahren 2019 bis 2024 rund 25 Milliarden Euro zusätzlich kosten.

Gericht bestätigt Stichtagsregelung bei der Berechnung

Das BSG gab der Rentenversicherung recht. Das Gleichbehandlungsgebot werde nicht verletzt. Der Gesetzgeber dürfe Stichtage für eine neue Rentenberechnung festlegen.

Die Neuberechnung wäre auch mit einem erheblichen Finanzbedarf und organisatorischen Aufwand verbunden. Auch das Bundesverfassungsgericht habe bereits 1992 zur Anrechnung von Kindererziehungszeiten auf Renten entschieden, dass der Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum haben und die Haushaltslage berücksichtigen dürfe.

Die Kläger kündigten an, die Urteile voraussichtlich vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen.

Az.: B 5 R 29/21 R und B 5 R 31/21 R



Bundesarbeitsgericht

Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge erleichtert



Erfurt (epd). Zeitarbeitsfirmen müssen bei der Berechnung von Zuschlägen für Mehrarbeit auch Urlaubszeiten berücksichtigen. Sieht ein Tarifvertrag ab einer festgelegten Anzahl an Arbeitstagen und geleisteten Stunden Mehrarbeitszuschläge vor, dürften Urlaubstage nicht zum Wegfall des Anspruchs führen, urteilte am 16. November das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt zum Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit.

Nach den tariflichen Regelungen konnten Leiharbeiter einen Mehrarbeitszuschlag von 25 Prozent für Zeiten erhalten, die im jeweiligen Kalendermonat über eine bestimmte Anzahl an geleisteten Stunden hinausgehen. Hier hatte der aus dem Raum Dortmund stammende Kläger für den August 2017 erfolglos von seinem Arbeitgeber Mehrarbeitszuschläge verlangt.

Ruhezeiten und Gesundheitsschutz

Um den Zuschlag beanspruchen zu können, hätte der Beschäftigte an den 23 Arbeitstagen mehr als 184 Stunden arbeiten müssen. Der Kläger hatte im August 2017 allerdings zehn Tage Urlaub genommen, die der Arbeitgeber mit 84,7 Stunden abrechnete. An den verbliebenen 13 Tagen arbeitete der Beschäftigte 121,75 Stunden, durchschnittlich über neun Stunden je Arbeitstag. Weil die monatliche Arbeitszeit deutlich unter der tariflichen Grenze von 184 Stunden lag, erhielt er keine Mehrarbeitszuschläge.

Das BAG legte den Streit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Prüfung vor. Dieser urteilte am 13. Januar dieses Jahres, dass Urlaubstage nicht zu einer Kürzung oder zum Wegfall von Mehrarbeitszuschlägen führen dürften (Az.: C-514/20). Arbeitnehmer könnten sonst dazu verleitet werden, in Monaten, in denen sie Mehrarbeit geleistet haben, den ihnen zustehenden Urlaub nicht zu nehmen. Dies sei mit dem Ziel des EU-Rechts, die Ruhezeiten zu sichern und die Gesundheit zu schützen, nicht zu vereinbaren.

Das erneut mit dem Fall befasste BAG gab daraufhin dem klagenden Leiharbeiter recht. Die tarifliche Regelung müsse so ausgelegt werden, „dass bei der Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nicht nur tatsächlich geleistete Stunden, sondern auch Urlaubsstunden mitzählen“, ob der maßgebliche tarifliche Schwellenwert überschritten werde.

Az.: 10 AZR 210/19



Bundesgerichtshof

Fälschung von Corona-Impfbescheinigungen ist Straftat



Karlsruhe, Leipzig (epd). Der in Leipzig ansässige 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat einen Freispruch im Zusammenhang mit Fälschungen von Corona-Impfbescheinigungen aufgehoben. Im konkreten Fall liege ein Straftatbestand wegen Fälschung von Gesundheitszeugnissen vor, teilte der BGH am 10. November in Karlsruhe mit.

Das Landgericht Hamburg hatte Anfang März einen angeklagten Mann vom Vorwurf der mehrfachen Urkundenfälschung freigesprochen. Dagegen legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. Der Fall muss nun laut BGH vom Landgericht Hamburg neu verhandelt und entschieden werden, allerdings von einer anderen Strafkammer als zuvor.

Gericht sah keine Urkundenfälschung

Das Landgericht hatte den Angeklagten vom Vorwurf der mehrfachen Urkundenfälschung aus Rechtsgründen freigesprochen. Einen Rückgriff auf das allgemeine Urkundenstrafrecht schloss das Gericht aus. Dies hat der Bundesgerichtshof als fehlerhaft beanstandet und den Freispruch aufgehoben.

Der Angeklagte stellte den Angaben zufolge gegen Entgelt insgesamt 19 falsche Impfbescheinigungen aus. Er habe angeblich erfolgte Erst- und Zweitimpfungen gegen das Coronavirus mit Impfstoffbezeichnung und Chargennummer in Impfpässe eingetragen. Außerdem nutzte er laut Gericht gefälschte Stempel eines Impfzentrums und unterzeichnete mit der nachgeahmten oder erfundenen Unterschrift eines angeblichen Impfarztes.

Az.: 5 StR 283/22



Verwaltungsgericht

Misshandlungsvorwurf: Erzieherinnen dürfen nicht weiter arbeiten



Göttingen (epd). Nach den Misshandlungsvorwürfen gegen zwei Erzieherinnen in einer Kita in Nesselröden bei Duderstadt dürfen diese vorerst nicht weiter in der Einrichtung arbeiten. Das Göttinger Verwaltungsgericht gab damit betroffenen Kindern und ihren Eltern Recht, die sich gegen eine weitere Beschäftigung der Frauen ausgesprochen hatten, teilte die Justizbehörde am 11. November mit. Den Erzieherinnen wird unter anderem vorgeworfen, die Kinder zum Essen gezwungen, sie fixiert und zur Strafe in den Waschraum oder Flur gesperrt zu haben.

Ursprünglich durften die Mitarbeiterinnen nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe und einer unangekündigten Kontrolle vor Ort nicht mehr unbegleitet und nur noch getrennt voneinander in der Kindertagesstätte eingesetzt werden, hieß es. Das Kindeswohl sei damit gewährleistet und die Einrichtung hätte die Betreuungszeiten wegen Personalmangel andernfalls nicht einhalten können.

Eltern klagten wegen der Gefahr weiterer Misshandlungen

Die Eltern hatten hingegen eingewandt, dass die Vorwürfe durch drei Zeugenaussagen bestätigt worden seien. Es bestehe der Verdacht, dass die Frauen „mehrfach und in erheblichem Maße“ gewalttätig geworden seien. Es sei zu befürchten, dass Kinder erneut misshandelt würden.

Die Göttinger Gericht folgte den Argumenten der Eltern weitgehend. Die bislang erlassenen Auflagen reichten nicht aus, um eine Beeinträchtigung des Kindeswohls auszuschließen, hieß es. Eine „lückenlose Beaufsichtigung“ der Mitarbeiterinnen sei außerdem wegen des Personalmangels nur schwer möglich. Bis zum Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens dürfen die Frauen nun nicht weiterbeschäftigt werden.

Az.: 2 B 211/22




sozial-Köpfe

Kirchen

Julia Seeberg ist neue Bundesgeschäftsführerin von donum vitae




Julia Seeberg
epd-bild/donum vitae
Julia Seeberg ist die neue Bundesgeschäftsführerin von donum vitae. Die 37-jährige Politik- und Sozialwissenschaftlerin löste zum 1. November ihren Vorgänger Hubert Wissing ab. Sie kommt vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD).

Bonn (epd). Donum vitae hat eine neue Geschäftsführerin: Julia Seeberg steht seit 1. November an der Spitze der gemeinnützigen Organisation und seinen rund 320 Beraterinnen und Beratern bei Schwangerschaftskonflikten.

Seeberg war mehr als zehn Jahre im Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) tätig, zunächst als Referentin und Referatsleiterin und zuletzt als Leiterin der Abteilung Kirche und Gesellschaft. In dieser Zeit gab es bereits verschiedene fachliche Berührungspunkte zu den gesundheits- und sozialpolitischen Themen von donum vitae.

Der Bundesvorsitzende von donum vitae, Olaf Tyllack, sagte, er freue sich darauf, donum vitae gemeinsam mit Seeberg weiterzuentwickeln. Seebergs Vorgänger, Hubert Wissing, nahm im Oktober eine neue Tätigkeit als Ordensreferent der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) auf.

Der Verein donum vitae bietet bundesweit an 200 Orten Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung an. Nach eigenen Angaben setzt er sich auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes für den Schutz des ungeborenen Lebens und für die Würde von Frau, Mann und Kind ein. In Politik und Gesellschaft engagiere er sich für ein kindgerechtes und familienfreundliches Umfeld.



Weitere Personalien



Martin Hamburger hat bei der Stiftung kreuznacher diakonie am 1. November die Position als Theologischer Vorstand angetreten. Seine Mitarbeit im dreiköpfigen Vorstandsteam ist auf ein Jahr ausgelegt. Hamburger folgt auf Sabine Richter. Der 1955 in Bad Kreuznach geborene Theologe blickt auf viele Jahre diakonische Berufserfahrung zurück. Hamburger wurde 2002 Leiter des Diakonischen Werkes Elberfeld im Rheinland, das 2005 in der Diakonie Wuppertal aufgegangen ist. Diese leitete er bis März 2022 als Direktor. Hamburger schließt die mit dem Ausscheiden von Sabine Richter entstandene Lücke im Vorstand der Stiftung. Der Träger bietet mit 6.800 Beschäftigten Dienstleistungen für Kranke, Menschen mit Behinderung, Kinder und Jugendliche, Senioren und Menschen ohne Wohnung an.

Martin Hohenberger wird neuer Geschäftsführender Vorstand der Caritas Landau. Er löst zum 1. Januar den langjährigen Chef Rudi Kramer ab. Der 50-jährige Deggendorfer Martin Hohenberger war lange als Sozialpädagoge und Geschäftsführer in der Jugendarbeit tätig, erlernte den Beruf des Erziehers und studierte Sozialarbeit und Soziale Betriebswirtschaft, und war zuletzt als Büroleiter eines Bundestagsabgeordneten tätig.

Otto Rudolf Kissel, früherer Präsident des Bundesarbeitsgerichts, ist am 1. November im Alter von 94 Jahren in Frankfurt am Main gestorben.1970 wurde Kissel Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, im Januar 1981 dann Präsident des Bundesarbeitsgerichts, wo er den Vorsitz des Ersten Senats übernahm, den der Professor bis zu seinem Ruhestand im Januar 1994 innehatte. Drei Jahrzehnte arbeitete er aktiv in der Evangelischen Kirche in Deutschland mit, zuletzt 17 Jahre an der Spitze als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

Yesim Erim ist die Höffmann-Wissenschaftspreisträgerin 2022. Die Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung am Uniklinikum Erlangen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) erhält den mit 10.000 Euro dotierten Preis unter anderem für ihre interdisziplinäre Grundlagen- und Anwendungsforschung zur interkulturellen Psychotherapie und gesundheitlichen Versorgung von Menschen anderer Kulturkreise. Das Vechtaer Unternehmer Höffmann-Reisen stiftet die Auszeichnung jährlich für außergewöhnliche Arbeit im Themenfeld „interkulturelle Kompetenz“.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Dezember



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.

November

23.-24.11.:

Online Seminar „Social Media: Kommunikationsstrategien“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828211

23.-25.11.:

Online-Fortbildung „Wie wir Konflikte besser bewältigen“

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309-442

28.-29.11. Berlin:

Fortbildung „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

29.11. Berlin:

Seminar „Steuer-Update für Non-Profit-Organisationen“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-221

29.-30.11. Netphen:

Seminar „... und die Jugendlichen, die zu uns kommen, werden immer schwieriger“

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030 26309-139

30.11.:

Online-Seminar „Der 'Worst Case'-Fall - anzeigepflichtige Straftaten und Suizidankündigung in der Online-Beratung“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

Dezember

6.12.:

Online-Vortragsveranstaltung „Strategieimpuls Management - Branchenleitfaden Nachhaltigkeitsbericht“

der Bank für Sozialwirtschaft

Tel.: 0221/97356-790

7.12.:

Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Online-Beratung“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

7.12. Köln:

Seminar „Der Jahresabschluss gemeinnütziger Einrichtungen:“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-0