Bremen (epd). Das Areal ist eingezäunt, teils sollen Platten einen Sichtschutz zur direkt benachbarten und viel befahrenen Straße bieten: So sieht der Szenetreff für sucht-, obdach- und wohnungslose Menschen an der Ostseite des Bremer Hauptbahnhofes aus. Nicht einladend, obdachlose Menschen sprechen oft vom „Affenkäfig“. „Ein Horrorort“, findet Sascha Kühnhold, der als ehemals Betroffener in Bremen soziale Stadtführungen zu „Schmerzpunkten der Obdachlosigkeit“ begleitet.
Kühnhold weiß, wovon er spricht. Er hat mehr als 16 Jahre auf der Straße gelebt, hat getrunken ohne Ende, war ganz unten. Mittlerweile ist er ein alleinerziehender Vater mit einer Wohnung. Aber er kennt immer noch Hinz und Kunz auf der Straße. Das zeigt sich, wenn er an allen möglichen Ecken Leute per Ghettofaust begrüßt. Heute führt er zusammen mit dem Bremer Diakon, Sozialarbeiter und Obdachlosenseelsorger Harald Schröder und Christian de Klark, der auch lange obdachlos war, eine kleine Gruppe durch die Bremer Innenstadt.
Schröder stoppt in den Bremer Wallanlagen an einem Ort, der früher dicht mit Sträuchern bewachsen war. Ein paar Steinwürfe vom Marktplatz entfernt haben hier im Park lange Zeit Obdachlose tagsüber ihr Gepäck versteckt und nachts unter dem dichten Blätterdach geschlafen. Doch das ist vorbei. „Hier sollte niemand mehr Platte machen, das Gebüsch wurde gerodet - unter Polizeischutz“, berichtet der Sozialarbeiter, der darin einen Akt der Vertreibung sieht. Die gebe es an vielen Stellen in der Innenstadt. „Manche denken: Obdachlose sind wie Graffitis und Taubenkot und müssen weg, weil sie Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung stören.“
Das Dreierteam mit Schröder, Kühnhold und de Klark leitet einen zweistündigen Rundgang zu Orten, die kein Reiseführer erwähnt und die für Obdachlose wichtig sind: Schlafstellen, geheime Gepäcklager, Bettelplätze. Es geht aber auch zu schwierigen Orten wie den Arkaden am Marktplatz, wo manchmal Bettelbecher „ganz aus Versehen“ mit dem Fuß weggekickt und Bettelnde getreten werden. „Der Anblick von Armut an dieser Stelle ist nicht erwünscht“, ist Schröder überzeugt.
Solche sozialen Stadtführungen seien erstmals in Amsterdam organisiert worden, sagt Werena Rosenke, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Berlin. „Nach diesem Vorbild werden sie mittlerweile in vielen deutschen Großstädten angeboten. Es geht darum, Vorurteile abzubauen“, erklärt sie. „Zum Beispiel, dass alle Wohnungslosen betrunken auf Parkbänken liegen. Richtig ist: Viele versuchen, möglichst unerkannt und unsichtbar zu bleiben.“
Schröder macht auf seinem Weg auch auf das aufmerksam, was fehlt, aber dringend nötig wäre, um die Situation obdachloser Menschen wenigstens ein wenig zu verbessern. Ein Ort beispielsweise, wo sie ihr Gepäck kostenlos unterbringen können, das wäre was. „So etwas gibt es seit langer Zeit in Hamburg“, berichtet Christian de Klark. „Das macht den Kopf frei, du musst nicht ständig auf deine Sachen aufpassen und bist auch nicht sofort als Obdachloser identifizierbar.“
Aber auch Trinkwasserbrunnen und kostenlose öffentliche Toiletten gebe es in Bremen viel zu wenige, kritisiert Schröder, der beim Bremer „Housing First“-Projekt arbeitet. Eindrücke und Informationen wie diese während des Rundganges machen klar: Wer keine eigene Wohnung hat und auf der Straße übernachtet, muss tagtäglich um existenzielle Dinge wie Wärme, Rückzugsorte und Lebensmittel kämpfen - ein Fulltime-Job und eine ungeheure Energieleistung, besonders jetzt, wenn es draußen kälter wird.
Am Ende der Tour erreicht die Gruppe die „Johannis-Oase“ in der ehemaligen Sakristei der katholischen Bremer Propsteikirche. Hier können obdachlose Menschen montags bis freitags duschen, ihre Wäsche waschen. Es gibt eine Kleiderkammer, Gäste finden Hilfe und immer ein offenes Ohr.
Eine Gruppe Ehrenamtlicher um Initiator Werner Kalle hält den Laden am Laufen. „Am Altar wird das Brot gebrochen, nebenan helfen wir den Armen“, freut er sich über jeden, der kommt. Und für Sascha Kühnhold ist klar: „Die Oase hier ist der schönste Ort für Obdachlose in Bremen.“