Berlin (epd). Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus setzten sich am 17. November in Berlin in die Pappkulisse eines Wohnzimmers, um zu zeigen, worum es in der gemeinsamen Aufklärungskampagne gegen sexuellen Missbrauch geht: „Stellen Sie sich vor, dieses Wohnzimmer ist ein Tatort“, sagte Familienministerin Paus.
Kinder und Jugendliche sind vor allem im eigenen Umfeld der Gefahr von sexueller Gewalt ausgesetzt. „Schieb den Gedanken nicht weg!“ lautet die zentrale Aussage auf Plakaten, Anzeigen und in Spots der Kampagne, die Paus und Claus gemeinsam starteten. „Schieb den Gedanken nicht weg!“ steht auch auf der Wand des Papp-Wohnzimmers, das künftig zum Beispiel von einem Verein oder einer Stadtverwaltung bestellt werden kann als Kulisse für eine eigene Informationsveranstaltung.
Mit Aussagen wie: „Geh nicht mit Fremden mit! - Und wenn es gar kein Fremder ist?“ stellt die Kampagne gewohnte Denkmuster infrage. Familienministerin Paus sagte, nur wenn Erwachsene den Gedanken zuließen, dass sexuelle Gewalt Kindern in ihrem persönlichen Umfeld angetan werden könne, könnten sie auch handeln. Aber weil das allen, auch ihr selbst, sehr schwerfalle, sagte Paus, informiere die Kampagne auch darüber, an wen man sich wenden und wie man helfen könne.
Die Missbrauchsbeauftragte Claus warnte davor, übereilt zu handeln, außer bei großer Gefahr. Wer einen Verdacht habe, könne sich bei einer Beratungsstelle Hilfe holen, bevor sie oder er etwas unternehme. Die Taten seien „monströs“, die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen müsse sorgsam und überlegt sein, sagte Claus. Verantwortung zu übernehmen, sei der wichtigste erste Schritt: „Wir alle sind Meister darin, den Gedanken wegzuschieben“, dass ein Kind im Umfeld betroffen sei, sagte Claus. Aber damit lasse man die Kinder im Stich.
„Mach niemandem die Tür auf. - Und wenn die Gefahr schon drinnen ist?“ lautet ein weiterer Spruch der Kampagne, im Hintergrund sind eine Couch und Spielzeug zu sehen. Einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Missbrauchsbeauftragten aus dem Jahr 2021 zufolge halten es fast 90 Prozent der Bevölkerung für wahrscheinlich, dass sexuelle Gewalt vor allem in Familien stattfindet. Doch glauben zugleich 85 Prozent, dass es unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist, dass dies in der eigenen Familie passiert. An diesem Widerspruch setzt die Aufklärungskampagne an.
Sie basiert auf Studien, wonach rund drei Viertel der Übergriffe in der Familie oder im sozialen Umfeld passieren. Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Aufarbeitungskommission, bei der sich zu 70 Prozent Betroffene meldeten, die sexuelle Gewalt im Familienkontext erlitten haben. In jedem zweiten Fall war der Vater, Stief- oder Pflegevater der Täter. Auch deswegen ist das Dunkelfeld bei Missbrauch weit größer als die polizeilich bekannte Zahl von zuletzt rund 15.500 angezeigten Fällen im Jahr 2021. Über 2.000 dieser Kinder sind jünger als sechs Jahre und oft jahrelang der Gewalt ausgesetzt.
Die Informationskampagne, die jetzt anläuft, soll im Idealfall bis 2025 weitergehen, sagte Claus. Dafür stünden in diesem und im kommenden Jahr jeweils fünf Millionen Euro zur Verfügung, sie hoffe auf eine entsprechende Finanzierung in den beiden Folgejahren. Denn trotz aller Fortschritte sehe sie auch: „Das Tabu ist geblieben - und unsere Hilflosigkeit, wenn wir mit diesem Thema konfrontiert werden.“ Missbrauch, sagte Claus weiter, finde „in unseren Köpfen einzig ganz weit weg statt, dort, auf dem Campingplatz, dort im Sport oder dort, im Internet“.