Bielefeld, Mainz (epd). Von der Krankheit seiner Mutter bekam Julian zunächst gar nichts mit. „Es hat sich für mich alles normal angefühlt“, sagt der heute 15-Jährige. Seine Mutter Franziska litt an Depressionen und Panikattacken. Doch sie hielt das Familienleben einigermaßen aufrecht. „Ich habe morgens noch Frühstück gemacht“, berichtet sie, die ebenso wie Julian eigentlich anders heißt, „aber als er in der Schule war, habe ich mich wieder ins Bett gelegt.“ Dabei habe stets das schlechte Gewissen an ihr genagt, ihren Sohn zu vernachlässigen.
Als Julian sieben Jahre alt war, suchte seine Mutter sich Hilfe. Sie fand sie beim Bielefelder „Kanu“-Angebot im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld. Dort gibt es nicht nur Unterstützung für psychisch erkrankte Eltern, sondern auch für die Kinder - damit diese nicht auch noch krank werden. Kinder und Eltern trainieren in Gruppen ihre Fähigkeiten, es gibt Eltern-, Kind- und Familiengespräche. Patenschaften bieten den Kindern zudem emotionale Bezugspersonen, von denen sie Zuneigung und Wertschätzung erfahren. Julians Pate heißt Christopher, er ist Jura-Student. Zusammen gehen die beiden beispielsweise klettern.
Solche Prävention ist enorm wichtig. Denn Kinder von psychisch Erkrankten haben ein erhöhtes Risiko, später selbst eine psychische Störung oder eine Sucht zu entwickeln. Bei Depressionen ist dieses Risiko drei- bis vierfach erhöht, bei Schizophrenien 13-fach. Etwa jeder vierte Minderjährige in Deutschland hat mindestens einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist. Das sind zwischen drei und vier Millionen Kinder und Jugendliche.
Denn nicht nur Gene sind dafür verantwortlich, dass sich eine psychische Krankheit entwickelt, sondern auch Umweltbedingungen. „Genau da setzt Prävention an“, sagt die Pädagogin Elisabeth Schmutz vom Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz. „Nicht die Erkrankung wird vererbt, sondern die Verwundbarkeit dafür. Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass wir durch die Stärkung von Schutzfaktoren Kinder unterstützen können.“
So sind psychisch kranke Menschen oft von Armut und schlechten Wohnverhältnissen betroffen - und ihre Kinder natürlich auch, erklärt die Psychologin Silke Wiegand-Grefe vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Empathie von psychisch Erkrankten und ihre Fähigkeit, angemessen auf kindliche Bedürfnisse zu reagieren, seien eingeschränkt. Kinder könnten oft auch keine Kompetenzen entwickeln, all das zu bewältigen, was sie erleben müssen. Sie könnten das Verhalten ihrer Eltern nicht einordnen, können mit niemandem darüber sprechen, auch weil innerhalb der Familien die Krankheit oft ein Tabu-Thema sei.
Oft sind die Kinder völlig alleingelassen, wissen nicht, was normal ist und was krankheitsbedingt. Kleinere Kinder beziehen Erlebtes oft auf sich: Sie denken, dass es der Mama oder dem Papa schlecht gehe, weil sie nicht brav waren.
Das kindliche Selbstwertgefühl wird so dauerhaft nicht gestärkt. Die Wahrscheinlichkeit, Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuelle Gewalt zu erleben, ist nach Angaben von Wieland-Grefe für Kinder mit psychisch kranken Eltern zwei bis fünf Mal so hoch wie für Kinder gesunder Eltern - alles Risikofaktoren für den Ausbruch einer seelischen Krankheit.
Doch vielerorts ist es um die Prävention in Deutschland nicht gut bestellt. „Das absolute Grundproblem ist, dass unser Versorgungssystem individuumszentriert arbeitet“, sagt Silke Wiegand-Grefe. Das heißt: Im medizinischen Betrieb gehe es meist nur um den Patienten oder die Patientin, nicht um die Angehörigen.
Es existiere zwar eine Fülle von präventiven Hilfsangeboten, aber: „Es ist schwer für Betroffene, passende Hilfe zu finden.“ Sie fänden sich in dem Dschungel an regional unterschiedlichen Angeboten kaum zurecht, kritisiert Wiegand-Grefe.
„Jugendhilfe ist kommunal verfasst“, benennt die Mainzer Pädagogin Schmutz eine der Ursachen für den Flickenteppich an Angeboten. „Jede Kommune entscheidet selbst, was sie finanziert.“ Oft entstünden auch Hilfsprojekte aus privater Initiative. Sie seien aber überwiegend nicht dauerhaft angelegt und „mischfinanziert mit einem Spendenanteil“, sagt Schmutz.
Viele Unterstützungsangebote sind nach Angaben von Wiegand-Grefe nicht wissenschaftlich validiert - es ist also unklar, wie genau oder ob sie überhaupt helfen. „Wissenschaftliche Evidenz ist aber die Größe, an der sich die Krankenkassen bei der Finanzierung orientieren.“
Julian hatte Glück, dass er und seine Mutter im Raum Bielefeld wohnen. Denn das Bielefelder Kanu-Angebot ist schon bei seiner Entstehung wissenschaftlich begleitet worden. „Man müsste die Angebote, bei denen wissenschaftlich gesichert ist, dass sie wirken, flächendeckend anbieten“, fordert Wiegand-Grefe. „Zugleich müsste man mehr forschen, um mehr Angebote zu validieren.“ Notwendig seien außerdem Lotsen im Hilfssystem, die Familien helfen, passende Hilfsangebote zu finden.
Franziskas Panikattacken seien mittlerweile weg, erzählt sie, die Depression sei nicht mehr so stark. Und ihr Verhältnis zu Julian sei heute gut, sagen sowohl Mutter als auch Sohn. „Ich kann sie manchmal im Spaß provozieren“, berichtet Julian, „diese Ebene hatten wir früher gar nicht.“