Bund und Länder haben bei den umfangreichen Entlastungspaketen unter anderem einen Härtefallfonds für Krankenhäuser, Pflegeheime und weitere soziale Einrichtungen vereinbart. Der Bund stellt zwölf Milliarden Euro zur Verfügung, um Träger zu entlasten, die trotz Gas- und Strompreisdeckel mit ihrem Budget nicht auskommen. Im langen Streit über die Aufteilung der Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, dass der Bund in diesem und im nächsten Jahr an die Länder zusätzlich 4,25 Milliarden Euro zahlt.
Das Gesetz zum Bürgergeld steht kurz vor der Verabschiedung. Allerdings braucht die Ampelkoalition die Zustimmung der unionsgeführten Bundesländer, um mit dem Bürgergeld das vielgescholtene Hartz-IV-System ablösen zu können. CDU und CSU verlangen Änderungen, um die staatlichen Ausgaben für die Grundsicherung in engeren Grenzen zu halten. Lesen Sie zu der Debatte einen Kommentar.
Einrichtungen beklagen, dass sie nicht mehr genug Bewerber für einen Bundesfreiwilligendienst oder ein Freiwilliges soziales Jahr finden. Die Gründe für die Zurückhaltung der jungen Menschen sind vielfältig. Die Träger wollen gegensteuern. Doch ganz einfach ist das nicht. Die Bundesregierung plant laut Koalitionsvertrag Verbesserungen. Besonders im Pflegesektor mit seinem Personalmangel schmerzt das Fehlen von Freiwilligen.
Patientinnen und Patienten dürfen bei einer gerichtlich angeordneten ärztlichen Begutachtung in der Regel eine Vertrauensperson mitnehmen. Nur wenn im Einzelfall mit der Mitnahme einer Begleitperson „die objektive, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert“ wird, dürfe das Gericht, nicht aber der Gutachter, den Ausschluss der Vertrauensperson von der Begutachtung anordnen, urteilte das Bundessozialgericht.
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Markus Jantzer
Berlin (epd). Hilfsorganisationen und Sozialverbände haben die Einigung von Bund und Ländern auf weitere Entlastungen begrüßt, zugleich aber auf Punkte hingewiesen, die aus ihrer Sicht Schwachstellen sind. Das 49-Euro-Ticket und die Hilfe für Ukraine-Flüchtlinge seien „gut und wichtig“, sagte die Präsidentin des Deutschen Caritasverbands, Eva Maria Welskop-Deffaa, am 3. November dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Die Caritas-Chefin vermisst nach eigener Darstellung ein „klares Zeitziel“ bei Entlastungen für die Träger sozialer Dienstleistungen. Auch die Wohngeldreform gehe mit der Ausweitung der Empfangsberechtigten auf etwa zwei Millionen nicht weit genug. Die Gas-Wärme-Kommission habe einen größeren Kreis an Empfangsberechtigten empfohlen.
Bund und Länder hatten sich am 2. November auf weitere Entlastungen für Privathaushalte und Unternehmen geeinigt und sich über eine Gas- und Strompreisbremse verständigt. Der Bund wird sich an den Ausgaben für die steigende Zahl von Geflüchteten beteiligen. Die Finanzierung des 49-Euro-Tickets für den öffentlichen Personennahverkehr wurde ebenfalls geklärt.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie begrüßte die Einigung zwar, nannte sie aber unausgewogen, beispielsweise die Übernahme der Abschlagszahlungen für Gas und Fernwärme durch den Bund im Dezember: „Hiervon profitieren alle - von der Millionärin bis zum Hartz-IV-Empfänger“, sagte er. Es schade der Demokratie, wenn rund 15 Millionen Menschen mit wenig Geld und Niedriglohnjobs die geringste Entlastung erführen. Die Gas- und Strompreisbremse sei hingegen ein sinnvolles Instrument, da sie für Wirtschaft und Gesellschaft Planungssicherheit bedeute.
Der Diakonie-Chef begrüßte den zusätzlichen Hilfsfonds für die Sozialwirtschaft, bemängelte aber, dass viele soziale Dienste wie etwa Frauenhäuser, die Schuldnerberatung oder Beratungsstellen für Geflüchtete bisher nicht berücksichtigt worden seien. Zum 49-Euro-Ticket hätte ein Sozialticket für 29 Euro hinzukommen müssen, ergänzte der Diakonie-Chef.
Die Gaspreisbremse sei zwar eine Hilfe, komme für Menschen mit sehr wenig Geld jedoch zu spät, sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele. Diese Menschen hätten jetzt schon hohe Kosten, die sie nicht bezahlen könnten. Werner Hesse, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, kritisierte, es sei enttäuschend, dass es immer noch keine verbindliche Zusagen der Bundesländer zu Härtefallhilfen für soziale Einrichtungen gebe. Er forderte außerdem, dass für jene, die künftig Anspruch auf Wohngeld haben, der Staat deren Abschlagszahlungen in Vorleistung übernehmen müsse, bis deren Anträge bearbeitet seien.
Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD), nannte die Strompreisbremse ein „wichtiges und richtiges Instrument“, allerdings entlaste die Deckelung von 40 Cent pro Kilowattstunde nur wenige. Ramona Pop, Vorständin des Verbraucherzentrale Bundesverbands, bemängelte, es fehle eine klare Regelung für ein Moratorium für Energiesperren. Niemand dürfe in dieser Krise seine Wohnung verlieren, sagte Pop.
Berlin (epd). Nach wochenlangem Ringen haben sich Bund und Länder auf Details zur Umsetzung und Finanzierung von Entlastungen in der Energiekrise geeinigt. Das sieht die Vereinbarung vor:
ENERGIEPREISDECKEL
Die Länder unterstützen die Pläne des Bundes für einen Gas- und Strompreisdeckel, die vom Bund finanziert werden. Eine frühere Wirkung der Deckelungen, die die Länder gefordert hatten, wurde nicht vereinbart. Die von der Bundesregierung eingesetzte Gaskommission hatte wegen der komplexen Vorbereitungen einen Start zum März vorgeschlagen. Um die Zeit bis dahin zu kompensieren, regte sie eine Soforthilfe für Dezember an, die das Bundeskabinett am 2. November auf den Weg gebracht hat. Die Länder wollten, dass zwischen dieser Hilfe und dem Deckel im März keine Lücke entsteht. Die Bundesregierung strebt nun an, den für März geplanten Preisdeckel rückwirkend auch für Februar anzuwenden. Die Strompreisbremse soll im Januar starten.
Geplant ist, den Gaspreis für Privatkunden auf 12 Cent pro Kilowattstunde für 80 Prozent des prognostizierten Jahresverbrauchs zu deckeln, den für Fernwärme auf 9,5 Cent pro Kilowattstunde. Die Strompreisbremse soll den Preis auf 40 Cent pro Kilowattstunde begrenzen.
HÄRTEFALLFONDS
Für Krankenhäuser, Pflegeheime, soziale Einrichtungen und bestimmte Unternehmen, die mit der Entlastung über den Gas- und ebenfalls geplanten Strompreisdeckel nicht auskommen, soll es einen Härtefallfonds geben. Laut Beschlusspapier stellt der Bund für Gesundheits- und soziale Einrichtungen zwölf Milliarden Euro zur Verfügung. Allein acht Milliarden Euro davon sollen Krankenhäusern, Universitätskliniken und Pflegeeinrichtungen zugutekommen. Auch für Kultureinrichtungen soll es gezielte Hilfen geben.
49-EURO-TICKET
Auch beim 49-Euro-Ticket sind sich Bund und Länder nun über die Kosten einig. Zu den bereits versprochenen jährlichen 1,5 Milliarden Euro hat der Bund den Ländern höhere sogenannte Regionalisierungsmittel versprochen. 2023 sollen die Länder vom Bund zusätzlich eine Milliarde Euro bekommen. Zudem sollen die Mittel statt wie bisher um 1,8 Prozent künftig um 3 Prozent jährlich steigen.
WOHNGELD
Beim Wohngeld bleibt es nach langem Streit dabei, dass sich Bund und Länder die Kosten teilen. Nach Angaben des Bundesbauministeriums sollen ab 2023 insgesamt 5,1 Milliarden Euro zur Verfügung stehen, um die Wohngeldreform zu finanzieren. Sie wird dafür sorgen, dass weit mehr Menschen Wohngeld beziehen können. Zudem soll die Leistung auch angesichts der Energiekrise erhöht werden. Die geplante Reform wird bereits im Bundestag beraten und soll im Januar in Kraft treten.
KOSTEN FÜR FLÜCHTLINGE
Im langen Streit um die Aufteilung der Kosten für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen haben sich Bund und Länder geeinigt. In diesem Jahr gibt der Bund den Ländern zusätzliche 1,5 Milliarden Euro, ebenso im kommenden Jahr für die Mehrbelastung durch die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Für Flüchtlinge aus anderen Ländern, für die ein anderes System gilt, will der Bund ab 2023 1,25 Milliarden Euro jährlich zahlen.
Berlin (epd). Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat nach dem dritten Treffen der „Konzertierten Aktion“ mit Arbeitgebern und Gewerkschaften für einmalige Sonderzahlungen an Beschäftigte geworben. Er wies am 31. Oktober in Berlin auf die hohe Inflation hin und betonte, dass solche Zuschläge, die die Sozialpartner vereinbarten, eine gute Möglichkeit seien, um Preissteigerungen auszugleichen. Sie blieben zudem bis zu einer Höhe von 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei, fügte Scholz hinzu.
Er bedankte sich bei den Sozialpartnern für den konstruktiven Austausch. „Das ist ein wichtiges Signal, dass wir zusammenstehen, und gemeinsam an Lösungen arbeiten.“ Spätestens Anfang des kommenden Jahres wolle man sich wieder treffen.
Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi hob die Notwendigkeit hervor, Wirtschaftshilfen mit Beschäftigungssicherung und Standortsicherung zu verbinden. Auch dürfe es keinen Verkauf von subventioniertem Gas bei Produktionsreduktion geben, fügte sie hinzu.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger forderte die Weiterentwicklung des Kurzarbeitergeldes für den Fall einer Gasmangellage. Vorschläge seien in einer Arbeitsgruppe der Konzertierten Aktion ausgearbeitet worden, die einfachere und schnellere Prüfungen vorsähen.
Scholz hatte die Konzertierte Aktion gegen den Preisdruck im Juni bei einer Bundestagsansprache vorgeschlagen. Ziel ist es, reale Einkommensverluste zu verhindern oder abzumildern und gleichzeitig dem Risiko einer Preisspirale zu begegnen.
Sollten sich Bezieherinnen und Bezieher der Grundsicherung schon gefreut haben, dass sie ab 1. Januar nicht mehr Hartz-IV-Leistungen bekommen, sondern das neue Bürgergeld, so dürfte ihre Stimmung inzwischen getrübt sein. Denn es ist längst nicht ausgemacht, dass mit dem Bürgergeld für sie vieles besser wird als im vielfach geschmähten Hartz-IV-System.
Die Spitzen von CDU und CSU intensivieren ihre Attacken gegen die Bürgergeldpläne der Ampelkoalition. Und da diese im Bundesrat auf die Zustimmung der unionsgeführten Länder angewiesen ist, wird sie CDU und CSU entgegenkommen müssen.
Es scheint der Union nicht nur um Sachargumente, sondern auch um Stimmungsmache zu gehen. Sie behauptet, eine halbjährige „Vertrauenszeit“, in der den Beziehern von Bürgergeld nur eingeschränkt Leistungskürzungen drohen, sei zu großzügig. Denn dann, sagt sie, würden es sich Menschen lieber zu Hause bequem machen als einer Erwerbsarbeit nachgehen. Langzeit-Studien, die belegen, dass Sanktionen eher demotivierend als motivierend auf die Annahme eines Jobangebots wirken, werden hier einfach weggedrückt.
Und wie man es sich mit einem Regelsatz von 502 Euro für eine alleinstehende Person, den die Union erklärtermaßen unterstützt, zu Hause bequem machen soll, ist schleierhaft. Das könnte allenfalls jenen Langzeitarbeitslosen gelingen, die zuvor in einem anspruchsvollen Job gut verdient und viel gespart haben. Erarbeitetes Eigentum verdient Respekt. Ein hohes Schonvermögen ist daher gerechtfertigt.
Wo genau die Obergrenze hierfür liegen sollte, darüber lässt sich natürlich streiten. Die Union kritisiert, dass nach dem vorliegenden Gesetzentwurf in den ersten 24 Monaten Leistungen gewährt werden sollen, wenn kein „erhebliches Vermögen“ vorhanden ist. Hier gilt dann die Grenze von 60.000 Euro für den eigentlichen Leistungsbezieher und 30.000 Euro für jeden weiteren Menschen in der Bedarfsgemeinschaft. Bei einer vierköpfigen Familie wären dadurch 150.000 Euro Erspartes geschützt. Dieser Betrag für das Schonvermögen ist nach dem Urteil der Union zu hoch.
Die Klage von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, es sei ungerecht, dass Kassiererinnen, Busfahrer, Polizistinnen und Friseure weniger Geld zur Verfügung hätten als Bezieher des Bürgergeldes, ist ein gezielter Täuschungsversuch. Es dürfte in der Tat als ungerecht betrachtet werden, wenn Erwerbstätige netto einen geringeren Monatslohn erhalten, als Erwerbslose an staatlichen Transfers beziehen. So ist es aber nicht - auch weil gegen den jahrelangen Widerstand der Union ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde. Außerdem beziehen Geringverdienende staatliche Leistungen, die vom Bürgergeld abhängigen Menschen verwehrt bleiben: etwa Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag. Da können schon mehrere hundert Euro im Monat für einen Privathaushalt zusammenkommen.
Doch diese Vergleichsrechnungen tauchen in den Publikumsmedien kaum auf, darüber berichten sie nur selten. Je weniger die Bevölkerung über diese Lebensrealitäten informiert wird, umso leichter haben es die Vertreter einer „Sozialneiddebatte nach unten“, die der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge beobachtet.
Es ist die Aufgabe von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, sich noch stärker mit serösen Fakten in die öffentliche Debatte einzuschalten. Im besten Fall hilft es, bis zum Jahresende sachlich über die Details der Bürgergeldpläne wie die Höhe des Schonvermögens, die Erstattung der Warmmiete und die neuen Aufgaben der Jobcenter zu diskutieren - und vertretbare Änderungen am Gesetz zum Bürgergeld vorzunehmen.
Berlin (epd). Die Schließungen von Kindertagesstätten in der frühen Phase der Corona-Pandemie sind nicht nötig gewesen und haben benachteiligte Kinder besonders belastet. „Nach dem Wissen von heute kommt man zu der Erkenntnis, dass die Kita-Schließungen zu Beginn der Pandemie nicht nötig gewesen wären“, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am 2. November in Berlin. Die Betreuungseinrichtungen und auch die Kleinkinder selbst seien keine Treiber der Pandemie gewesen: „Kitas waren keine Infektionsherde“, sagte Lauterbach. Mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen müsse man offen umgehen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Die Ansteckungsraten bei Kindern unter fünf Jahren lagen unter denen von Schulkindern und Jugendlichen sowie deutlich unter dem Durchschnitt, erklärte Lauterbach. Die Übertragungsrate in Kita-Gruppen beträgt weniger als zehn Prozent, das entspricht etwa einem Fünftel der Ansteckungsrate in Familien. Man werde also aus medizinischer Sicht keine Kitas mehr schließen müssen, sagte Lauterbach. Hygiene- und Schutzmaßnahmen müssten aber eingehalten werden. Der Gesundheitsminister berief sich auf Erkenntnisse aus der vom Bund geförderten Corona-KiTa-Studie des Deutschen Jugendinstituts und des Robert Koch-Instituts.
Lauterbach wies außerdem darauf hin, dass die Impfquote beim Personal von Kinderbetreuungseinrichtungen bei 85 Prozent (dreifach geimpft) liegt und damit weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Das gebe den Kindertagesstätten „eine große Sicherheit“, sagte der Minister. Sie seien gut vorbereitet auf die zu erwartende Corona-Welle im Herbst und Winter. Lauterbach nahm gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) Stellung zu den Ergebnissen der Corona-KiTa-Studie sowie zu Maßnahmen, die die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche abmildern sollen.
Paus bilanzierte, Kinder und Jugendliche litten an den Folgen der Corona-Maßnahmen. Besonders habe es Kinder getroffen, die es bereits vor der Pandemie schwer hatten: „Es ist nicht überraschend, aber umso bedrückender, dass die Pandemie die soziale Ungleichheit schon bei den Kleinsten verschärft hat“, sagte Paus.
Drei von zehn Schülerinnen und Schülern schätzten ihren Gesundheitszustand heute schlechter ein als vor der Pandemie, unter benachteiligten Kindern seien es 40 Prozent. Insgesamt habe sich der psychische Zustand bei jedem zweiten Kind verschlechtert, unter den sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen seien es zwei Drittel. Deshalb müsse bei allen Maßnahmen das Kindeswohl ins Zentrum gerückt werden. Besonders belastete Kinder und Familien müssten besonders unterstützt werden, sagte Paus.
Das Bundeskabinett hatte sich am Vormittag mit den Maßnahmen der Bundesländer zur Milderung der Corona-Folgen bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Die Aktivitäten der Länder wurden vom Bund gefördert, etwa mit dem Programm „Aufholen nach Corona“ im Umfang von zwei Milliarden Euro. Es soll Kindern unter anderem helfen, Lernrückstände aufzuholen. Gefördert werden aber auch Urlaube für kinderreiche oder bedürftige Familien und Freizeitangebote.
Die Corona-KiTa-Studie wurde von Mitte 2020 bis Ende 2022 vom Deutschen Jugendinstitut und dem Robert Koch-Institut erstellt und vom Gesundheits- und Familienministerium gefördert. Sie gibt Auskunft über Kitas in der Pandemie, Ansteckungen und Krankheitsverläufe bei Kita-Kindern sowie über die Folgen der Corona-Maßnahmen.
München (epd). Spät abends, wenn es dunkel ist und die Supermärkte bereits geschlossen haben, kommen sie zum Vorschein: die selbst ernannten „Lebensmittelretter“. Ihre Aktivität ist als „Containern“ bekannt.
Containern kommt aus dem Englischen und beschreibt das Entwenden von Lebensmitteln aus Mülltonnen von Einkaufsläden. In der Gesellschaft stoßen die „Tonnentaucher“ weitgehend auf Akzeptanz: Bei einer Umfrage des Meinungsforschers Civey gaben 81 Prozent der Befragten an, dass ihrer Meinung nach das Containern straffrei sein sollte.
Nach Angaben des Bundesernährungsministeriums werden in Deutschland jedes Jahr elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Dabei entstehen sieben Prozent des Abfalls im Handel.
Gerade in Zeiten steigender Lebensmittelpreise und überlasteter Tafeln sehen sich viele Menschen regelrecht zum Tonnentauchen aufgefordert. Eine von ihnen ist Stella. Die 26-jährige Filmstudentin betreibt das Containern seit zwei Jahren. „In meiner neuen WG hat man mir den Tipp gegeben, dass man beim Großmarkt hier um die Ecke mittwochs und samstags so viel holen könne, dass sich damit gut kochen lasse“, sagt sie.
Die Münchnerin erzählt von ihren Streifzügen: „Die Ausbeute war teilweise riesig. Von trockenen Sachen wie Mehl und Marken-Müslis, über teuren Kaffee-Sirup bis hin zu frischem Gemüse in rauen Mengen.“ Man müsse lediglich ab und zu eine faule Stelle wegschneiden. Das Gemüse waschen sie zu Hause in der Badewanne.
Die beste Ausbeute bisher war „eine ganze Kiste voller reifer Avocados“. Durch das Containern kann die Filmstudentin auch Lebensmittel probieren, die sie sich sonst nicht leisten könne, wie Ingwer-Shots oder teure Smoothies. „Vor einem Jahr haben wir 20 Säcke Gourmet-Kaffeebohnen gefunden. Wir mussten bis heute keinen Kaffee mehr für die WG kaufen“, sagt sie.
Durch ihr Hobby lernt sie Gleichgesinnte kennen. „Ich treffe hier ab und zu auf eine Gruppe von Rentnerinnen, die ebenfalls containern. Das ist immer wieder eine lustige Begegnung.“
Das Containern sei eine richtige WG-Tradition geworden. „Wenn wir Auberginen und Paprika haben, kochen wir am nächsten Tag Ajvar ein. Wenn wir ein paar Packungen Toastbrot finden, machen wir ein großes Frühstück.“ In ihrem Umfeld containern viele, sagt Stella. In den zurückliegenden Monaten sei das jedoch schwieriger geworden. Der Supermarkt in München, bei dem sie immer containert hat, lässt neuerdings nach Ladenschluss sofort die Tonnen leeren. „Früher hatten sie immer die Tore offen. Wir hatten nie das Gefühl, dass eine Anzeige gestellt werden könnte, da nichts abgeschlossen war. Alles sah sehr offen und einladend aus.“
Stella sagt: „Man kommt in einen richtigen Rausch, weil man sich sagt: Ich habe gerade Hunderte von Euro an Lebensmitteln gerettet.“ Im Laden denke sie sich oft: „Und dafür soll ich Geld ausgeben, wenn ihr das heute Abend doch eh' wieder rausschmeißt?“
Containern ist nach Paragraf 242 Strafgesetzbuch strafbar. Das Bundesjustizministerium erklärte jedoch auf Anfrage: „Lebensmittel aus Müllcontainern zu nehmen, ist nach geltender Rechtslage nur in seltenen Fällen eine Straftat.“ Zudem würden Diebstähle geringwertiger Sachen in der Regel nur nach einem Strafantrag verfolgt.
Ein Sprecher von Edeka Südwest sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), schon aus wirtschaftlichen Gründen habe das Großhandelsunternehmen Interesse daran, die Menge überschüssiger Lebensmittel so gering wie möglich zu halten. „Trotzdem kommt es vereinzelt vor, dass Lebensmittel entsorgt werden müssen.“ Die Abfallcontainer der Edeka-Märkte seien in der Regel abgesperrt und nicht öffentlich zugänglich.
Göttingen (epd). Koffer, Schuhe, Smartphones, Pässe, Lebensmittel, ein Schlauchboot: Die Ausstellung mit dem etwas sperrigen Namen „Moving Things. Zur Materialität von Flucht und Migration“ zeigt Gegenstände, die Flüchtlinge auf ihren oft beschwerlichen Reisen mitschleppen und nutzen müssen.
Die Schau ist Produkt eines dreijährigen Forschungsprojektes im Grenzdurchgangslager Friedland, an dem das Museum Friedland, das Institut für Ethnologie der Universität Göttingen und das Berliner Ausstellungsbüro „Die Exponauten“ beteiligt waren. Weitere Ergebnisse des von der Bundesregierung finanzierten Vorhabens sind mehrere gedruckte Publikationen, eine Internetseite und ein Veranstaltungsangebot.
„Wir wollen in der Ausstellung zeigen, welche Rolle Dinge bei der Flucht spielen und welche Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen die mitgeführten Gegenstände in sich tragen“, sagt die Göttinger Ethnologie-Professorin Andrea Lauser. „Und wir wollen zeigen, wie über Mensch-Dinge-Beziehungen noch eine andere Geschichte der Migration erzählt werden kann.“ Die Forscherinnen und Forscher hätten sich auch gefragt, was materieller Besitz mit Menschenwürde zu tun habe und was es bedeute, wenn er verloren gehe.
Die Ausstellung behandelt das Thema auf verschiedene Weise, sieben Räume widmen sich in freier Folge bewegten und bewegenden Dingen. Große Röhren aus Pappe, mit Texten beklebt, stehen oder liegen auf dem Boden. „Röhren sind ein Symbol für Infrastruktur“, erläutert Kurator Joachim Baur von den Berliner „Exponauten“ das Konzept. Sie könnten aber auch als Symbol für versperrte Wege gesehen werden.
Blickfang der Schau ist ein rund zehn Meter langes Schlauchboot - grau, verschmutzt und ohne Luft. So wie es da liegt, wurde es 2017 von der Hilfsorganisation „Sea-Eye“ auf dem Mittelmeer angetroffen. „Wir wissen nicht, was aus den Menschen geworden ist, die damit unterwegs waren“, sagt Baur. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Menschen ertrunken sind.“ Das Boot sei ein „hoch emotionales Exponat und gleichzeitig ein Objekt der Mobilisierung“, so der Ausstellungsmacher.
Von Flucht und Flüchtlingen erzählen auch Koffer und Schuhe. Anders als das Schlauchboot werden sie im „Forum Wissen“ nicht gegenständlich, sondern als Fotografien präsentiert. „Der Koffer ist das Generalbild für die Migration“, weiß Joachim Baur. Aufnahmen von Koffern aus Holz, aus Sperrholz, aus abgewetztem Stoff oder Hartschale sind zu besichtigen. Viele stammen aus dem Fundus des Museums Friedland, das benachbarte Grenzdurchgangslager haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs rund 4,5 Millionen Menschen durchlaufen.
Die Schuhe auf der Fotowand gegenüber - Stiefel, Schlappen, ausgetretene Sneakers - hatten Geflüchtete an den Füßen, die auf der italienischen Insel Lampedusa ankamen oder zeitweise im sogenannten „Dschungel von Calais“ lebten - einem „wilden“, immer wieder von der französischen Polizei geräumten Zeltlager, die darin hausenden Migranten wollen nach Großbritannien. „Die Schuhe selbst zu zeigen, wäre uns unethisch vorgekommen“, sagt Baur. „Weil die Schuhe ja mit Körpern verbunden sind.“
Auf den ersten Blick etwas unübersichtlich wirkt eine große Landkarte mit eingezeichneten bunten Linien. Sie dokumentieren die verschlungenen Fluchtwege von drei Menschen, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machten - und die Wege ihrer Pässe und Ausweispapiere. Denn manche Geflüchtete, erläutert Baur, schickten ihre Pässe „von unterwegs woanders hin, an Freunde oder Kontaktpersonen. Weil sie wissen: Manchmal nützen ihnen die Dokumente, manchmal schaden sie ihnen.“
Keine Flucht, kaum ein Flüchtling ohne Smartphone. Die Geräte sind überlebensnotwendig, sie dienen als Telefon, Kamera, zur Navigation, als Foto-, Film und Musikarchiv, als Zugang zum Internet. Der Fotograf Grey Hutton hatte Flüchtlinge gebeten, ihm ihre Handys zu zeigen. Und in ein paar Sätze die Bedeutung dieser Geräte zu schildern.
Huttons Bilder und die Kommentare der Geflüchteten stehen in der Ausstellung nebeneinander. „Ohne das hier hätte ich die Reise nicht geschafft“, wird ein Flüchtling zitiert. „Ich habe es die ganze Zeit benutzt, zu Wasser und zu Land“. Und ein anderer erzählt: „Ich habe das GPS genutzt, um das Boot nach Griechenland zu navigieren, aber nur tagsüber. Nachts hätte die Polizei das Licht sehen können.“
Bremen (epd). Mit neuen barrierefreien Angeboten will die Kunsthalle Bremen Menschen mit Einschränkungen den Besuch im Museum erleichtern. „Das Angebot in der Dauerausstellung, das sowohl ein Bodenleitsystem, Tastmodelle, Audio-Guides sowie einen Video-Guide umfasst, wurde knapp zwei Jahre lang entwickelt“, sagte am 1. November Direktor Christoph Grunenberg. Damit gehöre die Kunsthalle zu den wenigen Museen in Deutschland, die ein solches Konzept in diesem Umfang umgesetzt hätten. Die „Aktion Mensch“ hat das Projekt unter dem Titel „Brückenschläge“ gefördert.
So haben Verkehrsflächen und einige Galerieräume auf drei Etagen ein taktiles Bodenleitsystem aus Messingpunkten erhalten. Zu sechs ausgewählten Kunstwerken gibt es in Sitzmöbel integrierte Tastmodelle. Neu ist auch ein Audio-Guide für blinde und sehbehinderte Menschen sowie ein Audio-Guide in einfacher Sprache auf Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Arabisch. Außerdem stehen Video-Führungen in deutscher Gebärdensprache bereit.
Im „Art Surfer“, dem Multimedia-Guide der Kunsthalle, können die verschiedenen Audio-, Text- und Video-Führungen für Erwachsene sowie Kunstgeschichten für Kinder abgerufen werden. Der Zugang erfolgt über das WLAN der Kunsthalle auf dem jeweils eigenen Smartphone unter der Adresse www.artsurfer.kunsthalle-bremen.de. „Wir kommen mit den Angeboten unserem Ziel näher, Menschen unabhängig von ihren körperlichen, kognitiven, sozialen und kulturellen Voraussetzungen einen selbstständigen Museumsbesuch zu ermöglichen“, betonte Grunenberg.
Das Projekt wurde nach Informationen von Kunsthallen-Bildungsreferent Hartwig Dingfelder in Zusammenarbeit mit betroffenen Menschen und in Kooperation mit Wohlfahrtsverbänden wie der Diakonie, dem Arbeiter-Samariter-Bund und der Arbeiterwohlfahrt entwickelt. Das sei vorbildlich gelungen, lobte Bremens Landesbehindertenbeauftragter Arne Frankenstein. Er wünschte sich, dass viele Museen dem Beispiel der Kunsthalle folgen: „Wir brauchen überall solche systematischen Prozesse, um Barrieren abzubauen.“
Würzburg (epd). Mitglied einer coolen Crew zu sein, gleichzeitig die eigenen Talente entdecken und Gutes tun zu können, ist eine tolle Sache, finden Evelyn Schneider und Josephin Sittig. Die beiden 18-Jährigen sind seit Anfang September Teilnehmer des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) beim Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) in Würzburg.
Damit gehören sie einer rarer werdenden Spezies an: Viele Einrichtungen beklagen, dass sich nicht mehr genug Bewerber für einen BFD oder ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) finden. „Die meisten wollen möglichst bald ins Studium starten“, sagt Sittig. So konnte auch der Würzburger CVJM nicht alle vorhandenen Stellen besetzen.
Durch einen Freiwilligendienst können künftige Studierende auch Einblicke in ihr favorisiertes Studienfach gewinnen. Nicht zuletzt dieser Aspekt bewog Schneider und Sittig, ihrem Studium ein BFD vorzuschalten. Sittig würde gerne auf Lehramt studieren: „Ich bin allerdings noch unsicher, ob ich Lehrerin auf einem Gymnasium, an einer Grund- oder Realschule werden möchte.“ Beim CVJM bietet sich ihr die Chance herauszufinden, welche Altersklasse ihr besonders liegt.
Beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe erreichten die Vertragsabschlüsse für den Freiwilligendienst 2021 einen vorläufigen Höhepunkt. „Es waren über 2.000“, berichtet Mathias Schmitten vom „Zentrum Freiwilligendienste“. Derzeit trudelten sogar noch mehr Bewerbungen als vergangenes Jahr ein. „Bei den Vertragsabschlüssen allerdings gibt es einen Rückgang von acht Prozent.“
In Zeiten hoher Inflation könnten sich jedoch immer weniger junge Menschen einen Freiwilligendienst leisten, sagt Schmitten. Dazu sei das Taschengeld zu niedrig. Bei der Diakonie RWL liegt es bei 423 Euro im Monat: „Hinzu kommt, dass die Freiwilligen die Tickets für die Fahrt zum Dienst selbst bezahlen müssen.“ Auf der anderen Seite könnten sich viele Kitas als besonders beliebte Einsatzorte keine Freiwilligen leisten: „Hier übersteigt die Zahl der Bewerbungen die Zahl der Plätze manchmal um das Dreifache.“
Freiwilligendienste können im Jugendverband oder in der Kita, in Förderschulen oder Behindertenwerkstätten, in Einrichtungen der Psychiatrie, in Kliniken oder Frauenhäusern abgeleistet werden. Laut Bundesfamilienministerium absolvierten 2021 knapp 90.000 einen freiwilligen Dienst. „Die BFD-Werte für 2017 bis 2019 waren leicht höher als sonst, weil sie die Sonderkontingente ‚BFD mit Flüchtlingsbezug‘ umfassten“, heißt es zwar von der Pressestelle des Ministeriums. Dennoch könne konstatiert werden, dass die Zahlen seit 2020 sinken.
Besonders im Pflegesektor mit seinem Personalmangel schmerzt das Fehlen von Freiwilligen. Florian Schüßler, Geschäftsführer der Caritas im unterfränkischen Landkreis Main-Spessart, hat zwar derzeit eine Bundesfreiwillige beschäftigt. Doch die könne kaum auffangen, was an ehrenamtlichem Engagement weggebrochen ist: „Vor der Pandemie hatten wir über 80 Ehrenamtliche, aktuell sind noch 20 aktiv.“
Vor diesem Hintergrund arbeiten gerade alle großen Verbände an einer Weiterentwicklung der Freiwilligendienste. So werde beim Deutschen Roten Kreuz zum Beispiel überlegt, inwieweit man die Bewerbung auf einen Platz für einen BFD oder ein FSJ erleichtern könne, erklärt DRK-Pressereferentin Annkatrin Tritschoks.
Im Koalitionsvertrag der Ampel taucht der Freiwilligendienst in zwei Sätzen auf: „Die Plätze in den Freiwilligendiensten werden wir nachfragegerecht ausbauen, das Taschengeld erhöhen und Teilzeitmöglichkeiten verbessern“, heißt es im Unterpunkt „Kinder und Jugend“. Außerdem soll ein „FSJ digital“ kommen. Das Bundesfamilienministerium setze sich „mit Nachdruck für eine mittel- und langfristig auskömmliche Finanzierung aller Freiwilligendienstformate“ ein.
Limburg (epd). Das Händewaschen würde Natalie am liebsten überspringen, wenn sie am Nachmittag aus der Schule kommt. Etwas widerwillig lässt sich die Achtjährige von Vater Florian Wiegand an den Händen ins Badezimmer führen. „Das machen wir jeden Tag so. Routinen sind wichtig“, erklärt der Familienvater aus Limburg. Ungeduldig robbt Natalie auf den Fliesen hin und her. Ihr Ziel: das Tablet in ihrem Kinderzimmer nebenan. „Das Wichtigste ist gut funktionierendes W-LAN. Also eigentlich wie bei jedem Kind“, sagt Wiegand und lacht.
Natalie, von ihrer Familie liebevoll „Nati“ genannt, wurde 2014 geboren. Die Schwangerschaft verlief normal. Auch bei der Geburt gab es keine Komplikationen, wie Wiegand erzählt, während er Videos von damals zeigt. Etwa zwölf Stunden nach der Geburt ging es los. Das Baby hatte erhöhte Temperatur, nichts half dagegen. Irgendetwas stimme mit ihrem Herzen nicht, so die erste Diagnose. Nach zwei, drei Tagen kamen noch mehr „Baustellen“ ans Licht, wie Wiegand sagt. Er muss schlucken: „Am dritten Tag wäre sie fast gestorben.“
Natalie leidet neben einem Herzfehler an Syndromalen Grunderkrankungen. Diese umfassen eine Vielzahl seltener Erkrankungen, die häufig mit einer geistigen Behinderung einhergehen. Natalie kann nicht laufen, nicht sprechen, reagiert nur auf einige Zeichen. Die funktionieren bei Vater und Tochter reibungslos. Als Natalie später an ihrem Tablet spielt, schiebt Vater Wiegand seine Handinnenflächen zusammen. „Das heißt 'Pause'“, erklärt der Tierarzt.
Mehr als 6.500 Kinder werden in Deutschland pro Jahr mit einem Herzfehler geboren. Somit ist fast jedes 100. Neugeborene betroffen, wie es auf der Internetseite des Herzzentrums der Universität Göttingen steht. Laut der Deutschen Herzstiftung sind es sogar jährlich 8.700 Kinder. Die Ursachen für die Fehlbildungen des Herzens sind zahlreich. Sowohl Umwelteinflüsse als auch genetische Faktoren sind relevant.
Einige Herzfehler wie zum Beispiel kleine Löcher lassen sich gut in den Griff kriegen, wie der Chefarzt des Kinderherzzentrums an der Uniklinik Gießen, Christian Jux, erklärt. Dann gebe es aber auch die komplexeren Krankheitsbilder, wenn etwa nur eine Herzhälfte vorhanden ist. Oder wenn, wie bei Natalie, eine Reihe anderer Symptome auftauchen.
Familie Wiegand hat sich mit der Situation abgefunden. Der Weg dorthin hat jedoch gedauert. „Du wirst einfach in die Situation reingeworfen“, erinnert sich der Vater. Anfangs habe er gedacht: „Warum kann das nicht sein wie beim Nintendo spielen: einfach Neustart drücken? Aber das Leben muss weitergehen“, fügt er nachdenklich hinzu.
Das gilt auch für die größere Schwester, Jasmin. Die Zwölfjährige kommt etwas später aus der Schule und macht es sich auf einem der Holzbalken im Wohnzimmer gemütlich. „Eigentlich ist unser Alltag ganz normal“, erzählt die Schülerin. „Nati und ich spielen viel miteinander und machen ziemlich viel Krach“, erzählt sie und grinst. Man merke schon, dass etwas anders ist, doch ausgegrenzt fühle sie sich nie, betont der Teenager. „Ich finde unsere Familie ziemlich besonders“, sagt sie.
Neben der familiären Unterstützung hat den Wiegands gerade in der Anfangszeit „Kinderherzen heilen“ geholfen. Der Gießener Verein organisiert zum Beispiel Familienfreizeiten und Resilienz-Seminare für betroffene Familien. Außerdem haben die Ehrenamtlichen dafür gesorgt, dass die Uniklinik Gießen eine Psychologin ausschließlich für das Kinderherzzentrum eingestellt hat, wie die Vorsitzende Dorota Dobler berichtet. Allerdings nur mit einer halben Stelle. Und schon das sei ein „langer Kampf“ gewesen.
Die psychologische Betreuung für betroffene Kinder und Familien komme zu kurz, moniert Dobler, die selbst ein herzkrankes Kind hat. Die Ärzte und Krankenschwestern hätten keine Zeit, sich mit den Patienten zu beschäftigen. „Und hier geht es nicht um eine Blinddarm-OP. Sondern um Leben und Tod eines Kindes“, ärgert sich die 48-Jährige, die sich seit mehr als zehn Jahren im Verein engagiert.
„Das kann ich nur unterstreichen“, sagt der Gießener Chefarzt Jux. Auch sein Team und er würden sich mehr psychologische Unterstützungen für die Patienten wünschen.
Auch die vielen Anträge seien eine Herausforderung, erzählt Wiegand: „Ich dachte immer, die Krankenkassen müssen doch Verständnis dafür haben, dass es hier um mein Kind geht. Aber das sind am Ende auch nur Behörden und alles dauert ewig lang.“
Im Moment ist Natalies Gesundheitszustand stabil. Dabei hatten die Ärzte damit gerechnet, sie mit fünf Jahren noch einmal operieren zu müssen. So sehr er sich mit dem Schicksal versöhnt habe, bleibe die Unsicherheit doch Teil ihres Lebens, sagt Wiegand.
Lupburg (epd). Der Tod schmerzt - egal ob ein geliebter Mensch gestorben ist oder man über das eigene Ende nachdenkt. Das ist ein Grund dafür, warum der Tod noch immer ein gesellschaftliches Tabu ist. Für die Sterbeamme Karin Simon gilt das nicht. Sie sagt: „Wer begriffen hat, dass er selbst sterben wird, lebt bewusster und intensiver.“
Karin Simon ist gelernte Krankenschwester und versah viele Jahre lang pflichtbewusst ihren Dienst. Gegen Ende ihrer Berufslaufbahn allerdings mehrten sich die Zweifel an dem, was sie tat: „Mein Herz hat es nicht mehr ausgehalten, dass wir uns vor lauter Dokumentieren kaum noch um die Patienten kümmern konnten.“ Simon stellte fest, dass es im Klinikbetrieb fast mehr ums Geld ging als um das Heilen kranker Menschen. Die Pflegerin aus Lupburg, einer Gemeinde im Oberpfälzer Landkreis Neumarkt, wurde selbst krank: „Ich bekam Depressionen und Burn-out.“ Sie beschloss, ihren Beruf an den Nagel zu hängen und sich zur Sterbeamme fortzubilden.
Ihre pflegerische Ausbildung kommt ihr bei ihrem neuen Beruf als „Sterbeamme“ zugute. Die 63-Jährige klärt zum Beispiel versiert über Möglichkeiten auf, Schmerzen mit Medikamenten zu lindern. Außerdem kann sie als Krankenschwester glaubwürdig davon erzählen, wie es ist, wenn Menschen sterben - hat sie das doch Dutzende Male erlebt. Faszinierend sei, sagt Simon, dass Menschen bis zuletzt noch etwas begreifen könnten. „Es gibt Menschen, die noch im allerletzten Moment etwas bereuen - oder die sich, kurz bevor sie die Augen für immer schließen, versöhnen“, sagt die Amme.
Karin Simon ist freiberuflich tätig. Häufig würden Sterbeammen mit ehrenamtlichen Hospizbegleiterinnen verwechselt. Auch wenn die Tätigkeiten ähnlich seien, gebe es Unterschiede in der Vorbereitung auf diesen Dienst. Karin Simons Ausbildung zog sich über zwei Jahre von 2014 bis 2016 hin. 210 Unterrichtsstunden absolvierte sie in dieser Zeit. Ehrenamtliche Hospizbegleiter werden ein Jahr lang ausgebildet. In diesem Fall umfasst die Ausbildung 100 Stunden. Karin Simon erhält ein Honorar: „Das vereinbare ich mit jedem, der meine Dienste in Anspruch nimmt, individuell.“
Wer Sterbeamme oder Sterbegefährte werden möchte, kann sich deutschlandweit an acht Standorten fortbilden lassen - von Husum an der Nordsee bis Freiburg im Breisgau. Alle Standorte stehen unter der Leitung von Claudia Cardinal, Sterbeamme aus Hamburg. Die von ihr konzipierte Fortbildung ist nach einer ISO-Norm zertifiziert und wird einmal im Jahr von „Cert IQ“ Nürnberg, einer unabhängigen Prüfinstanz für Einrichtungen im Gesundheits- und Bildungswesen, überprüft. Inzwischen haben 945 Menschen die Fortbildung begonnen.
In Bezug auf das Sterben begegnet Karin Simon oft einer fast irritierenden Ahnungslosigkeit. Das sei kulturell bedingt. Früher hätten Sterben und Tod ganz normal zum Leben gehört: „Die Generationen wohnten unter einem Dach, und wenn die Oma starb, wurde sie daheim drei Tage lang aufgebahrt.“ Jeder konnte ausgiebig Abschied nehmen. Die Nachbarn kamen. Man sang gemeinsam, aß zusammen. „Wir Sterbeammen versuchen, solche Traditionen wiederzubeleben“, sagt Simon.
Gleichzeitig gibt sie zu bedenken, dass der Tod nicht immer „schön“ daherkommt. Das Sterben ihrer eigenen Mutter hat sie als furchtbar erlebt. Simons Mutter war neurologisch schwer krank: „Sie hatte sich dadurch auch in ihrem Wesen stark verändert.“ Die körperlichen Funktionen waren massiv beeinträchtigt - womit die jugendliche Karin überhaupt nicht klar kam. Sie hatte sich, gibt sie zu, vor der Mutter geekelt: „Als sie schließlich starb, saß ich mit einem Berg von Schuldgefühlen da.“ In der Folge begann sie, intensiv über das Woher und Wohin des Menschen nachzudenken.
Symbole der Leichtigkeit wie Federn und Seifenblasen gehören zur Corporate Identity ihres kleinen Unternehmens, das neben der Heilpraxis und der Sterbebegleitung auch Trauerangebote und Vortragstätigkeiten umfasst. Diese Leichtigkeit gerade auch in Krisensituationen versucht Karin Simon bei allem, was sie anbietet, zu vermitteln. Sie selbst hat sich in den vielen krisenhaften Phasen „durchs Leben geleitet“ gefühlt. „Ich habe immer wieder die richtigen Leute getroffen, die mich auf meinem suchenden Weg begleitet haben“, sagt sie.
Hannover, Köln (epd). Wie der Eingang zu einem geheimen Garten wirkt die Eisentür in einem Innenhof mitten in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover. „Kindertafel Garten“ steht in bunten Buchstaben auf dem Stahlgitter. Dahinter wuselt die zehnjährige Nadine (Name geändert) unter einigen Zweigen hindurch und zeigt voller Stolz auf Johannisbeersträucher und Erdbeerpflanzen. „Da hinten“, sagt das Mädchen und schiebt ein paar große Blätter beiseite, „liegt noch ein richtig großer Kürbis.“
Schulkinder erhalten hier seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht nur ein kostenloses warmes Mittagessen, sondern werden betreut bei den Hausaufgaben, lernen Gärtnern oder spielen zusammen. Laut Experten wie dem Armutsforscher-Paar Christoph und Carolin Butterwegge muss der Staat mehr gute und gebührenfreie Bildungs- und Betreuungsangebote wie dieses schaffen, damit Familien angesichts der derzeitigen Preissteigerungen nicht noch weiter in finanzielle Notlagen geraten.
Nadine verbringt seit mehreren Jahren regelmäßig ihre Nachmittage bei der Kindertafel - einem Mittagstisch, wie es ihn vielerorts in Deutschland gibt. „Heute gab es Tomatensauce mit Nudeln und Salat“, erzählt sie. Auf den Bänken unter einem Pavillon liegen noch Teller und Besteck.
Ein paar Meter weiter können die Kinder durch große Fenster in die Küche schauen, wo die Schüler der Anna-Siemsen-Berufsschule wochentags die Mahlzeiten für etwa 20 Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren zubereiten. Ihren ursprünglichen Platz in den Räumen einer Kirchengemeinde musste die Kindertafel vor drei Jahren räumen. Nun wird sie von der Stadt einen Bauwagen als Winterquartier erhalten.
Bettina Harborth, Geschäftsführerin vom Verein „Spokusa“, der die Kindertafel vor Ort betreut, sieht in diesem Jahr neuen Herausforderungen entgegen. Die Arbeit finanziere sich allein aus Spenden, und diese gingen merklich zurück, sagt sie. „Es ist schwierig, Prognosen abzugeben, aber wenn erst einmal die Steigerung der Energiekosten losgeht, werden es wohl auch mehr Kinder werden.“ Leider sei man weit davon entfernt, dass das Angebot der Kindertafel irgendwann überflüssig sei.
Den Armutsforschern Butterwegge zufolge liegt die Zahl der armutsgefährdeten Kinder in Deutschland bei fast drei Millionen - und hat einen Rekordstand erreicht. „Dass die Kinderarmut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik jahrzehntelang über dem allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt liegt und immer neue Höchststände verzeichnet, muss erschrecken“, sagt der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Durch die Pandemie habe sie einen weiteren Schub erhalten, und sie werde sich aufgrund der steigenden Energiepreise und der Inflation vermutlich noch weiter erhöhen.
Auch für bislang nicht oder kaum betroffene Familien aus der unteren Mittelschicht könnte sich dieser Trend zuspitzen, ergänzt die Soziologin Carolin Butterwegge. „Das ist ein Trend, über den viel zu wenig geredet und gegen den kaum etwas unternommen wird.“
Die Initiatoren der Kindertafel wollen vor allem ein Angebot gegen soziale Armut schaffen. Auch Kinder, die keinen Hortplatz bekommen, können unabhängig vom Eltern-Einkommen zur Tafel kommen, um nicht allein Zuhause sein zu müssen.
Betreuerin Dana Nije, die seit 22 Jahren für die Kindertafel arbeitet, ist für viele der Mädchen und Jungen fast wie ein vertrautes Familienmitglied geworden. Sie erinnert sich noch an Kinder der ersten Generation: „Ein Junge, der nicht ganz einfach war, ist später als ausgebildeter Sanitär-Installateur gekommen, um unseren Wasserhahn zu reparieren“, erinnert sich die Frau mit den blonden Locken. „Dass er uns nicht vergessen hat, hat mich sehr gerührt.“
Der Garten sei auch in Corona-Zeiten zu einer guten Alternative geworden, sagt Nije, während sie über die Wiese zum Pavillon läuft. Aber wie die Kinder nach der Pandemie zurückgekommen seien, sei erschreckend gewesen. „Manche kamen gar nicht mehr, manche waren völlig in sich gekehrt.“ Nije versuchte in der Zeit der extremen Corona-Beschränkungen, dennoch den Kontakt aufrechtzuerhalten, klingelte bei den Familien, trank mit ihnen einen Tee im Treppenhaus auf unterschiedlichen Etagen, machte Spaziergänge oder verteilte im Garten Lunchpakete.
Für die neunjährige Tatjana (Name geändert) ist die Tafel eine wichtige Anlaufstelle geblieben. Gemeinsam mit Nadine versucht sie sich zu erinnern, welche der selbst angebauten Früchte in diesem Sommer am besten geschmeckt haben. „Die Erdbeeren waren gut“, schwärmt Nadine.
„Manche lernen hier auch, dass Salami nicht an Bäumen wächst“, sagt Betreuerin Nije schmunzelnd. Zum Abschied packt sie den Kindern noch Reste ein, die sie in ihren Schultaschen verstauen. Dann winken sie Nije zum Abschied vom Gartentor aus laut rufend noch mal zu: „Bis morgen!“
Köln (epd). Angesichts der steigenden Preise für Energie und Lebensmittel warnen die Soziologin Carolin Butterwegge und der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) vor einem dramatischen Anstieg der Kinderarmut. Schon jetzt liege die Zahl der armutsgefährdeten Kinder in Deutschland bei fast drei Millionen und damit auf einem Rekordstand. Die Fragen an das Paar stellte Charlotte Morgenthal.
epd sozial: Wie viele Kinder wachsen in Deutschland derzeit in armen Verhältnissen auf?
Christoph Butterwegge: Armut und soziale Ungleichheit sind für Kinder statistisch am ehesten über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse ihrer Familie erfassbar. Während bei den Vermögen aussagekräftige Daten bisher fehlen, legt man bei den Einkommen eine EU-Konvention zugrunde, nach der als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das betrifft in Deutschland mittlerweile 20,8 Prozent der Kinder - rund 2,9 Millionen Menschen unter 18 Jahren.
epd: Sind die Zahlen in den vergangenen Jahren gestiegen?
Christoph Butterwegge: Ja, seit Hartz IV am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, steigen sie deutlich. Dass die Kinderarmut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik jahrzehntelang über dem allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt liegt und immer neue Höchststände verzeichnet, muss erschrecken. Durch die Pandemie hat sie einen weiteren Schub erhalten und wird aufgrund der Energiepreisexplosion und der Inflation vermutlich noch steigen.
Carolin Butterwegge: Zu beachten ist, dass die aktuellsten Daten zur Kinderarmut aus dem Jahr 2021 stammen. Wie sich die Situation seitdem verschärft hat und in den nächsten Monaten voraussichtlich weiter verschärfen wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Schon zu Beginn der inflationären Entwicklung nahm der Langzeitskandal Kinderarmut dramatischere Formen an. Die momentanen Preissteigerungen bei den Lebensmitteln und der Haushaltsenergie dürften dazu führen, dass sich die Lage auch für bislang nicht oder kaum betroffene Familien aus der unteren Mittelschicht zuspitzt. Das ist ein Trend, über den viel zu wenig geredet und gegen den kaum etwas unternommen wird.
epd: Wie kam es zu dem enormen Anstieg?
Christoph Butterwegge: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Fragt man, warum Eltern arm sind, fallen drei Ursachenbündel ins Auge. Erstens: Bedingt durch die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Liberalisierung der Leiharbeit und die Schaffung von prekären Beschäftigungsverhältnissen wie Mini- und Midijobs arbeiten zwischen 20 und 25 Prozent aller Beschäftigten zu einem Niedriglohn. Kinder von Paketzustellern, Getränkelieferanten und Fahrradkurieren haben ein sehr hohes Armutsrisiko. Wenn das Einkommen selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren, wächst die Zahl der armen Kinder.
Zweitens haben Reformen wie die Hartz-Gesetze die soziale Sicherheit der Familien untergraben. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung, die den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen sicherte, abgeschafft und durch eine reine Fürsorgeleistung ersetzt: das im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Arbeitslosengeld II. Das für 2023 angekündigte Bürgergeld ist zwar eine Verbesserung, die Arbeitslosenhilfe oder eine vergleichbare Regelung wird aber nicht wieder eingeführt.
Der dritte Grund liegt in einer unsozialen Steuerpolitik. Während die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben wird, obwohl sie im Grundgesetz steht, und der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer von 53 Prozent unter Kanzler Kohl auf 42 Prozent gesenkt wurde, beträgt die Mehrwertsteuer heute 19 statt 16 Prozent, was Arme hart getroffen hat. Denn sie müssen diese zusätzliche Steuer im Laden genauso bezahlen wie ein Millionär.
epd: Helfen die derzeitigen Entlastungspakete der Bundesregierung?
Carolin Butterwegge: Teilweise verschärfen sie die soziale Ungleichheit sogar noch, weil die Bezieher höherer Einkommen stärker entlastet werden als die Bezieher niedriger Einkommen. Spitzenverdiener sparen beispielsweise durch das Inflationsausgleichsgesetz als Teil des Entlastungspakets III über 500 Euro im Jahr, wohingegen Transferleistungsbezieher, die keine Steuern zahlen, gar nicht und Geringverdienende, die wenig Steuern zahlen, nur minimal entlastet werden. Eine Geringverdiener-Familie aus der unteren Mittelschicht gehört nicht zuletzt deshalb zu den Hauptbetroffenen der Energiepreiskrise und der Inflation.
epd: Inwieweit beeinflussen die aktuellen Krisenphänomene - steigende Energiepreise und Inflation - schon jetzt die Armutsstatistik?
Christoph Butterwegge: Obwohl die Auswirkungen der Krise auf viele Haushalte massiv sind, schlägt sich das nicht unbedingt in den Zahlen nieder. Für die Statistiker ist das Einkommen maßgeblich, an dem sich ja zunächst nichts ändert. Was sich ändert, sind die Ausgaben. So entsteht, was ich eine verborgene Armut nenne. Sie drückt sich beispielsweise darin aus, dass Familien, die bisher keine Schwierigkeiten hatten, einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, darauf verzichten oder beim Essen sparen müssen, weil sie ihre Gasrechnung auf das Drei- oder Vierfache steigt. Sie schaffen es zwar weiterhin, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, müssen sich dafür aber oft auf Kosten der Lebensqualität einschränken. Diese neue Form der Armut findet sich möglicherweise bald selbst in der gesellschaftlichen Mitte.
epd: Inwiefern wirken sich die Krisen wie die Corona-Pandemie und die derzeitigen Preissteigerungen also auf die Generation aus, die gerade aufwächst?
Carolin Butterwegge: Es gibt schon jetzt viele Kinder aus einkommensarmen Familien, die wesentlich schlechtere Chancen auf eine gute Bildung und einen Berufsabschluss haben, weil es dem Schulsystem nicht gelingt, ihre Nachteile auszugleichen. Schon durch die Pandemie hat sich die Schere bei den Bildungschancen weiter geöffnet. Wenn der wachsenden Ungleichheit nicht schon im Kindesalter entgegengesteuert wird, wird sich das auch im weiteren Lebensverlauf der Betroffenen negativ auswirken.
Christoph Butterwegge: Zu hoffen bleibt, dass Inflation, Energiepreiskrise und steigende Lebensmittelpreise bei den politisch Verantwortlichen ein größeres Problembewusstsein entstehen lassen. Die Entscheidungsträger müssen erkennen, dass Kinderarmut als Langzeitskandal endlich angepackt werden muss.
epd: Was sind Ihre Forderungen?
Christoph Butterwegge: Neben der Familienförderung durch einen weiter steigenden Mindestlohn sowie höhere Transferleistungen und Regelbedarfe braucht es auch eine bessere soziale Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Der Staat muss dafür sorgen, dass es eine gute Ganztagsbetreuung mit mehr Personal, nicht nur Erzieherinnen und Lehrern, sondern auch mit Sozialarbeitern und Schulpsychologinnen, sowie mehr Jugendfreizeiteinrichtungen gibt.
Carolin Butterwegge: Dabei muss es sich um qualitativ gute und gebührenfreie Angebote handeln, die Familien nicht noch weiter in finanzielle Notlagen bringen. Das Kernproblem ist, dass viele Angebote für Kinder aus einkommensarmen Familien einfach nicht zugänglich sind, weil den Eltern das Geld fehlt. Auch im Bildungssystem fallen immer noch erhebliche Gebühren an. Hinzu kommen etwa die Kosten fürs Mittagessen, die im Moment auch massiv in die Höhe schnellen.
epd: Wie ließen sich diese Pläne finanzieren?
Christoph Butterwegge: Wenn die Steuern für Wohlhabende und Reiche noch so hoch wie zu Helmut Kohls Regierungszeiten wären, hätte der Staat pro Jahr 100 Milliarden Euro mehr, die er zur Bekämpfung von Kinderarmut einsetzen könnte.
Essen, Berlin (epd). Die Tafeln in Deutschland verzeichnen seit Beginn des Jahres stark steigende Zahlen von Bedürftigen. Die Sprecherin der Tafeln Deutschland, Anja Verres, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin, fast alle Einrichtungen hätten im Sommer angegeben, dass sie 50 Prozent mehr Nutzerinnen und Nutzer verzeichneten als noch 2021. Bei einigen habe sich die Kundenzahl sogar verdoppelt.
Der Anstieg betrage beispielsweise bei den Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen seit Beginn des Ukraine-Kriegs mehr als 40 Prozent, sagte die Sprecherin des Landesverbandes, Petra Jung, der „Neuen Ruhr/Neuen Rhein Zeitung“. „Vor Beginn des Ukraine-Krieges hatten wir landesweit etwa 350.000 Kunden, jetzt sind es mindestens 500.000“, sagte Jung. Darunter seien viele neue Kunden, etwa Geflüchtete aus der Ukraine. Es kämen aber auch Rentner wieder, die wegen der Corona-Krise ferngeblieben seien, weil sie jetzt „angstvoll auf die kommenden Energierechnungen warten“.
Dieser Trend sei deutschlandweit zu beobachten, sagte Verres. Schon vor Beginn des Ukrainekrieges seien mehr Kundinnen und Kunden zu den Tafeln gekommen, weil die Inflation bereits damals angezogen habe. „Mit Kriegsbeginn gingen die Zahlen noch einmal deutlich nach oben“, sagte Verres.
Sie wies darauf hin, dass der Bedarf sogar noch größer sei. Aber rund ein Drittel der Tafeln in Deutschland hätten Aufnahmestopps verhängt. Die Sprecherin des nordrhein-westfälischen Landesverbands sagte, es sei „eine enorme psychische Belastung für die Ehrenamtler“, wenn sie Menschen wegschicken müssten, die eigentlich berechtigt wären, an den Tafeln Lebensmittel zu erwerben.
Zugleich nehme das Angebot ab, schilderte Verres: „Die Lebensmittelspenden gehen zum Teil deutlich zurück.“ Supermärkte könnten weniger abgeben, weil die Lieferketten infolge von Krieg und Corona gestört seien. Es fehle an Lebensmitteln, in anderen Fällen an Verpackungsmaterial. Zudem kalkulierten die Supermärkte spitzer, von denen die Tafeln Lebensmittel beziehen, sagte Jung: „Es bleibt weniger für uns übrig.“ Auch Geldspenden seien seit Beginn des Ukrainekriegs rückläufig.
Mainz (epd). Die Energiekrise hat deutliche Auswirkungen auf die Arbeit von Schuldnerberatungsstellen. Aktuell würden die gemeinsam ausgearbeiteten Haushalts- und Entschuldungspläne vieler Klienten wegen der stark steigenden Preise hinfällig, sagte der Schuldnerberater Malte Poppe vom Diakonischen Werk Mainz-Bingen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit einem drastischen Anstieg der Zahl neu überschuldeter Haushalte sei in einigen Monaten zu rechnen, sagte Poppe, der auch dem Vorstand der deutschlandweiten Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung angehört.
Bereits jetzt sei die durchschnittliche Wartezeit auf eine Erstberatung im Mainzer Umland von früher vier bis sechs Wochen auf drei Monate angestiegen. Aufgabe der Schuldnerberatungsstellen ist es unter anderem, gemeinsam mit den überschuldeten Haushalten deren monatliche Einnahmen und Ausgaben ins Lot zu bringen und mit Gläubigern außergerichtliche Einigungen auszuhandeln. Möglichkeiten zum Energiesparen gebe es in den betroffenen Familien oft kaum noch, sagte Poppe: „Wir können den Leuten nicht raten, dass sie sich doch einen neuen sparsamen Kühlschrank kaufen.“
In den Gesprächen gehe es mittlerweile oft darum, auf alle Ausgaben zu verzichten, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind, um wenigstens Ernährung, Miete und Heizung zu finanzieren. Aktuell betreue er beispielsweise einen Klienten, der täglich 50 Kilometer zur Arbeit pendeln müsse und aufgrund der ungünstigen Arbeitszeiten keinen öffentlichen Personenverkehr nutzen könne, berichtete der Berater. Der Mann verdiene 1.800 Euro netto, von denen aber mehr als 300 Euro gepfändet werden. Ihm bleibe inzwischen kein Geld mehr zum Tanken. Manchmal gelinge es in solchen Fällen, einen Fahrtkostenzuschuss oder Gehaltsvorschüsse mit den Arbeitgebern auszuhandeln.
Die Hilfe für überschuldete Familien und Einzelpersonen werde dadurch erschwert, dass es zwar durchaus staatliche Maßnahmen zur Entlastung der Bevölkerung wie das 9-Euro-Ticket gegeben habe, aber unklar bleibe, wie es mit den Hilfen weitergehe: „Wir können keine wirkliche Perspektive bieten, denn wir wissen selbst nicht, was kommt.“
Poppe hält die aktuelle Krise für die schwerste seit Jahrzehnten. Die Corona-Pandemie sei durch das Kurzarbeitergeld relativ gut abgefedert worden. „Manche haben vielleicht auch ihr Vermögen eingesetzt, das jetzt aber nicht mehr da ist“, sagte er. „Es gab keine Zeit zum Luftholen dazwischen.“ Die Schuldnerberatung rechne daher damit, dass 2023 auch zahlreiche Menschen Hilfe benötigen werden, die bislang immer relativ gut mit ihrem Geld ausgekommen sind.
Köln (epd). Sozialträger sind aufgerufen, an einer bundesweite Online-Umfrage zu den Chancen und Herausforderungen von Nachhaltigkeit in Organisationen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft teilzunehmen. Initiiert haben das Projekt die Bank für Sozialwirtschaft (BFS), die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, der Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) und die Universität zu Köln, heißt es in einer Mitteilung vom 28. Oktober.
Ziel der Umfrage sei es, einen Überblick zu erhalten, wie soziale Einrichtungen auf die wachsenden Anforderungen im Bereich der Nachhaltigkeit vorbereitet sind, wo Unterstützungsbedarf durch die Verbände besteht und an welchen Stellen strukturelle und rechtliche Hemmnisse bestehen. Befragt werden sollen Vorstände, Geschäftsführer und Nachhaltigkeitsbeauftragte von freigemeinnützigen, privaten und öffentlichen Organisationen und Unternehmen in allen Leistungsfeldern der Sozial- und Gesundheitswirtschaft.
„Die Auswertung erfolgt nach Branchen, zudem gibt es exklusive Sonderauswertungen für die Verbände. Wer an der Umfrage teilnimmt, erhält die Ergebnisse auf Wunsch zugeschickt und kann eine Einordnung der eigenen Organisation vornehmen“, schreiben die Organisatoren. Die Auswertung erfolge anonym, so dass kein Bezug zu einzelnen Personen oder Organisationen hergestellt werden könne.
„Nachhaltigkeit ist ein Kernelement jeder Unternehmensstrategie geworden“, sagte Susanne Leciejewski, Geschäftsleiterin Beratung bei der BFS Service. „Zunehmende Berichtspflichten und steigende Ansprüche von Kunden, Mitarbeitenden und Finanziers stellen hohe Anforderungen an das Nachhaltigkeits- und Datenmanagement. Zudem zeichnet sich ein enormer Investitionsbedarf ab.“
Es brauche Transparenz darüber, inwieweit die sozialen Organisationen und Unternehmen auf diese Aufgaben vorbereitet seien, sagte Markus Sobottke, Teamleiter Research bei der BFS Service. „Nur mit einer validen Datenbasis können konkrete Orientierungshilfen für die strategische und operative Implementierung von Nachhaltigkeit herausgearbeitet und Unterstützungsbedarfe an die Politik adressiert werden.“ Die Teilnahme an der Umfrage ist bis zum 25. November möglich.
Kassel (epd). Für kranke und behinderte Menschen geht es bei einer gerichtlich angeordneten ärztlichen Untersuchung oft um viel. Soll etwa ein Sachverständiger den Grad der Behinderung (GdB) oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) beurteilen, können die zu Begutachtenden aber zur Sicherheit eine Vertrauensperson mit zum Arzt nehmen, urteilte am 27. Oktober das Bundessozialgericht (BSG). Nur wenn im Einzelfall mit der Mitnahme einer Begleitperson „die objektive, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert“ wird, kann das Gericht, nicht aber der Gutachter, den Ausschluss der Vertrauensperson anordnen, entschieden die obersten Sozialrichter in Kassel.
Im konkreten Fall ging es um einen Mann aus Niedersachsen, bei dem wegen eines Tumors ein Teil seines Schulterblattes entfernt werden musste. Gerichtlich hatte er wegen seiner Erkrankung einen Grad der Behinderung von 50 erstritten. Damit galt er als schwerbehindert und konnte etwa von einem besonderen Arbeitsrechtsschutz wie Kündigungsschutz und Anspruch auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz profitieren. Wie bei Tumorerkrankungen meist üblich, galt eine fünfjährige „Heilungsbewährung“, d. h., nach dieser Zeit muss der Betroffene seine Schwerbehinderung noch einmal überprüfen lassen.
Die zuständige Behörde erkannte nach Ablauf der Zeit nur noch einen GdB von 20 an. Das Sozialgericht Osnabrück bestimmte daraufhin einen orthopädischen Sachverständigen, der den Kläger begutachten sollte. Allerdings lehnte es dieser ab, die Untersuchung im Beisein der Tochter des Mannes zu machen. Die Anwesenheit der Tochter erschwere die „Erhebung objektiver Befunde“. Auch wenn die Angehörige nichts sage, könne sie nonverbal die Begutachtung beeinflussen. Ohne Erfolg wies der Kläger darauf hin, dass er wegen eines zuvor erlittenen ärztlichen Behandlungsfehlers Angst vor medizinischen Untersuchungen habe und zur Beruhigung die Anwesenheit einer Vertrauensperson wünsche.
Ohne seine Tochter ließ sich der Kläger nicht von dem Orthopäden begutachten. Der daraufhin vom Gericht beauftragte zweite Gutachter lehnte die Anwesenheit einer Vertrauensperson ebenfalls ab. Der Arzt fürchtete, dass ihm Fehler bei der Begutachtung angelastet werden könnten. Da der Kläger auf die Anwesenheit seines Angehörigen bestand, kam wieder keine Begutachtung zustande. Das Sozialgericht sah damit die Mitwirkungspflichten des Patienten verletzt. Die Verringerung des GdB auf 20 wurde bestätigt.
Ohne eine Begleitung bei der Begutachtung werde sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt, rügte daraufhin der Kläger. Das Landessozialgericht (LSG) Celle urteilte am 11. Dezember 2019, dass der Kläger keinen Anspruch auf Mitnahme einer Vertrauensperson habe. Zwar gebiete der Grundsatz des fairen Verfahrens und des effektiven Rechtsschutzes, dass die Verfahrensbeteiligten „bei der Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen eines Gutachtens durch den Sachverständigen“ dem beiwohnen können. Dies sage aber nichts über eine Begleitperson aus.
Zwar habe das OLG Hamm 2015 entschieden, dass ohne Begleitung ein medizinisch oder psychologisch zu begutachtender Beteiligter keine Möglichkeit hätte, denkbare Wahrnehmungsfehler des Sachverständigen belegen zu können. Dem folgte das LSG jedoch nicht. Bei Streitigkeiten über die Richtigkeit von Gutachterergebnissen könne dies ausreichend in der mündlichen Verhandlung vor Gericht geklärt werden. Es bestehe vielmehr die Gefahr, dass eine Begleitperson den Untersuchungsgang beeinflusst und die Ergebnisse verfälschen wolle.
Das beklagte Land hatte noch darauf verwiesen, dass die Mitnahme einer Vertrauensperson nicht erforderlich sei, da die gerichtlich bestellten Sachverständigen sowieso unabhängig seien. Dieser sei eine „neutrale Hilfsperson“ des Gerichts, so dass von einem unfairen Verfahren nicht ausgegangen werden könne. Es bestehe zudem die Gefahr, dass mit Anwesenheit einer Begleitperson einen Tag später vermeintliche Begutachtungsfehler auf Twitter veröffentlicht werden.
Doch das BSG urteilte, dass eine von einem medizinischen Sachverständigen zu begutachtende Person regelmäßig eine Vertrauensperson mitnehmen darf. Dies gebiete das Recht auf ein faires Verfahren und das allgemeine Persönlichkeitsrecht der zu begutachtenden Person. Nur ausnahmsweise könne die Mitnahme einer Vertrauensperson von der Begutachtung ausgeschlossen werden.
Danach kann nur das Gericht, nicht aber der Gutachter, den Ausschluss der Vertrauensperson anordnen, wenn ihre Anwesenheit „eine geordnete, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert“. Dies könne etwa von der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson abhängen oder auch bei psychischen Erkrankungen erforderlich sein.
Hier sei die Anwesenheit der Begleitperson aber nur pauschal abgelehnt worden. Das LSG müsse den Fall daher noch einmal prüfen und auch klären, ob die Feststellung des GdB nicht nach Aktenlage entschieden werden könne.
Az.: B 9 SB 1/20 R (Bundessozialgericht)
Az.: L 13 SB 4/19 (Landessozialgericht Celle)
Az.: 14 UF 135/14 (Oberlandesgericht Hamm)
Kassel (epd). Eine Sehstörung muss für die Feststellung eines Grades der Behinderung ausreichend medizinisch belegt sein. Liegt kein medizinischer Befund über das eingeschränkte Augenlicht oder eine gegebenenfalls psychische Störung vor, gehe dies zulasten der behinderten Person, urteilte am 27. Oktober das Bundessozialgericht in Kassel.
Bei der 1997 geborenen Klägerin wurden während der Schulzeit zunehmende Sehstörungen festgestellt. Dennoch konnte sie noch Turmspringen als Leistungssport ausüben. Derzeit arbeitet sie als Physiotherapeutin mit schwerst mehrfach behinderten Kindern. Wegen ihrer Sehbeeinträchtigung erhielt sie von ihrer Krankenkasse Blindenstöcke, ein Mobilitätstraining und einen Blindenführhund gestellt.
Zuletzt wurde bei der Frau ein Behindertengrad von 40 festgestellt. Gerichtlich verlangte sie jetzt die Feststellung einer Schwerbehinderung und eines Grades der Behinderung von 70.
Das Landessozialgericht Essen gab ihr recht. Zwar sei die Ursache ihrer Sehstörung unklar, es liege kein medizinischer Befund darüber vor. Das Krankheitsbild ziehe sich aber „konsistent und widerspruchsfrei“ durch ihre Biografie, lautete die Begründung der Essener Richter. Doch das Bundessozialgericht hob dieses Urteil nun auf und verwies das Verfahren an das Landessozialgericht zurück.
Die maßgebliche Versorgungsmedizin-Verordnung schreibe zwingend den objektiven Nachweis eines organischen Befundes für angegebene Sehstörungen vor, wenn damit ein Grad der Behinderung begründet werden soll, hieß es. Eine jahrelang „gelebte Sehstörung“ ohne nachgewiesenen Befund könne keinen Grad der Behinderung begründen, befand das Gericht. Das Landessozialgericht müsse daher jetzt prüfen, ob sich die Sehstörungen der Klägerin „psychisch-neurologisch“ oder mit einem anderen Befund erklären lassen. Sei das nicht möglich, gehe das zulasten der Klägerin.
Az.: B 9 SB 4/21 R
Erfurt (epd). Ein betrieblicher Datenschutzbeauftragter genießt zur Wahrung seiner Unabhängigkeit einen Sonderkündigungsschutz. Es verstößt weder gegen EU-Recht noch gegen die im Grundgesetz verankerte Berufsfreiheit, wenn Arbeitgeber einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten nach dem Gesetz nicht ordentlich kündigen können, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am 22. Oktober veröffentlichten Urteil.
Die Klägerin war seit 15. Januar 2018 als „Teamleiter Recht“ in einem Unternehmen angestellt. Zwei Wochen nach Beschäftigungsbeginn wurde sie zur betrieblichen Datenschutzbeauftragten bestellt. Nach dem Bundesdatenschutzgesetz müssen Unternehmen einen Datenschutzbeauftragten vorweisen, wenn sich in der Regel mindestens 20 Personen ständig mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten beschäftigen. Arbeitgeber können diese Aufgabe einem internen oder externen Datenschutzbeauftragten übertragen.
Der Klägerin wurde wegen „Umstrukturierungsmaßnahmen“ im Juli 2018 ordentlich gekündigt. Ohne Erfolg verwies die Klägerin darauf, dass sie als betriebliche Datenschutzbeauftragte einen gesetzlichen Sonderkündigungsschutz genieße.
Das BAG legte das Verfahren dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vor. Der EuGH betonte, dass EU-Recht zwar nur ein Abberufungs- und Benachteiligungsverbot des Datenschutzbeauftragten „wegen der Erfüllung seiner Aufgaben“ vorsehe. Es stehe aber jedem EU-Mitgliedstaat frei, strengere Vorschriften für die arbeitgeberseitige Kündigung eines Datenschutzbeauftragten festzulegen, um so dessen Unabhängigkeit zu wahren.
Daraufhin urteilten die obersten Arbeitsrichter in Erfurt, dass im Streitfall die ordentliche Kündigung unwirksam sei. Ähnlich wie Betriebsratsmitglieder hätten betriebliche Datenschutzbeauftragte nach dem Bundesdatenschutzgesetz einen Sonderkündigungsschutz. Denn „durch den Sonderkündigungsschutz wird der Datenschutzbeauftragte vor einem Arbeitsplatzverlust bewahrt, der ihm - und sei es in ver-schleierter Form - wegen der Ausübung seiner Tätigkeit drohen kann“. Es solle die Unabhängigkeit im Interesse eines effektiven Datenschutzes gestärkt werden.
Möglich sei aber eine außerordentliche Kündigung, etwa wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer wegen des Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit noch für Jahre vergüten müsste. Schließlich sei der Arbeitgeber auch nicht gezwungen, einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten zu bestellen. Er könne ebenfalls eine externe Person damit beauftragen, so das BAG.
Az.: 2 AZR 225/20
Rostock (epd). Gegen Corona ungeimpfte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können bei der Verweigerung erforderlicher Coronatests nach Hause geschickt werden. Der Arbeitgeber ist dann nicht verpflichtet, während der Freistellung weiter Lohn zu zahlen, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern in Rostock in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 14. September.
Geklagt hatte ein Beschäftigter eines Sanitätshauses im Raum Stralsund. Zu den Arbeitsaufgaben des Mannes gehörte die Betreuung von Kunden in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Da er nicht gegen das Coronavirus geimpft war, verlangte der Arbeitgeber tägliche Coronatests. Dies werde nach der „3G-Regel“ von den Einrichtungen für den Zutritt verlangt. Die Kosten für die Tests wollte der Arbeitgeber tragen.
Doch der Beschäftigte lehnte es ab, sich testen zu lassen. Daraufhin stellte der Arbeitgeber ihn von September bis Dezember 2021 von der Arbeit frei. Lohn wurde nicht gezahlt. Der Arbeitnehmer zog daraufhin vor Gericht. Er wolle ja arbeiten, sich aber nicht testen lassen.
Doch auf den Lohn hat er keinen Anspruch, urteilte das LAG. Der Arbeitnehmer habe sich „selbstverantwortlich“ gegen die Tests entschieden. Er habe gewusst, dass er ohne die Tests nicht Krankenhäuser und Heime betreten dürfe. Damit habe er seine arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben können. Die Tests seien ihm zumutbar gewesen, und der Arbeitgeber habe ihm auch nicht andere Aufgaben zuzuweisen müssen, für die keine Coronatests erforderlich sind, urteilten die Rostocker Richter.
Az.: 3 Sa 46/22
Mainz (epd). Das Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers gegenüber Kolleginnen und Kollegen oder gar Vorgesetzten können eine Kündigung begründen. Dies gilt erst recht, wenn der Beschäftigte bereits in der Vergangenheit wegen sexistischen Verhaltens abgemahnt wurde, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in einem am 28. Oktober versendeten Urteil. Sei keine Verhaltensänderung für die Zukunft ersichtlich, ist eine Kündigung auch bei langer Beschäftigungsdauer und hohem Alter des Arbeitnehmers möglich.
Der Kläger war seit über 31 Jahren in einer Eisengießerei beschäftigt und ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Der heute 60-Jährige hatte in den letzten Jahren insgesamt sechs Abmahnungen angesammelt, darunter eine Abmahnung wegen sexistischen Verhaltens gegenüber einer Kollegin.
Als es 2021 zu zwei weiteren beleidigenden Vorfällen kam, bei denen der Beschäftigte zwei Kollegen, darunter einen Vorgesetzten, den ausgestreckten Mittelfinger zeigte, kündigte der Arbeitgeber den Kläger ordentlich.
Zu Recht, befand das LAG. Dem Arbeitgeber sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten. Grobe Beleidigungen insbesondere gegenüber Vorgesetzten und damit Repräsentanten des Arbeitgebers stellten eine erhebliche Pflicht- und Ehrverletzung dar, die sogar eine fristlose Kündigung begründen könnten. Der ausgestreckte Mittelfinger sei eine „grobe Beleidigung“. Mit der Beleidigung eines direkten Vorgesetzten habe der Kläger die Autorität des Arbeitgebers untergraben.
Der Kläger habe sich zwar damit verteidigt, dass er von den Kollegen als „Jude“ bezeichnet und so provoziert worden sei. Dies sei aber nicht belegt, so das LAG. Vielmehr habe der Kläger in einem Fall den Mittelfinger gezeigt, weil er sich über die Arbeit geärgert und seinen Arbeitsplatz dann verlassen habe.
Hinzu komme, dass der Beschäftigte bereits wegen sexistischen Verhaltens gegenüber einer Arbeitskollegin abgemahnt wurde. Dass mit einer weiteren Abmahnung der Kläger sein Verhalten künftig ändere, sei daher nicht zu erwarten.
Az.: 5 Sa 458/21
Stuttgart (epd). Lobende Wort gab es viele für den scheidenden Rainer Brockhoff. Und eine Ehrung: Steffen Feldmann, Finanz- und Personalvorstand des Deutschen Caritasverbandes, verlieh ihm die Dankmedaille des katholischen Wohlfahrtsverbandes.
Birgit Schaer, Vorständin des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg, bezeichnete Brockhoff als „Grandseigneur der Caritas“ mit großer persönlicher Autorität. Ihm sei wichtig gewesen, die christliche Werteorientierung weiterzugeben.
In Münster in Westfalen geboren, absolvierte Brockhoff eine Lehre als Bankkaufmann und promovierte nach dem Studium in Münster und Freiburg zum Volkswirt. Seit 1989 ist er beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart, seit 2001 führt er die Geschäfte als Diözesancaritasdirektor und geschäftsführender Vorstand.
Bundesweite Anerkennung erwarb sich Brockhoff als Sprecher und Verhandlungsführer der Arbeitgeber in der Arbeitsrechtlichen Kommission. Der Ruheständler will sich weiterhin im Bündnis „Sozialpartnerschaft neu denken“ als auch als Vorsitzender der Caritaskommission Ökonomie ehrenamtlich engagieren.
Brockhoff übergab den von ihm verantworteten Vorstandsbereich Unternehmenspolitik, Ressourcensteuerung und IT bereits Ende August an seinen Nachfolger Matthias Fenger, der zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden Oliver Merkelbach sowie Annette Holuscha-Uhlenbrock den Verband leitet.
Martin Reutter wird im Januar den Posten des Geschäftsführenden Vorstands des Diakonischen Werks Ansbach antreten. Reutter ist gegenwärtig Persönlicher Referent der Ansbach-Würzburger Regionalbischöfin Gisela Bornowski. Das Werk hat damit innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal einen neuen Geschäftsführer. Im Juli hatte die Diakonie Thomas Merkel, zum damaligen Zeitpunkt Leiter der Abteilung für Wirtschaftsförderung und Regionalentwicklung im Landratsamt Ansbach, zum Geschäftsführer gewählt. Der zog seine Zusage wieder zurück. Reutter war im Dekanatsbezirk Ansbach bereits stellvertretender Geschäftsführer des Diakonischen Werks und als Dekan von Feuchtwangen Vorsitzender der dortigen Diakonie.
Leonhard Stärk scheidet damit zum Jahresende 2022 als Landesgeschäftsführer des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) aus. Stärk (63) ist seit 20 Jahren in leitender Tätigkeit im BRK tätig, davon fünf Jahre als Geschäftsführer des Blutspendedienstes und 15 Jahre in der Funktion des Landesgeschäftsführers. BRK-Präsidentin Angelika Schorer sagte, Stärk, habe sich in seiner Amtszeit auf besondere Weise um das Bayerische Rote Kreuz verdient gemacht. „Für sein jahrelanges Wirken im und um das Bayerische Rote Kreuz danken wir ihm.“
Peter Gleue ist neuer Aufsichtsratsvorsitzender der Diakonie München und Oberbayern. Der 68-jährige Bankkaufmann und Diplom-Kaufmann ist seit 2009 Mitglied im Aufsichtsrat der Diakonie München und seit 2015 stellvertretender Vorsitzender. Nach dem Rücktritt des ersten Vorsitzenden Andreas Bornmüller Ende September habe Gleue das Gremium bereits kommissarisch geleitet, hieß es weiter. Der 58-jährige Bornmüller hatte sein Amt niedergelegt, weil es bei der internen Aufklärung eines Falls von Grenzüberschreitung zu Fehlern gekommen war. Neue stellvertretende Vorsitzende ist Isabel Gocke. Die 54-Jährige ist seit 2021 Mitglied im Aufsichtsrat. Die Diakonie München und Oberbayern ist nach eigenen Angaben mit mehr als 5.000 hauptamtlichen und rund 2.500 ehrenamtlichen Mitarbeitenden der größte diakonische Träger in Oberbayern.
Stefan Heinze (52) ist seit 1. Oktober neuer Geschäftsführer des Diakonischen Werks der Landeskirche Schaumburg-Lippe. Er folgt Günter Hartung (66), der nach rund zwölf Jahren in dieser Tätigkeit im Januar in den Ruhestand verabschiedet wird. Heinze studierte an der Ev. Fachhochschule Hannover Religionspädagogik. Von 2008 bis 2016 war Heinze mit halber Stelle Pressesprecher der Regionalbischöfin in Hannover und zunächst selbständiger Kommunikationswirt. Ab 2012 nahm er seine Tätigkeit als Fundraiser in der Diakonischen Werk Hannover gGmbH auf. 2016 folgte zusätzlich die Übernahme der Geschäftsführung der edelKreis Hannover gGmbH in Trägerschaft des Fördervereins des Diakonischen Werks Hannover e.V..
Rudolf Weth, langjähriger Direktor des Neukirchener Erziehungsvereins und der Neukirchener Verlagsgesellschaft, ist tot. Er starb am 30. Oktober im Alter von 85 Jahren, wie der Erziehungsverein mitteilte. Der promovierte Theologe stand von 1973 bis 2003 an der Spitze des diakonischen Trägers und des Verlages. In seiner Zeit wuchs der Erziehungsverein von einem kleinen Träger der Heimerziehung zu einer der größten diakonischen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen. In zehn Bundesländern betreuen 2.400 Beschäftigte rund 3.900 Kinder und Jugendliche sowie pflegebedürftige alte Menschen und Menschen mit Behinderung in stationären Einrichtungen, Schulen und mit ambulanten Hilfeangeboten. Ein Berufskolleg für angehende Erzieher und eine Ausbildungsstätte für Diakone gehören ebenso dazu wie eine Fortbildungsakademie. Die Verlagsgesellschaft ist vor allem durch den Neukirchener Kalender bekannt.
Meta Hiltebrand, Schweizer Starköchin, kocht für die Kinder des christlichen Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“. Den Kindern soll praktische Ernährungskompetenz vermittelt werden. Dazu wurden mit der Schweizerin Meta Hiltebrand, die durch Auftritte in zahlreichen Fernsehsendungen große Bekanntheit erlangte, verschiedene Kochvideos erstellt. Die Videos sollen Kinder und Jugendliche mit leicht verständlichen Anleitungen zum Nachkochen animieren. Sie werden über die Sozialen Medien veröffentlicht. Die Kochvideos werden außerdem über die „Virtuelle Arche“, die während der Corona-Pandemie ins Leben gerufen wurde, zur Verfügung gestellt, damit sie mit Familien die kostengünstigen, aber auch gesunden Rezepte nachkochen können.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.
21.11. Filderstadt:
Fortbildung „Rechtliche Grundlagen in der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/488 37-495
22.11.:
Online-Seminar „Leichter als gedacht: Fördermittel einwerben & nachhaltige Finanzierung finden“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10
22.-23.11.:
Online-Seminar: „Datenschutzmanagementsysteme in sozialen Einrichtungen“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/2001700
28.-29.11. Berlin:
Fortbildung „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495
29.11. Berlin:
Seminar „Steuer-Update für Non-Profit-Organisationen“
der Unternehmensberatung Solidaris
Tel.: 02203/8997-221
29.-30.11. Netphen:
Seminar „... und die Jugendlichen, die zu uns kommen, werden immer schwieriger“
Tel.: 030 26309-139
30.11.:
Online-Seminar „Der 'Worst Case'-Fall - anzeigepflichtige Straftaten und Suizidankündigung in der Online-Beratung“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
Dezember
6.12.:
Online-Vortragsveranstaltung „Strategieimpuls Management - Branchenleitfaden Nachhaltigkeitsbericht“
Tel.: 0221/97356-790