Limburg (epd). Das Händewaschen würde Natalie am liebsten überspringen, wenn sie am Nachmittag aus der Schule kommt. Etwas widerwillig lässt sich die Achtjährige von Vater Florian Wiegand an den Händen ins Badezimmer führen. „Das machen wir jeden Tag so. Routinen sind wichtig“, erklärt der Familienvater aus Limburg. Ungeduldig robbt Natalie auf den Fliesen hin und her. Ihr Ziel: das Tablet in ihrem Kinderzimmer nebenan. „Das Wichtigste ist gut funktionierendes W-LAN. Also eigentlich wie bei jedem Kind“, sagt Wiegand und lacht.
Natalie, von ihrer Familie liebevoll „Nati“ genannt, wurde 2014 geboren. Die Schwangerschaft verlief normal. Auch bei der Geburt gab es keine Komplikationen, wie Wiegand erzählt, während er Videos von damals zeigt. Etwa zwölf Stunden nach der Geburt ging es los. Das Baby hatte erhöhte Temperatur, nichts half dagegen. Irgendetwas stimme mit ihrem Herzen nicht, so die erste Diagnose. Nach zwei, drei Tagen kamen noch mehr „Baustellen“ ans Licht, wie Wiegand sagt. Er muss schlucken: „Am dritten Tag wäre sie fast gestorben.“
Natalie leidet neben einem Herzfehler an Syndromalen Grunderkrankungen. Diese umfassen eine Vielzahl seltener Erkrankungen, die häufig mit einer geistigen Behinderung einhergehen. Natalie kann nicht laufen, nicht sprechen, reagiert nur auf einige Zeichen. Die funktionieren bei Vater und Tochter reibungslos. Als Natalie später an ihrem Tablet spielt, schiebt Vater Wiegand seine Handinnenflächen zusammen. „Das heißt 'Pause'“, erklärt der Tierarzt.
Mehr als 6.500 Kinder werden in Deutschland pro Jahr mit einem Herzfehler geboren. Somit ist fast jedes 100. Neugeborene betroffen, wie es auf der Internetseite des Herzzentrums der Universität Göttingen steht. Laut der Deutschen Herzstiftung sind es sogar jährlich 8.700 Kinder. Die Ursachen für die Fehlbildungen des Herzens sind zahlreich. Sowohl Umwelteinflüsse als auch genetische Faktoren sind relevant.
Einige Herzfehler wie zum Beispiel kleine Löcher lassen sich gut in den Griff kriegen, wie der Chefarzt des Kinderherzzentrums an der Uniklinik Gießen, Christian Jux, erklärt. Dann gebe es aber auch die komplexeren Krankheitsbilder, wenn etwa nur eine Herzhälfte vorhanden ist. Oder wenn, wie bei Natalie, eine Reihe anderer Symptome auftauchen.
Familie Wiegand hat sich mit der Situation abgefunden. Der Weg dorthin hat jedoch gedauert. „Du wirst einfach in die Situation reingeworfen“, erinnert sich der Vater. Anfangs habe er gedacht: „Warum kann das nicht sein wie beim Nintendo spielen: einfach Neustart drücken? Aber das Leben muss weitergehen“, fügt er nachdenklich hinzu.
Das gilt auch für die größere Schwester, Jasmin. Die Zwölfjährige kommt etwas später aus der Schule und macht es sich auf einem der Holzbalken im Wohnzimmer gemütlich. „Eigentlich ist unser Alltag ganz normal“, erzählt die Schülerin. „Nati und ich spielen viel miteinander und machen ziemlich viel Krach“, erzählt sie und grinst. Man merke schon, dass etwas anders ist, doch ausgegrenzt fühle sie sich nie, betont der Teenager. „Ich finde unsere Familie ziemlich besonders“, sagt sie.
Neben der familiären Unterstützung hat den Wiegands gerade in der Anfangszeit „Kinderherzen heilen“ geholfen. Der Gießener Verein organisiert zum Beispiel Familienfreizeiten und Resilienz-Seminare für betroffene Familien. Außerdem haben die Ehrenamtlichen dafür gesorgt, dass die Uniklinik Gießen eine Psychologin ausschließlich für das Kinderherzzentrum eingestellt hat, wie die Vorsitzende Dorota Dobler berichtet. Allerdings nur mit einer halben Stelle. Und schon das sei ein „langer Kampf“ gewesen.
Die psychologische Betreuung für betroffene Kinder und Familien komme zu kurz, moniert Dobler, die selbst ein herzkrankes Kind hat. Die Ärzte und Krankenschwestern hätten keine Zeit, sich mit den Patienten zu beschäftigen. „Und hier geht es nicht um eine Blinddarm-OP. Sondern um Leben und Tod eines Kindes“, ärgert sich die 48-Jährige, die sich seit mehr als zehn Jahren im Verein engagiert.
„Das kann ich nur unterstreichen“, sagt der Gießener Chefarzt Jux. Auch sein Team und er würden sich mehr psychologische Unterstützungen für die Patienten wünschen.
Auch die vielen Anträge seien eine Herausforderung, erzählt Wiegand: „Ich dachte immer, die Krankenkassen müssen doch Verständnis dafür haben, dass es hier um mein Kind geht. Aber das sind am Ende auch nur Behörden und alles dauert ewig lang.“
Im Moment ist Natalies Gesundheitszustand stabil. Dabei hatten die Ärzte damit gerechnet, sie mit fünf Jahren noch einmal operieren zu müssen. So sehr er sich mit dem Schicksal versöhnt habe, bleibe die Unsicherheit doch Teil ihres Lebens, sagt Wiegand.