sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

76 Prozent der 3,4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause von Angehörigen oder Pflegediensten versorgt. Oft unter sehr belastenden Umständen. Auch an Hilfen der Pflegekassen zu kommen, ist alles andere als einfach. Das will der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung ändern und den in der ambulanten Pflege existierenden "Leistungsdschungel" lichten. Pflegebedürftige finden zwar auf dem Markt längst eine Vielzahl nützlicher Helfer für ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden. Doch die digitalen Helfer werden nach Angaben von Verbraucherschützern so gut wie nie von den Pflegekassen bezahlt. Sie fordern neue Gesetze.

Esther Klees, Professorin für Soziale Arbeit, gilt als führende Expertin auf einem bislang öffentlich wenig beachteten Gebiet des sexuellen Missbrauchs: Übergriffe unter Geschwistern. Im Interview spricht sie über Lücken in der Forschung, Tabus und Scham der Eltern sowie über den Hang zum Bagatellisieren dieser Übergriffe durch pädagogisches Fachpersonal.

Die Zahlen sind eindeutig: Immer mehr Senioren sind im Internet unterwegs, chatten, machen Spiele, sehen Filme oder senden E-Mails. Doch eine Gruppe von ihnen ist von all diesen Möglichkeiten oft abgeschnitten - die Heimbewohner. Denn die allermeisten Pflegeeinrichtungen bieten kein WLAN an. Experten sagen, es dürfe nicht sein, dass für Heimbewohner die Tür zur Onlinewelt geschlossen bleibe.

Braucht es vor einem Schwangerschaftsabbruch einer Minderjährigen die Zustimmung der Eltern? Nein, unter bestimmten Bedingungen nicht, hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden. Erlaubt ist der Eingriff im Einzelfall aber nur dann, wenn minderjährige Schwangere die Tragweite ihres Handelns wirklich erfassen können. Ärzte bewegen sich hier auf strafrechtlich dünnem Eis.

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Dirk Baas




sozial-Thema

Häusliche Pflege

Westerfellhaus will "Leistungsdschungel" lichten




Hilfen bei der der häuslichen Pflege sollen leichter zu beantragen sein.
epd-bild/Jörn Neumann
Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung will nicht länger hinnehmen, dass viele ambulant versorgte Pflegebedürftige und ihre Angehörigen auf Leistungen verzichten, weil sie den Dschungel der Bürokratie nicht durchdringen können.

Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, will der Unübersichtlichkeit bei Leistungen für die häusliche Pflege den Kampf ansagen. Einem am 12. Februar in Berlin veröffentlichten Papier des Bevollmächtigten zufolge sollte es künftig zwei Budgets geben, ein Pflege- und ein Entlastungsbudget. Westerfellhaus sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), Pflegebedürftige müssten leichter an die Leistungen der Pflegeversicherung kommen und sie flexibler einsetzen können.

Viele verzichteten heute auf Unterstützung, die ihnen zustehe, sagte Westerfellhaus: "Sie geben in dem Dschungel einfach auf." Die Angehörigen hätten nicht die Kraft, sich auch noch in die Pflege-Bürokratie zu vertiefen: "Betreuungsleistungen, Sachleistungen, Verhinderungspflege, Tagespflege, Nachtpflege - das sind unter Umständen mehr als 20 Anträge. Das ist viel zu kompliziert", kritisierte Westerfellhaus.

Mögliche Einzelleistungen in Budget bündeln

Ambulant versorgte Pflegebedürftige haben Anspruch auf zahlreiche, teils kombinierbare Einzelleistungen. Diese bisherigen Beträge für Kurzzeit, Tages- und Nachtpflege sollen Westerfellhaus zufolge künftig in einem Entlastungsbudget zusammengefasst werden, das sich an die Angehörigen richtet. Die Leistungen sind dafür gedacht, die Pflege sicherzustellen, wenn die Angehörigen nicht da sein können oder Entlastung brauchen.

In einem monatlichen Pflegebudget sollen die Pflegesachleistungen beziehungsweise das Pflegegeld, 125 Euro im Monat für Unterstützung bei der Betreuung (Entlastungsbetrag) und 40 Euro für Hilfsmittel zusammengefasst werden. Nicht ausgeschöpfte Beträge aus dem Pflegebudget sollen zu 50 Prozent ausbezahlt werden. Den Familien solle außerdem ein unabhängiger Berater zur Seite stehen, wenn sie das wollten, sagte Westerfellhaus.

Hoffnung, dass Minister Spahn den Plan aufgreift

Der Bevollmächtigte hofft, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seinen Vorstoß im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung aufgreifen wird. Spahn hat angekündigt, in der ersten Jahreshälfte Vorschläge zur künftigen Finanzierung der Pflegeversicherung zu machen. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Entlastungsleistungen für Angehörige in einem Budget zusammenzufassen.

Sozialverbände begrüßten Westerfellhaus' Vorstoß. VdK-Präsidentin Verena Bentele: "Menschen, die zu Hause gepflegt werden, fühlen sich oft wie im Dschungel. Keiner blickt mehr durch. Die Bürokratie überfordert die Menschen", sagte Bentele. Viele beantragten bestimmte Leistungen erst gar nicht: "Mit dem neuen Konzept des Pflegebeauftragten würde sich der Bürokratiedschungel lichten. Die häusliche Pflege könnte so einfacher und flexibler werden. Das wäre ein Fortschritt für die 1,77 Millionen Pflegebedürftigen in unserem Land, die zu Hause gepflegt werden."

Kurzzeitpflege lohnt sich für Heime nicht

Kurzzeitpflegeplätze etwa lohnten sich für die Heimträger nicht, weil sie nicht ausreichend vergütet würden, erklärte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege.

In Deutschland werden nach Angaben der Bundesregierung knapp drei Millionen Menschen zu Hause gepflegt. Zahlreichen Studien zufolge leiden die Angehörigen unter den hohen Belastungen. Mehr als die Hälfte wünschen sich dem Barmer-Pflegereport 2018 zufolge weniger Bürokratie, feste Ansprechpartner und mehr Aufklärung über die Leistungen, die ihnen zustehen.

Die Techniker Krankenkasse veröffentlichte in Hamburg Zahlen, wonach der monatliche Entlastungsbetrag von 125 Euro nur von jedem zweiten Pflegebedürftigen in Anspruch genommen wird. Das Geld kann beispielsweise für Haushaltshilfen, einen Hausnotruf oder Betreuung ausgegeben werden.

Bettina Markmeyer


Häusliche Pflege

Digitale Helfer für daheim kaum erstattungsfähig



Für Pflegebedürftige hält der Markt inzwischen eine Vielzahl digitaler Hilfsmittel bereit. Von den Kassen bezahlt werden diese bisher aber so gut wie nie. Dabei könnten damit sogar Kosten eingespart werden, sagen Verbraucherschützer.

Ortungssysteme für Demenzkranke, Sturzerkennungen für Senioren und Abschalteinrichtungen für den Herd: Pflegebedürftige finden auf dem Markt eine Vielzahl nützlicher Helfer für ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden. Doch die digitalen Helfer werden nach Angaben von Verbraucherschützern bisher so gut wie nie von den Pflegekassen bezahlt. Verbraucherschützer und Experten fordern deshalb gesetzliche Änderungen im Sozialgesetzbuch. Ähnlich äußerten sich auch die Grünen.

Vorstand Klaus Müller vom Verbraucherzentrale Bundesverband sagte am 12. Februar in Berlin, Hilfsmittel wie Uhren mit Ortungsfunktion, digitale Erinnerungsgeräte zur Medikamenteneinnahme und Fußmatten mit akustischem Signal zur Sturzerkennung würden bisher von den Pflegekassen nicht finanziert. Bei solchen Assistenzsystemen handele es sich jedoch nicht um "technisches Spielzeug, sondern kleine Helfer mit großer Wirkung". Sie unterstützen Pflegebedürftige dabei, möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden zu führen.

Kassen sollten Pflege daheim vorrangig ermöglichen

Die Kassen hätten den Auftrag, die häusliche Pflege vorrangig zu ermöglichen. Daher dürfe die Digitalisierung "nicht an der Pflege vorübergehen", mahnte Müller. Umfragen hätten eine große Aufgeschlossenheit in der Bevölkerung für digitale Assistenten in der Pflege belegt. Deren Potenziale würden bisher aber nur unzureichend genutzt. "Wenn digitale Pflegehelfer den Umzug in ein Pflegeheim hinauszögern oder gar verhindern, bedeutet das eine deutliche finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen", sagte Müller.

Nach seinen Worten kommt ein aktuelles Rechtsgutachten im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes zu dem Schluss, dass die digitalen Assistenzsysteme bislang kaum erstattungsfähig sind, weil sie nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sind. Die Kassen dürften sie nicht bezahlen.

Anwalt fordert Änderungen in der Gesetzgebung

Nötig seien deswegen Änderungen in den Sozialgesetzbüchern (SGB) V und XI durch den Gesetzgeber, zumal sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag darauf verständigt habe, die pflegerische Versorgung durch digitale Technologien zu verbessern. Das Thema Kostenerstattung sei die Bundesregierung allerdings bisher nicht angegangen.

Rechtsanwalt Christian Dierks, der das Gutachten erstellt hat, schlug konkrete Neufassungen der Sozialgesetzbücher vor. Abgehoben werden müsse dabei auf den "pflegerischen Nutzen" der jeweiligen Hilfsmittel. Dierks hatte sechs Kategorien von Helfern untersucht, vom Wendebett über Ortungssysteme mit integriertem Notruf, Sturzerkennungssysteme und Abschaltsysteme für Haushaltgeräte und Herd bis hin zu digitalen Anwendungen zur Verbesserung körperlicher und kognitiver Fähigkeiten sowie digitalen Remindern für Essen und Trinken. Außer Hausnotruf und Wendebett dürfe davon bisher nichts von den Pflegekassen erstattet werden.

Daher, so Dierks, müsse der Gesetzgeber handeln: "Es geht nicht darum, Lifestyle- oder Smart-Home-Produkte zum Leistungskatalog der Kassen zu machen, sondern den Betroffenen dabei zu helfen, ein möglichst eigenständiges Leben zu führen."

Bewährte Hilfssysteme auch erstatten

Maria Klein-Schmeink, Sprecherin der Grünen für Gesundheitspolitik, forderte eine öffentliche Debatte darüber, "nach welchen Werten und Zielen die Digitalisierung der Pflege gestaltet werden soll, denn die Digitalisierung muss nach den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer gestaltet werden und darf kein Selbstzweck sein". Active-Assisted-Living Systeme wie Hausnotrufsysteme könnten einen echten Mehrwert bringen und ein würdiges Altern Zuhause ermöglichen. "Wenn die Systeme einen Nutzen nachweisen und Datensicherheit und Datenschutz gewährleisten, ist es nur konsequent, wenn sie auch von den Kranken- und Pflegeversicherungen übernommen werden können", so die Expertin.

Nach Angaben des des Verbraucherzentrale Bundesverbandes werden 76 Prozent der 3,4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause von Angehörigen oder Pflegediensten versorgt.

Jens Büttner


Häusliche Pflege

Warum vor allem Frauen die Lasten tragen




Tanja Mühling
epd-bild/ Pat Christ
Tanja Mühling forscht über Geschlechterrollen in der Pflege. Bestehende Normen bestehen nach ihren Angaben noch immer fort, auch wenn sich im Mann-Frau-Verhältnis viel verändert habe. Und: Frauen übernehmen auch deshalb viel öfter die Pflege, weil die Familie auf ihren oft geringeren Verdienst leichter verzichten kann, sagt die Professorin.

Über die Arbeit im Haushalt kommt es in Familien immer mal wieder zu Querelen: Wer putzt? Wer macht die Wäsche? Frauen sehen es längst nicht mehr ein, die Hausarbeit neben ihrem Job alleine zu stemmen. Anders verhält es sich, wenn Eltern pflegebedürftig werden: In den meisten Fälle pflegen dann die Töchter oder Schwiegertöchter, sagt Familien- und Geschlechterforscherin Tanja Mühling im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die 47-Jährige befasst sich an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt mit dieser Thematik. Die Fragen stellte Pat Christ.

epd sozial: Vor allem Frauen sehen es als ihre Pflicht an, Eltern oder Schwiegereltern zu Hause zu pflegen. Warum ist das so?

Tanja Mühling: Wir haben nach wie vor Geschlechternormen, auch wenn sich in den letzten 30 Jahren einiges getan hat. Beim Thema "Pflege" spielt mit hinein, wie man selbst aufgewachsen ist. Frauen haben erlebt, dass es vor allem die Mütter waren, die sich als Kind um sie gekümmert haben. Auch haben sie beobachtet, dass ihre Mütter und Großmütter für pflegebedürftige Groß- oder Urgroßeltern gesorgt haben. Solche Vorbildfunktionen wirken stark nach. Hinzu kommt, dass Frauen aufgrund ihrer Berufswahl meist weniger verdienen als ihr Partner. Frauen übernehmen auch deshalb viel öfter die Pflege, weil die Familie auf ihren Verdienst leichter verzichten kann.

epd: Wird denn in den Familien gut überlegt, wer die Pflege übernimmt? Oder wird oft gar nicht lange diskutiert, weil es "klar" ist, dass die Schwester oder Tochter pflegen wird?

Mühling: Teilweise sind das schon rationale Entscheidungen. Da geht es darum, wer näher vor Ort ist oder wer in Teilzeit arbeitet. Anders schaut es aus, wenn sich die Pflegesituation schrittweise entwickelt. Häufig ist es ja so, dass im Laufe der Zeit immer mehr Hilfe geleistet werden muss. Da stellt sich die Frage, wer mit diesen kleinen Unterstützungen beginnt. Und das sind eher die Frauen. Nachdem sie sich schon immer "ein bisschen mehr" gekümmert haben, übernehmen sie später meist die Hauptarbeit, werden die Eltern oder Schwiegereltern richtig pflegebedürftig.

epd: Gibt es einen Unterschied, ob die Familie in einer kleinen Ortschaft oder in einer großen Stadt lebt? Pflegen Frauen in ländlichen Regionen häufiger als Städterinnen?

Mühling: Es gibt bei Einstellungen und Normen nach wie vor einen Stadt-Land-Unterschied. Deswegen werden im ländlichen Raum auch weniger Kinder in Krippen betreut, selbst wenn es dort Krippen gibt. Hinzu kommt, dass die Generationen im ländlichen Raum meist näher beieinander leben. Außerdem gibt es in Städten mehr ambulante und stationäre Angebote für Pflegebedürftige. Von daher wird im ländlichen Raum mehr häuslich gepflegt, und zwar vor allem von Frauen.

epd: Wie viele Stunden investiert eine häuslich pflegende Person im Schnitt am Tag in die Pflege?

Mühling: Die größte Gruppe pflegt im Durchschnitt eine Stunde am Tag. Aber es gibt natürlich auch die häusliche Pflege, die drei, vier oder fünf Stunden täglich umfasst. Interessant ist, was den Aspekt "Zeit" anbelangt, dass auch hier ein Geschlechterunterschied existiert. Männer pflegen nicht nur zu insgesamt niedrigeren Anteilen. Wenn sie pflegen, tun sie das auch mit weniger Stunden. Sie schauen zum Beispiel auf dem Heimweg von der Arbeit bei einem pflegebedürftigen Elternteil vorbei und übernehmen ein paar Aufgaben. Frauen pflegen im Vergleich deutlich umfangreicher.

epd: Kann sich häusliche Pflege negativ auf die Partnerschaft auswirken?

Mühling: Eindeutig ja! Wobei es natürlich nicht zwangsläufig so sein muss. Ob dies passiert, hängt zum Beispiel davon ab, ob man sich gemeinsam entschieden hat, das "Projekt" Pflege in Angriff zu nehmen - auch wenn am Ende in erster Linie die Frau pflegt. Anders ist es, wenn die Frau alleine die Entscheidung trifft. Zum Beispiel, weil sie sagt, dass sie ihre Eltern einfach nicht in ein Heim geben kann. Wenn dadurch keine gemeinsame Freizeit, keine gemeinsamen Wochenenden und kein gemeinsamer Urlaub mehr möglich sind, kann dies für eine Partnerschaft sehr belastend sein.

epd: Viele Pflegende sagen, dass sie keine Freunde mehr treffen und keinen Hobbys mehr nachgehen können, weil Beruf und Pflege zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Macht das auf Dauer nicht krank?

Mühling: Ja, das ist so, deshalb brauchen wir auch dringend mehr Hilfen und Angebote wie Tages- und Kurzzeitpflege. Die Tagespflege erleben Angehörige, die sich auf dieses Angebot einlassen, als sehr hilfreich, denn hier haben sie nicht das Gefühl, den Pflegebedürftigen "abzuschieben". Man kann allerdings auch beobachten, dass es Frauen gibt, die jahrzehntelang häuslich pflegen und das offenbar auch ganz gut aushalten. Viele von ihnen sagen, dass ihnen die Pflege eine Menge gibt. Sie haben das Gefühl, etwas Sinnvolles und Richtiges zu tun.

epd: Was kann es denn in monetärer Hinsicht bedeuten, häusliche Pflege zu leisten? Besteht die Gefahr von Altersarmut?

Mühling: Ja, das ist so. Noch haben wir in Deutschland im internationalen Vergleich eine relativ niedrige Altersarmut, aber das verändert sich gerade. In der nächsten Generation, die in Rente geht, werden viele Frauen von Altersarmut betroffen sein, weil sie in ihrer Erwerbsbiografie oft lange Ausfallzeiten haben. Sie haben zuerst für ihre Kinder gesorgt, dann womöglich die Schwiegereltern gepflegt und danach die eigenen Eltern. Ganz schwierig wird es, wenn in den Phasen dazwischen nur auf Minijobbasis gearbeitet wurde. Ich appelliere deshalb seit Jahren an Frauen, unbedingt sozialversicherungspflichtig erwerbstätig zu sein. Auch neben der Pflege.




sozial-Politik

Pflege

Schlechte Arbeitsbedingungen verschärfen den Notstand




Oft nur von kurzer Planungsdauer: der Dienstplan für Pflegekräfte
epd-bild/Werner Krüper
Nur jede fünfte Pflegekraft kann sich vorstellen, bis zum Renteneintrittsalter im Job durchzuhalten. Experten fordern ein Umdenken der Arbeitgeber - vor allem mit Blick auf die Gesundheitserhaltung der Beschäftigten.

Sie kümmern sich hauptberuflich um die Pflege alter und kranker Menschen - und werden dadurch immer häufiger selbst krank. "Pflegefall Pflegebranche?" fragte die Techniker Krankenkasse (TK) in ihrem Gesundheitsreport 2019. "Arbeitnehmer in Pflegeberufen sind überdurchschnittlich oft krank", fasst Nicole Ramcke von der TK in Hamburg zusammen: "Sie leiden doppelt so häufig an psychischen Beschwerden und Erkrankungen des Bewegungsapparates, also etwa Rückenbeschwerden." Und sie nehmen 60 Prozent mehr Magenmedikamente als die Durchschnittsbevölkerung.

Hohes Verschreibungsvolumen

Für den Gesundheitsreport wertete die Kasse die Daten von rund 5,2 Millionen versicherungspflichtigen Mitgliedern aus, darunter etwa 146.000 Arbeitnehmern in Pflegeberufen. "Wie es zu diesem hohen Verschreibungsvolumen bei Magenbeschwerden kommt, können wir den Daten nicht eindeutig entnehmen", sagt Ramcke. Es sei gängige Verordnungspraxis, Schmerztabletten parallel mit Magensäureblockern zu verschreiben, weil Schmerzmedikamente bei längerer Einnahme oft den Magen angriffen. .

Auch andere Studien zeigen, wie sehr sich Pflegende unter Druck fühlen. Nach dem DGB-Index zu Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen aus dem Jahr 2018 sagen 69 Prozent der Beschäftigten in der Alten- und 80 Prozent in der Krankenpflege, dass sie "sehr häufig" oder "häufig" gehetzt arbeiten. Nur 22 Prozent gehen davon aus, unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zum Renteneintrittsalter durchzuhalten. Das ist eine katastrophale Bilanz, denn schon jetzt gibt es nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums 25.000 bis 30.000 unbesetzte Stellen in der Pflegebranche.

Die Gesundheit des Personals

Pflegenotstand ist das Stichwort dafür. "Pflege macht leider den Pflegenden krank. Die Frage ist: Wie kann man den Pflegerinnen und Pflegern helfen, damit sie gesund bleiben und lange in ihrem Beruf arbeiten können?", fragt der TK-Vorstandsvorsitzende Jens Baas. Eine Möglichkeit, Wohlbefinden und Gesundheit der Mitarbeiter zu verbessern, wäre die betriebliche Gesundheitsförderung. Das könnten Rückenschulungen oder Yogakurse sein, Fortbildungen zur Stressbewältigung oder etwa auch ergonomische Büromöbel.

Die TK finanziert zurzeit Modellprojekte, bei denen erforscht wird, wie betriebliche Gesundheitsförderung effizienter werden kann. Beim Projekt PROCARE entwickeln Wissenschaftler an sieben Universitäten ein Präventionsprogramm für Pflegeeinrichtungen, das sich an den Bedürfnissen des Personals orientiert. "Zeitmanagement ist ein wichtiger Punkt", sagt Nicole Ramcke. Die Pflegenden wüssten genau, dass zum Umbetten eines Patienten eigentlich zwei Pfleger nötig seien, um den eigenen Rücken zu schonen. "Aber aus Zeitdruck macht man es dann halt doch schnell allein."

Angebotene Maßnahmen passen oft nicht

"Alle haben ein Interesse daran, dass Pflegende weiter arbeiten können", sagt Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe. "Aber Pflegende haben oft das Gefühl, dass die Maßnahmen nicht ankommen oder nicht das Richtige angeboten wird." So müssten die meisten Kurse wie etwa Stressmanagement an freien Wochenenden wahrgenommen werden und würden manchmal nicht als Arbeitszeit angerechnet. "Zudem erleben wir es ganz oft, dass sich Pflegende zu Kursen anmelden, sogar in ihrer Freizeit, um dann aber kurzfristig wieder von ihren Arbeitgebern abgezogen zu werden, weil Kollegen krank werden und Personallücken gestopft werden müssen."

Die Personalbemessung im deutschen Gesundheitssystem sei schon seit 25 Jahren "grottenschlecht", sagt Knüppel: "Da darf man sich nicht wundern, dass Leute krank werden und sich in die Teilzeit flüchten." Keine andere Branche habe eine so hohe Teilzeitquote wie die Pflegebranche, sagt sie: Sie liege etwa bei 55 bis 75 Prozent. "Das ist ein riesiges Potenzial an Fachkräften. Wenn man alle diese Menschen dazu bewegen würde, nur zwei bis drei Wochenstunden mehr zu arbeiten, wäre schon viel getan."

"Der Fachkräftemangel ist hausgemacht, und nun haben die Träger große Schwierigkeiten, eine Minimalbesetzung beim Personal zu gewährleisten", sagt auch Pflegeexperte Matthias Gruß von der Gewerkschaft ver.di. "Aus diesem Treibsand kommen sie nur schwer wieder raus. Sie müssen erst einmal Anreize und gute Arbeitsbedingungen schaffen, um die Leute zu motivieren."

Bezahlung muss besser werden

Um die Arbeitsplätze wieder attraktiver zu machen, sei zum einen eine bessere und gerechtere Bezahlung nötig. "Es kann nicht sein, dass man in Sachsen-Anhalt für die gleiche Arbeit bei gleicher Qualifizierung fast 1.000 Euro weniger bekommt als etwa in Baden-Württemberg." Dringend nötig sei aber auch eine flächendeckende Tarifregelung auch für private Träger: "Bei einem öffentlichen Träger verdient man als Pflegefachkraft in der höchsten Tarifstufe über 3.500 Euro, bei den privaten ohne Tarif oft kaum mehr als 2.000 Euro."

Um Stress abzubauen und die Pflegenden nicht krank werden zu lassen, sei aber vor allem eine vernünftige Dienstplanung mit genügend Personal wichtig, sagt Gruß: "Man muss einfach mehr Leute einplanen und Springerpools einsetzen. Und man muss verlässliche Arbeitszeiten garantieren. Ausufernde Überstunden und Mitarbeiter aus der Freizeit zu holen, um Lücken zu füllen, geht gar nicht."

Barbara Driessen


Gesundheit

Warum es bei Nebel keine Luftrettung gibt




Rettungshubschrauber "Christoph 2" in Frankfurt am Main
epd-bild/Jochen Günther
Bei schlechter Sicht dürfen Rettungshubschrauber in Deutschland nicht fliegen - in anderen europäischen Ländern schon. Das technische Verfahren, das das ermöglichen würde, ist in Deutschland nicht zugelassen.

Vor kurzem hatte Claudia Derichs wieder mal so einen Fall, bei dem das Warten lebensgefährlich ist: Sie hatte einen Mann nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wiederbelebt, jetzt musste der Patient so schnell wie möglich von der Nordseeinsel Amrum ins Krankenhaus in Flensburg. Aber im dichten Schneetreiben konnte der Rettungshubschrauber auf dem Festland nicht fliegen.

Zwei Tage später starb der Patient

"Wir haben dann einen Seenotkreuzer gerufen. Bis der Mann im Krankenhaus war, dauerte es drei Stunden. Mit dem Hubschrauber wären es 15 Minuten gewesen", berichtet Derichs. Zwei Tage später starb der Patient. "Ob er mit Rettungshubschrauber überlebt hätte, weiß man natürlich nicht", sagt Derichs. Aber wenn ein Patient spätestens 90 Minuten nach einem Infarkt im Krankenhaus ankomme, seien seine Chancen grundsätzlich besser.

Es ist kein Einzelfall, dass der Rettungshubschrauber nicht kommen kann. Nach Schätzungen der DRF Luftrettung in Stuttgart fällt in manchen Regionen Deutschlands jeder zehnte Flug wegen der Witterung aus. "Betroffen sind vor allem Regionen mit viel Wasser - etwa die Halligen oder Gebiete an großen Flüssen", sagt Skadi Stier, Sprecherin der Deutschen Luftrettung in Filderstadt.

Gerade hier müssten Patienten oft auf eine optimale Gesundheitsversorgung verzichten, sagt Florian Reifferscheid von der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands. "Wären Hubschrauber öfter verfügbar, wäre das ein Beitrag dazu, Leben zu retten und schwere körperliche Schäden zu vermeiden."

Nach Ansicht der Luftrettung existiert bereits eine solche Technik, die das ermöglicht: Sie trägt den Namen "Point in Space" (PinS) und wird beispielsweise in Dänemark und Norwegen eingesetzt. Dabei wird in der Luft mit Hilfe eines Satelliten ein virtueller GPS-Punkt gesetzt, den der Pilot dann anfliegen kann. "Dann könnten gerade Patienten mit Herzinfarkten oder Schlaganfällen schneller in ein passendes Klinikum gebracht werden", sagt Stier von der Luftrettung.

Mit "Point Space" durch dichten Nebel

Allerdings darf die Luftrettung in Deutschland die Technik bislang nicht verwenden. Das deutsche Luftraumrecht müsste dafür an eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2012 angepasst werden. Das soll auch geschehen, benötigt aber noch Zeit, wie das Bundesverkehrsministerium auf Anfrage erläuterte. Zwar sei der Bund für die Einrichtung von Flugverfahren wie PinS zuständig. "Der Rettungsdienst liegt aber im Zuständigkeitsbereich der Länder", so eine Sprecherin. "Gerade in diesen Fragen ist aufgrund ihrer detaillierteren Ortskenntnisse eine Beteiligung der Bundesländer erforderlich." Eine Prognose, wie lange es dauern könnte, bis das Verfahren verwendet werden könnte, gibt es vom Ministerium nicht.

"Wir hoffen auf baldige eine Umsetzung durch das Bundesverkehrsministerium. Unsere Arbeit wäre dann sicher einfacher", sagt Luftrettungs-Sprecherin Skadi Stier. Die Organisation würde gerne PinS im Rahmen eines Pilotprojekts im Wattenmeer testen - dort, wo auch Ärztin Claudia Derichs auf Rettungsflüge angewiesen ist. "Wir brauchen eine rechtliche Grundlage für das PinS-Verfahren. Das muss das Bundesverkehrsministerium regeln", sagte Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Bernd Buchholz (FDP).

Claudia Derichs sieht das ähnlich. "Es kann nicht sein, dass es ein Unterschied ist, ob man einen Herzinfarkt im Sommer bekommt oder im Winter bei Nebel", sagt sie.

Sebastian Stoll


Bundesregierung

Regeln für ambulant betreute Beatmungspatienten beschlossen



Das lange umstrittene Gesetz zur Stärkung der ambulanten Versorgung von Beatmungspatienten ist auf dem Weg in den Bundestag. Die Koalition versichert, die Rechte der Betroffenen auf eine freie Wahl ihres Wohnorts würden nicht eingeschränkt.

Das Bundeskabinett hat am 12. Februar Änderungen für Intensivpflege-Patienten auf den Weg gebracht. Es billigte einen Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der zum Ziel hat, die ambulante Versorgung von Beatmungspatienten zu verbessern und stärker zu kontrollieren. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, äußerte sich skeptisch, ob die freie Wahl des Wohnorts gewährleistet bleibt.

Die hohen Vergütungen von bis zu 25.000 Euro im Monat für eine ambulante Rund-um-die Uhr-Betreuung von Beatmungspatienten hatten betrügerische Pflegedienste angelockt. Mit dem Gesetz werden die Anforderungen an Ärzte und Pflegedienste erhöht. Die Prüfer der Krankenkassen sollen die Versorgung zu Hause oder in einer Pflege-Wohngemeinschaft künftig jährlich kontrollieren.

Eigenanteil bei Heimkosten soll sinken

Zugleich sollen Intensivpflege-Patienten, die im Pflegeheim leben, finanziell entlastet werden, indem ihr Eigenanteil für die Heimkosten deutlich gesenkt wird. Krankenhäuser werden angehalten, vor der Entlassung eines Patienten zu prüfen, ob eine Entwöhnung von der Beatmung möglich ist.

Spahn erklärte, die Versorgung von Intensiv-Pflegebedürftigen solle dort erfolgen, wo sie am besten geleistet werden könne. Sie dürfe keine Frage des Geldbeutels sein, und es dürfe auch niemand wegen falscher finanzieller Anreize länger künstlich beatmet werden als unbedingt nötig.

Der Minister hatte nach heftigen Protesten unter anderem von Behindertenverbänden den bereits vor Monaten vorgelegten Gesetzentwurf entschärft. Der Widerstand hatte sich daran entzündet, dass Beatmungspatienten ursprünglich nur noch ausnahmsweise in der eigenen Wohnung versorgt werden sollten.

Dusel zeigt sich skeptisch

Der Behindertenbeauftragte Dusel sieht weiterhin Kritikpunkte. Er sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin, es sei immer noch nicht ausgeschlossen, dass ein Beatmungspatient gegen seinen Willen seine Wohnung verlassen müsse. "Die grundsätzlichen Ziele des Gesetzes teile ich, kann aber die Befürchtungen der Betroffenen gut nachvollziehen", sagte Dusel und forderte eine Klarstellung. Sonst würde erst die Umsetzung zeigen, ob das Gesetz im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention stehe.

Demgegenüber erklärte die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Bärbel Bas, außerklinische Intensivpflege-Patienten könnten auch in Zukunft selbst entscheiden, wo sie leben möchten. Die Wahlfreiheit dürfe nicht eingeschränkt werden. Dafür habe sich ihre Fraktion eingesetzt.

Das Gesetz, das noch vom Bundestag beschlossen werden muss, sieht neben den Änderungen für die außerklinische Intensivpflege auch vor, Patienten den Zugang zu medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen zu erleichtern, insbesondere älteren Menschen.

Bettina Markmeyer


Familie

Hoher Geheimhaltungsdruck bei Missbrauch in der Familie




Esther Klees
epd-bild/Kristin Trüb
Esther Klees forscht seit über zehn Jahren zum Thema Missbrauch von Geschwistern, ein noch immer tabuisiertes Thema. Die Professorin beklagt bei Fachkräften den Hang, sexualisierte Gewalt bei Kindern und Jugendlichen zu bagatellisieren. Im Interview spricht sie über Mängel in der Forschung, Scham der Opfer und Wege aus der Gewalt.

Esther Klees, seit 2019 Professorin für Soziale Arbeit an der IUBH Internationale Hochschule, hat viele Jahre als Diplom-Sozialpädagogin in den Erziehungshilfen gearbeitet, vorwiegend mit verhaltensauffälligen Jungen und durch Gewalt traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Seit mehr als zehn Jahren ist sie auf das Thema "Sexualisierte Gewalt durch Geschwister" spezialisiert. Über die Besonderheiten auf diesem Feld des Missbrauches, das kaum in der öffentlichen Wahrnehmung steht, hat Dirk Baas mit ihr gesprochen.

epd sozial: Frau Professor Klees, es gibt keine Studien über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt durch Geschwister in Familien. Warum fehlt es auf diesem wichtigen Feld an Forschung?

Esther Klees: Es stimmt, dass es keine exakten Studien in Deutschland gibt. Das hat seinen Grund auch darin, dass bei repräsentativen Forschungsprojekten, die es in den letzten Jahren gab, bei sexualisierter Gewalt ein Altersunterschied zwischen Täter und Opfer von mindestens fünf Jahren vorausgesetzt wird. Folglich werden alle Fälle, bei denen Täter und Opfer diesen Altersunterschied nicht aufweisen, per se nicht als Fälle sexualisierte Gewalt berücksichtigt. Das ist ein großes Problem, denn bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister ist der Altersunterschied in vielen Fällen auch geringer - daher werden diese Zahlen leider nicht erfasst.

epd: Etwas Licht im Dunklen gibt es aber schon?

Klees: Ja, wir haben eine interessante Untersuchung, die in Einrichtungen für sexualisiert übergriffige Kinder und Jugendliche gemacht wurde. Es gibt bundesweit etwa 70 bis 80 dieser Angebote. Von all diesen Kindern und Jugendlichen haben 50 Prozent auch oder ausschließlich ihre Geschwister missbraucht. Aber es wurden nur Betroffene in spezialisierten Einrichtungen befragt, also eine ganz besondere Zielgruppe. Wir haben mittlerweile durch andere repräsentativen Studien Daten zu Vätern, Stiefvätern, Müttern, Onkeln, Tanten, aber eben nicht zu den Geschwistern.

epd: Sie beklagen, dass diese familiären Taten kaum nach außen dringen. Liegt das nicht in der Natur der Sache, weil die Taten im geschützten Raum der Familie passieren?

Klees: Es ist sehr häufig so, dass dieses Familiengeheimnis bewusst nicht nach außen dringt. Es besteht ein sehr hoher Geheimhaltungsdruck, weil die Eltern sich für das was passiert ist mitverantwortlich fühlen. Wie kann es sein, dass sie nichts bemerkt haben? Wieso hat das betroffene Kind ihnen nichts erzählt? Aufgrund ihrer Schuld- und Schamgefühle wenden sie sich nicht an Personen außerhalb der Familie, und daher geht der Missbrauch oft über viele Jahre unentdeckt weiter, nicht selten bis die übergriffigen Kinder oder Jugendlichen erwachsen sind und dann die Familie verlassen.

epd: Was ist bei den Opfern zu beobachten?

Klees: Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Geschwister leiden häufig unter den gleichen Langzeitfolgen wie auch Betroffene erwachsener Täter. Wenn die sexualisierte Gewalt spielerisch angefangen hat, fühlen sich viele Betroffene mitschuldig, weil sie ja zunächst freiwillig mitgemacht haben – aus Schuldgefühlen schweigen sie. In vielen Fällen besteht zu den übergriffigen Geschwistern aber auch eine liebevolle Beziehung, die in Bezug auf die Eltern vermisst wird und diese Beziehung möchten sie erhalten. Es gibt aber auch viele Betroffene, die ihren Eltern von den sexualisierten Übergriffen erzählen, ohne, dass ihnen Glauben geschenkt wird. Das erschwert zusätzlich die Aufdeckung der Gewalttaten.

epd: Sie forschen seit mehr als zehn Jahren auf diesem Gebiet. Kommt es oft zur "Weitergabe" von Gewalt? Und welche Motive lassen sich benennen?

Klees: Zu Übergriffen durch Geschwister kommt es oft in kinderreichen Patchworkfamilien, in denen die Kinder von ihren Eltern emotional und/oder körperlich vernachlässigt werden. Ein großer Anteil der sexualisiert übergriffigen Kinder stammt zudem aus Familien, in denen sie selbst schwere Formen von körperlicher oder auch sexualisierter Gewalt erfahren mussten - oftmals durch ihre Väter oder Stiefväter. Sie versuchen ihre Ohnmachtsgefühle und ihre Hilflosigkeit zu überwinden, indem sie die "Opferrolle" verlassen und selbst sexualisierte Gewalt ausüben. Es geht also weniger um Sexualität, sondern eher um Macht.

epd: Welche Problemlösungen könnte es geben?

Klees: Werden keine anderen Konfliktlösungsstrategien und Wege zu Selbstwirksamkeitserfahrungen erlernt, chronifiziert sich das Verhalten. Aufgrund der enormen Verfügbarkeit der Geschwister und der besonderen Kontrolle innerhalb der Familie, bedeutet das, dass die betroffenen Geschwister über mehrere Jahre häufig mehrmals pro Woche der sexualisierten Gewalt ausgesetzt sind. In meiner eigenen empirischen Studie habe ich beispielsweise einen Jugendlichen interviewt, der in etwa 600 einzelne Taten des überwiegend erzwungenen Geschlechtsverkehr an einem Geschwisterkind begangen hat und auch noch weitere Geschwister sexuell missbraucht hat.

epd: Wie reagieren Erzieherinnen, Lehrer, Mitarbeiter der Jugendhilfe oder der Jugendämter? Gibt es dort einen Hang, solche Fälle zu bagatellisieren?

Klees: Leider ist das oft so bei Fachkräften, ganz gleich ob es sich um Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen, Lehrer in Schulen, Sozialpädagogen in der Jugendhilfe, in Wohngruppen oder Fachpersonal beim Jugendamt handelt. Es gibt sowohl den Hang zum Bagatellisieren als auch zum Dramatisieren. Meine Erfahrung zeigt jedoch, dass häufiger bagatellisiert wird und die sexuellen Kontakte vorschnell als "Doktorspielchen" abgetan werden, um sich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was nicht sein darf. Bei mir melden sich immer wieder Betroffene, die mir davon berichten und auch verunsicherte Fachkräfte. Studien aus anderen Ländern bestätigen diese Tendenz - auch diesbezüglich wären empirische Studien in Deutschland interessant.

epd: Welche Gründe könnte das Bagatellisieren haben?

Klees: Viele Fachkräfte können sich schlicht nicht vorstellen, dass bereits ein 11-Jähriger seine fünf Monate alte Schwester anal penetriert, wenn er auf sie aufpassen soll. Viele denken, dass sexualisierte Gewalt erst ab der Pubertät beginnt. Die Arbeit mit den Familien kann aber auch sehr anstrengend werden und es ist aufgrund des Schweigegebotes und der Loyalitätskonflikte schwierig, an verlässlich Informationen zu kommen - besonders dann, wenn auch die Betroffenen schweigen. Auch die Fachkräfte sind unsicher und fühlen sich nicht selten mit der Komplexität der Fälle überfordert - daher scheuen wahrscheinlich viele Fachkräfte vor dem Thema zurück.

epd: Was ist zu tun, um mehr Öffentlichkeit auf dieses heikle Thema zu lenken?

Klees: Ziel muss es sein, das bestehende Tabu aufzubrechen. Um die Öffentlichkeit und vor allem auch erst einmal die Fachöffentlichkeit zu sensibilisieren, müsste zunächst einmal mehr und auch präziser geforscht werden. Das Thema darf nicht länger ausgeklammert werden.

epd: Ist das eine Frage des Geldes?

Klees: Es ist auch eine Frage des Geldes. Der Bund hat ja umfangreiche Forschungsmittel zur Verfügung gestellt, aber eben nicht für dieses Thema. International gibt es ja auch schon diverse Studien - auch ein fachlicher Austausch auf internationaler Ebene wäre wünschenswert. Zudem müsste Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden. Im Auftrag des "Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs" wurden ja bereits Werbespots zum Thema sexualisierte Gewalt produziert, die im Fernsehen zu sehen sind - auch hier könnte man das Thema "Geschwister" einbeziehen. Zudem wäre es wichtig, kostenlose Aufklärungsbroschüren zu entwickeln und beispielsweise bei Ärzten, Ämtern und Behörden auszulegen.

epd: Sie fordern auch, das Thema stärker in die Ausbildung und das Studium sozialer Berufe einzubinden. Was versprechen Sie sich davon?

Klees: Ich halte es für sehr wichtig, dass Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen dieses Thema überhaupt erst einmal im Studium oder im Rahmen einer Ausbildung kennenlernen. Sie müssen lernen, wie man sexualisierte Gewalt von Doktorspielen unterscheiden kann und welche Intervention in welchem Fall sinnvoll wäre. Man muss leider sagen, dass auch in der heutigen Zeit viele Fachkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung oder ihres Studiums keinerlei Berührungspunkte mit dem Thema sexualisierte Gewalt haben. Das ist sehr bedenklich. Zudem müssen auch Fachkräfte, die bereits im Beruf tätig sind, zu den besonderen Dynamiken bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister fortgebildet werden.



Bundesregierung

Wohlfahrtsmarken 2020 zeigen "Der Wolf und die sieben Geißlein"




Die neuen Wohlfahrtsmarken des Jahres 2020
epd-bild/Christian Ditsch
Die neuen Wohlfahrtsmarken, deren Verkaufserlös sozialen Zwecken dient, sind da: Sie zeigen in diesem Jahr das Märchenmotiv "Der Wolf und die sieben Geißlein".

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hat am 10. Februar Exemplare der Wohlfahrtsmarken 2020 an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übergeben. Auf den Sonderbriefmarken werben Motive aus dem Märchen "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein" um einen Zusatzbetrag zugunsten der Wohlfahrtspflege. Die Erlöse kommen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zugute.

Die diesjährigen Marken aus der Sondermarkenserien "Grimms Märchen" gibt es in drei verschiedenen Ausführungen. Die Entwürfe und der Ersttagsstempel stammen von dem Berliner Grafiker Michael Kunter.

Wohlfahrtsmarken helfen seit 70 Jahren

Die normale Sonderbriefmarke für 80 Cent kostet nach Angaben des Bundesfinanzministeriums 40 Cent mehr. Für die 95-Cent-Marke werden 45 Cent mehr und für die 155-Cent-Marke für große Briefe wird ein Plus von 55 Cent berechnet. Die Marken sind in den Verkaufsstellen der Deutschen Post AG erhältlich.

Die Wohlfahrtsmarken mit dem zusätzlichen Centbetrag werden seit mehr als 70 Jahren zugunsten der Freien Wohlfahrtspflege herausgegeben. Zum Dachverband der Wohlfahrtspflege gehören unter anderem die AWO, das Deutsche Rote Kreuz und die kirchlichen Organisationen Diakonie und Caritas. Mit den Sonderbriefmarken für die Wohlfahrt kämen Erlöse in Millionenhöhe zusammen, erklärte das Ministerium. Im Jahr 2018 lagen die Einnahmen durch den Eigenverkauf sowie dem Vertriueb durch die Post bei rund 6,5 Millionen Euro.



Bundesregierung

Giffey plant Studie über Familien mit schwerstkranken Kindern



Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will eine Studie starten, um den Bedarf von Familien mit schwerstkranken Kindern zu ermitteln. Darüber, welche Unterstützung und Entlastungen sie benötigten, wisse man zu wenig, erklärte Giffey anlässlich des Tags der Kinderhospizarbeit am 10. Februar in Berlin.

"Eltern und Geschwister sollen in dieser Situation genau den Beistand erhalten, der nötig ist, damit sie nicht aus ihrem sozialen Umfeld herausfallen und trotz ihrer großen Sorgen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können", sagte Giffey.

Niemand sei auf die Situation vorbereitet, dass das eigene Kind schwer erkrankt ist und frühzeitig sterben wird. "Gerade in dieser unaussprechlichen Lage wollen wir die pflegenden Familien unterstützen", sagte die Ministerin.

Ihren Angaben zufolge leiden in Deutschland rund 50.000 Kinder an einer lebensbedrohlichen oder lebensverkürzenden Krankheit. Anlässlich des Tags der Kinderhospizarbeit hatte in der vergangenen Woche der Bundesverband Kinderhospiz eine verlässlichere Finanzierung der Einrichtungen gefordert. Nach seinen Angaben können viele Leistungen nicht abgerechnet werden, etwa die Trauerbegleitung der Eltern nach dem Tod des Kindes, aber auch andere ambulante Hilfen. Die Hospize sind daher den Angaben zufolge vor allem auf Spenden angewiesen.



Bundesländer

Ministerkonferenz: Integration "in die Fläche bringen"



Brandenburg will die Integration von Zuwanderern in Flächenländern zum Schwerpunkt in der Integrationsministerkonferenz der Bundesländer machen. Dazu werde derzeit ein Leitantrag für das Ministertreffen Ende April in Potsdam vorbereitet, sagte Integrationsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Potsdam.

"Wir als ein teilweise sehr dünn besiedeltes Flächenland haben natürlich den Ehrgeiz, Integration in die Fläche zu bringen, auch in kleinere Kommunen", sagte die Grünen-Politikerin. Brandenburg hat derzeit den Vorsitz der Integrationsministerkonferenz. Die Ressortchefs treffen sich am 29. und 30. April in Potsdam. Der Leitantrag soll den Titel "Integration. Ideenreich vor Ort" tragen.

Wirkung der Angebote überprüfen

Vorab sei geplant, Gespräche darüber zu führen, wie bisherige Maßnahmen wirken, sagte Nonnemacher. Aus Cottbus, das wegen Integrationsproblemen vor einiger Zeit auch bundesweit im Blick der Öffentlichkeit stand, gebe es bereits positive Rückmeldungen. Sie sei nun "sehr gespannt zu erfahren, wie in anderen Bundesländern ideenreich und effektiv mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gearbeitet" werde.

Wichtig sei, "die Spielräume, die die Bundesgesetzgebung dem Land und den Kommunen gibt, optimal zu nutzen", sagte Nonnemacher. Dazu gehöre die Erteilung von Ausbildungsduldungen und von Duldungen zur Aufnahme von Arbeit. Auch wegen des Fachkräftemangels könne das Land sich "gar nicht leisten, auf diese Menschen zu verzichten".

Ausbildung bieten statt Sozialhilfe zu zahlen

Zuwanderer müssten ausgebildet werden und arbeiten gehen können, statt Sozialhilfe zu beziehen, betonte die Ministerin. Die Qualifizierung von Migranten sei für das Land ebenso wichtig wie für die Menschen selbst. Eine auf Abwehr von Zuwanderung ausgerichtete Politik bringe das Land nicht weiter. Auch Wirtschaftsverbände gingen davon aus, dass eine deutlich höhere Zuwanderung junger Arbeitskräfte nach Deutschland nötig ist, um die demografischen Probleme durch geringe Geburtenzahlen und eine alternde Bevölkerung abzufedern.

Nonnemacher kündigte zugleich an, verstärkt EU-Mittel zur Integration von Flüchtlingen und Migranten nutzen zu wollen. Die EU plane, den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds AMIF deutlich aufzustocken, sagte die Ministerin. Bisher würden die Mittel vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verwaltet. Die Bundesländer müssten dort mehr Mitspracherechte einfordern, um Ideen vor Ort umzusetzen.

Yvonne Jennerjahn


Studie

Zahl der Kinder in Ganztagsbetreuung gestiegen



Immer mehr Grundschüler in Deutschland werden einer Studie zufolge ganztags betreut. Rund 42 Prozent der Kinder besuchten im Bundesdurchschnitt im Schuljahr 2017/18 eine Ganztagsschule und 23 Prozent einen Hort, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) am 11. Februar in Köln mitteilte. Rund 505.000 Schulkinder bis 14 Jahre hätten 2019 eine Betreuungseinrichtung besucht. 2014 seien es noch rund 454.000 Kinder gewesen. Dabei spiele neben dem Wohnort auch der familiäre Hintergrund eine Rolle.

Besonders häufig besuchen den Angaben zufolge Kinder aus Familien mit vollzeiterwerbstätigen Müttern, mit Arbeitslosengeld-II- sowie Sozialhilfe-Leistungen oder einem Migrationshintergrund eine Ganztagsschule. Kinder aus Familien mit einem hohen Einkommen gingen hingegen häufiger in einen Schulhort.

Betreuung ist auch eine Frage der Kosten

Die Entscheidung für eine Ganztagsbetreuung sei auch eine Frage der Kosten, hieß es: Im Schnitt zahlten Eltern für die Betreuung in einer Ganztagsschule 30 Euro im Monat. Für einen Hort würden etwa 41 Euro monatlich fällig. Die Kosten seien regional unterschiedlich. Berlin etwa habe die Gebühren abgeschafft.

Den Angaben des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zufolge besteht in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eine weitgehende Vollversorgung mit Ganztagsplätzen. Etwa jedes zweite Kind in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern besuche ein Angebot der Ganztagsbetreuung. Schlusslicht sei Baden-Württemberg: Dort werde etwa jedes dritte Kind betreut. Das Institut erklärte die regionalen Unterschiede mit dem Freiraum der Landesregierungen. In manchen Bundesländern wie Brandenburg, Hamburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebe es bereits einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz.



Baden-Württemberg

Auch Sozialwohnungen müssen künftig klimafreundlich sein



Sozialwohnungen in Baden-Württemberg müssen künftig klimafreundlich gebaut werden. Ein entsprechendes Wohnbauförderprogramm trete am 1. April in Kraft, sagte Wirtschafts- und Wohnungsbauministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) am 11. Februar in Stuttgart. Neubauten müssten dann dem Energieeffizienzhaus-Standard entsprechen, erklärte die Ministerin.

Ausnahmen sollen allerdings möglich sein. Könne ein Investor nachweisen, dass die Klimaschutzmaßnahmen Mehrkosten von 150 Euro pro Quadratmeter überschreiten, könne er von der Verpflichtung befreit werden, sagte Hoffmeister-Kraut. Wer freiwillig einen noch höheren Effizienzstandard erfülle, könne mit zusätzlichen Fördermitteln aus dem Umweltministerium rechnen. Positiver Nebeneffekt für die Mieter seien sinkende Heizkosten.

Insgesamt stellt das Land laut Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) 250 Millionen Euro pro Jahr für die Wohnbauförderung zur Verfügung. Das sei eine Verfünffachung innerhalb von zehn Jahren, betonte Kretschmann. Baden-Württemberg sei zudem das erste Bundesland, das auch im sozialen Mietwohnungsbau klar auf mehr Klimaschutz setze.




sozial-Branche

Pflegeheime

Wenn "Silver Surfer" nicht ins Netz kommen




Immer mehr Heimbewohner wollen das Internet nutzen - wie hier in Karlsruhe (Archivbild).
epd-bild/tema medien
Immer mehr Senioren nutzen aktiv das Internet - wenn sie denn Zugang haben. Zumindest auf die allermeisten Pflegeheimbewohner trifft das nicht zu. Für sie ist das Internet als Tor zur Welt oft noch fest verschlossen. Experten fordern Abhilfe.

Das Internet gilt als Tor in die Welt. Doch viele Senioren, die ihren Lebensabend in Pflegeheimen verbringen, können nicht chatten, E-Mails schreiben oder sich für Onlinespiele begeistern. Denn die meisten Einrichtungen sind nicht online. WLAN, im Idealfall kostenlos bereitgestellt, gibt es erst in 37 Prozent der Heime. Experten sehen dringenden Handlungsbedarf.

"Weil ältere Menschen oft immobiler werden und auch viel alleine sind, ist es ein großer Gewinn, im Internet surfen und digitale Medien nutzen zu können", sagt Nicola Röhricht, Referentin für Digitalisierung und Bildung bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO). Zudem sei es für Pflegekräfte und Angehörige sehr entlastend, das Internet zu nutzen, Spiele mit den Älteren zu spielen oder Podcasts und Filme zu streamen. Auch lasse sich spezielle Software für demenziell Erkrankte nutzen: "Menschen aktivieren sich und andere und lassen sich aktivieren."

Ausbau der Infrastruktur braucht Zeit

Die wachsende Bedeutung der Internetnutzung von Senioren ist den Trägern durchaus bekannt. Aber der technische Ausbau brauche seine Zeit, ist zu hören. Der Bundesverband der Anbieter sozialer Dienste (bpa) hält den Nutzungsgrad noch für überschaubar. Aber, so Geschäftsführer Herbert Maul gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Die Pflegeheime stellen sich auf die Erwartungen künftiger Bewohnerinnen und Bewohner ein." Konkrete Zahlen über die Quote der bereits ans Internet angebundenen Heime lägen seinem Verband nicht vor.

Die aber hat das Portal "Pflegemarkt.com" parat, das im Jahr 2018 eine Umfrage zum Thema WLAN in den Heimen gemacht hat. Telefonisch wurden den Angaben nach 575 Heimleitungen und Pflegedienstleitungen befragt. "Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache", heißt es auf der Homepage: "Das Thema WLAN ist aktuell in der deutschen Pflegelandschaft noch eher unterrepräsentiert. Nur 37 Prozent der befragten Pflegeheime bieten ihren Bewohnern die Möglichkeit einer WLAN Nutzung an."

WLAN-Nutzung kostet meist extra

Über 80 Prozent der Einrichtungen, in denen eine WLAN Nutzung grundsätzlich verfügbar ist, berechnen diese Leistung extra. Der Anteil der Häuser, die ein kostenfreies Netz zur Verfügung stellen, ist mit sechs Prozent momentan noch sehr gering. Die übrigen Einrichtungen machten keine genauen Angaben zum Kostenfaktor WLAN. Immerhin: 28 Prozent der Senioreneinrichtungen, in denen es noch keine Internetnutzung gibt, wollen in absehbarer Zukunft nachrüsten.

Doch was genau machen die Heimbewohner, wenn sie im Internet unterwegs sind? Auch das ist erforscht. Die Untersuchung "Digital mobil im Alter. So nutzen Senioren das Internet" von Telefonica Deutschland und der Stiftung digitale Chancen aus dem Jahr 2017 ergab, dass das E-Mail-Schreiben der Spitzenreiter bei den Anwendungen ist. Dann folgen Spiele und Lesen sowie Chatten, Videoschauen und Einkaufen.

"Digitale Technologien können die geistige und physische Mobilität von Senioren und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben verbessern", erklärt Professor Herbert Kubicek, wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Digitale Chancen und Leiter der Studie. Die Erhebungen beruhen auf den Angaben von insgesamt 300 älteren Menschen, die zwischen Mai 2016 und Mai 2017 in Senioreneinrichtungen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und München acht Wochen lang Tablet-PCs mit Internetzugang ausprobiert haben. Etwa die Hälfte war zwischen 70 und 79 Jahre alt.

Medienkompetenz muss vermittelt werden

Dabei zeigte sich: Das Alter ist nicht die einzige Hürde für den Zugang zum Internet. Auch auf den Grad der Mobilität und die sozialen Kontakte kommt es laut der Studie an. Um die hohen Barrieren der Anwendung zu überwinden, braucht es spezifische Angebote, um Medienkompetenz altersgerecht zu vermitteln. Die und das Selbstbewusstsein der Senioren im Umgang mit dem Internet müssten gezielt gefördert werden.

Digitale Weiterbildung müsse, so die Studie, an den praktischen Erfahrungen der Senioren und dem erwarteten Nutzen ansetzen. "Für ältere Menschen bedeutet es oftmals eine große Anstrengung, sich mit den Geräten zu befassen. Das nehmen viele nur auf sich, wenn sie eine 'Belohnung' erwarten können, zum Beispiel besser mit der Familie in Kontakt zu bleiben.

Das sieht auch Nicola Röhricht so. Neben technischen Umstellungen seien "natürlich geeignete Einführungen nötig". Immerhin: Vereinzelt gebe es bereits aufsuchende Angebote von Senioren-Internet-Gruppen.

Problem: Breitbandausbau kommt nicht voran

Doch die Expertin richtet den Blick nicht allein auf die Zurückhaltung der Heimbetreiber, etwa aus Kostengründen. Oft fehlten schlicht die technischen Voraussetzungen, mehr Heime an das Internet anzuschließen. Die Politik müsse deshalb den Breitbandausbau intensivieren. "Zudem wäre eine Unterstützung zumindest der staatlichen und kirchlichen Heime durch öffentliche Fördermittel wünschenswert", sagt Röhricht. Das sei "eine lohnende Geldausgabe zur Prävention von Vereinsamung und Exklusion".

"Wenn die älteren Menschen die Internetnutzung selbst nicht lernen können oder wollen, sollten die Helfer das an ihrer Stelle für sie tun", rät Professor Kubicek. Das könne geschehen durch die Einbettung in vorhandene Strukturen wie Pflegedienste, Anbieter von haushaltsnahen Dienstleistungen und die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe. Eine solche aufsuchende "digitale Assistenz" erscheine ergänzend zu den Ansätzen zur Vermittlung digitaler Kompetenzen geboten, betont der Experte.

Zugleich sagt er aber auch: "Vor allem in höherem Alter sollte Senioren zugestanden werden, nichts Neues mehr lernen zu wollen." Das dürfe aber kein Grund sein, deswegen von digitalen Dienstleistungen ausgeschlossen zu bleiben.

Dirk Baas


Traumatisierung

Expressive Sandarbeit als Hilfe für Flüchtlingskinder




Expressive Sandarbeit kann Flüchtlingskindern im Spiel helfen, Traumata zu verarbeiten.
epd-bild/Jutta Olschewski
Es kann schwer sein, die eigene Geschichte zu erzählen. Mit Sand, Stoffen, kleinen Figuren und Tierchen kann das leichter gehen. "Sandwork" heißt die Methode, für die ein Nürnberger Verein jetzt wieder ehrenamtliche Unterstützer sucht.

Anne Kistmacher ist von dem Satz eines kleinen Mädchens immer noch gerührt: "Mama, ich bin ganz neu", hat es seiner Mutter zugerufen, als es nach einer Sandspielstunde abgeholt wurde. "Das hat mir die Sinnhaftigkeit von dem, was wir tun, gezeigt", erklärt die Sozialpädagogin. Eine etwas ältere Schülerin stellte sogar fest: "Sandspiel ist gut für die Seele".

Im Freien Hort Nürnberg, wo Kistmacher seit 30 Jahren arbeitet, hat die Heil- und Sozialpädagogin mit Kolleginnen und Ehrenamtlichen im vergangenen Jahr die "Expressive Sandarbeit" eingeführt. Vor allem Kinder aus Flüchtlingsfamilien sollen an diesem Projekt teilnehmen können. Damit es weitergeführt werden kann, ist Kistmacher auf der Suche nach neuen "Mitspielern" für das Konzept und nach Sponsoren.

"Ein Kind spielt im Sand und ein Erwachsener langweilt sich daneben", das könnte ein Außenstehender denken, der sieht, was montags in einem langgestreckten fast leeren 50-Quadratmeter großen Raum des Horts praktiziert wird, sagt Erzieherin Karin Galster. In Wirklichkeit wird hier aber eine nonverbale Methode angewandt, die selbstheilende Kräfte in den Kindern wecken kann, die Krieg oder Flucht erlebt haben.

Idee stammt aus Mailand

Eva Pattis aus Mailand hat die Methode auf der Basis der analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung entwickelt, erzählt Kistmacher, die sich mit Pattis regelmäßig austauscht. Das Konzept soll der Psyche helfen, sich selbst zu regulieren.

Gerade für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren, die mit ihren Eltern geflüchtet sind und sich in der neuen Sprache nicht gut ausdrücken können, eignet sich die Herangehensweise, sagen Experten. "Die Sprache bleibt im Hintergrund", erklärt Karin Galster. Wie bei einer Mal- oder Musiktherapie für Erwachsene drücke sich aus, was im Innern der Seelen vorgeht. "Dann spürt das Gegenüber das Ungesagte", ergänzt Kistmacher.

Und in vielen Fällen überträgt sich auch die Gefühlslage der Kinder auf die Erwachsenen. Galster und Kistmacher haben am eigenen Leib gespürt, dass ihnen angesichts der Szenarien, die die Kinder bauten, selbst der Atem stockte. "Aber die Kinder gehen dann ganz gut gelaunt von dannen", sagt Kistmacher.

Duos aus Kindern und Erwachsenen

Die acht Jungen und Mädchen, die in der Sandarbeit-Gruppe sind, nehmen in acht Einheiten am Sandspiel teil. Heute hat sie Karin Galster bereits zusammengeholt und fröhlich schwatzend stehen sie vor der Tür. Dahinter warten ihre "Mitspieler". Bei jedem Termin sind es die gleichen Erwachsenen und Kinder, die ein Duo bilden, das allmählich oder sehr schnell eine Beziehung aufbaut.

Alle acht Begleiter-Frauen haben auf einem Stuhl an der Wand Platz genommen. Neben ihnen steht jeweils ein kleines Tischchen, darauf eine 40 auf 50 Zentimeter große blaue Box, gefüllt mit feuchtem Sand. In der Mitte des Raums reihen sich mehr als zwölf große transparente Kunststoffkisten aneinander: Alle sind gefüllt mit Tausenden kleinen Spielzeugteilen in 100 verschiedenen Varianten: Dinosaurier, Würmer und Spinnen, Prinzessinnen, Bäume und Türme, Soldaten, Fallschirmspringer, Pferde und ein gruseliger Sensenmann - es gibt nichts, was es nicht gibt.

Im Sand ist alles erlaubt

"Du kannst machen, was du willst", mit dieser "Spielanleitung" können die Kinder anfangen, in ihren Sandkisten Bilder zu stellen. Es gibt Kinder, die sind nach wenigen Minuten mit dem fertig, was sie in den Sand zaubern, andere lassen sich Zeit, nehmen Soldaten und Zäune, Kanonen und Spinnen aus dem Vorrat oder füllen die Boxen mit rosa Märchenfiguren und umhüllen das Ensemble mit einem Glitzerstoff, schildert Kistmacher die Sitzungen.

Aber schon in der übernächsten Sitzung kann sich das Bild völlig verändern. Karin Galster hat das erlebt: Zunächst stellte "ihr Kind" strukturierte und fantasievolle Welten. "Und dann gab es ein Bild, das völlig ohne Boden war". Um das Vertrauen, das die Kinder zu ihren Begleitern haben, nicht zu verletzen, schildern die Frauen die Sandbilder nicht detailliert.

Verschwiegenheit gehört zum Konzept, das dem expressiven Sandspiel bewusst einen sehr festen Rahmen gibt. "Verlässlichkeit und Verbundenheit", sagt Antje Gebhardt, Mitarbeiterin der Einrichtung, sei für die Kinder im Hort etwas sehr Wertvolles. "Viele haben ein hohes Aggressionspotenzial, hier ist jeden Tag ein Rennen und Schreien, es gibt Schimpfworte und weitergegebene Konflikte aus dem Alltag". Da tut die Stille beim Sandspiel allen gut.

Nach jeder Einheit nehmen die Erwachsenen Fotos vom Inhalt der Kisten auf und machen sich Notizen, um die Entwicklung ihres Kindes zu dokumentieren. Wichtig sind aber auch die Gespräche mit den Eltern. Vorbehalte gegen die Methoden haben Kistmacher und ihre Kollegen noch nie erlebt: "Sandspiel, das ist positiv besetzt", sagt sie. Und die Väter und Mütter würden zurückmelden, dass ihre Kinder fröhlich aus den Sitzungen kommen. Eine Mutter hat Kistmacher erzählt, dass ihre Tochter nicht mehr nachts ins Bett macht, seit sie im Sand spielt. "Das finde ich ganz wunderbar", freut sich die Initiatorin.

Jutta Olschewski


Gesundheit

Gastbeitrag

Notfallversorgung: Funktionierende Strukturen nicht plattmachen




Bernadette Rümmelin
epd-bild/Kirsten Breustedt/kkvd
Der Katholische Krankenhausverband hält eine Reform der ambulanten Notfallversorgung für dringend nötig. Doch, so Geschäftsführerin Bernadette Rümmelin in ihrem Gastbeitrag, der Ansatz, Integrierte Notfallzentren zu schaffen, sei falsch. Niemand brauche Doppelstrukturen, die den Patienten nicht weiterhelfen. Sie wirbt für den Ausbau der bestehenden Portalpraxen.

Eine Reform der ambulanten Notfallversorgung ist überfällig. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser landen Tag für Tag Patienten mit nicht akuten Beschwerden an. Sie wären bei einem niedergelassenen Arzt oder dem kassenärztlichen Bereitschaftsdienst gut aufgehoben. Stattdessen nehmen sie in der Klinik lange Wartezeit in Kauf, denn dort kommen die Patienten nach Schwere ihrer Beschwerden an die Reihe und werden dann in vollem Umfang diagnostisch untersucht.

Der Gesetzgeber hat zuletzt einiges unternommen, um die ambulante Versorgung für diese Patientengruppe attraktiver zu machen. Mit den Terminservicestellen sollen Patienten schneller Termine beim Fach- oder Hausarzt bekommen. Zudem wurden die Kassenärztlichen Vereinigungen dazu angehalten, ihre ärztlichen Bereitschaftsdienste besser bekanntzumachen.

Seit Jahresbeginn sind die Hotlines der Terminservicestellen und des ärztlichen Bereitschaftsdienstes unter der einheitlichen Rufnummer 116 117 zusammengefasst. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung verspricht, die Patienten so besser zum passenden Behandler zu lotsen.

Gemeinsame Notfall-Leitstellen sinnvoll

Der aktuelle Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung geht noch einen Schritt weiter. In "Gemeinsamen Notfall-Leitstellen" (GNL) sollen künftig auch die Rufnummer 116 117 und die Notrufleitstelle 112 zusammengefasst werden - eine weitere grundlegende Neuerung im System. Damit werden Patienten noch stärker bei der Hand genommen. Bei Anruf sollen sie sofort eine medizinische Ersteinschätzung erhalten und zum richtigen Behandlungsangebot vermittelt werden.

Die GNL sind als zentrale Lotsen in der medizinischen Notfallversorgung 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche erreichbar. Sie arbeiten digital vernetzt und sollen die Steuerung der Notfallrettung, der Krankentransporte und der Bereitschaftsdienste übernehmen. Auch ist vorgesehen, die Aufnahmekapazitäten der Kliniken dort in Echtzeit zu hinterlegen.

Vor diesem Hintergrund weist der Sachverständigenrat Gesundheit zu Recht darauf hin, dass sich dadurch eine spürbare Veränderung bei den Patientenwegen ergeben kann. Wenn die GNL gut funktionieren, wird das auch die Notaufnahmen deutlich entlasten.

Das bringt viel Bewegung ins System. Daher ist es sinnvoll, die in der Reform der Notfallversorgung vorgezeichneten neuen Service- und Versorgungswege zielgerichtet und planvoll zu begehen. Das heißt, sich die im Referentenentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen Schritt für Schritt vorzunehmen.

Kernstück der geplanten Reform

In einer ersten Stufe sollten die GNL eingerichtet werden. Sie sind das eigentliche Kernstück der geplanten Reform. Die Effekte der besseren telefonischen Erreichbarkeit und der digital vernetzten Hilfe sollten zumindest zwei Jahre in der Praxis Wirkung zeigen. In dieser Zeit müssen sie evaluiert und ihre Auswirkungen auf die Patientenwege ausgewertet werden. Erst auf dieser Grundlage sind weitere Schritte sinnvoll.

Das gilt insbesondere für die Frage, ob und welche neuen Strukturen an den Krankenhausstandorten benötigt werden. Das ist die zweite Stufe. Schon jetzt gibt es rund 700 Portalpraxen an Kliniken. Hier kooperieren die Krankenhäuser mit niedergelassenen Ärzten in Modellen, die an regionale Bedürfnisse angepasst sind. Auch dafür hat der Gesetzgeber vor nicht allzu langer Zeit die Weichen neu gestellt. Mit dem vor vier Jahren in Kraft getretenen Krankenhausstrukturgesetz wurde ihr Aufbau deutlich gefördert. Auch an jedem dritten katholischen Krankenhaus gibt es mittlerweile solche Kooperationen.

Gegen starre Vorgaben von oben

Galten die Portalpraxen eben noch als Zukunftskonzept, will Gesundheitsminister Jens Spahn sie nun schnell durch "Integrierte Notfallzentren" (INZ) ersetzen. Deren Organisation und Ausgestaltung soll von oben starr vorgegeben werden. Es droht, dass politischer Aktionismus aus der Praxis heraus gewachsene, gut funktionierende Versorgungsstrukturen platt macht. Die neuen INZ aus der Retorte werden Geld kosten für Neu- oder Umbauten und auch für Personal. Und sie drohen Doppelstrukturen zu schaffen.

Die Frage ob und wie sie angesichts der Veränderungen durch die GNL angenommen und gebraucht werden, bleibt offen. Auch ist kaum bedacht, ob sich durch eine Konzentration der INZ an wenigen ausgewählten Standorten, die Wartezeit der Patienten tatsächlich stark verringern wird. Denn so wird die Zahl der Anlaufstellen an Kliniken für die Patienten deutlich reduziert.

Zu erwarten ist vielmehr, dass Patienten zunächst weiterhin zum Krankenhaus in ihrer Nähe fahren, auch wenn ihr Leiden kein akuter Notfall ist. Aus Sicht der Patienten ist das vernünftig. Denn auch Kliniken ohne INZ werden weiter an der stationären Notfallversorgung teilnehmen. Doch sieht der Referentenentwurf vor, dass diese Krankenhäuser einen Abschlag von 50 Prozent der Behandlungskosten in Kauf nehmen müssen, wenn sie Patienten in einer lediglich gefühlten Notlage helfen, anstatt sie abzuweisen.

Kliniken kommen in verzwickte Lage

Das bringt die Kliniken in eine verzwickte Lage: Es entspricht dem ethischen Anspruch der Kliniken, Patienten zu helfen, wenn sie vor ihrer Tür stehen. Außerdem haben sie eine vom Land übertragene Versorgungsverpflichtung. Weisen sie Patienten dennoch ab, ist das zudem aus Haftungsgründen riskant. Hinter den augenscheinlich nicht akuten Beschwerden könnte sich nach genauerer Untersuchung doch ein erstzunehmender Notfall verbergen. Vor diesem Hintergrund ist der im Referentenentwurf vorgesehene Abschlag von 50 Prozent mehr als unangemessen.

Die Herausforderung der ambulanten Notfallreform liegt darin, das Vertrauen der Patienten in die ambulanten Versorgungsangebote zu stärken. Denn auch künftig entscheiden die Patienten letztlich selbst, wo sie Hilfe suchen. Wenn die GNL das Vertrauen der Patienten gewinnen, werden sich viele von ihnen außerhalb der Praxisöffnungszeiten nicht mehr auf eigene Faust auf den Weg machen, um eine Praxis oder Notaufnahme anzufahren.

Für alle anderen sind Portalpraxen schon heute eine gute Wahl. Sie sind passgenau auf die Gegebenheiten vor Ort zugeschnitten. Und sie nutzen Synergien zwischen ärztlichem Bereitschaftsdienst und Notaufnahme, ohne Doppelstrukturen oder unklare Verantwortlichkeiten zu schaffen.

Bei der Reform der Notfallversorgung müssen die Patienten der Maßstab sein. Vor diesem Hintergrund sollten neben den GNL auch die vorhandenen Portalpraxen evaluiert und ihre Arbeit ausgewertet werden. Unsere Erfahrung ist, dass die regional gewachsenen Portalpraxen schon heute eine gute Versorgung der Notfallpatienten leisten. Sie haben Potenziale für mehr Vernetzung und engere Kooperationen. Daher ist eine im Politiklabor erdachte Struktur wie die INZ weder nötig noch zielführend.

Bernadette Rümmelin ist Geschäftsführerin des Katholischen Krankenhausverbands Deutschlands.


Kongress

Forscher: Zusammenhalt der Gesellschaft nicht über Ausgrenzung



Nicht erst nach der Thüringer Wahl wird eine zunehmende Zerrissenheit der Gesellschaft beklagt. Experten mahnen auf einer Fachtagung Leitbilder für ein Zusammenleben in Vielfalt an. Zugleich warnen sie vor zunehmender Ausgrenzung. Die Diakonie sieht die Kommunen in der Pflicht.

Experten aus Wissenschaft, Politik und Diakonie sind besorgt über den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es werde zwar viel über den Zustand der Gesellschaft gesprochen, es fehle jedoch eine politisch-gesellschaftliche Leitvorstellung, sagte der Konfliktforscher Andreas Zick am 10. Februar in Bielefeld. Diakonie-Chef Ulrich Lilie rief dazu auf, das Zusammenleben in der Gesellschaft immer wieder neu auszuhandeln.

Die Extremismus-Expertin von der Hochschule Niederrhein, Beate Küpper, warnte zugleich vor Versuchen, durch das Beschwören von Zusammenhalt andere Menschen oder Gruppen auszugrenzen.

Zick warb für Traditionen der Konfliktbewältigung in der Gesellschaft. Es komme nicht darauf an, Konflikte zu beseitigen, sondern sie zu bewältigen, sagte er auf einer Fachtagung der Universität Bielefeld über den Zusammenhalt der Gesellschaft. Dazu gehöre ein Ausgleich von Interessen und Identitäten.

Andere Gruppen nicht ausschließen

Der Sozialpsychologe warnte zugleich davor, dass das Beschwören von mehr Zusammenhalt nicht zur Ausgrenzung anderer Gruppen missbraucht werden dürfe. Die hohe Menschenfeindlichkeit im Osten Deutschlands komme auch daher, dass dort Zusammenhalt als Ähnlichkeit definiert werde. Damit würden etwa Flüchtlinge und Ausländer ausgegrenzt. Länder, die besonders laut nach Zusammenhalt riefen wie Ungarn und Polen, lösten ihre Krisen oft über Ausgrenzung.

Diakoniepräsident Lilie erklärte, das Aushandeln eines Modells, wie man künftig in der Gesellschaft leben wolle, werde immer wichtiger. Kommunen seien die konkreten unmittelbaren Lebens- und Wohnumfelder der immer verschiedener werdenden Menschen. Die Städte und Gemeinden spielten daher eine immer wichtigere Rolle.

In einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft gebe es nicht mehr einen gemeinsamen Glauben, eine politische Überzeugung oder eine Zugehörigkeit zur Mitte der Gesellschaft. Ziel müsse es sein, dass die unterschiedlichsten Menschen wieder ein "Wir-Gefühl" in der Gesellschaft erlebten. Dazu brauche es positive Bilder und Modelle. Die Parteien drückten sich bislang vor der Frage, wie die künftige Gesellschaft aussehen sollte, weil das Thema hochexplosiv sei.

Negative Strömungen

Auch die Sozialpsychologin Küpper warnte davor, unter dem Verweis auf einen stärkeren Zusammenhalt in der Gesellschaft andere Menschen auszugrenzen. Studien zufolge äußerten sich die meisten Bundesbürger in ihrem persönlichen Umfeld zwar zufrieden. Der Zustand der Gesellschaft und des Landes insgesamt würde von ihnen jedoch negativ eingeschätzt. Das Beklagen von mangelndem Zusammenhalt könne ihn auch herbeireden, sagte die Professorin der Krefelder Hochschule Niederrhein.

Die Konferenz brachte Experten zusammen, um einen gemeinsamen Blick auf den Zustand und die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu werfen, wie das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung als Veranstalter erklärte.

Holger Spierig


Studie

Mangel an Pflegeschülern mit regionalen Unterschieden



Eine neue Berechnung zeigt: Die Bundesländer bilden oft noch deutlich zu wenig Nachwuchs in der Pflege aus. Das wird deutlich, wenn man die Pflegeschülerzahlen der Bundesländer in Relation zu den hochbetagten Bürgern setzt.

Eine neue Untersuchung zur Zahl Pflegeschülerinnen und -schüler in Deutschland zeigt ein sehr unterschiedliches Bild. Insbesondere Bundesländer mit einem hohen Anteil hochaltriger Menschen haben noch deutlich zu wenig Pflegeschüler, erläutert das Kuratorium Wohnen im Alter in München. Hier gebe es "noch viel Luft nach oben", wie der neue Pflegeausbildungsindex (PIX) belege.

Mit dem seit dem Jahreswechsel geltenden Pflegeberufegesetz seien mit Blick auf die generalistische Ausbildung viele Hoffnungen verbunden, hieß es. So sollen vor allem weit mehr Nachwuchskräfte für die Pflege gewonnen werden, die künftig nach ihrer Ausbildung Pflegefachfrau und Pflegefachmann heißen. Der PIX liefere Kennzahlen für Deutschland und die einzelnen Bundesländer, die das Ausmaß der Ausbildung beleuchten.

Neue Berechnungsmethode

Der erste, jetzt vorgelegte PIX präsentiert zum einen die jüngsten Zahlen der Pflegeausbildung. Im Schuljahr 2018/2019 standen insgesamt 142.446 Personen in einer dreijährigen Ausbildung in einem Pflegeberuf: 70.153 im Bereich der Altenpflege, 64.511 im Bereich Gesundheits- und Krankenpflege und 7782 im Fachgebiet Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. Bis 2023 – so die offizielle Zielsetzung der Bundesregierung – soll die Zahl der Auszubildenden in der Pflege um zehn Prozent gesteigert werden. Das Referenzjahr ist 2019. Insgesamt 156.691 Personen sollten dann also in einer Pflegeausbildung stehen.

Die Untersuchung geht aber noch einen Schritt weiter und stellt diese Daten in Relation zu den Einwohnern in hohem Alter. Dabei ergeben sich bemerkenswerte Befunde. So liegen die einwohnerstarken Flächenstaaten in Sachen Pflegeausbildung zwar in absoluten Zahlenwerten quantitativ an der Spitze der Länder. Setzt man diese Werte allerdings mit den Einwohnerzahlen der über 80-Jährigen in Beziehung, dann sacken diese Länder im Vergleich zu anderen Bundesländern deutlich ab.

Saarland führt, Hessen ist Schlusslicht

In Baden-Württemberg kommt beispielsweise auf 34 Einwohner mit einem Alter von über 80 Jahren ein Pflegeschüler, im Saarland hingegen weist die Statistik einen Wert von knapp 27 Einwohnern pro Pflegeschüler auf. Damit ist das Saarland derzeit Spitzenreiter in Sachen Pflegeausbildung, wenn man die Zahl der Pflegeschüler auf die Zahl der über 80-Jährigen bezieht.

Der arithmetische Mittelwert für Deutschland liegt bei 36 Einwohnern der Altersgruppe der über 80-Jährigen. "Es zeigt sich, dass einige Bundesländer diesen Mittelwert deutlich unterschreiten, also 'ungünstigere' Zahlen aufweisen, wie etwa Bayern, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen. Besonders auffällig sind die Schülerzahlen in Hessen. Mit knapp 48 Hochaltrigen je Pflegeschüler ist Hessen vorerst Schlusslicht beim Ranking der Pflegeausbildung.

Der Pflegeausbildungsindex wird jährlich von der KWA Akademie auf der Basis offizieller Daten ermittelt und in Zusammenarbeit mit dem Medienhaus Vincentz Network (Hannover) veröffentlicht. Er will der Politik helfen, gegebenenfalls weitere Schritte zur Nachwuchsgewinnung in die Wege zu leiten. Mit dem PIX stelle die KWA Akademie allen Entscheidungsträgern ein belastbares Instrument zur Verfügung, hieß es.

Dirk Baas


Armut

Hilfsorganisation holt 740 junge Obdachlose von der Straße



Die Organisation "Off Road Kids" hat nach eigenen Angaben 2019 bundesweit 740 jungen Erwachsenen aus der Obdachlosigkeit geholfen. Das sei die höchste Zahl seit Gründung der Stiftung 1993, heißt es in einer Mitteilung vom 11. Februar. Hauptgrund dafür sei die vermehrte Nutzung der digitalen Zugänge: Seit 2017 gibt das Angebot "Sofahopper.de".

"Die frühe professionelle Online-Hilfe verhindert wirksam Abstürze ins Straßenleben", sagte der Sprecher der "Off Road Kids"-Stiftung, Markus Seidel. Vor allem der angespannte Wohnungsmarkt verschärfe die Lage junger Obdachloser weiterhin.

Einrichtung in Frankfurt bewährt sich

Im vergangenen Jahr hat die Ende 2018 eröffnete Streetwork-Station der Hilfsorganisation allein mehr als 50 junge Menschen in Frankfurt am Main von der Straße geholt. Die meisten von ihnen konnten die Sozialarbeiter über die virtuelle Streetwork-Station "Sofahopper.de" erreichen. "Sofahopper" sind junge Menschen, die in ihrer Not bei Freunden oder flüchtigen Bekannten auf dem Sofa unterkommen.

Die anderen erfolgreich vermittelten Jugendlichen wurden von Streetworkern angesprochen oder besuchten die Frankfurter Anlaufstelle von "Off Road Kids" in der Nähe der Konstablerwache, hieß es.

Weitere "Off Road Kids"-Streetwork-Stationen gibt es in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln. Seit 1993 sind nach eigenen Angaben mehr als 6.000 Straßenkinder, Ausreißer und junge Obdachlose unterstützt worden. Die Organisation finanziere sich vor allem aus Spenden.



Bayern

Projekt Suchthilfe für Senioren bekommt stabile Basis



Nach einem dreijährigen Modellprojekt kann das Suchthilfezentrum (SHZ) der Nürnberger Stadtmission seine Programme für suchtkranke Bewohner von Pflegeinrichtungen dauerhaft fortführen. Der Bezirk Mittelfranken werde eine sozialpädagogische Fachkraft finanzieren, die sich künftig um ältere Abhängige und ihre Angehörigen kümmert, teilte die Stadtmission am 10. Februar mit. Das Angebot sei bayernweit einmalig, hieß es.

Etwa zehn Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeeinrichtungen seien alkoholsüchtig, mehr als 35 Prozent von Medikamente abhängig, schätzen Experten den Angaben zufolge.

Vier stationäre und ambulante Einrichtungen der Altenhilfe haben während des Modellprojekts, "Hilfe für suchtgefährdete alte Menschen" (SAM), Gesprächs- und Schulungsprogramme durchlaufen. Sie seien sensibilisiert für suchtbedingte Probleme ihrer Bewohner, zum Beispiel häufige Stürze oder starke Stimmungsschwankungen bis hin zu Aggressionen, sagte die Projektleiterin, Sozialpädagogin Beate Schwarz.

Mit dem SHZ hätten die Teams in ihren Einrichtungen eine Gesprächskultur entwickelt, in der sie Suchtprobleme und -risiken ihrer Klienten ansprechen und nach individuellen Hilfen suchen könnten.



Gesundheitsunternehmen

Diakovere-Schwesternschaft vereinigt sich



Die Schwesternschaft des Friederikenstifts und die Diakoniegemeinschaft Henriettenstift innerhalb des evangelischen Gesundheitskonzerns Diakovere in Hannover schließen sich zusammen. Wie das Unternehmen mitteilte, ist die Diakovere-Schwesternschaft mit 633 Mitgliedern Deutschlands zweitgrößte Schwesternschaft nach dem Diakonieverein Berlin mit 1.220 Mitgliedern. Diakovere ist mit insgesamt 4.600 Mitarbeitenden, jährlich rund 150.000 Patienten und einem Jahresumsatz von rund 330 Millionen Euro das größte diakonische Unternehmen in Niedersachsen.




sozial-Recht

Schwangerschaftsabbruch bei Minderjährigen ohne elterliche Erlaubnis




Schild einer Beratungsstelle für schwangere Frauen
epd-bild/Norbert Neetz
Ein Schwangerschaftsabbruch bei Minderjährigen ohne elterliche Erlaubnis ist nur im begründeten Einzelfall möglich. Das hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden - und rückte damit von einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 ab.

Bei einem von Minderjährigen gewünschten Schwangerschaftsabbruch ohne Einverständniserklärung der sorgeberechtigten Eltern bewegen sich Ärzte strafrechtlich weiter auf dünnem Eis. "Nur wenn im jeweiligen Einzelfall die minderjährige Schwangere die Tragweite ihres Handelns erfassen kann, ist ein Schwangerschaftsabbruch ohne Zustimmung der Eltern zulässig", sagte am 11. Februar Regine Wlassitschau vom Bundesverband pro familia dem Evangelischen Pressedienst (epd) zu einem aktuell veröffentlichten Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm.

In dem vom OLG entschiedenen Fall hatte eine 16-jährige Schülerin Ende September 2019 festgestellt, dass sie schwanger ist. Die junge Frau, die einen 19-jährigen Freund hat, hatte sich nach reiflicher Überlegung zum Abbruch der Schwangerschaft entschlossen.

"Eigenes Leben mit einem Kind verbaut"

Sie sei weder körperlich noch seelisch in der Lage, das Kind auszutragen. In der Schwangerschaftsberatung der Arbeiterwohlfahrt gab sie am 30. Oktober 2019 weiter an, dass sie sich mit einem Kind die Chance für ihr eigenes Leben verbaue.

Während ihr Vater mit der Entscheidung einverstanden war, lehnte die ebenfalls sorgeberechtigte Mutter der Schülerin eine Abtreibung kategorisch ab. Sie sei katholisch und könne sich einen Abbruch unter keinen Umständen vorstellen. Sie würde ihre Tochter auch nach der Geburt unterstützen. Als die Mutter Hilfe beim Jugendamt suchte, wurde der Schülerin schließlich mitgeteilt, dass sie als Minderjährige ohne Zustimmung der sorgeberechtigten Mutter keinen Abbruch vornehmen dürfe.

Das OLG entschied jetzt, dass die 16-Jährige auch ohne Zustimmung ihrer Mutter die Schwangerschaft abbrechen darf. Das sei im jeweiligen Einzelfall möglich, wenn die minderjährige Schwangere "einwilligungsfähig ist, also nach ihrer geistigen und sittlichen Reife die Tragweite dieses Eingriffs erfassen und ihren Willen hiernach ausrichten kann".

Entscheidung von 1998 korrigiert

Die Hammer Richter rückten damit von einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 ab, in denen sie die Zustimmung der Erziehungsberechtigten noch für erforderlich hielten. Damals begründete das Gericht seine Entscheidung mit dem elterlichen Personensorgerecht. Bis zum Eintritt der Volljährigkeit könne eine Minderjährige keine rechtswirksame Einwilligung zu einer ärztlichen Heilbehandlung erteilen. Nichts anderes könne auch für einen Schwangerschaftsabbruch gelten, hieß es damals.

Doch nach einer Gesetzesänderung vom 20. Februar 2013 kommt es auf die Geschäftsfähigkeit des Minderjährigen nicht mehr an. "Wenn ein Minderjähriger die notwendige Einsichtsfähigkeit hat, ist deshalb für jeden medizinischen Eingriff jedenfalls auch seine persönliche Einwilligung erforderlich", befand jetzt das OLG.

Zwar könnten Eltern auf ihr Recht "zur Pflege, Erziehung und Betreuung ihres Kindes" verweisen. Je älter ein Kind werde, desto mehr müsse aber sein selbstständiges und verantwortungsbewusstes Handeln berücksichtig werden. Das gebiete das per Grundgesetz geschützte Selbstbestimmungsrecht und das gelte umso mehr im "höchstpersönlichen Lebensbereich" wie etwa bei der Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch.

"Hinreichende Reife" mit 16 Jahren gegeben

Bei einem gewünschten Schwangerschaftsabbruch sei im Alter von 16 Jahren im Regelfall von einer "hinreichenden Reife" der Minderjährigen auszugehen. Allerdings müsse der behandelnde Arzt im Einzelfall stets genau prüfen, ob die Einwilligungsfähigkeit der Minderjährigen besteht und ob deshalb eine Zustimmung der sorgeberechtigten Eltern zu dem Eingriff nicht mehr erforderlich ist. Dabei müsse die Betroffene auch die psychischen Belastungen abwägen können, so das Gericht.

Hier habe es sich die junge Frau mit ihrer Entscheidung nicht leicht gemacht. Sie habe sich intensiv mit ihrer Mutter, ihrem Freund und Freundinnen sowie dem Jugendamt und der AWO ausgetauscht. Die Einwilligungsfähigkeit sei gegeben, so dass der Eingriff auch ohne Zustimmung der sorgeberechtigten Eltern durchgeführt werden könne. Die vom Gericht zugelassene Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wurde nicht eingelegt. Dem Beschluss ist nicht zu entnehmen, ob es zu einem Schwnagerschaftsabbruch kam. Der letzte legale Abtreibungstermin war der 6. Dezember 2019.

"Letztlich bleibt es nun weiter bei einer Einzelfallprüfung", ob minderjährige Schwangere auch ohne Zustimmung der Eltern einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen können, sagte Wlassitschau. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte seien strafrechtlich auf der ganz sicheren Seite, wenn auch die Einwilligung der Eltern vorliegt.

Az.: 12 UF 236/19

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Kein Grundrecht auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen



Die im Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden beinhaltet kein Grundrecht auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine entsprechende wirksame Anerkennung durch das Bundesarbeitsministeriums besteht nicht, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 5. Februar veröffentlichten Beschluss.

Konkret ging es um die Sozialkassentarifverträge des Baugewerbes (SOKA-BAU). Sie regeln den Urlaubsausgleich und die Zusatzversorgung für das Alter, die allein von den Arbeitgebern finanziert werden. Mit den Umlagebeiträgen wird sichergestellt, dass die oft nur kurzfristig beschäftigten Bauarbeiter trotzdem ihren Urlaub nehmen können, ohne dass ein einzelner Arbeitgeber allein mit der Lohnfortzahlung belastet wird.

Sozialkassentarif sollte bindend für alle sein

So hatten die Gewerkschaft IG Bau und der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie einen Sozialkassentarif vereinbart, mit dem Ziel, dass der vom Bundesarbeitsministerium als allgemeinverbindlich erklärt wird. In diesem Fall müssen nicht nur die tarifgebundenen Firmen, sondern alle Baufirmen Beiträge in die Sozialkasse zahlen.

Für die Jahre 2008 bis 2014 hatte allerdings das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Allgemeinverbindlicherklärungen überwiegend wegen formaler Fehler des Bundesarbeitsministeriums für unwirksam erklärt (unter anderem Urteile vom 21. September 2016, Az.: 10 ABR 33/15 und 10 ABR 48/15).

IG BAU und Bauwirtschaft klagten

Die IG BAU und die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft wollten das jedoch nicht akzeptieren. Sie verwiesen auf die im Grundgesetz geschützte Koalitionsfreiheit für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Diese umfasse auch den Anspruch, dass die Sozialkassentarifverträge - so wie von den Tarifparteien vorgesehen - für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Doch die Koalitions- und Tariffreiheit beinhaltet nach Ansicht der Karlsruher Richter kein Grundrecht auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Diese garantiere Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften nur, dass sie selbst die Chance haben, "durch ihre Tätigkeit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" zu wahren und fördern. Ein Anspruch auf eine wirksame Allgemeinverbindlicherklärung durch das Bundesarbeitsministerium sei damit aber nicht umfasst, so das Gericht.

Az.: 1 BvR 4/17



Bundesverwaltungsgericht

Bei spätem Studienfachwechsel meist kein Bafög mehr



Studenten haben bei einem Fachwechsel nach Beginn des 4. Fachsemesters nur noch ausnahmsweise Anspruch auf Bafög. Das hat das Bundesverwaltungsgericht am 6. Februar entschieden. Nur wenn die Zeiten der bisherigen Ausbildung auf den neuen Studiengang angerechnet werden oder ein "unabweisbarer Grund" vorliegt - etwa das Aufgeben eines theologischen Studienfachs aus religiösen Gründen - könne der Bafög-Anspruch noch erhalten bleiben, befand das Gericht.

Im konkreten Fall hatte die klagende Studentin nach Beginn ihres 4. Fachsemesters das Fach gewechselt. Sie hatte zunächst im Bachelor-Studiengang Combined Studies die Fächer Sachunterricht (Biologie) und Katholische Theologie auf Lehramt studiert. Als sie nun die Katholische Theologie aufgab und wegen ihres Glaubenswechsels sich nun für den Teilstudiengang einschrieb, erhielt sie wegen des späten Fachwechsels kein Bafög mehr.

Glaubenswechsel nicht berücksichtigt

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Niedersachsen-Bremen sprach ihr weiter Bafög zu, ohne jedoch auch auf den vorgebrachten Glaubenswechsel einzugehen.

Das Bundesverwaltungsgericht verwies das Verfahren an die Vorinstanz zurück. Nach den gesetzlichen Bestimmungen sei ein Wechsel bis zum Beginn des 4. Fachsemesters zwar grundsätzlich aus "wichtigem Grund" möglich. Wechsele die Studierende dagegen später das Fach, bleibe der Bafög-Anspruch nur ausnahmsweise erhalten, hieß es zur Begründung.

Dafür müsse die Hochschule bescheinigen, dass die Anrechnung von Semestern der ursprünglichen Ausbildung so berücksichtigt werden können, dass die Klägerin die Fristen der Bafög-Bestimmungen zum Wechsel des Studienfachs noch einhalten kann, entschieden die Leipziger Richter.

Nur wenn die Studierende einen "unabweisbaren Grund" vorbringe, könne ebenfalls eine spätere Bafög-Förderung in Betracht kommen. Das sei etwa der Fall, wenn das bisherige Studium auf einen Beruf in einem kirchen- und verkündigungsnahen Bereich abzielt und dieser wegen einer geänderten religiösen Überzeugung nicht mehr zumutbar ist. Das hatte die Klägerin auch geltend gemacht. Das OVG muss nun dazu noch fehlende Tatsachen feststellen.

Az.: 5 C 10.18



Verwaltungsgericht

Personalnotstand im Ausländeramt nicht hinnehmbar



Ein Ausländeramt muss die Belange von Ausländern auch tatsächlich bearbeiten können. Spart eine Kommune so stark am Personal, dass die Behörde ihre gesetzlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen kann, muss sie dadurch unnötig verursachte Gerichtsprozesse die Prozesskosten bezahlen, entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf in einem am 7. Februar bekanntgegebenen Urteil im Fall der Stadt Wuppertal. Das gelte selbst dann, wenn die Stadt den vom Ausländer geführten Prozess gewonnen hat, befanden die Richter.

Ein abgelehnter Asylbewerber war vor Gericht gezogen, der Mitte 2017 bei der Ausländerbehörde der Stadt Wuppertal eine Aufenthaltserlaubnis beantragt hatte. Doch dann herrschte lange Zeit Funkstille in diesem Fall. Auch nach über einem Jahr entschied die Stadt nicht über den Antrag, so dass der Flüchtling schließlich klagte.

Stadt soll Kosten für Prozess übernehmen

Selbst als das zuständige Verwaltungsgericht die Kommune aufforderte, sich zu dem Fall zu äußern, geschah nichts. Das Gericht wies zwar die Klage des Flüchtlings auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Die Prozesskosten sollte aber dennoch die Stadt Wuppertal bezahlen.

Denn die Kommune habe letztlich zu verantworten, dass überhaupt geklagt worden sei. Seit Jahren sei das Ausländeramt von Personalnot und Überlastung betroffen. Die Stadtspitze habe darauf nicht reagiert. Zudem habe es einen starken Zuzug von Ausländern gegeben, so dass die Zahl der zu bearbeitenden Fälle weiter angestiegen sei. Wegen der Überlastung seien besonders qualifizierte Mitarbeiter des Ausländeramtes in andere Kommunen abgewandert.

Letztlich sei der Stadtspitze ein Organisationsverschulden vorzuwerfen, so das Gericht. Die Ausländerbehörde könne ihre gesetzlichen Aufgaben nicht mehr ordnungsgemäß erfüllen. Über Anträge würde nicht entschieden und Betroffene müssten wochenlang auf einen Termin warten. Daher sei es gerechtfertigt, dass die Kommune die Prozesskosten begleichen muss, entschied das Verwaltungsgericht.

Az.: 7 K 4969/18




sozial-Köpfe

Diakonie

Sabine Federmann wird Vorstand der Stiftung Volmarstein




Sabine Federmann
epd-bild/Inka Vogel
Sabine Federmann ist vom Stiftungsrat der Evangelischen Stiftung Volmarstein zum Theologischen Vorstand des Trägers berufen worden. Sie soll das Amt im Januar 2021 antreten. Federmann ist in der über 100-jährigen Geschichte der Stiftung die erste Frau als theologischer Vorstand.

Sabine Federmann (52), eine promovierte Theologin, folgt im Leitungsgremium der Evangelischen Stiftung Volmarstein auf Jürgen Dittrich. Der Pfarrer geht nach 14-jähriger Tätigkeit als Theologischer Vorstand im Januar nächsten Jahres in den Ruhestand.

Federmann wird gemeinsam mit dem kaufmännischen Vorstand Markus Bachmann die Evangelische Stiftung Volmarstein leiten. Sie ist nach zehnjähriger Tätigkeit in verschiedenen Kirchengemeinden seit 2010 Studienleiterin der Evangelischen Akademie Villigst/Schwerte. Berufsbegleitend hat sie eine Ausbildungen zur Supervisorin/Coach und zur Themenzentrierten Interaktion (TZI) absolviert. Sie ist auch in verschiedenen Gremien zur Bildungsarbeit innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland tätig, unter anderem beim Comenius-Institut in Münster.

Seit 1904 ist die von Pfarrer Arndt gegründete Evangelische Stiftung Volmarstein in Wetter (Ruhr) in der Körperbehinderten- und Krankenpflege tätig und hat sich im Laufe der Jahre zu einer Komplexeinrichtung der diakonischen Behinderten-, Kranken- und auch der Seniorenhilfe entwickelt. Insgesamt werden in ihren Einrichtungen mehr als 3.000 Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren sowie mehrere Tausend Patienten pro Jahr betreut. Der Sozialträger beschäftigt rund 3.200 Mitarbeitende.



Weitere Personalien



Daniel Bieber ist neuer Landesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen im Saarland. Der Landtag wählte den bisherigen Geschäftsführer und wissenschaftlichen Leiter des Saarbrücker Instituts für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (Iso) am 12. Februar mit 43 von 47 abgegebenen Stimmen. Insgesamt hatten sich laut Landtagspräsident Stephan Toscani (CDU) neun Menschen auf die Stelle beworben. Bieber folgt auf Christa Rupp, die die Tätigkeit ehrenamtlich ausübte. Der Landtag hatte im vergangenen Jahr beschlossen, dass der oder die Landesbeauftragte hauptamtlich tätig sein soll. Bieber wird somit für fünf Jahre in ein Beamtenverhältnis auf Zeit berufen.

Claudia Fremder und Hubertus Jaeger sind neue Vorstände der DGD-Stiftung in Marburg. Sie folgen auf Pfarrer Joachim Drechsel (65), der nach 25 Jahren in verschiedenen Leitungsämtern des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes (DGD) in den Ruhestand verabschiedet wurde. Claudia Fremder (57) ist Fachärztin für Innere Medizin und Geriatrie sowie Gesundheitsökonomin. Sie arbeitete zuletzt als Geschäftsführerin der Gesundheitsholding Werra-Meißner im nordhessischen Eschwege. Der Betriebswirt Hubertus Jaeger (60) war unter anderem Vorstandsvorsitzender der Krankenhausgesellschaft Sachsen. Die Stiftung betreibt die DGD-Kliniken, einen Verbund diakonischer Einrichtungen des Gesundheitswesens. Dazu zählen Krankenhäuser, Rehakliniken, Medizinische Versorgungszentren, Senioreneinrichtungen sowie Schulen und eine Akademie. Die Organisation beschäftigt bundesweit rund 2.500 Mitarbeiter.

Sabrina Umlandt-Korsch ist als BAGFW-Dozentin für das neue Strukturmodell der Pflegedokumentation verabschiedet worden. Claus Bölicke, Leiter der Abteilung Gesundheit, Alter und Behinderung der AWO, verabschiedete sie. Er verweis auf die hervorragende Expertise der ehemaligen Regionalkoordinatorin des Projektbüros EINSteP. Seit 2017 führte sie die Schulungen zum neuen Strukturmodell für die BAGFW durch. 2020 würden die Schulungen in neuer Besetzung fortgesetzt, hieß es.

Werner Schanz, bayerischer Sozialpfarrer, ist tot. Der langjährige Leiter des Amtes für Industrie- und Sozialarbeit der evangelischen Landeskirche starb mit 89 Jahren, wie der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt (kda) mitteilte. Der Theologe galt als "Anwalt der Arbeitnehmer" und meldete sich immer wieder nachdrücklich bei sozialen Problemen zu Wort. In Schanz' Amtszeit von 1979 bis 1996 fielen zahlreiche dramatische Betriebskrisen in Bayern, wie die Insolvenz der Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg, bei denen er sich öffentlichkeitswirksam für die Interessen der Beschäftigten einsetzte. Er war Mitglied der Landessynode und des Arbeitskreises Evangelische Erneuerung (AEE) und setzte sich für Gleichberechtigung von Frauen in Gesellschaft und Kirche ein.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis April



Februar

25.-26.2. Paderborn:

Seminar "Grundlagen der Personaleinsatz-planung in der stationären Altenhilfe"

der IN VIA Akademie

Tel.: 05251/2908–0

27.2. Köln:

Seminar "Pflegeversicherung aktuell: Die ambulante Pflege"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

März

2.-3.3. Eichstätt:

Fachtagung "Kirchliches Arbeitsrecht: Motor oder Bremse?"

der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Tel.: 08421/93-23069

4.3. Mainz:

Seminar "Fördermittel für Vereine und gemeinnützige Organisationen"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/25298921

6.3. Berlin:

Seminar "Rund ums Urlaubsrecht - Beseitigung von Unklarheiten bei Urlaubsansprüchen"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-17

10.3. Berlin:

Seminar "Aktuelle Fragen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 ff. SGB XII)"

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980 301

10.3. Ludwigsburg:

Workshop "Digitale Moderationstools"

der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg

Tel.: 0170/6117483

10.-12.3. Berlin:

Fortbildung "Psychisch kranke Wohnungslose zwischen den Hilfesystemen - Aspekte bedarfsgerechter Hilfen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/488 37-495

17.3. Braunschweig:

Fachtag "Pflege - Mehr Verantwortung für die Kommune – es funktioniert?!"

des DEVAP

Tel.: 030/83001-265

18.3. Dortmund:

LWL-Messe der Integrationsunternehmen "Integration entfaltet Chancen"

des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe

Tel.: 0251/591-235

20.3. Leipzig:

Kongress "Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Zwangsadoption und Säuglings-/ Kindstod in der ehemaligen DDR"

der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR

Tel.: 0176/20144406

24.3. Berlin:

Seminar "Rechtliche Grundlagen der Dienstplangestaltung"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282 17

24.-25.3 Berlin:

Seminar "Digitalisierung täglicher Arbeitsprozesse erfolgreich vorbereiten"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-15

24.-26.3. Hannover:

Messe "Altenpflege 2020 - Wir arbeiten wir in der Zukunft?"

von Vincentz Network

Tel.: 0511/9910-175

26.-27.3. Berlin:

Seminar "EU-Förderprogramme strategisch einsetzen"

des Deutschen Vereins für öffentliche und privaten Fürsorge

31.3.-1.4. Aschaffenburg:

Tagung "Unerwartet und plötzlich - Beratung bei Schicksalsschlägen"

der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung

Tel.: 030/62980606