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Kongress

Forscher: Zusammenhalt der Gesellschaft nicht über Ausgrenzung



Nicht erst nach der Thüringer Wahl wird eine zunehmende Zerrissenheit der Gesellschaft beklagt. Experten mahnen auf einer Fachtagung Leitbilder für ein Zusammenleben in Vielfalt an. Zugleich warnen sie vor zunehmender Ausgrenzung. Die Diakonie sieht die Kommunen in der Pflicht.

Experten aus Wissenschaft, Politik und Diakonie sind besorgt über den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es werde zwar viel über den Zustand der Gesellschaft gesprochen, es fehle jedoch eine politisch-gesellschaftliche Leitvorstellung, sagte der Konfliktforscher Andreas Zick am 10. Februar in Bielefeld. Diakonie-Chef Ulrich Lilie rief dazu auf, das Zusammenleben in der Gesellschaft immer wieder neu auszuhandeln.

Die Extremismus-Expertin von der Hochschule Niederrhein, Beate Küpper, warnte zugleich vor Versuchen, durch das Beschwören von Zusammenhalt andere Menschen oder Gruppen auszugrenzen.

Zick warb für Traditionen der Konfliktbewältigung in der Gesellschaft. Es komme nicht darauf an, Konflikte zu beseitigen, sondern sie zu bewältigen, sagte er auf einer Fachtagung der Universität Bielefeld über den Zusammenhalt der Gesellschaft. Dazu gehöre ein Ausgleich von Interessen und Identitäten.

Andere Gruppen nicht ausschließen

Der Sozialpsychologe warnte zugleich davor, dass das Beschwören von mehr Zusammenhalt nicht zur Ausgrenzung anderer Gruppen missbraucht werden dürfe. Die hohe Menschenfeindlichkeit im Osten Deutschlands komme auch daher, dass dort Zusammenhalt als Ähnlichkeit definiert werde. Damit würden etwa Flüchtlinge und Ausländer ausgegrenzt. Länder, die besonders laut nach Zusammenhalt riefen wie Ungarn und Polen, lösten ihre Krisen oft über Ausgrenzung.

Diakoniepräsident Lilie erklärte, das Aushandeln eines Modells, wie man künftig in der Gesellschaft leben wolle, werde immer wichtiger. Kommunen seien die konkreten unmittelbaren Lebens- und Wohnumfelder der immer verschiedener werdenden Menschen. Die Städte und Gemeinden spielten daher eine immer wichtigere Rolle.

In einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft gebe es nicht mehr einen gemeinsamen Glauben, eine politische Überzeugung oder eine Zugehörigkeit zur Mitte der Gesellschaft. Ziel müsse es sein, dass die unterschiedlichsten Menschen wieder ein "Wir-Gefühl" in der Gesellschaft erlebten. Dazu brauche es positive Bilder und Modelle. Die Parteien drückten sich bislang vor der Frage, wie die künftige Gesellschaft aussehen sollte, weil das Thema hochexplosiv sei.

Negative Strömungen

Auch die Sozialpsychologin Küpper warnte davor, unter dem Verweis auf einen stärkeren Zusammenhalt in der Gesellschaft andere Menschen auszugrenzen. Studien zufolge äußerten sich die meisten Bundesbürger in ihrem persönlichen Umfeld zwar zufrieden. Der Zustand der Gesellschaft und des Landes insgesamt würde von ihnen jedoch negativ eingeschätzt. Das Beklagen von mangelndem Zusammenhalt könne ihn auch herbeireden, sagte die Professorin der Krefelder Hochschule Niederrhein.

Die Konferenz brachte Experten zusammen, um einen gemeinsamen Blick auf den Zustand und die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu werfen, wie das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung als Veranstalter erklärte.

Holger Spierig